Читать книгу Retourkutsche - Kendran Brooks - Страница 4
Januar 2010
Оглавление»Herr Lederer, zuallererst möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie sich so kurzfristig die Zeit für dieses Meeting genommen haben. Wir baten Sie zu uns, weil wir Ihren Rat in einer etwas diffizilen Angelegenheit benötigen.«
Der Sechzigjährige fixierte mit dem scharfen Blick eines hungrigen Adlers den wohl fünfzehn Jahre jüngeren Mann am Ende des Konferenztisches, schien ihn mit seinem Blick geradezu hypnotisieren zu wollen.
Jules Lederer, der Problemlöser aus La Tour-de-Peilz, war für diesen Nachmittag ins Grand Hotel Kempinski nach Genf gebeten worden. Die Einladung an ihn erfolgte über einen Auftragsdienst, der außer dem Ort und dem Zeitpunkt keine weiteren Angaben machte. Wer ihn nach Genf beordert hatte, wusste Jules also nicht. Er ging trotzdem hin. Denn das Auflösen von Geheimnissen war nicht nur Teil seines Berufs, sondern seine große Leidenschaft.
Auch der Mann an der Rezeption des Kempinski hatte ihm nichts verraten, schickte ihn bloß hoch zu einer der Bel Horizon Suiten. Hier hatte Jules angeklopft und war sogleich von dem älteren Mann eingelassen worden.
Die Suite war abgedunkelt. Im Vorraum brannte kein Licht. Nur aus einem der angrenzenden Räume drang ein wenig Helligkeit heraus, schuf lange Schattenbilder. Der Ältere hatte Jules in diesen Salon hineingeführt, hieß ihn am Ende des langen Konferenztisches Platz nehmen, im Schein einer Tischlampe, die seine Augen blendeten und zuverlässig verhinderte, dass er erkennen konnte, was links und rechts vom Tisch saß oder stand.
Eine zweite Tischlampe war auf den älteren Mann am Kopfende gerichtet, der ihn an der Tür eingelassen hatte, ließ ihn durch den riesigen Schatten hinter ihm bedrohlich aussehen.
Jules konnte einige männlich geformte und behaarte Hände auf der spärlich ausgeleuchteten Tischplatte erkennen, was auf mindestens ein halbes Dutzend weitere Anwesende schließen ließ.
Bei seinem Eintreten waren flüsternde Stimmen zu hören gewesen. Doch die Gespräche waren längst verstummt. Und so schuf die Dunkelheit mit den tiefen Schatten zusammen mit dem Schweigen eine fast körperlich zu spürende Stimmung einer Verschwörung.
Der ältere Mann am Kopfende des Tisches, war für Jules Lederer durchaus kein Unbekannter. Franz-Xaver Wermelinger, Vorsitzender des Vereins privater Banken, trat regelmäßig mit klugen Kommentaren zur Wirtschaftslage oder zu den Entwicklungen auf dem Schweizer Finanzplatz in den Medien auf. Jules hätte nur zu gern gewusst, wer die übrigen Anwesenden waren.
Direkt zu seiner Rechten trug einer am kleinen Finger der linken Hand einen Ring. Jules erkannte im goldgefassten Lapislazuli das eingravierte Wappen. Es zeigte eine Lilie mit Schwert. De Castell, assoziierte Jules Gehirn, wahrscheinlich der Privatbankier Frédérick de Castell aus La-Chaux-de-Fonds.
Der Mann daneben trug keinen Ring an seinen schlanken, langen Pianistenfingern, ja nicht einmal Manschettenknöpfe oder eine Armbanduhr. Doch seine Handrücken waren mit dichten Büscheln recht langer, tiefschwarzer Haare überwuchert, erinnerten an einen Schimpansen. Falls auch er ein hochrangiger Bankier wie Wermelinger und De Castell war, dann konnte es sich nur um Martin Brechtbühl handeln, CEO der HNB aus Zürich. Brechtbühl galt als Senkrechtstarter auf dem Schweizer Finanzplatz, hatte sich in wenigen Jahren und dank einiger spektakulärer Erfolge in die Herzen der Investoren gedrängt. In seiner kleinen, aber feinen Privatbank wurden ein halbes Dutzend Fonds mit einer Gesamtsumme von über zehn Milliarden Franken verwaltet. Zweihundert handverlesene Ultra-High-Net-Worth Individuals, deren Privatvermögen er sich annahm, ergänzten sein gut laufendes Geschäft, wie man sich erzählte.
»Doch bevor ich auf die Details unserer Besprechung komme, möchte ich von Ihnen die Zusage erhalten, dass Sie absolutes Stillschweigen über den Inhalt dieser Unterredung bewahren werden, egal, ob sie anschließend für uns tätig sein werden oder nicht.«
Die Stimme Wermelingers riss Jules aus seinen kurzen Gedankengängen. Der Problemlöser aus La Tour-de-Peilz trug sein dichtes, dunkelbraunes Haar ein wenig zu lang, so dass sich die Haarspitzen im Nacken auf dem Hemdkragen stülpten. Seine ebenfalls braunen Augen blickten völlig ruhig, zeigten Verlässlichkeit. Die mittelgroße Nase, der recht schmale Mund mit den sinnlichen Lippen, verrieten Beharrlichkeit. Sein ganzes Gesicht war länglich geformt, wirkte darum sehr sportlich, ja fast schon asketisch, da sich seine Wangenknochen leicht unter der gebräunten Haut abzeichneten. Die Mundwinkel hatten sich bei den Worten von Wermelinger zu einem spöttischen Lächeln verzogen, was ihm für einen Moment das Antlitz eines Wolfs verlieh, dynamisch und durchaus anziehend auf der einen Seite, gleichzeitig aber auch höchst bedrohlich wirkend.
»Diskretion ist mein Geschäftsprinzip. Doch das wissen Sie längst, meine Herren, sonst hätten Sie mich wohl kaum hierher bestellt.«
Wermelinger starrte Lederer ein wenig verärgert an, vielleicht weniger über den leichten Spott in seinen Worten als über seinen Gesichtsausdruck. Der Vorsitzende des Vereins privater Banken atmete scharf ein, schien sich eine Erwiderung zurecht zu legen. Doch noch bevor er damit ansetzen konnte, meldete sich eine andere Stimme am Tisch, direkt aus der Dunkelheit heraus.
»Lass gut sein, Franz, und komm doch bitte gleich zur Sache.«
Wermelinger ruckte seinen Kopf unwillig herum, starrte auf den Punkt, wo sich das Gesicht des Sprechers befinden musste, schien die Schwärze mit seinem Blick durchdringen zu können und stumme Zwiesprache mit dem Mann zu halten. Nach zwei Sekunden wandte er sich wieder Jules zu.
»Also gut, Herr Lederer. Kommen wir direkt auf den Punkt zu sprechen, warum wir Sie eingeladen haben. Sie wissen, dass eine unserer Banken in den letzten drei Jahren unter heftigen Anfeindungen durch die amerikanische Administration zu leiden hatte?«
Jules nickte leicht mit dem Kopf.
»Bestimmt wissen Sie auch, dass die amerikanische Steuerverwaltung mit ihrer Drohung eines Strafverfahrens das Ziel verfolgte, unseren Bundesrat zum Aufweichen des Bankkundengeheimnisses zu zwingen und dass die IRS dieses Ziel auch teilweise erreicht hat?«
Wiederum nickte Jules, warf jedoch gleichzeitig ein: »... wobei dies erst durch das jahrelange Fehlverhalten der Bank in tausenden von amerikanischen Steuerfällen möglich wurde.«
Diese Entgegnung trug Jules zwei ärgerliche Grunzer am Tisch ein und auch Franz-Xaver Wermelinger kaute sichtlich an der Klarstellung, wie seine ärgerlich aufblitzenden Augen verrieten.
Aus der Dunkelheit aber schob sich eine weitere Hand auf die spärlich beleuchtete Tischplatte, machte eine beschwichtigende Geste in Richtung des Vorsitzenden. An ihrem Handgelenk saß eine Rolex GMT Master II Ice, wie Jules als Liebhaber und Sammler wertvoller Armbanduhren unschwer erkannte. Das war genau das Uhrenmodell, das sich der ehemalige Präsident der von der Steuersache betroffenen Großbank vor ein paar Jahren gleich im halben Dutzend gekauft hatte. Dies jedenfalls erzählte man sich in der Bankenszene kopfschüttelnd. Wer zum Henker brauchte sechs exakt gleiche Armbanduhren, zum Stückpreis von einer halben Million Franken?
Die Rolex GMT Master II Ice war mit über zweitausend Brillanten besetzt, wie Jules nur zu gut wusste. Ihre fünfundzwanzig Karat an Diamanten fabrizierten selbst im Licht der Tischlampen ein glitzerndes Feuerwerk.
Sieht für eine Herrenuhr doch reichlich schwul aus, lautete das Urteil von Jules über den teuren Chronographen, sie passt wohl eher an das Handgelenk von Elton John, statt an das eines ernsthaften Bankers.
Wermelinger hatte seine scharfe Entgegnung zurückgehalten, räusperte sich bloß laut und vernehmlich, fuhr dann mit einer etwas heiser klingenden Stimme fort. Sie allein verriet, unter welch innerer Anspannung der Vorsitzende des Vereins der privaten Banken stand.
»Lassen wir diesen Teilaspekt vorerst beiseite, Herr Lederer. Die Klärung von Schuldfragen ist nicht unser Anliegen heute. Ich will stattdessen kurz die bekannten Tatsachen aus unserer Sicht zusammenfassen.«
Noch einmal pausierte Wermelinger, schien sich neu zu sammeln.
»Die amerikanischen Behörden haben unter Beteiligung der amerikanischen Regierung und mit Hilfe des US-Parlaments versucht, das Schweizer Bankkundengeheimnis zu demontieren. Dabei bedienten sie sich auch unlauteren, ja kriminellen Mitteln. Nur dank diesen konnten sie einen solch massiven Druck auf die Bank und auf unsere Landesregierung aufbauen, so dass wir letztlich den USA große Zugeständnisse beim Bankkundengeheimnis einräumen mussten. Die hier Versammelten sind eine private Interessengruppe. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, den USA für den ungesetzlichen Angriff auf unseren Finanzplatz einen gehörigen Denkzettel zu verpassen. Das ist der Grund für die Einladung an Sie.«
»Und wie stellen Sie sich diesen Denkzettel vor?«
Jules Stimme klang weiterhin ruhig, doch der Spott war gänzlich daraus verschwunden, hatte einem kühlen, geschäftlich-sachlichen Tonfall Platz gemacht, was Wermelinger mit Zufriedenheit registrierte.
»Die hier Versammelten vermuten, dass viele Behörden der USA mit Terroristen, Rebellenorganisationen und Gottesfanatikern zusammenarbeiten. Wir glauben auch, dass der NSA, die CIA und selbst das FBI und das Heimatschutzministerium enge Verbindungen zu Verbrechersyndikaten unterhalten und diese im Kampf um die Macht auf der Erde rücksichtslos einsetzen.«
»Und wie gelangten Sie zu diesen Annahmen?«
Die Frage von Jules war eher rhetorisch und nicht etwa als Widerwort gedacht.
»Nicht nur die USA überwachen die weltweiten Finanzströme. Auch den Banken in der Schweiz fällt eine gewichtige Rolle zu. Gewisse Transaktionen haben einzig den Zweck der Terrorfinanzierung oder der Unterstützung von politischen oder militärischen Umstürzen. Natürlich fehlen uns dafür die letzten, unwiderlegbaren Beweise, um die Verwicklungen der amerikanischen Regierung und ihren Behörden stichhaltig nachzuweisen. Wir besitzen auch kein vollständiges Bild über die Größenordnungen der Transaktionen...«
»...und beides soll ich Ihnen beschaffen?«
Die Frage von Jules klang wie eine Feststellung.
Wermelinger nickte.
»Verstehen Sie, Herr Lederer. Die hier Versammelten möchten in den Besitz unleugbarer und unwiderlegbarer Beweise für die kriminellen und verfassungswidrigen Machenschaften der US-Regierung, ihrer Behörden und Geheimdienste und nicht zuletzt auch von einzelnen Parlamentariern in Senat und Repräsentantenhaus gelangen. Damit meinen wir im besonderen Maße all die Männer und Frauen, die sich in der Vergangenheit mit ganz besonderer Härte gegen die Interessen der Schweiz gewandt haben.«
»Sie meinen, gegen das Schweizer Bankkundengeheimnis und den Finanzplatz, nehme ich an? Wir sollten doch präzise bleiben.«
Der Spott hatte sich in Jules Stimme zurückgemeldet.
»Von mir aus auch das«, winkte Wermelinger ungeduldig ab.
»Wie groß, glauben Sie, sind Ihre Erfolgsaussichten?«, meinte nun Jules lächelnd, »immerhin geht es gegen eine Weltmacht, die mehr als ein Dutzend verschiedener Geheimdienste unterhält und sich das größte Militärbudget aller Nationen leistet.«
Wermelinger schluckte hörbar, so als wenn ihm die Tragweite der Aufgabe erst in diesem Moment wirklich bewusst geworden wäre. Doch seine Stimme zeigte ausgesprochene Härte als er weitersprach.
»Vor vierzig Jahren haben wir die USA bereits einmal in die Knie gezwungen. Diesen Sieg werden wir heute auf einem anderen Gebiet wiederholen. Wir werden dieser verlogenen Nation voller Schaufenster-Moralisten einen gehörigen Schlag versetzen, der sie vor der versammelten Weltöffentlichkeit und für eine sehr lange Zeit bloßstellt und sie so in ihre Schranken weist.«
»Spielen Sie mit dem Sieg vor vierzig Jahren auf den Goldstandard des US-Dollars an und wie er unter der Führung der Gnomen aus Zürich in den 1970er Jahren gebrochen wurde, Herr Wermelinger, worauf der US-Dollar bis zum heutigen Tag immer weiter an Wert verlor?«
»Es waren zum Teil die Väter und Großväter der heute hier Versammelten, die damals die notwendige Weitsicht und die Beharrlichkeit besaßen, um diesen wirtschaftlich so dringenden Wechsel zu erzwingen und damit die damals schon größte Militärmacht auf Erden erstmals zu besiegen.«
Jules Lederer schüttelte ablehnend seinen Kopf.
»Der Großvater gründet das Unternehmen, der Vater baut es weiter aus und der Sohn führt es in den Bankrott«, meinte er dann salopp und wenig respektvoll, was mit weiteren, unwirschen Grunzern und ärgerlichem Gemurmel aus der Dunkelheit quittiert wurde.
Auch der Blick von Wermelinger zeigte nun offenen Zorn.
»Sie sind wohl doch der falsche Mann für diese Aufgabe«, warf er Lederer den Fehdehandschuh hin. Der Vorsitzende des Vereins der privaten Banken war der andauernden Provokation von Jules Lederer leid, »wir werden uns jemand Anderen suchen müssen.«
Doch Jules begann nun entwaffnend jugendlich zu lächeln und entgegnete Wermelinger sanft: »Ich bin schon der Richtige. Doch ich bin kein Depp, meine Herren. Immerhin verlangen Sie von mir, ich soll gegen eine Nation vorgehen, die im Inland genauso wie im Ausland einige zehntausend Agenten beschäftigt, weltweit Spionage betreibt, Krieg verdeckt oder offen führt und, wie Sie selbst zugeben, mit Terroristen und Verbrechersyndikaten eng zusammenarbeitet. Wie groß, glauben Sie, sind da meine Chancen? Ich meine nicht die Chancen auf Erfolg bei der Datenbeschaffung, sondern die Aussichten zu überleben?«
Bevor Wermelinger auf diese Frage eingehen konnte, meldete sich dieselbe Stimme, die sich schon zuvor einmal eingeschaltet hatte und die Jules wohlbekannt war, wieder aus der Dunkelheit zu Wort.
»Lass mich bitte antworten, Franz. Ja, Herr Lederer, um genau diese Fragen zu klären, sitzen wir hier zusammen. Wir benötigen Ihren Rat und Ihre Einschätzung, ob eine solche Sache überhaupt machbar ist, wie man dabei vorzugehen hat und wer sie letztendlich für uns durchziehen kann, falls Sie selbst kein Interesse daran haben sollten. Wir sind durchaus nicht naiv, Herr Lederer, ganz bestimmt nicht. Doch wir wollen den USA unter allen Umständen die Maske der verlogenen Moral vom Gesicht reißen. Dafür sind wir bereit, einen entsprechend hohen Betrag auszulegen.«
Jules blickte in Richtung der Stimme, die er vor zwei Jahren auf mehreren Tonbandaufnahmen abgehört hatte. Es war die Stimme des damaligen CEO der Großbank, die durch Selbstverschulden in die Fänge der US-Justiz geriet. Jules wusste, dass dieser Mann und seine Familie damals von der CIA erpresst wurden, so dass er seine Bank durch fehlgeleitete Spekulationen beinahe in den Ruin trieb. Erst die massiven finanziellen Probleme der Bank hatten es den Behörden der USA letztendlich ermöglicht, mit der Drohung einer Strafanzeige wegen Steuervergehen nachhaltigen Druck auf die Schweizer Regierung auszuüben und so die Zugeständnisse beim Bankkundengeheimnis abzupressen. Jules konnte die Wut des Mannes auf die USA und ihre Behörden darum gut verstehen.
»Mit genügend Geld ist in der heutigen Zeit fast alles machbar«, beantwortete Jules die eine Frage des Bankiers, »aber welche Summe möchten Sie zur Finanzierung des Auftrages anlegen? Ich muss den Betrag kennen, um die Chancen für einen Erfolg richtig einschätzen zu können.«
Nicht Wermelinger antwortete ihm diesmal, sondern der Mann mit der strahlenden Rolex am Armgelenk, die er weiterhin wie eine Trophäe auf der Tischplatte liegen hatte und sie beständig funkeln ließ.
»Unser Etat beläuft sich auf fünfzig Millionen Schweizer Franken, Herr Lederer. Doch er kann weiter aufgestockt werden, falls sich dies als erforderlich erweisen sollte. Wie aber müsste man Ihrer Meinung nach ein solches Vorhaben überhaupt angehen und vorantreiben? Wo ansetzen?«
Jules leckte sich kurz über die Lippen und überlegte sich die Antwort gründlich. Dann sprach er nur zögerlich weiter. Jeder im Raum hörte seiner Stimme an, dass er sich seine Worte sehr genau zu Recht legte.
»Fünfzig Millionen werden mit großer Sicherheit ausreichen. Die meisten Menschen sind käuflich, auch Geheimnisträger in hohen Funktionen. Man kann sich Informationen über illegale Tätigkeiten also leicht beschaffen. Doch Sie, meine Herren, möchten stichhaltige, unwiderlegbare Beweise in ihre Hände bekommen. Die kann man nur durch das Sammeln einer ausreichend großen Mengen an Dokumenten und Transaktionen aus unterschiedlichen Quellen erbringen. Für ein solches Unterfangen würde ich mich auf den Off-Shore-Finanzplätzen, zum Beispiel auf den Bermudas oder auf Cayman Island umsehen. Sie dürften als Drehscheiben zum Austauschen und Verschieben illegaler Gelder dienen. Gleichzeitig müsste man auch die Briefkastenfirmen in Delaware und Nevada durchleuchten und auf diese Weise mögliche Verbindungen zwischen den US-Behörden und den Drogenkartellen in Mexiko auf der einen Seite und mit Terrorgruppen in Lateinamerika auf der anderen Seite herausfiltern.«
»Warum Lateinamerika und nicht die arabische Welt mit ihrer Terrorfinanzierung? Wir haben zum Beispiel deutliche Hinweise auf ein Doppelspiel zwischen Teheran und Washington, in dem auch hohe Militärs aus Israel irgendwie eingebunden scheinen. Möglich wäre bestimmt auch das Aufdecken von Beeinflussungen und Bestechungen verschiedener afrikanischer Regierungen und Rebellenorganisationen mit Hilfe von Geld- und Waffengeschenken aus Washington.«
Die Worte von Wermelinger kamen rasch und scharf über seine Lippen. Sie zeigten deutlich, in welche Richtung er und vielleicht auch andere der im Raum Anwesenden vorausgedacht hatten.
»Zwei Gründe sprechen gegen Afrika und gegen die arabische bzw. muslimische Welt.«
Jules Stimme zeigte dieselbe Schärfe und Klarheit.
»Da sind zum einen die riesigen kulturellen, religiösen und sprachlichen Barrieren zu diesen Ländern. Ein Moslem verrät in der Regel nur ungern einen anderen Moslem an einen Christen. Sein Preis wäre entweder ausgesprochen hoch oder er würde andere, nicht-monetäre Vergünstigungen verlangen.«
Was genau er mit nicht-monetäre Vergünstigungen meinte, ließ Jules offen.
»Zum Zweiten ist die Karibik und Mittelamerika fest in den Händen der US-Finanzwirtschaft. Die Behörden der USA können direkten Einfluss auf ihre einheimischen Banken ausüben. Darum werden sie hier mit Sicherheit weit sorgloser operieren als in Afrika oder in der arabischen Welt. Denn diese werden von den europäischen Banken dominiert.«
Wermelinger starrte ihn aus weit aufgerissenen Augenlidern glotzend an, schien nach Gegenargumenten zu suchen. Aber auch die anderen Anwesenden dachten über die Worte von Jules nach.
Der Rolex-tragende ehemalige Präsident der geschädigten Großbank meinte nach einer Weile des Schweigens: »Ja, Ihre Kurzanalyse scheint mir recht zutreffend zu sein, Herr Lederer. Ich denke, ich spreche im Namen aller Anwesenden, wenn ich sage, dass Sie sich mit Ihrer Stellungnahme für die Aufgabe bereits glänzend qualifiziert haben. Doch werden Sie den Auftrag von uns übernehmen?«
Der letzte Satz, so leicht dahingesagt, als wenn es um den Austausch einiger Dichtungsringe in den Armaturen seiner Badewanne ginge, ließ eine fühlbare Spannung im Raum entstehen, ein beinah hörbares Lauern der Männer im Dunkeln.
»Ich werde Herrn Wermelinger meine Kontoverbindung mitteilen. Sobald die erste Tranche der fünfzig Millionen Franken darauf eingetroffen ist, starte ich das Projekt.«
*
»Auf ein privates Wort, Herr Lederer«, meldete sich noch einmal die Stimme aus der Dunkelheit, die Jules längst als diejenige von Franz Waffel, dem ehemaligen CEO der erpressten Bank identifiziert hatte.
»Ja?«
Jules drehte seinen Kopf in Richtung des Sprechers.
»Ich und meine Familie wurden vor einigen Jahren von der CIA erpresst. Irgendjemand muss dies herausgefunden und einen Lauschangriff auf mein privates Wohnhaus angeordnet haben. Später hat mich diese Person sogar erpresst.«
»Ja?«
»Ich möchte, dass Sie für mich herausfinden, um welche Person es sich beim Erpresser handelt.«
Jules schwieg kurz und überlegte, wie er auf diese im Grunde genommen recht spaßige Bitte reagieren sollte. Immerhin war er es selbst gewesen, der die Anbringung der Wanzen in der Villa des ehemaligen CEO angeordnet hatte und später die Kosten der Überwachung bei Waffel selbst einfordern ließ. Doch an Stelle einer flachsigen oder gar spöttischen Bemerkung meinte Jules völlig sachlich: »Wie oft wurden Sie denn bislang erpresst?«
»Einmal«, kam nach kurzem Zögern die Antwort.
»Und um welchen Betrag ging es dabei, wenn ich Fragen darf?«
»Vierhundert tausend Dollar.«
»Und wann genau fand diese Erpressung statt?«
»Etwa vor eineinhalb Jahren.«
Jules wartete zwei Sekunden ab, bevor er weiterfuhr.
»Dann war es wohl keine richtige Erpressung, sondern bloß das Eintreiben von Auslagen. Der Betrag ist im Grunde genommen lächerlich gering, gemessen an Ihren damaligen Einkünften oder Ihrem heutigen Vermögen. Und wenn seitdem keine weiteren Forderungen bei Ihnen eingetroffen sind, dann haben Sie es überstanden und werden wohl auch in Zukunft in Ruhe gelassen.«
»Ich möchte trotzdem wissen, wer dieser Kerl war«, beharrte der ehemalige Bankdirektor auf seine Bitte, »immerhin hat er durch das Abhören meiner Telefonate die Privatsphäre meiner gesamten Familie auf das Gröbste verletzt.«
Die Mundwinkel in Jules Gesicht verhärteten sich. Gleichzeitig strahlten seine Augen eine plötzliche Kälte aus, die jeden Zweifel an der Kompromisslosigkeit nach einer Entscheidung ausräumte.
»Herr Waffel, ich weiß, welche Rolle Sie beim Angriff der Amerikaner auf Ihren ehemaligen Arbeitgeber gespielt haben. Ich weiß ebenfalls, wer die vierhundert tausend Dollar von Ihnen später einfordern ließ. Ich könnte Ihnen also seinen Namen heute nennen. Doch das würde nichts an den Tatsachen ändern. Sie haben Ihren damaligen Arbeitgeber direkt ans Messer der Amerikaner geliefert, Sie und vielleicht auch Ihr Vorgesetzter«, damit drehte Jules sein Gesicht bewusst auf die andere Seite des Tisches, blickte direkt in die Richtung des Mannes mit der funkelnden Rolex GMT am Handgelenk. Der Angesprochene schien sich ertappt, zog seine zuvor so lässig auf dem Tischblatt abgelegte linke Hand zurück, verbarg sie in der Dunkelheit.
Jules fuhr ungerührt fort: »Was passiert ist, lässt sich nicht ungeschehen machen, meine Herren. Und in der Vergangenheit herumzuwühlen, bringt meiner Meinung nach nichts. Ich übernehme Ihren Auftrag und operiere gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, weil auch ich der Meinung bin, diese so kriegerische Nation muss für ihr dauerhaft aggressives Verhalten während den vergangenen vierzig Jahren endlich einmal einen kräftigen Tritt in den Hintern bekommen. Doch alles Weitere, vor allem Ihre privaten Befindlichkeiten, gehen mich nichts an. Sie sollten sie in Ihrem eigenen Interesse ein für alle Mal ruhen lassen.«
*
Auf der Fahrt von Genf zurück in sein Haus bei La Tour-de-Peilz klingelte sein Handy. Jules Lederer warf einen Blick auf die Anzeige und meldete sich dann über die Freisprechanlage seines Wagens: »Hallo Schatz. Ich bin bereits auf dem Rückweg. In einer knappen Viertelstunde werde ich bei dir eintrudeln, falls in Ecublens ausnahmsweise mal kein Stau ist.«
»Hallo Liebling«, meldete sich die dunkle Stimme mit dem sinnlichen Timbre seiner Ehefrau über den Lautsprecher, ergänzte diese Begrüßung nach einer Sekunde des Abwartens mit einem kurz und scharf ausgesprochenen »So?«, wartete anschließend auf seine Antwort.
Alabima war Äthiopierin aus dem Stamm der Oromo. Sie und Jules hatten sich 2007 kennen und lieben gelernt. Sie kehrte mit ihm zurück nach Europa, ein knappes Jahr später kam ihre Tochter Alina zur Welt. Das Familienglück der Lederers wurde vom mittlerweile neunzehn Jahre alten Chufu komplettiert. Er war ein philippinischer Waise und Jules hatte ihn auf einem seiner Abenteuer als aufgeweckten, wissbegierigen Jungen erlebt. Alabima und Jules entschlossen sich, ihm den bestmöglichen Start ins Erwachsenenleben zu verschaffen, hatte ihn zu diesem Zweck vor zwei Jahren adoptiert.
Das Leben als Patchwork-Familie verlief allerdings nicht immer so harmonisch, wie in den letzten Monaten. Einmal wurde es auf eine äußerst harte Probe gestellt, als die Familie aufs Höchste bedroht schien. Alabima entschloss sich damals, mit ihrer Tochter zusammen Jules und Chufu zu verlassen, wollte ganz einfach Abstand zu diesem Leben voller Furcht und Ungewissheit gewinnen. Doch ihr wurde damals, in den Wochen der Trennung, rasch einmal bewusst, wie sehr sie Jules liebte. Daran konnten auch die manchmal gefährlichen Momente nichts ändern. Aber sie schwor sich, von nun an ständig auf der Hut zu bleiben und rechtzeitig einzuschreiten, falls ihr Ehemann wieder einmal seinen Hals zu weit in eine Schlinge stecken sollte. Darum war Jules keineswegs erstaunt, bereits auf der Rückfahrt von diesem recht mysteriösen Termin in Genf von seiner Ehefrau zu hören.
Hinter einer so kurzen Frage wie So? konnte unglaublich viel stecken. War es ein forscher Überfall, um ihm keine Möglichkeit der Ausflucht zu geben? Oder eher ein vorsichtiges Herantasten, das voller Hoffen und Bangen war? Vielleicht enthielt es auch eine gehörige Portion Misstrauen, seine Antwort könnte bloß ablenken und sollte beruhigen? Auf jeden Fall zeigte das Wort aber die innere Stärke seiner Lebenspartnerin und dass sie nicht so leicht von ihren Standpunkten abrücken würde. Und diese ließen sich auf einen recht einfachen Nenner bringen. Die Familie ging vor.
Jules musste innerlich Schmunzeln, denn das so? von Alabima erinnerte ihn auch an eine Nummer des Schweizer Kabarettisten Emil Steinberger. Dieser hatte einige Jahre in New York City verbracht und war dann in die Schweiz zurückgekehrt. In einer seiner Geschichten erklärte er dem Publikum, wie man in den USA in einem guten Restaurant begrüßt und umsorgt wird. Das beginnt schon an der Eingangstüre, die einem von einem Mitarbeiter offengehalten wird. Ein anderer Angestellter nimmt einem den Mantel ab. Ein dritter führt einen zum Tisch. Der vierte nimmt die Bestellung des Aperitifs auf, bringt ihn wenig später. Danach folgt der Auftritt der Kellnerin, die einem die gesamte Speisekarte auswendig herunterleiert und auch umfassend über die Empfehlungen des Küchenchefs für den heutigen Tag aufklärt. Nach der Wahl der Speisen berät sie einem selbstverständlich auch über die passenden Weine. Doch eine Woche später fliegt man nach Zürich, geht dort in ein nobles Restaurant, sucht sich selbst einen freien Tisch, setzt sich, wartet auf den Kellner, der nach etlichen Minuten endlich daherkommt und mit einer etwas abfälligen Mine zum Gast sagt: »So?«
Doch der Anflug von Humor verschwand so rasch aus Jules Gesicht, wie er hineingeraten war. Denn es wurde Zeit, seiner Lebenspartnerin die Annahme des Auftrags zu beichten.
»Es geht um eine wirklich wichtige und brisante Angelegenheit, Alabima«, begann er mit viel Ernst in der Stimme. Aus den Lautsprechern seines Wagens erhielt er als Antwort ein enttäuschtes Seufzen seiner Frau.
»Ich hab dir doch bereits vor zwei Jahren von der Erpressung der obersten Führung der Großbank durch die CIA erzählt und auch vom Einschleusen mehrerer ihrer Agenten, die als Kundenberater Straftaten begehen sollten, um auf diese Weise die Bank in den USA erpressbar zu machen?«
Auf der anderen Seite der Leitung blieb es stumm und Jules wertete die Stille als Zustimmung.
»Einige Bankiers aus der Schweiz möchten den USA für den Angriff auf das Bankkundengeheimnis einen gehörigen Denkzettel verpassen. Und ich will ihnen dabei helfen.«
Nicht eingeweihte Zuhörer dieses so offen geführten Gesprächs wäre es sicher seltsam erschienen, warum Jules, sonst stets auf Verschwiegenheit und Sicherheit bedacht, bei diesem Telefonat mit Alabima völlig frei über den neuen Auftrag sprach. Doch Familie Lederer leistete sich nicht nur ein abhörsicheres Haus, das nach jedem Besuch eines Handwerkers durch eine Detektei aus Genf auf Wanzen überprüft wurde. Ihre Gespräche zwischen dem Wohnhaus und ihren Fahrzeugen wurden zudem verschlüsselt und über sichere Satellitenverbindungen übertragen. GSMK CryptoPhones sorgten dafür, dass nur wenige Geheimdienste auf der Erde ihre Gespräche belauschen und mit viel Aufwand entschlüsseln hätten können. Angesichts von zehntausenden solcher Gespräche jeden Tag war die Wahrscheinlichkeit jedoch mehr als gering. Um aber auch lokalen Richtmikrophonen auszuweichen, fabrizierten alle ihre Fahrzeuge bei Anrufen fortwährend elektronische Störgeräusche, die auch dem fähigsten Tontechniker den letzten Nerv rauben konnten.
Alabima erwiderte am anderen Ende der Leitung jedoch weiterhin nichts. Darum fuhr Jules mit seiner Rechtfertigung fort.
»Ich soll Verbindungen zwischen amerikanischen Regierungsstellen und dem organisierten Verbrechen aufdecken und dafür stichhaltige Beweise sammeln. Die Bankiers möchten nichts weniger, als dem scheinheiligsten Moralapostel der Welt kräftig auf die Finger klopfen. Ich finde, die Amis haben sich diese Abreibung in den letzten paar Jahrzehnten mehr als verdient. Darum habe ich den Auftrag angenommen.«
Eine ganze Weile lang blieb es still. Dann meldete sich Alabima endlich. Ihre Stimme klang angespannt, aber gefasst.
»Und wie gefährlich wird er diesmal werden?«
Jules hatte die Frage erwartet.
»Wahrscheinlich überhaupt nicht. Ich will bei diesem Projekt nämlich gar nicht persönlich in Erscheinung treten, sondern eher im Hintergrund bleiben, bloß die Operationen leiten und koordinieren. Die eigentliche Arbeit vor Ort werden andere erledigen.«
Alabima bewies Jules einmal mehr ihr großes Vertrauen in sein Urteilsvermögen, auch wenn sie ihren Ehemann immer wieder als einen viel zu positiv denkenden, ja manchmal geradezu närrisch naiven, Menschen erlebte. Ihrer Meinung nach empfand Jules die meisten Probleme bloß als neue Herausforderungen, die man dank klugem Vorgehen überwinden konnte.
»Na gut. Lass uns darüber reden, wenn du zurück bist. Ich sehe dich also in etwa zehn Minuten?«
»Yep.«
Trotz diesem recht friedlichen Ende des Gesprächs fühlte Jules ein flaues Gefühl in der Magengegend. Hatte er womöglich Bammel davor, seiner Frau unter vier Augen die Tragweite des Auftrages zu erklären? Sich ihrem forschenden Blick auszusetzen? Ihre bohrenden Fragen zu beantworten? Oder fürchtete er sich nicht eher vor der etwas leichtfertig übernommenen Aufgabe, deren Risiken und möglichen Konsequenzen er nicht wirklich abschätzen konnte?
Jules machte sich nichts vor. Den Behörden der USA illegale Tätigkeiten nachzuweisen, das war auf jeden Fall eine gefährliche Angelegenheit und äußerste Vorsicht geboten.
*
Detective Sergeant Luke Dasher vom siebten Bezirk las den Autopsie-Bericht über den erschossenen jungen Mann in der Quergasse zur Attorney Street. Hank Publobsky hieß der Siebenundzwanzigjährige. Er war mit achtzehn aus der Ukraine in die USA migriert und hatte zuletzt in einer Filiale von Barnes & Noble als Verkäufer gearbeitet. Insgesamt zählte der Gerichtsmediziner neben verschiedenen Prellungen und Abschürfungen und einem Streifschuss vier tödliche Wunden auf, ein Schuss ins Gesäß mit Austritt am Schlüsselbein, zwei Kugeln direkt in den Kopf und ein eingedrückter Hinterkopf, Folge eines Sturzes aus mehreren Metern Höhe.
Luke Dasher war vor drei Tagen am Tatort gewesen. So stand für ihn fest, dass dieser Publobsky versucht hatte, seinen Mördern über die Feuerleiter zu entkommen, war von ihnen jedoch von unten abgeschossen worden. Dass zumindest zwei verschiedene Waffen an der Tat beteiligt waren, stellte der Vergleich von zwei gefundenen Projektilen sicher. Es waren Handfeuerwaffen mit dem Kaliber 44, das beliebteste und häufigste in den USA, in der Unterwelt genauso, wie bei den Polizeikräften oder der Armee. Doch warum sollte ein kleiner Buchverkäufer den Zorn einer dieser drei Gruppen geweckt haben?
Natürlich waren im Bericht auch die gefundenen Amphetamine aus der Brusttasche des Toten aufgeführt. Ihr Straßenverkaufswert betrug wenige hundert Dollar. Dafür wurde niemand umgebracht, auch nicht in Manhattan.
Für Detective Sergeant Dasher war eines klar: hier hatten professionelle Mörder einen Auftrag erledigt. Nur so waren die beiden Kopfschüsse auf einen am Boden liegenden, zumindest schwer verletzten Menschen zu erklären. Raubmord oder gar ein Beziehungsdelikt konnte Dasher von Anfang an ausschließen.
Sollte er diese Akte wie viele andere ein paar Wochen lang herum liegenlassen und danach als unlösbaren Fall abschließen? Oder sollte er sich der Sache doch etwas stärker annehmen? Dasher wankte, dachte an den Berg von anderen Fällen, vom bewaffneten Raubüberfall bis zum Einbruch in die Stadtwohnung eines Senators, für die er noch Berichte schreiben musste.
Ein völlig unwichtiger Mensch war aus dem Leben befördert worden. Das Motiv war nicht offensichtlich und die Befragung der Anwohner der Gasse durch die Police Officers hatte keinerlei Hinweis ergeben. Es schien kaum Anhaltspunkte für eine weiterführende Untersuchung zu geben. Höchstens in der Person des Toten selbst.
Doch womit konnte ein Buchverkäufer von Barnes & Noble die Wut von Profikillern erregt haben?
Hatte er ihnen die falsche Lektüre angedreht?
Der Detective Sergeant fischte sich die Fotos der Leiche und des Tatorts aus dem Aktendeckel und breitete sie auf seinem Pult aus. Auf einem war das Gesicht des Toten in einer Nahaufnahme zu sehen. Die beiden hässlichen, dunklen Löcher in seiner Stirn störten. Die Augenlider von Publobsky standen offen und die blaugrünen, matten Pupillen des jungen Mannes starrten ins Nichts, schienen dort selbst nach der Antwort für den Mord zu suchen.
Dasher hatte sich entschieden. Er würde ein paar Stunden seiner stets knappen Zeit in diesen Fall investieren und einige Nachforschungen anstellen. Vielleicht ergab sich doch noch ein Anhaltspunkt? Wahrscheinlich aber verlief der Fall eh im Sand.
*
Genau eine Woche nach der Unterredung in Genf traf Jules Lederer auf dem Nassau International Airport auf den Bahamas ein. Er war über London und Miami angereist. Henry Huxley, sein guter und langjähriger Freund, war in London in dasselbe Flugzeug zugestiegen. Doch da Jules wie vereinbart Business und Henry Economie flogen, hatten sie sich nur kurz beim Umsteigen in Miami und nur von Weitem erblickt. Keiner der beiden Männer hatte dabei eine Regung gezeigt, so als wären sie sich völlig fremd.
Jules hatte Henry und Toni Scapia zu einem Meeting auf die Bahamas gebeten. Da Jules ab und zu von Geheimdiensten begleitet wurde, hatte er für das Treffen höchste Sicherheit vorgesehen. Kaum jemand kannte bislang seine persönlichen Beziehungen zu Huxley und Scapia. Und das sollte auch weiterhin so bleiben.
Toni Scapia, ein Millionärssohn und erfolgreicher Geschäftsmann aus Florida, kannte Jules seit einigen Jahren. Sie hatten sich bei einem internationalen Treffen von britischen und amerikanischen Mitgliedern der Freimaurerloge kennengelernt. Beide erkannten damals rasch ihre ausgeprägte Affinität für Abenteuer und Rätsel, fanden sich zudem sympathisch und hatten sich seither einige Male bei ihren Projekten unterstützen können.
Toni war Ende dreißig, Jules Mitte vierzig und der dritte im Bunde, Henry Huxley, hatte sein fünftes Jahrzehnt mit Sicherheit schon vor einiger Zeit angetreten.
Henry war der typische britische Gentleman, recht groß, schlank und ausgesprochen drahtig. Henry trug in seinem meist ernst blickenden Gesicht einen angegrauten, kurz geschnittenen Schnauzer. Man konnte sich ihn gut als pensionierten britischen Offizier vorstellen, wie er an der Spitze einer kleinen Gruppe von Verwegenen den Hindukusch für sein Königreich eroberte, in der linken Hand die Zügel seines Reitpferdes, in der rechten eine Webley Mk VI.
Jules und Henry verließen den Flughafen auf getrennten Wegen, wobei Henry rasch ein Taxi bestieg und zu seinem Hotel am Hafen fuhr, während Jules erst noch seine Alabima in der Schweiz anrief, um ihr die problemlose Ankunft in Nassau mitzuteilen.
Am nächsten Morgen bestieg Jules mit der ausgeliehenen Taucherausrüstung ein ebenso gemietetes Segelboot, tuckerte mit dem Hilfsmotor aus dem Hafen, setzte draußen auf See das Vorsegel und das Hauptsegel und steuerte auf direktem Weg die Steilwandtauchgründe von Paradise Island an.
Henry traf sich zu diesem Zeitpunkt mit Toni am Hafen.
Scapia sah wie der geborene Sonnyboy aus, immer heiter und gut gelaunt mit einem breiten Lächeln im Gesicht, sportlich und selbstverständlich stets braun gebrannt. Man sah ihm den genießenden Lebemann an, hätte hinter seiner mittelhohen Stirn nie den cleveren Geschäftsmann und harten Verhandlungspartner erwartet. Doch das war der Mann aus Miami tatsächlich. Stets von Gegnern und von Partnern unterschätzt zu werden war sein Geheimnis für den außergewöhnlichen Erfolg.
Henry und Toni waren sich zuvor noch nie begegnet, hatten jedoch ihre Fotos über eine sichere Internetverbindung ausgetauscht. Ihr Händedruck war kräftig und kurz, sie nickten sich zu und klopften sich wie alte Bekannte auf die Schultern. Dann lud Toni den Briten auf sein Schnellboot ein, das er von Miami aus über die See bis hierhin gesteuert hatte. Es war seine neue Sunseeker XS Sport, ausgestattet mit zwei 410 kW starken MerCruiser Benzinmotoren und damit fast 150 Kilometer pro Stunde schnell. So schmolz die Fahrt von Florida bis auf die Bahamas auf wenige Stunden zusammen Das Boot verfügte über keinen großartigen Komfort, sah man von den bequemen, weißen Ledersitzen ab, die dem Steuermann und seinem Co-Piloten selbst bei starker Beschleunigung sicheren Halt boten.
Toni und Henry hatten das Auslaufen von Jules Segelboot ohne Interesse zu zeigen beobachtet, hantierten ihrerseits noch eine gute Viertelstunde lang an Bord herum, wobei der Amerikaner dem Briten die Funktionsweise des Schnellbootes zu erklären schien. Unterbrochen wurden die Ausführungen von Toni einzig durch das Einschenken eines vorzüglichen Whiskeys, einem über vierzig Jahre alten Glan Garioch Single Malt, den Huxley mitgebracht hatte.
Dem Zuprosten, genießerischen Riechen und dem erwartungsvollen Nippen am Glas folgten Sekunden des andächtigen Schweigens. In der Nase hatte sich zuvor eine wahre Schlacht zwischen Torf und Sherry Düften entfaltet, am Gaumen verband sich geschmolzene Schokolade mit süßem Torf, darin fanden sich Einschlüsse von Kirschen und Vanille.
Jules hatte vor der Bucht Anker geworfen und sich die Taucherausrüstung angezogen. Er war längst in den Tiefen der See verschwunden. Erst Minuten später tauchte das Schnellboot von Toni Scapia hinter einer Landzunge auf und fuhr langsam an der Küste entlang. Henry und Toni schienen etwas an Land zu suchen, blickten angestrengt in Richtung Ufer. Für Jules hatten sie eine Leine mit einem daran befestigten Gewichtsstein auf der Seeseite ausgeworfen. Der Schweizer packte sie in zwei Metern Tiefe, ließ sich mit dem Motorboot eine kurze Strecke lang mitschleppen, zog sich dann an den Knoten im Tau rasch an Bord.
Ein Zuschauer hätte es sicher als großen Trick gewertet, dass ein Taucher die ausgeworfene Leine eines vorbeifahrenden Bootes im Wasser ansteuern und ergreifen konnte. Doch im Zeitalter des GPS war dieser Trick kein wirkliches Kunststück mehr und die exakte Einhaltung eines zuvor vereinbarten Weges zwischen zwei definierten Punkten kein Hexenwerk.
Jules zog sich Taucherbrille und Kopfschutz ab, zeigte ein breites Lächeln voller Freude, schüttelte Henry herzlich die Hand, während Toni das Boot auf die offene See steuerte und das Tempo langsam erhöhte. Wenig später flogen sie über die Wellenkämme dahin, erreichten rasch mehr als sechzig Knoten.
Jules hatte sich neben Scapia ans Ruder gestellt, ihm zur Begrüßung leicht und freundschaftlich auf die Schulter geklopft. Der Amerikaner grinste ihn freudig an, behielt seine Hände jedoch am Steuerrad. Henry reichte Jules und Toni die bereitgelegten Headsets und endlich konnten sich die drei trotz Motorengeheul miteinander unterhalten.
»Vielen Dank, dass ihr Zeit gefunden habt«, begann Jules ihr Meeting auf hoher See.
»Jederzeit, mein Freund«, meinte Toni.
»Wer kann schon einem Ausflug auf die Bahamas widerstehen, mitten im europäischen Winter«, warf Henry ein, »doch warum diese Vorsicht? Ist sie nicht etwas übertrieben, Jules?«
»Es geht um einen äußerst delikaten Auftrag, den ich letzte Woche angenommen habe. Und ich hoffe, ihr beide macht mit, wenn ihr erst einmal die Details und die Hintergründe kennt.«
Weder Toni noch Henry antwortete, was Jules als Aufforderung verstand, weiterzusprechen.
»Ich soll für eine Interessengruppe in der Schweiz die Regierungsbehörden der USA bloßstellen, vor allem die amerikanischen Geheimdienste.«
Toni sah Jules kurz von der Seite her an, hatte seine Stirn dabei krausgezogen. Man sah ihm an, dass ihm eine scharfe Entgegnung auf der Zunge lag, sie jedoch aus Freundschaft zu Jules noch zurückhielt. Henry starrte dagegen, ohne eine Regung zu zeigen weiterhin über den Bug des Bootes hinaus auf die weite See.
»Es geht dabei nicht um den Verrat von Geheimnissen, welche die nationale Sicherheit der USA betreffen könnten«, erklärte Jules den beiden nun, »es geht einzig darum, Beweise für illegale und verfassungswidrige Tätigkeiten sicherzustellen und dabei die Verbindungen der amerikanischen Regierung und ihren Behörden zur Unterwelt und möglicherweise zu Terror-Organisationen aufzuzeigen.«
»Und was bezweckt diese Interessengruppe damit?«, fragte Toni mit einem Seitenblick auf Jules.
»Sie will sich mit einer Veröffentlichung der Beweise für den Angriff auf das Bankkundengeheimnis in der Schweiz rächen.«
»Eine Retourkutsche? Und da machst du mit, Jules?«
Der Missmut war in der Stimme Toni Scapias nicht zu überhören.
»Es ist nicht bloß eine Retourkutsche, Toni. Es geht auch nicht gegen das amerikanische Volk, das ich für seinen Mut, sein Streben nach Freiheit und dem persönlichen Glück noch immer sehr bewundere. Es geht einzig und allein gegen den Missbrauch von Macht, gegen die Feinde des wirklichen amerikanischen Geistes, gegen all jene, die eure Verfassung seit vielen Jahren mit Füßen treten und die parlamentarische Aufsicht bewusst umgehen. Die wirklichen Feinde der USA sind mein Ziel. Nur aus diesem Grund habe ich den Auftrag angenommen. Denn die Behörden der größten und mächtigsten Nation der Welt dürfen sich nicht länger außerhalb aller demokratischer Kontrollen bewegen und willkürlich Gesetze brechen.«
Toni dachte über die Worte seines Freundes aus der Schweiz nach. Dann gab er sich einen Ruck.
»Also gut, Jules. Du weißt, dass ich dich und deine Meinung schon immer hochgeschätzt habe. Aus diesem Grund vertraue ich dir auch in dieser Sache. Fahr bitte weiter.«
Mit einem kurzen Seitenblick auf Henry versicherte sich Jules auch dessen Zustimmung. Der Brite wirkte angespannt, ähnlich einem Jagdhund, der genau spürte, dass er bald von der Leine gelassen wurde und sich auf die Hatz eines Wildes freute.
»Von der Interessengruppe in der Schweiz habe ich als Basismaterial für unsere Untersuchungen die Daten zu einigen hundert dubiosen Geldzahlungen erhalten. Es sind Überweisungen von amerikanischen Unternehmen an ausländische Firmen, deren Höhe stutzig machen und deren mögliche Hintergründe sehr vage sind. Wenn, wie in einem Fall, eine unbekannte Briefkastenfirma in Delaware 750’000 Dollar an eine kleine Spenglerei auf Antigua überweist, dann ist dies schon recht seltsam, vor allem, wenn man weiß, dass die Spenglerei in Wahrheit in einem Einfamilienhaus am Stadtrand von Saint John’s firmiert ist und über keinerlei Werkstatt verfügt.«
»Du sprichst von Geldwäscherei?«, warf Henry nun ein.
»Möglicherweise. Vielleicht steckt aber auch mehr dahinter. Denn die Post dieser Briefkastenfirma in Delaware wird an eine Adresse in New York weitergeleitet, an eine zwei Zimmer Wohnung in SoHo. Im selben Haus wohnt zufälligerweise ein Mitarbeiter des CIA, früher ein hochrangiger Agent im Außendienst.«
Toni und Henry blickten Jules fragend an, der in ihrer Mitte stand.
»Und was sollen wir da noch zusätzlich herausfinden? Wer die Briefkästen in New York und Saint John’s leert, oder was?«
Jules schüttelte den Kopf.
»Ich will herausfinden, wie oft und zu welchen Zwecken diese Zahlungen fließen, woher sie kommen und wer ihr endgültiger Empfänger ist. Und ich will dazu stichhaltige Beweise sammeln, Dokumente mit Unterschriften, welche die Federführung der US-Behörden eindeutig machen. Der Welt soll bewiesen werden, wie wenig sich die Geheimdienste der USA an Recht und Gesetz halten und wie sehr ihr Tun von der Administration in Washington nicht nur gedeckt, sondern unterstützt wird.«
Henry bewies mit drei kurzen Fragen, wie genau er verstanden hatte.
»Wie willst du vorgehen? Wie sieht deine Terminplanung aus? Und wie steht es mit den Finanzen?«
Jules Lederer musste über die militärisch knappe Aufzählung der Problemkreise lächeln. Er hatte nichts anderes vom Briten erwartet.
»Wir sollten am Anfang zweigleisig vorgehen. Dabei ist das Aufdecken des Netzwerks an Briefkastenfirmen in den USA und in der Karibik ein vordringliches Ziel. Denn vor allem darüber dürften illegale Gelder gewaschen und an die wirklichen Empfänger weitergeleitet werden. Und wir müssen den Ursprung des Geldes feststellen, auch in welcher Höhe und auf welchen Wegen sie den Behörden der USA zugeleitet werden. Irgendwo werden sich die Geldströme dabei treffen und so eine beweisbare Verbindung herstellen. Vielleicht können wir hinterher auch der tatsächlichen Verwendung der Gelder nachspüren und auf diese Weise Verbindungen zu Terrorakten oder Bürgerkriegen aufdecken.«
»Denkst du bei der Mittelbeschaffung vielleicht an Mexiko und ihrem seit Jahren tobenden Drogenkrieg, an dem auch die US-Industrie mit jährlichen Waffenlieferungen in Milliardenhöhe mitverdient?«, die Stimme von Toni drückte echte Besorgnis aus, »über die Entwicklung an der Südgrenze der USA mache ich mir, aber auch einige meiner Freunde schon seit längerer Zeit unsere Gedanken. Die Drogenkartelle in Mexiko haben längst jeden Skrupel abgelegt, bekämpfen mittlerweile die Staatsorgane völlig offen, scheinen sich mächtig genug zu fühlen, um selbst die mexikanische Regierung unter Druck zu setzen.«
»Ja, der Drogenschmuggel aus Mexiko ist mit Sicherheit eine der wichtigen Geldquellen in diesem dreckigen Spiel«, stimmte Jules seinem Freund sofort zu, »denn ohne Unterstützung der amerikanischen Behörden wären die riesigen Mengen an Drogen kaum über die Grenze in die USA zu schaffen. Und diese Hilfe dürften sich die Geheimdienste von den mexikanischen Drogenbossen fürstlich bezahlen lassen. Denn wenn saudi-arabische Terroristen in irgendwelchen Berghöhlen in Afghanistan von den US-Geheimdiensten aufgespürt werden können, dann müssten sie doch mit Leichtigkeit hier, direkt an ihrer Grenze, das Böse erwischen können, wenn sie nur wollten. Eventuell könnten wir zusätzlich auch noch in Kolumbien, Ecuador oder Venezuela Ansatzpunkte für die illegale Tätigkeit der US-Geheimdienste finden?«
»Und wer soll welches Aufgabengebiet übernehmen?«
Huxleys Gesicht verriet eine innere Erregung. Unter der kühlen und geschäftsmäßig wirkenden Oberfläche war seine Abenteuerlust erwacht. Es gab neue Geheimnisse, man wollte sie gemeinsam aufdecken, dafür benötigte man brauchbare Pläne.
»Ich möchte dich bitten, Henry, in Mexiko tätig zu werden. Du hast mir mal erzählt, dass du früher in diesem Land einige Zeit gearbeitet hast. Du könntest einen Weg finden, um an die Daten der Drogenbosse zu gelangen, an Informationen über Bestechungen von Behörden zum Beispiel oder dem Geldfluss. Vielleicht musst du dazu ein eigenes Team aufstellen oder gar Bandenmitglieder vor Ort kaufen, falls möglich. Denk dir etwas in diese Richtung aus.«
Huxley nickte zu den Worten von Lederer, so als wenn der ihm eine Einkaufsliste diktiert hätte, deren Inhalt er im nächsten Tankstellenshop bequem besorgen konnte.
Toni Scapia meldete sich nun zu Wort.
»Und ich soll wohl den Maulwurf in Delaware und Nevada spielen, ein paar Fäden ziehen und hoffen, dass sich in einem immer dichter gewobenen Netz einige Schmeißfliegen verfangen?«
Jules und Henry lachten über die blumige Beschreibung des Amerikaners laut auf.
»Genau, mein lieber Toni, du sollst die Spinne sein, die mit ihrem Nachwuchs ein Netz aufzieht, in dem sich möglichst fette Beute verfängt und verheddert. Denn wenn eine Bombe in Bogota hochgeht, dann hat vielleicht irgendjemand in Washington den Sprengstoff dafür bezahlt. Und das Geld dafür hat bestimmt nicht der US-Kongress bewilligt, jedenfalls nicht offiziell.«
»Und wie sieht dein Zeitrahmen aus, Jules? Eine solche Operation ist nicht von heute auf morgen in Gang zu bringen.«
Henry wollte den zweiten Punkt auf seiner Liste dringend abhaken.
»Wir müssen die Dinge sehr vorsichtig angehen und uns genügend Zeit lassen. Ihr selbst müsst bestimmen, wie rasch ihr vorwärtskommen könnt. Ich habe mich für zwölf Monate, das heißt Bis Ende Jahr, verpflichtet. Spätestens im Dezember ziehen wir also endgültig Bilanz und entscheiden, ob ein Weitermachen sinnvoll ist.«
»Und die Finanzen?«
»Wir haben vorerst einen Betrag von fünfzig Millionen Schweizer Franken zur Verfügung.«
Toni pfiff durch die Zähne.
»Deine Interessengruppe scheint eine Stinkwut auf uns Amis zu hegen.«
»Nur auf einige Behörden, Regierungsstellen und Parlamentarier«, beschwichtigte Jules, »auf Leute, die im Wirklichkeit gegen all das Arbeiten, was die USA letztendlich ausmachen. Übrigens habe ich für euch Nummernkonten einrichten lassen. Hier habt ihr die Details und die Kennwörter dazu.«
Jules zog zwei beschriebene Visitenkarten unter dem Neopren-Anzug hervor und überreichte sie nach einem kurzen Kontrollblick an Henry und Toni.
»Es sind auf jedem zehn Millionen Dollar einbezahlt. Meldet euch, wenn ihr mehr benötigt. Und gebt mir bitte regelmäßig Bericht darüber, wie ihr vorankommt. Wir halten auf jeden Fall Verbindung untereinander. Auf dem üblichen Weg.«
Toni hatte vor der Bucht einen weiten Bogen gezogen und näherte sich wieder dem Segelboot von Jules, drosselte das Tempo merklich. Jules verabschiedete sich von seinen beiden Freunden, zog das Headset vom Kopf und die Kapuze und die Taucherbrille wieder über, setzte sich auf die Bordwand und ließ sich rückwärts ins Wasser fallen.
*
Detective Sergeant Dasher suchte als erstes den Vermieter des Opfers auf. Dieser konnte nichts Negatives über den jungen Mann erzählen. Hank Publobsky war vor rund drei Jahren bei ihm eingezogen, bezahlte die Miete stets pünktlich und gab auch sonst keinerlei Anlass zu Reklamationen.
Als Dasher mit ihm zusammen die Wohnung des Ermordeten fünften Stock des schäbigen Mietshauses an der 5th Street untersuchte, bemerkte der Detective Sergeant, wie sich ganz am Ende des Flurs eine Türe nur einen Spalt weit öffnete und ein unruhiges Augenpaar ihn und den Vermieter musterte.
Die Durchsuchung der zweieinhalb Zimmer erbrachte nichts Neues. Hank Publobsky war womöglich der langweiligste Mensch, der in New York lebte. Sein Laptop mit Wireless Internetanschluss schien das Aufregendste im Leben des jungen Mannes gewesen zu sein. Vorsorglich nahm Dasher das Gerät mit. Die Jungs im Labor würden es nach Verwertbarem durchsuchen.
Zurück auf dem Flur verabschiedete sich Dasher rasch vom Vermieter, wandte sich dann um und ging mit strammen Schritten auf die zuvor geöffnete Wohnungstür zu, die im selben Moment ins Schloss gedrückt wurde. Der Detective ließ sich nicht beirren und drückte auf den Klingelknopf. Hernandez, stand auf einem schief angeklebten, fleckigen Zettel darunter.
Der Detective musste mehrmals Läuten und sein innerer Ärger wuchs mit jedem erneuten Betätigen der Türglocke. Endlich meldete sich dahinter eine weibliche, störrisch klingende Stimme.
»Was wollen Sie?«
»Ich bin Detective Dasher vom siebten Bezirk und habe ein paar Fragen an Sie. Bitte öffnen Sie.«
»Können Sie sich ausweisen?«
Dasher verdrehte genervt die Augen, schnappte sich den Ausweis aus seiner Jackentasche und hielt ihn vor das Fischauge des Spions.
»Zufrieden?«
Anstelle einer Antwort wurde an der vorgelegten Kette genestelt, dann öffnete sich die Wohnungstür. Dahinter stand eine ältere, mehr als füllige Lateinamerikanerin. Ihr hellbraunes Haar war scheckig gefärbt und graue Ansätze zeigten sich bereits wieder. Ihr Kinn war eingepackt in fleischige Wangen, die ohne Übergang in einen dicken Hals mündeten. Ihre Mundwinkel hingen nach unten, gaben dem Gesicht zusammen mit der eher knolligen Nase den Ausdruck einer angriffslustigen Bulldogge. Hinzu kamen ihre Augen, die in tiefen und dunkel umrandeten Höhlen lagen und den Detective anblitzten. Ob bloß mürrisch oder gar zornig mochte Dasher nicht entscheiden. Noch nicht.
»Misses Hernandez?«, begann Dasher.
»Miss Hernandez«, korrigierte sie ihn mit aggressiver Stimme.
Der Detective blickte die Frau kalt und abweisend an. Bei solchen Schnepfen verspürte er schon zeitlebens seine liebe Mühe, die Ruhe zu bewahren.
»Na gut. Dann also Miss Hernandez. Ich untersuche den Mord an Ihrem Wohnungsnachbarn, Hank Publobsky.«
Falls Dasher mit einer Reaktion der älteren Frau gerechnet hatte, so lag er falsch. Nur die Augen der Frau glühten einen Moment lang auf. Es war aber diesmal bestimmt kein feindliches oder gar besorgtes Glühen, sondern eher ein nach Sensationen lüsternes, wie auch ihr schlaffer Mund bewies, dessen Lippen sich für einen kurzen Moment zugespitzt hatten.
»Wissen Sie etwas über den Ermordeten? Hatte er Familie? Oder öfters Freunde zu Besuch? Ist Ihnen in letzter Zeit vielleicht etwas Außergewöhnliches aufgefallen?«
»Liegt eine Belohnung drin?«, war die wenig überraschende Gegenfrage, die den Blutpegel in Dashers Kopf zusätzlich ansteigen ließ.
»Nein, es gibt keine Belohnung, Miss Hernandez«, war seine grobe Entgegnung, »doch ich warne Sie. Selbst meine Geduld kennt gewisse Grenzen. Oder möchten Sie gerne, dass ich Sie aufs Revier mitnehme oder dort befragen lasse?«
Die Frau schien tatsächlich abzuwägen, welchen Weg sie gehen wollte. Dann endlich lenkte sie ein.
»Also gut. Ich lass Sie rein. Kommen Sie.«
Die Frau gab die Türe frei und ging dem Detective voraus in ein kleines Wohnzimmer, das mit alten Möbeln vollgestopft war und dessen einziges Fenster von einem fadenscheinigen Vorhang verdeckt war. Im Halbdunkel erkannte Dasher zwei graubraune Katzen, die sich auf den beiden vorhandenen Plüschsesseln eingerollt hatten und zu schlafen schienen. Eine dritte richtete sich gerade steifbeinig auf dem Sofa auf, blickte ihn gleichgültig an, streckte sich dann gähnend, verharrte in dieser Stellung lang und ausgesprochen genüsslich. Bei ihrem Anblick fühlte Dasher eine bleierne, lähmende Müdigkeit in seinen Knochen.
»Setzen Sie sich«, befahl die alte Frau, worauf der Detective mit einer Hand die Katze auf dem Sofa zur Seite drückte und die mit Haaren verfilzte Tagesdecke verschob, bevor er Platz nahm. Die Frau packte währenddessen die schlummernde Katze auf einem der Sessel mit ihren beiden Händen grob um den Leib und warf sie achtlos über die Rückenlehne hinweg nach hinten. Das Tier landete instinktiv auf ihren Pfoten, schüttelte unwillig ihren Kopf und schlich beleidigt aus der Tür. Die Frau hatte sich derweil ächzend gesetzt, ohne das aufgeschreckte Tier oder seine etwas unglückliche Landung auf dem Teppichboden auch nur im Geringsten zu beachten.
»Gehören nicht mir, die verdammten Viecher«, meinte sie, den Blick von Dasher richtig deutend, »ich hüte sie bloß ein paar Tage für meine Tochter.«
Der Detective sagte nichts dazu, blickte Miss Hernandez bloß abwartend an.
»Hank war ein lieber Junge«, begann die ältere Frau endlich zu erzählen, »ist bloß in schlechte Gesellschaft geraten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na, sein neuer Freund, dieser Jim. Der taugte ganz einfach nichts. Gar nichts. Hab ich Hank von Anfang an gesagt. Doch der wollte nicht hören, der Dummkopf.«
»Und warum taugte dieser Jim nichts?«
Dasher hatte in seinem Leben unzählige Zeugen befragt. Die meisten gaben sich zu Anfang recht verstockt und man musste sie erst einmal verunsichern, bevor sie mit der Polizei zusammenarbeiteten. Miss Hernandez schien dagegen zur zweiten, weit selteneren Kategorie zu gehören. Dieser Art musste man bloß einen kleinen Stoß versetzen und dann sprudelten die Informationen nur so aus ihnen heraus, als wenn man den Wassergraben einer Sandburg an einer Stelle anbohrte. Und wie bei der Burg kam mit dem Wasser oft auch sehr viel zusätzlicher Schlamm mit. Aufschlussreicher Schlamm.
»Na, der Junge hatte diesen Jim doch im Internet kennengelernt. Wissen Sie, Hank war schwul, aber sonst ein ganz Lieber, wirklich. Doch dann kam er mit diesem Jim hier an. Der Kerl behauptete doch tatsächlich, dass er aus Seattle stamme. Aus Seattle, verstehen Sie?«
Dasher verstand nicht, blieb aber stumm und ließ die Alte weiterreden.
»Nie im Leben kam der aus Seattle. Das war ein Kalifornier, Santa Barbara, in der Ecke herum, da wette ich drauf. Doch das hat dieser Jim glattweg abgestritten, selbst als ich es ihm direkt ins Gesicht sagte.«
»Warum glauben Sie, dass dieser Jim aus Santa Barbara stammt?«
»Na, sein Slang selbstverständlich. Und ein paar von seinen Ausdrücken. So spricht keiner aus Seattle.«
»Und woher wissen Sie das? Sind Sie Sprachwissenschaftlerin?«
»Nonsens. Aber ich war früher Schauspielerin. In der Werbebranche. Vielleicht kennen Sie noch die Werbespots für das Pacific Blue Waschmittel? Anfang der sechziger Jahre?«
Ihre Stimme klang fast beschwörend, hoffte augenscheinlich auf ein Nicken des Detective. Doch Dasher schüttelte verneinend seinen Kopf.
»Ich bin 1959 geboren«, gab er der sichtlich enttäuschten Frau bekannt, »aber zurück zu diesem Jim. Was können Sie mir noch über ihn erzählen? Kennen Sie seinen Nachnamen? Wie sah er aus?«
»Na, das müssten Sie ja wohl besser wissen«, lautete die befremdliche Antwort der alten Frau.
»Wie meinen Sie das denn schon wieder?«
»Na, Sie haben ihn doch verhaftet?«
»Wer wurde verhaftet? Hank Publobsky?«
»Nein, sein angeblich schwuler Freund, dieser Jim. Doch der war bestimmt nicht schwul. Der hat nur so getan. Ein miserabler Schauspieler, das sag ich Ihnen.«
Die Frau sprach mit dem Detective wie mit einem kleinen Jungen. Doch Dasher beachtete es nicht, sondern hakte sofort nach: »Wann und wo wurde dieser Jim denn verhaftet?«
»Na, letzte Woche, am Dienstagabend, nein, am Mittwochabend, so gegen acht Uhr, schätze ich. Vier Polizisten läuteten erst Sturm und nachdem Hank die Wohnungstür geöffnet hatte, stürmten sie hinein und führten kurz darauf diesen Jim in Handschellen ab.«
»Am Mittwochabend sagen Sie? Am zwölften?«
»Ja, am zwölften.«
»Und diesen Jim haben Sie seither nicht mehr gesehen?«
Die ältere Frau schüttelte stumm ihren Kopf. Dann begannen ihre Augen wieder zu funkeln.
»Gibt es wirklich keine Belohnung?«
Dasher zog erst seine Augenbrauen hoch und dann die Brieftasche aus seiner Jacke. Er pickte sich einen Fünfziger heraus, legte ihn, ohne ein Wort zu verlieren auf den niedrigen Tisch. Dann stand er auf, klemmte sich den Laptop von Hank Publobsky unter den Arm und ging. Er hatte eine erste Spur gefunden.
*
Die Abklärung über den Polizeicomputer im Revier ergab, dass im besagten Mietshaus am zwölften Januar ein Mann namens Timothy Allen verhaftet wurde. Ihm wurde ein Drogenvergehen vorgeworfen, der Handel mit einer kleinen Menge Koks. Er war wohl ein Gelegenheitsdealer, der sich seinen eigenen Stoff mit gestreckter Ware finanzierte. Als er vor vier Wochen nicht zu seiner Gerichtsverhandlung erschienen war, wurde er zur Fahndung ausgeschrieben. Ein telefonischer Tipp durch einen Unbekannten führte die Polizei dann zur richtigen Zeit zum richtigen Haus und in die Wohnung von Hank Publobsky. Mehr oder weniger Daily Business auf einem Revier in Manhattan.
Doch dann stutzte Detective Dasher und blickte überrascht auf die Zeile auf seinem Bildschirm, hinter der jeweils der Ort aufgeführt war, an dem sich ein Inhaftierter augenblicklich befand.
»Transferred« stand da zu lesen.
Der Detective klickte das Wort an und das Programm verzweigte auf eine Detailansicht, zeigte ihm das eingescannte Formular zur Übergabe des Verhafteten mit den Unterschriften aller beteiligten Beamten. Dasher staunte. Der kleine Drogendealer war doch tatsächlich von der DEA abgeholt worden, von der Drug Enforcement Administration.
War dieser Timothy Allen vielleicht ein Informant, der für die Drogenfahndung arbeitete? War die DEA darum an ihm interessiert?
Dasher überflog noch einmal den Polizeibericht zur Verhaftung von Allen, verglich den Zeitpunkt mit dem Protokoll der Übergabe an die Drogenfahnder. Der Junkie war kaum eine Stunde auf dem Revier gewesen. Es schien, als ob die DEA auf diesen Timothy Allen gewartet hätte, um ihn sogleich abzuholen, bevor jemand anderer ihn vernehmen konnte.
Detective Dasher schüttelte unwillig seinen Kopf.
»Was zum Teufel...?«, murmelte er leise vor sich hin.
Da ist die DEA hinter einem kleinen Drogendealer her, weiß ganz offensichtlich, wo er zu finden ist, benutzt für seine Verhaftung jedoch den lokalen Polizeiapparat? Dann holen sie den Mann so rasch als möglich vom Revier ab und am nächsten Tag wird der schwule Freund dieses Kerls ermordet aufgefunden, hingerichtet von professionellen Killern?
Luke Dasher wurde es flau im Magen.
Eine ganze Zeit lang stierte er in Gedanken versunken vor sich hin. Seine Augen blickten stumpf, schienen nichts um sich herum wirklich bewusst wahrzunehmen. Dann schüttelte er die aufsteigende Benommenheit mit einem Kopfschütteln ab. Es war wohl doch das Beste, die Akte Publobsky ohne Ermittlungsergebnis möglichst rasch abzuschließen. Zumindest schien ihn das die klügste Lösung.