Читать книгу Retourkutsche - Kendran Brooks - Страница 5

Februar 2010

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Toni Scapia war in den letzten zwei Wochen mächtig aktiv geworden. Vom Warrington College of Business Administration hatte er fünf Studenten verpflichtet. Sie sollten ihm sämtliche Anwaltskanzleien in Delaware und Nevada ausfindig machen, die sich auf die Gründung von Briefkastenfirmen spezialisiert hatten. Den Studenten gegenüber gab er sich als freischaffenden Journalisten aus, der Recherchen für einen Hintergrundbericht über Steuerschlupflöcher sammelte. Schon eine Woche später hielt er zwei Listen in Händen. Die aus Delaware führte mehr als dreihundert Adressen auf. Dreihundert! So viele Anwaltskanzleien schienen in diesem Staat größtenteils davon zu leben, für irgendwelche Personen auf dieser Welt Briefkastenfirmen zu gründen, den Postverkehr und die Telefonate für sie zu verwalten und auch die regelmäßig anfallenden Dokumente für allerlei Ämter und Behörden auszufüllen oder weiterzuleiten.

Diese hohe Zahl an spezialisierten Büros war ein starkes Indiz dafür, dass es solche Briefkastenfirmen nicht nur zu Hunderttausenden, sondern wohl gar zu Millionen geben musste.

Toni ließ daraufhin als kleiner Test ein paar Scheinfirmen über einige dieser Kanzleien eröffnen. Er wollte erfahren, wie solche Gründungen abliefen und welche Informationen der Eigentümer zu diesem Zweck von sich selbst Preis geben musste. Das Ergebnis war erschütternd.

Das Faxen einer Kopie des Führerausweises und die Überweisung von ein paar hundert Dollar über Western Union reichten völlig aus, um innerhalb weniger Tage eine Briefkastenfirma zu gründen, egal, ob in Delaware oder Nevada. Es wäre sogar noch viel schneller abgelaufen, hätte er den fälligen Betrag gleich online und mittels Kreditkarte bezahlt. Weniger als eine Stunde, wurde ihm auf seine Nachfrage hin am Telefon versprochen. Doch gerade Kreditkarten konnte man problemlos zurückverfolgen, einen gestohlenen Führerschein und den so ausgeführten anonymen Geldtransfer über Western Union dagegen nicht.

In manchen Fällen wurden ihm von den Anwaltskanzleien für einen Aufpreis von bloß fünfzig Dollar gleich noch ein Bankkonto eröffnet. Er könne innerhalb von zwei Stunden nach Bezahlung des Betrages frei darüber verfügen.

Mit diesem völlig sorglosen Umgang mit Firmengründungen und Bankkontoeröffnungen wurde die Geldwäscherei zu einem einfachen und risikolosen Geschäft.

Man beschaffte sich einige gestohlene Führerscheine, eröffnete damit ein paar Dutzend Briefkastenfirmen über unterschiedliche Kanzleien, ließ kleinere Mengen Geld auf die verschiedenen Konten einzahlen, sammelte das Geld anschließend auf einem zentralen Konto ein und überwies den Gesamtbetrag an ein Unternehmen im Ausland.

Das Steueramt besänftigte man, in dem man keinerlei Geschäftstätigkeit vorgab und den Mindestbetrag zwei Jahre lang überwies, bevor man die Firma ohne Aufsehen zu erregen auflösen ließ. Das Entdecken der Geldwäsche durch Behörden oder die Polizei war mit dieser Abwicklungsmethode praktisch ausgeschlossen oder zumindest auf einen äußerst dummen Zufall reduziert.

Und die Kosten einer solchen staatlich tolerierten Waschmaschine?

Mit Sicherheit bloß wenige tausend Dollar für jede gereinigte Million.

Die USA, das finanzielle Schlaraffenland für sämtliche kriminellen Organisationen dieser Welt.

Lag es da nicht auf der Hand, dass sich auch die Geheimdienste des Landes dieser Mechanismen bedienten? Durch so lasche Gesetze wurden Gangstersyndikate doch förmlich in die USA gelockt. Deren Repräsentanten ließen sich später bestimmt für die Ziele der Behörden einspannen. Eine Hand wäscht nun mal die andere.

Toni erschauderte bei diesem Gedanken und er entschloss sich, erst einmal Rücksprache mit Jules zu halten.

Für ihre geheime Kommunikation benutzten die beiden seit einigen Jahren das Electronic Banking eines Kontos, auf das beide übers Internet weltweiten Zugriff besaßen. Sie loggten sich jeweils ein und speicherten für den Partner unter der Nachrichten-Funktion des Kontos einen Text als Entwurf ab. Danach konnten sie einander eine unverfängliche E-Mail senden und darin auf die neue Nachricht hinweisen. Eine Überwachung ihrer Korrespondenz durch Behörden oder Geheimdienste war damit praktisch ausgeschlossen.

Hallo Jules,

Eine Briefkastenfirma in Delaware und Nevada zu gründen und zu betreiben, dazu benötigt man tatsächlich nichts, außer ein wenig Geld und einen gestohlenen Führerschein. Es gibt allein in Delaware mindestens dreihundert Anwaltskanzleien, die von diesem Geschäft leben können. In Nevada sind es immerhin mehr als einhundert. Wir müssen also davon ausgehen, dass viele Hunderttausend, wenn nicht Millionen von Briefkastenfirmen existieren. Sonst würde sich das Ganze für die vielen Kanzleien gar nicht rechnen.

Wo aber soll ich mit meinen Recherchen beginnen? Hast du einen Vorschlag für mich? Im Moment komme ich mir klein wie David vor, der den Riesen Goliath zwar herausgefordert hat, ohne aber eine Steinschleuder zu besitzen.

Gruß, Toni

Jules Antwort ließ nur einen Tag auf sich warten.

Hallo Toni,

Knochenarbeit scheint angesagt zu sein. Konzentriere dich doch auf möglichst kleine Kanzleien, die nicht prominent im Internet für ihre Dienste werben. Ich denke, da sind die Chancen am größten, auf eine Kanzlei zu stoßen, die für Regierungsstellen arbeitet. Denn wie du selbst schreibst: nur das Massengeschäft kann in diesem Business gewinnbringend betrieben werden. Bei allen kleineren, wenig bekannten Playern ohne Werbung stellt sich darum die Frage, wie sie genügend Erträge für sich generieren können.

Ich werde in der Zwischenzeit versuchen, ein paar Firmennamen und Adressen von meinen Auftraggebern in Erfahrung zu bringen. Ich werde dir alle neuen Erkenntnisse laufend auf diesem Weg hier weiterleiten. Schau also jeden Tag mal rein.

Ich wünsche dir schon einmal viel Spaß bei der Suche nach der Nadel im Heuhaufen,

Jules

Lederer hatte sich unverzüglich mit Wermelinger in Verbindung gesetzt und ihm von den Schwierigkeiten erzählt. Der Präsident des Vereins der privaten Banken sagte ihm seine Unterstützung zu und bereits ein paar Tage später lieferte er Jules die Adressen von sechs Briefkastenfirmen in Delaware und von zwei weiteren in Nevada. Sie waren dem automatischen Datencheck der Banken als mögliche Drehscheiben für Geldwäscherei aufgefallen und standen im Verdacht, Regierungsstellen der USA zu gehören.

Die Zahlungssysteme der Banken sortierten jeden Tag hunderte von verdächtigen Transaktionen aus. Ganze Stäbe von Mitarbeitenden waren mit deren Klärung beschäftigt. Wenn die Auftraggeber oder Empfänger die Zahlungshintergründe nicht hinreichend erläutern konnten, wurde die Weiterleitung des Geldes verweigert und die Informationen zur Transaktion direkt an die zentrale Behörde in Bern für weitere Abklärungen geleitet. Was den Mitarbeitenden dagegen ausreichend plausibel erschien, und das waren über 99,9 % der untersuchten Zahlungen, wurde zur Überweisung freigegeben. Doch immer wenn eine große und renommierte US-Bank an einer der Transaktionen beteiligt war, ging man von einer korrekten Überweisung aus. So lauteten die internationalen Verträge und die gängige Praxis. Wäre noch schöner, wenn man den Töchtern und Söhnen von Uncle Sam etwas Illegales unterstellen wollte.

Die von Wermelinger gelieferten Daten betrafen insgesamt mehr als fünfzig verdächtige Zahlungen, an denen die acht US-Unternehmen beteiligt waren. Diese acht Firmen wiesen jedoch nur zwei unterschiedliche Geschäftsadressen auf, eine in Wilmington, die andere in Las Vegas.

Bei den Überweisungen handelte es sich um Beträge zwischen 250’000 und 1,5 Millionen Dollar. Die Gelder waren jeweils wenig später von den Konten der Schweizer Banken an irgendwelche Empfänger mit Sitz in der Karibik transferiert worden.

Die Aufgabe für Toni war mit diesen Informationen bereits ein wenig klarer umrissen. Er würde die beiden Adressen durchleuchten und gegebenenfalls versuchen, Mitarbeitende der Anwaltskanzleien zu bestechen, die für deren Gründung und Betreuung zuständig waren. Eventuell konnte er auch gleich eigene Leute dort einzuschleusen.

Wie er all das bewerkstelligte, überließ Jules voller Vertrauen seinem Freund in Florida.

*

An diesem frühen Morgen stand Henry Huxley mitten auf der Brücke zur Ciudad Juárez, hatte seine Unterarme auf dem Geländer aufgestützt und blickte hinunter auf das Wasser des Rio Grande, diesem großen, meist träge dahinfließenden Grenzstrom zwischen den USA und Mexiko. Derzeit führte der Rio Bravo del Norte, wie er von der mexikanischen Bevölkerung genannt wurde, sehr viel braunes Schlammwasser mit sich, ein sicheres Zeichen für heftige Regenfälle im Norden, in Colorado oder New Mexiko. Der Fluss grub sich an seinem Oberlauf immer tiefer in den Boden, das Ufer wurde von den Wassermassen unterspült und der Abraum in Richtung Golf von Mexiko getragen. Ähnlich dem Missouri, der auch Big Muddy genannt wurde, sagte man über das Wasser im Rio Grande scherzhaft, zum Trinken zu dick und zum Pflügen zu dünn.

Huxley hatte die Nacht im Camino Real Hotel in El Paso verbracht. Zuvor war er nach Fabens zum Abendessen gefahren, das etwa dreißig Kilometer südlich der Stadt lag. Die Cattleman’s Ranch servierte dort seit vielen Jahren eines der besten Steaks von ganz Nordamerika. Jedes Mal, wenn eine Reise Henry Huxley auch nur fünfhundert Meilen an El Paso heranführte, machte er diesen Abstecher zur Working Ranch mit ihrem riesigen Restaurant. Dort gönnte er sich stets den Cowboy, ein rund ein Kilogramm schweres T-Bon Steak, zusammen mit einer Baked Potato und begleitet von zwei bis drei Margheritas.

Michael Stern vom People Magazin hatte das T-Bone der Cattleman’s Ranch vor Jahren zum besten Steak der USA gekürt. Und das konnte durchaus stimmen, denn selbst sein dünner Fettstreifen entlang des butterweichen Fleisches war eine Delikatesse, zart, rauchig und voller Geschmack.

Am späteren Vormittag wollte sich Huxley in Juárez mit einem alten Freund treffen, der seit vielen Jahren dort lebte, die hiesigen Verhältnisse bestens kannte und seinen Daumen ständig am Puls der Stadt hielt.

Der lange Leidensweg der fünftgrößten Stadt von Mexiko begann vor fünfzehn Jahren. Innerhalb weniger Jahre fand man mehr als dreihundert weibliche Leichen in und um Juárez herum. Weitere vierhundert Frauen wurden zusätzlich vermisst und nie gefunden. Wer die Frauen entführt hatte und warum man sie ermordete, blieb ungeklärt.

Wenige Jahre später begann aber ein unerbittlicher Drogenkrieg an der Grenze zu den USA zu toben. Er fraß sich wie ein Krebsgeschwür in sämtliche Straßen und Gassen der Stadt hinein, machte auch vor Morden an Politikern, Journalisten oder der Polizei nicht halt. Die Verlockung, durch die Kontrolle eines wichtigen Zollübergangs in die Vereinigten Staaten mit organisiertem Drogen- und Waffenschmuggel viele Milliarden an Dollar jedes Jahr zu generieren, war in diesem Drittweltland ganz einfach zu verlockend. Doch das gerade in letzter Zeit entstandene Ausmaß an Kriminalität in und um Juárez konnte im Grund genommen nur eines bedeuten: Hier mussten mexikanische und amerikanische Behörden ganz besonders kräftig im Drogengeschäft mitmischen und mitverdienen. Juárez erschien Henry Huxley darum der perfekte Ort, um die Spur des Drogengeldes an seiner Entstehung aufzunehmen und zu verfolgen.

Der Brite passierte den mexikanischen Zoll am Ende der Brücke. Ein Beamter in schlecht geschnittener Uniform saß auf einem einfachen Holzstuhl hinter einem alten, weißen Tisch mit abblätterndem Lack und porkelte mit der Spitze seines Zeigefingers im rechten Ohr. Aus übernächtigten, roten Augen betrachtete er den hochaufgeschossenen Besucher aus El Paso, zeigte jedoch keinerlei Interesse an ihm oder den anderen Touristen von der anderen Seite des Rio Grande. Ausweise wurden auf der mexikanischen Seite der Grenzbrücke äußerst selten verlangt. Der Unterschied zur Zollstation der US-Behörden am linken Flussufer konnte kaum größer sein. Hier warteten in der Regel mehr als ein Dutzend Beamte auf eine Flut von Einreisewilligen. Jeder Ausweis wurde genau kontrolliert, viele davon elektronisch überprüft, sämtliches Handgepäck durchsucht, mit Drogen- und Sprengstoffhunden zudem Autos und Busse umrundet und mit Spiegeln alle Fahrzeugböden von unten abgesucht.

Henry schlenderte zusammen mit einigen Tagestouristen die Straße in Richtung Zentrum hinunter. Vor einhundert Jahren musste dies eine prachtvolle Einkaufsgegend gewesen sein. Alte Porzellankacheln pflasterten an manchen Stellen immer noch den Gehweg oder die Hausmauern und zeugten von einer goldenen Zeit. Doch seitdem folgten viele Jahrzehnte des wirtschaftlichen Niedergangs, unterbrochen durch einzelne, nur kurze Zeit aufflackernde Aufschwüngen, zu wenige und zu schwache, um die ehemalige Substanz der Stadt zu erhalten und den Abstieg zu einem billig Eldorado amerikanischer Schnäppchenjäger aufzuhalten.

Manuel Rodrigez erwartete Huxley in seinem kleinen Café, das an der Ecke zur Tlaxcala lag. Henry drückte die nur angelehnte Eingangstüre auf. Ein helles Klingeln kündigte den Wirtsleuten den neuen Besucher an und Manuel Rodrigez kam mit einem fragenden Gesichtsausdruck auch schon um die schmale Theke herum, seine feuchten Hände an einer vor den Bauch gebundenen Küchenschürze abwischend. Er erkannte im Gegenlicht der Straße seinen alten Bekannten erst nach zwei Sekunden. Doch dann begann sein eckiges Gesicht mit der mächtigen Kinnlade sogleich zu strahlen.

»Buenos Dias, alter Freund«, der Mexikaner ergriff Henrys ausgestreckte Hand und schüttelte sie überschwänglich, zog ihn näher zu sich heran und umarmte ihn herzlich, »wie lange ist es her? Vier Jahre, oder gar fünf?«

Auch Henrys Augen blickten seinen Mitstreiter vergangener Tage herzlich und freudestrahlend an: »Es sind fast sechs, Manuel, doch du scheinst kein bisschen älter geworden zu sein. Wie geht es Maria?«

Die Augen des Mexikaners verschleierten sich augenblicklich und sein Gesicht trübte sich schmerzlich.

»Sie ist letztes Jahr gestorben. Brustkrebs.«

Henry war betroffen.

»Das tut mir so leid, mein alter Freund. Ich habe Maria immer sehr geschätzt und gemocht. Sie war dir eine gute Frau und eine echte Partnerin.«

Henry umarmte den Mexikaner noch einmal herzlich, diesmal noch länger als zuvor. Er drückte ihn an sich und verharrte, ließ ihn seine Anteilnahme auch körperlich spüren. Als er ihn losließ, hatte Manuel feuchte Augen, die er sich rasch mit den Handrücken auswischte. Ein verlegenes Lächeln erschien in seinem traurig lächelnden Gesicht.

»Danke, Henry.«

Sie setzten sich an einen der kleinen, quadratischen Tische mit ihren rot-weiß gemusterten, hübschen, sauberen Decken. Auch nach ihrem Tod war die Hand der quirligen Mexikanerin im ganzen Café noch zu spüren, diesen eigenwilligen Charme, eine Mischung zwischen Gemütlichkeit und Sauberkeit, wie sie nur eine warmherzige Frau herbeizaubern kann.

Die beiden Männer waren an diesem späten Morgen allein im Lokal. Nur eine Hilfskraft werkelte in der kleinen Küche hinter der schmalen Theke herum, bereitete wohl Speisen für die Mittagszeit zu, wie Henry durch die offenstehende Tür erkannte.

»Erzähl, mein alter Freund, was führt dich wieder einmal nach Juárez?«

Huxley vertraute Rodrigez wie einem Bruder. Vor zwanzig Jahren waren sie gemeinsam hinter einer Bande von Menschenhändlern her gewesen. Die Kerle beschwatzten leichtgläubige mexikanische Mädchen vom Land, versprachen ihnen gutbezahlte Stellen in der Stadt und steckten sie anschließend in die Bordelle der Orte auf beiden Seiten der Grenze. Manuel war damals Polizeipräfekt der gesamten Region gewesen, Henry im Auftrag eines mexikanischen Millionärs unterwegs. Dieser vermutete eine seiner zahlreichen Enkelinnen in den Fängen der Bande. Die beiden fanden nützliche Hinweise, dann erste Spuren und wenig später hoben sie das Hauptquartier der Mädchenhändler aus. Zwei Polizeibeamte starben während der wüsten Schießerei. Von der Schlepperbande überlebte kein einziger. Rodrigez geriet zuvor jedoch mit einigen seiner Männer in eine geschickt gestellte Falle und wurde durch zwei Kugeln schwer verwundet. Eine Gewehrkugel traf sein rechtes Knie und zertrümmerte es, ein weiteres Geschoss hatte sich neben dem Ärmelloch seiner schusssicheren Weste von der Seite her in die Brust gebohrt und Herz und Lungenflügel nur knapp verfehlt. Henry rettete Manual damals das Leben. Der Brite stürzte trotz wildem Kugelhagel aus seiner Deckung hervor, warf sich über den Polizeipräfekten und zog ihn hinter einem Mauervorsprung in Sicherheit, brachte anschließend die stark blutende Wunde am Knie zum Stoppen und betreute den Bewusstlosen bis zum Eintreffen eines Notarztes.

Manuel Rodrigez quittierte einige Monate später seinen Dienst als Präfekt. Das rechte Knie war steif gebliebenen und er war nicht mehr einsatzfähig. Die enge Verbundenheit mit Henry, dem er sein zweites Leben verdankte, wie Manuel und Maria ihm immer wieder gerne beteuerten, hatte jedoch über all die Jahre hinweg Bestand.

Zusammen mit seiner Frau übernahm Rodrigez damals das kleine Café in der aufstrebenden Grenzstadt. Es wurde zu einem beliebten Treffpunkt seiner ehemaligen Kollegen. Nach ihrer Schicht gönnten sie sich bei Manuel eine kühle Cerveza oder sie feierten eine Beförderung. Doch auch diese Zeit ging nach einigen Jahren zu Ende, starb mit der Pensionierung der alten Mitstreiter von Manuel langsam aus.

Henry Huxley wusste, dass bei Rodrigez keine Umwege notwendig waren, er sofort auf den Punkt kommen konnte.

»Ich suche nach Beweisen für Verbindungen von US-Behörden zu den mexikanischen Drogenkartellen. Mein Auftraggeber interessiert sich vor allem um Machenschaften von FBI und CIA, aber auch von anderen Regierungsstellen. Es geht ihm um Bestechungsgelder, mit denen die US-Behörden geschmiert werden, damit sie beim Drogen- und Waffenschmuggel wegschauen. Und er will anschließend den Weg dieser Gelder verfolgen können und so herausfinden, welche illegalen Operationen damit später finanziert werden. Ich bin nach Juárez gekommen, weil ich hoffte, du kannst mir weiterhelfen. Hast du einen Tipp für mich, wo ich ansetzen soll?«

Manuel schob nachdenklich seinen Kopf hin und her, dachte nach und wägte ab.

»Du begibst dich auf äußerst dünnes Eis, mein alter Freund. Doch das weißt du bestimmt schon«, schickte er seiner Erklärung voraus. Henry nickte ernst, meinte jedoch: »Schildere mir doch bitte erst einmal die Verhältnisse hier in der Region. Wer hat was zu sagen und wo könnte ich mit meinen Ermittlungen ansetzen?«

Manuel dachte einen Moment lang nach, sammelte sein Wissen. Dann begann er zu erzählen.

»Vor zwanzig Jahren war die Welt hier im Norden Mexikos noch in Ordnung. Schon damals wurden zwar große Mengen an Drogen über die Grenze in die USA geschmuggelt, doch das Geschäft lief im Verborgenen ab und Gewalt gab es eher selten. Doch vor zehn Jahren hat sich dies drastisch geändert. Man begann, die Drogen im großen Stil auch an die mexikanische Jugend zu verkaufen. Rasch bildeten sich Banden, die Straßen und ganze Viertel beherrschten. Sie übernahmen für die Bosse der Kartelle die Drecksarbeit. Im Gegenzug bekamen sie Drogen, Geld und Waffen. Bald einmal begannen sie sich gegenseitig zu bekriegen. Doch die Gewaltbereitschaft steigerte sich von Jahr zu Jahr noch. Unser Staatspräsident musste sogar Armeeeinheiten in die Grenzregion entsenden, wollte auf diese Weise den unzähligen Morden endlich Einhalt gebieten.«

»Und welche Drogenkartelle sind hier in der Stadt besonders aktiv? Geben einzelne den Ton an oder sind sie alle etwa gleich stark?«

»Das Juárez Kartell war lange Jahre unangefochten die Nummer eins in Juárez. Doch Vicente Carrillo Fuentes, ihr oberster Boss, hat in letzter Zeit stark an Einfluss verloren. Vor allem das Sinaloa-Kartell von Joaquim Guzman Loera macht ihm das Leben schwer. Der operiert zwar mehrheitlich weiter westlich, an der Grenze zu Kalifornien, drängt nun jedoch immer weiter auch nach Osten und in Richtung Golf vor. Doch auch das Zetas-Kartell und das Tijuana-Kartell mischen hier kräftig mit. Und La Familia aus dem tiefen Süden, das Golf-Kartell und die Beltrán-Leyva Organisation versuchen, ihren Machtbereich immer weiter nach Norden auszudehnen. Letztendlich gibt sich hier in Juárez die Drogenprominenz von ganz Mexiko ein blutiges Stelldichein und jeden Tag zählt die Stadt ein halbes Dutzend Morde.«

»Und die Polizei ist den Kartellen nicht gewachsen?«

Manuel lächelte bitter.

»Letzten Dezember hat eine Armeeeinheit Arturo Beltrán Leyva nahe Mexiko City aufgespürt und erschossen. Arturo war der Boss der Bosse des Beltrán-Leyva Kartells. Bei der wilden Schießerei kam aber auch ein junger Soldat ums Leben. Diesem gab die Regierung eine Woche später ein Staatsbegräbnis. Dadurch wurde sein Name landesweit bekannt. Nur Zwei Tage später drangen Bewaffnete in das Haus der Mutter dieses Soldaten ein, töteten sie selbst, zwei seiner Geschwister und eine zufällig anwesende Tante. Jedes Jahr werden hier im Norden von Mexiko mehrere tausend Menschen getötet, darunter ein Dutzend Journalisten. Mittlerweile wird in den Zeitungen und am Radio und im Fernsehen über die Erfolge der Polizei und der Armee gegen die Drogenkriminalität oft gar nicht mehr berichtet, aus lauter Angst, sich den Zorn eines der Kartelle zuzuziehen. Teile der Polizei und der Armee werden von den Kartellen geschmiert und verraten ihre loyalen Kollegen. Erst kürzlich musste der Polizeichef von Juárez seinen Posten wegen Bestechlichkeit räumen. Zwei Wochen später hat man ihn an der Grenze zur USA mit einer Lieferung Drogen erwischt. Ehemalige Drogenfahnder der mexikanischen Polizei haben sich vor Jahren dem Golf-Kartell angeschlossen. In der Zwischenzeit hat sich dieses einst mächtigste Syndikat von ganz Mexiko in das Zetas und das Beltrán-Leyva Kartell aufgeteilt. Die Zetas treten dabei besonders brutal in Erscheinung, kennen auch keinerlei Skrupel gegen völlig unbeteiligte Menschen. Sie töten, was ihnen in die Quere kommt, ohne jedes Gewissen.«

»Und wie sind die Kartelle hier in Juárez organisiert? Du sprachst von Jugendbanden?«

»Für das Juárez-Kartell streiten sich immer noch die Los Aztecas. Sie sollen über fünftausend Mitglieder zählen. Die anderen Kartelle bedienen sich wahlweise der Mexides und der Artistas Asesinos, zwei weitere große Gruppierungen und erbitterte Feinde der Los Aztecas. Aber es gibt auch noch andere, kleinere Banden. Du findest hier in Juárez an jeder Ecke Kontakt zu einem Sicario, einem Auftragsmörder. Wenn dein Opfer nicht besonders prominent und darum auch nicht von Leibwächtern beschützt wird und seine Ermordung kaum Aufsehen erregt, so kostet dich ein Mord nicht mehr als siebzig US-Dollar.«

Henry konnte über diese Aussagen nur den Kopf schütteln.

»Kennst du die Menge oder den Wert an Drogen, die von Mexiko aus in die USA geschafft werden? Von welchen Größenordnungen sprechen wir bei diesem Geschäft?«

»Janet Napolitano, die US-Heimatschutzministerin, meinte vor noch nicht langer Zeit in einem Interview, dass neunzig Prozent des Kokains aus Mittelamerika über Mexiko in die USA geschleust wird. Hinzu kommen tausende von Tonnen an Amphetaminen. Marihuana spielt mittlerweile eher eine Nebenrolle, auch wenn die Mengen gigantisch sind. Wie man sich erzählt, erreichten die Drogenlieferungen aus Mexiko in die USA letztes Jahr einen Wert von mehr als dreißig Milliarden Dollar. Der Straßenwert dürfte bei über einhundert Milliarden liegen. Nur etwa ein Drittel der dreißig Milliarden sollen als Bargeld zurück nach Mexiko geflossen sein, zwei Drittel jedoch in Form von Waffen und Kriegsmaterial. Denn damit bezahlen die mexikanischen Kartelle ihre Lieferanten aus Mittelamerika. Der Anbau von Kokain liegt dort meistens in den Händen von Terror-Organisationen wie zum Beispiel den FARC in Kolumbien.«

Henry dachte über die Erklärungen von Manuel gründlich nach. Sein Freund ließ ihm die Zeit, saß stumm am Tisch und wartete ab.

»Du sagst, das Juárez-Kartell habe in letzter Zeit an Einfluss verloren, das Sinaloa-Kartell dagegen gewonnen?«

Manuel nickte.

»Doch die Los Aztecas, die größte lokale Jugendbande, unterstützt immer noch das Juárez-Kartell?«

Wiederum nickte der Mexikaner.

»Kannst du für mich herausfinden, wo das Juárez-Kartell sein Hauptquartier hat? Ich meine, wo es seine Buchhaltung führt?«

Manuel starrte seinen britischen Freund nachdenklich an.

»Willst du den Toro gleich bei den Hörnern packen? Vicente Carrillo Fuentes, der Boss des Juárez Kartells, ist zwar angeschlagen, doch noch längst nicht am Ende.«

Henry antwortete nicht, blickte seinen Freund bloß aufmunternd an. Der fuhr nach ein paar Sekunden in einem nachdenklicheren Tonfall fort.

»Ich müsste mich erst bei ein paar von meinen alten Bekannten umhören. Gibst du mir zwei, drei Tage Zeit dafür, ja?«

»Selbstverständlich, mein Freund. Doch ich hätte noch zwei weitere Bitten an dich.«

»Ja?«

»Könnte ich ein paar Tage bei dir unterkriechen?«

»Sicher. Das ist kein Problem.«

»Und kannst du mich in einen Mexikaner verwandeln?«

*

Spielleidenschaft ist etwas Großartiges, vor allem, wenn sie in der Hauptstadt des Gamblings, in Las Vegas ausgelebt wird. Dorthin hatte es nämlich Toni Scapia mittlerweile verschlagen.

Er hatte eine Suite im Bellagio bezogen, spielte jeden Abend für ein paar tausend Dollar Blackjack, verlor sie stets brav, war darum gern gesehen und wohnte deshalb auch vom dritten Tag an umsonst. Denn ein Casino-Hotel gab einen finanzkräftigen, glücklosen Spieler nicht so leicht aus seinen Fingern frei. Toni gab die Vorstellung eines reichen Müßiggängers, der mit seiner freien Zeit und dem vielen Geld nichts Sinnvolles anzustellen wusste.

Noch bevor er nach Las Vegas abgereist war, hatte er drei verschiedene Privatdetekteien auf die drei leitenden Mitarbeiter von Hecksmith & Born angesetzt. Den Name dieser Anwaltskanzlei hatte er von Jules erfahren. Sie schien auf Firmengründungen spezialisiert zu sein und verwaltete zwei der wegen möglichen Geldwäscherei-Vergehen verdächtigten Briefkastenfirmen. Die Privatdetektive sollten ihm nach zwei Wochen einen ersten Überblick über den Tagesablauf der drei Zielpersonen geben. An diesem Morgen bekam er zum Frühstück die ersten Berichte zugestellt.

Thomas Martin, der Leiter der Kundenbuchhaltung, pflegte enge Kontakte zu drei verschiedenen Edelnutten der Stadt, schien jede von ihnen einmal die Woche über den Mittag zu besuchen. Er lebte mit seiner Frau und den beiden Kindern in einer großzügigen Villa in einem der Neubaugebiete im Norden der immer weiter in die Wüste vordringenden Stadt. Dort hatte er alle Abende und Nächte verbracht, ging mit seiner Frau wohl eher selten aus. Thomas Martin verdiente bestimmt genug, um sich die kleinen Laster mit den Dirnen leisten zu können. Er bot Toni Scapia kaum genügend Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Erpressung.

Der zweite Kandidat war weit vielversprechender.

Alberto Valandera war erst vor zwei Jahren aus New York in die Wüstenmetropole umgezogen. Den Junggesellen ohne feste Freundin sah man fast jede Nacht für ein paar Stunden im MGM, wo er sich die Zeit mit No-Limit Texas Hold’em vertrieb, bei Big Blinds von zweihundert Dollar.

Toni setzte sich noch am selben Abend, als er von dessen Gewohnheit erfuhr, an den Tisch von Valandera. Während den nächsten drei Stunden wurde zwischen den Spielern nette Konversation betrieben und auch viele Chips ausgetauscht. Toni Scapia gab sich dabei alle Mühe, eine möglichst redselige Stimmung aufrechtzuhalten. Bewusst verlor er an diesem Abend ein paar tausend Dollar an seine Tischnachbarn, foldete immer wieder seine Gewinnhände vorzeitig oder bluffte unsinnig. Verlierer sind an Pokertischen nun einmal ganz besonders gerne gesehen, vor allem, wenn sie hartnäckig an der Sache dranbleiben und an eine künftige Glückssträhne glauben. Die sieben Männer und die beiden Frauen verabredeten sich auch für den nächsten Abend auf acht Uhr. Der Kick-Off zum Projekt Alberto Valandera war erfolgt.

Am wenigsten Greifbares ergab die Überwachung der dritten Person. Caspar Jakes war der General Manager der Anwaltskanzlei. Die Aufzeichnungen der Detektei über ihn zeigten vor allem auf, dass er in der letzten beiden Wochen je einmal nach Los Angeles und zweimal nach San Francisco geflogen war. Dorthin konnten ihm die Mitarbeiter der Detektei nicht folgen, denn das vereinbarte Spesenbudget gab die Zusatzkosten für die Flugtickets nicht her.

Toni fand die Flüge allerdings genügend verdächtig. Immerhin lebte die Anwaltskanzlei nicht von normalen Mandanten und trat kaum einmal vor einem Gericht auf, sondern lebte von der Gründung und Betreuung hunderter von Briefkastenfirmen. Und Leute, die hinter solchen Scheinfirmen saßen, trafen sich üblicherweise nicht persönlich mit ihren Anwälten und Treuhändern. Jules Tipp mit dieser Kanzlei schien Toni bereits zu diesem Zeitpunkt goldrichtig zu sein.

Bei der Auftragsvergabe hatte Scapia der betreffenden Detektei mitgeteilt, er sei Vertreter einer Gruppe von Anlegern, die durch Caspar Jakes vor Jahren ein paar Millionen Dollar verloren hätten. Vor Gericht konnte man ihm damals die ungetreue Geschäftsführung und den Betrug nicht nachweisen. Doch die Geschädigten hätten noch nicht aufgegeben, versprachen sich viel von einer lückenlosen Überwachung, um auf diese Weise mehr über ihn und sein neues Umfeld zu erfahren.

Toni erhöhte das Spesenbudget der Detektei auf unbestimmte Höhe. In Zukunft sollte die Agentur diesen Jakes notfalls auch auf eine Weltreise begleiten können oder an den Zielorten des überwachten Subjekts andere Detekteien einschalten. Damit war die Basis gelegt, die Tagesabläufe des General-Managers lückenlos aufzeichnen zu können.

Scapia kehrte an jedem der folgenden Abenden an die Spieltische im MGM zurück. Meist war auch Alberto Valandera dabei. Geschickt lenkte Toni das Gespräch immer wieder auf Themen wie Arbeit oder Privatleben, gab sich dabei als millionenschwerer Sohn eines reichen Industriellen zu erkennen, der er in Wahrheit ja auch war.

Valandera begann, sich für den Sonnyboy aus Florida stärker zu interessieren. Er lud ihn sogar zu sich nach Hause ein, für eine private Runde Poker mit einigen engen Freunden. So lernte Toni auch Thomas Martin persönlich kennen, sein drittes Zielsubjekt, das sich so gerne und regelmäßig mit drei Huren der Stadt abwechselnd vergnügte und der in den Augen von Toni nicht genügend Angriffsfläche für Korruption oder Erpressung bot.

Vor allem einer Erpressung gab Toni von Anfang an geringe Chancen, um an Informationen über die Klienten der Kanzlei zu gelangen. Denn erpresste Menschen taten oft verrückte Dinge, begingen Selbstmord oder versuchten gar, ihren Peiniger umzubringen. Sie waren viel zu unzuverlässig, um mit ihnen ernsthafte Geschäfte einzugehen. Und bei Korruption bestand immer die Gefahr eines Verrats, um sich selbst ab einem bestimmten Punkt zu schützen.

Über das stundenlange Beisammensein beim Spielen, dem Reden und Scherzen, begann dafür Alberto Valandera immer mehr Vertrauen zu Scapia zu fassen. Und als sie an einem der Abende nach dem Pokerspiel im MGM noch für einen Schlummertrunk an einer der Bars saßen, begann der Anwalt mit einer Art Lebensbeichte.

»Weißt du, Toni, ich bin im Grunde genommen ein ganz armes Schwein«, die Zunge von Alberto lag ihm bereits etwas schwer im Mund, zeigte den erhöhten Alkoholpegel nach dem dritten Scotch an, »ich hab mich mit Anteilen an den verdammten Madoff Fonds völlig verzockt. Mein ganzes Vermögen ist dabei draufgegangen. Und noch viel mehr.«

Scapia klopfte sanft auf die Schulter seiner Zielperson, zeigte ihm so seine Anteilnahme.

»Ja, Madoff hat viele Menschen übers Ohr gehauen. Auch ich habe mehr als zweihunderttausend Dollar verloren. Wie schlimm ist es denn bei dir?«

»Grässlich. Ich sag’s dir ganz ehrlich, Toni. Im Grunde genommen bin ich längst bankrott und schlag mich bloß noch von Monat zu Monat mehr schlecht als recht durch.«

»Und trotzdem pokerst du weiter?«

»Ach, die paar Kröten jeden Abend spielen längst keine Rolle mehr. Mir sitzen ein paar Kredithaie aus Vegas im Nacken. Wenn ich nicht bald eine größere Summe herüberschiebe, bin ich fällig.«

»Wie viel brauchst du denn?«

»Sofort? Achthunderttausend. Das würde mich das nächste Vierteljahr über Wasser halten.«

»Und insgesamt?«

Alberto Valandera stierte sinnend auf das zu einem Drittel gefüllte vierte Glas mit bestem schottischem Whiskey.

»Noch einmal zwei Millionen«, gestand er seinem Drink.

Toni legte mitfühlend den Arm um die Schultern seines Opfers.

»Das ist aber mächtig viel Heu.«

Valandera nickte traurig, führte dann eher ruckartig als energisch die Hand mit dem Glas zu Mund, nahm einen kräftigen Schluck, ließ sie wieder auf die Theke zurückfallen. Dann wandte er sich Toni zu, rülpste laut und meinte: »Du sagst es.«

»Ich könnte dir vielleicht aus der Klemme helfen«, begann Toni das Netz dichter um sein Opfer zu spinnen.

Ein kurzer Funken voller Hoffnung zeigte sich in den Augen des leitenden Mitarbeiters der Anwaltskanzlei, verglühte jedoch sogleich wieder.

»Ach was. Mir ist nicht mehr zu helfen. Ich könnte dir den Betrag eh nie mehr zurückzahlen. Ich verdiene weniger als zweihundertfünfzig Tausend im Jahr. Abzüglich der Steuern und der Hypothek fürs Haus bleiben mir davon bloß hundertzwanzig übrig. Zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben, sag ich dir. Ich bräuchte mehr als zwanzig Jahren, um meine Schulden abzustottern und dies ohne Zinsen. Dann wäre ich dreiundsechzig und hätte das letzte Drittel meines Lebens wie ein Hund zu leben. Nein, Toni, dieser Madoff hat mich erledigt.«

Wie viele andere Amerikaner hatte auch Alberto an der Börse gerne auf Sicherheit gesetzt. Die sehr regelmäßig im Kurs steigenden Werte der Madoff Fondsfamilie versprachen einen langfristig zuverlässigen Vermögenszuwachs. So investierte Toni nicht nur all sein verfügbares Geld, sondern sammelte zu niedrigen Zinsen zudem noch hohe Schulden an, um so den Geldsegen noch zu erhöhen. Das Platzen des Ponzi Systems von Madoff hatte ihn und viele weitere tausend Anleger finanziell ruiniert.

»Du könntest immer noch alle Brücken hinter dir abbrechen und irgendwo neu beginnen«, versuchte Toni ihm einen anderen Ausweg aufzuzeigen.

Alberto sah ihn aus stieren Augen an. Dann schüttelte er schwerfällig seinen Kopf.

»Aber Toni, ich bin doch Anwalt. Wie könnte ich mir eine neue Identität zulegen und gleichzeitig meinen Beruf weiterhin ausüben? Sobald ich mich an irgendeinem Gericht einschreiben ließe oder ein neuer Arbeitgeber mich überprüft, kriegen die mich doch sofort dran. Ich müsste mit etwas anderem beginnen. Und das kann und will ich nicht mehr.«

Toni Scapia überlegte sich, welcher nächste Schritt sein Opfer am ehesten in die von ihm gewünschte Richtung lenkte. Er wusste, er musste behutsam vorgehen. Sonst sprang ihm dieser Fisch wieder vom Haken.

»Komm, Alberto«, sagte er leise und eindringlich zu Valandera, »ich bring dich erst einmal zu dir nach Hause. Schlaf dich aus. Morgen Abend können wir weiter darüber reden und nach einer Lösung suchen.«

Scapia legte einen hundert Dollar Schein auf die Theke und stand vom Barhocker auf, fasste Valandera an den Oberarmen und zog ihn hoch. Widerstandslos ließ sich der Anwalt aus dem Kasino führen.

*

Die Hitze flimmerte in der schmalen Gasse, die von der Lerdo zur Ramón Corona führte. Ein alter Mexikaner ging sie langsam, fast schleppend und gefährlich schwankend entlang, musste sich immer wieder mit einer Hand an der brüchigen Fassade abstützen, um das Gleichgewicht zu halten. Vor einer schäbig wirkenden Haustüre blieb er pendelnd stehen, neigte sein Gesicht gegen die Sonne, schien sich zu konzentrieren.

Der ehemals braune Anstrich des Türblatts hatte sich größtenteils gelöst, hatte Wellen geworfen und war teilweise abgeblättert. Darunter trat mürbes, von der Sonne grau gebranntes Holz hervor.

Der Alte würgte plötzlich ruckartig, beugte sich heftig nach vorne und kotzte einen langen Schwall seines Mageninhalts klatschend auf den Asphalt vor der Türe. Ein zweiter, etwas kürzerer Auswurf folgte gleich darauf dem ersten. Danach wischte sich der alte Mexikaner mit dem Handrücken unbeholfen über den verschmierten Mund und murmelte ein »Madre mia«.

Der betrunkene Alte machte zwei torkelnde Schritte nach links, umging so den Teich aus Kotze. Da öffnete sich hinter ihm die schäbige Holztür und zwei junge, schlanke Männer in sportlichen Anzügen traten heraus, bedachten den Betrunkenen mit einem Haufen wüster Flüche und Beschimpfungen.

Mit drei langen Schritten hatten sie ihn eingeholt, packten ihn an seinem Hemd aus grobem Wollstoff und zerrten ihn zurück zur Türe. Klatschend landeten zwei Ohrfeigen in seinem Gesicht, dann wurde er auch noch kräftig durchgeschüttelt.

»Mierda de Cerdo, du verkommenes Schwein. Schau dir bloß die Scheiße hier an. Los, wisch das weg.«

Der Alte stand hilflos zwischen den beiden jungen Männern, wurde von diesen brutal zu Boden gedrückt und landete tapsig wie ein Tanzbär neben seiner eigenen Kotze auf Händen und Knien. Verstört blickte er hoch zu den Gesichtern der beiden, schien nicht zu verstehen, was sie eigentlich von ihm wollten. Seine Augen bettelten jedoch um Schonung und mit dünner Stimme meinte er »Bitte tun Sie mir nichts, apreciados Señores míos.«

»Du sollst die Kotze aufwischen, Borrachin. Mit deinen Händen.«

Mit schwankendem Oberkörper betrachtete der Betrunkene ohne Verständnis den unappetitlichen Inhalt aus seinem Magen, hob ergeben die Hände, nestelte dann doch sein Hemd aus dem Hosenbund hervor und begann unbeholfen, den Brei vom Asphalt zu schaben und in einer Hemdkuhle vor seinem Bauch zu sammeln.

Als das meiste Unverdaute aufgewischt war, ließen ihn die jungen Männer endlich aufstehen. Stöhnend kam der Alte hoch, schwankte danach unsicher davon, die tropfende Hemdkuhle mit beiden Händen umfasst, als hielte er einen kostbaren Schatz vor seinem Bauch. Das meckernde Lachen der jungen Männer folgte ihm.

*

Als der Air France Flug 444 in Rio de Janeiro aufsetzte, atmete Chufu Lederer befreit auf. Nicht dass er sich unwohl an Bord des Airbus 332 gefühlt hätte. Keineswegs. Als junger, gutaussehender Mann in der Business Klasse war er von den beiden hübschen Stewardessen geradezu verwöhnt worden. Auch kannte der junge Philippine keinerlei Flugangst. Sein befreites Aufatmen betraf vielmehr den seit Wochen herbeigesehnten Aufenthalt in Brasilien. Endlich hatte er die elterlichen Fesseln in der Schweiz abgeworfen und war wieder einmal auf sich allein gestellt, so wie früher als Waisenjunge und später als Schiffsjunge auf einem Tanker. Hier an der Copacabana würde er als freier Student ein oder auch zwei Semester verbringen, umschwärmt von Dutzenden braungebrannter, knackiger Mädchen. So jedenfalls stellte sich der junge Mann sein zukünftiges Leben vor.

Ende Woche begann bereits der Karneval, wohl die beste Zeit, um sexuelle Kontakte mit den herrlichsten Mädchen der Welt zu knüpfen, wie ihm einige seiner Mitschüler im Internat Le Rosey in Rolle immer wieder begeistert erzählt hatten. Als junger, gesunder Mann freute sich Chufu auf eine Zeit voller neuer, unbeschwerter sexueller Erfahrungen.

Seine Gastfamilie wartete vollzählig in der Ankunftshalle auf ihn, zeigten bei seinem Auftauchen ein breites Lachen, freuten sich über den Asiaten aus der Schweiz. Die Ferreiras hatten drei fast erwachsene Töchter und so fiel die Begrüßung erfreulich herzlich aus, mit vielen Küsschen auf viele weiche Mädchenwangen. Die hübscheste von ihnen, Ricarda, lehnte sich bei ihrer Begrüßung so stark an seinen Körper, dass Chufu ihre erregten Brustwarzen durch sein Hemd auf seiner Haut spüren konnte. Die Siebzehnjährige wurde jedoch sogleich von ihrem Vater unsanft am rechten Oberarm gepackt und zur Seite gezerrt, was sie mit einem ärgerlichen Ausruf und anschließendem Schmollmund in Richtung ihres Papas quittierte.

Ei, ei, ei, das kann ja heiter werden, dachte sich Chufu wenig respektvoll, als er in die nun verkniffenen Gesichter der Eltern Ana und Luís blickte, eine läufige Tochter und zwei strenge Zerberusse zu ihrer Bewachung.

*

Zwei Tage danach klingelte Toni Scapia vergeblich an der Türe der etwas außerhalb von Vegas gelegenen Villa von Alberto Valandera. Nachdem der Anwalt am ersten Abend nach ihrer Aussprache in der Bar nicht im MGM erschien und gestern über Tag auch nicht telefonisch in der Kanzlei erreichbar war, machte sich Scapia große Sorgen.

Toni drückte erneut auf den Knopf und wiederum erschallten die wuchtig-tragenden Glockenklänge von Big Ben durch das Innere des Hauses. Hinter der undurchsichtigen Glasfüllung der Türe zeichnete sich jedoch weiterhin weder ein näherkommender Schatten noch irgendeine andere Bewegung ab.

Toni Scapia ging um das Haus herum, gelangte so in den Garten. Er hoffte nicht vergebens, denn die Terrassentüre stand offen. Irgendwo musste auch noch ein Fenster geöffnet sein, denn die weiße Gardine wurde vom Wind immer wieder erfasst und weit nach draußen gedrückt.

»Alberto?«, rief Toni in das Innere des Hauses, hatte den Vorhang zur Seite gedrückt und sah in ein Wohnzimmer mit modernen Möbeln und abstrakten Bildern an den Wänden.

Keine Antwort.

»Alberto!«, wiederholte er lauter und zwingender.

Nichts.

Toni schritt über die Türschwelle und durch den großzügigen Raum hinüber in den Flur, rief dort abermals nach seinem Bekannten.

Etwas unschlüssig starrte er die Treppe hoch, die ins Obergeschoss führte, stieg dann die Stufen fast bedächtig nach oben, gleichermaßen getrieben und gehemmt durch dasselbe, unbestimmte, aber auf jeden Fall bange Unbehagen.

Er öffnete eine Türe nach der anderen, fand ein Gästezimmer, ein Klo, noch ein Gästezimmer und danach Alberto, tot auf seinem Bett liegend. Eine hässliche Wunde klaffte an seiner Schläfe. Neben seinem Kopf lag in seiner erschlafften, rechten Hand die großkalibrige Pistole.

Toni war erschüttert, konnte gleichzeitig seine Augen kaum vom schwarz umrandeten, dunkelrot-braunen Loch im Schädel des Toten nehmen, aus der nicht allzu viel Blut geflossen war. Er hockte sich neben Alberto auf die Matratze und betrachtete mit einem verloren wirkenden Blick den überschuldeten Anwalt, der im Selbstmord wohl den einzig gangbaren Weg für sich gesehen hatte.

Wie rasch doch ein Menschenleben enden konnte?

Man war beruflich erfolgreich, vielleicht sogar äußerst beliebt. Alles schien einem möglich. Die Welt stand einem offen. Und dann wurde man von einem betrügerischen Gernegroß in einen Abwärtsstrudel gerissen, aus dem man sich nicht mehr selbst befreien konnte. Frühere Freunde entpuppten sich plötzlich als eher lockere Bekannte, die einen lieber verleugneten als unterstützten. Immer mehr private Kontakte brachen weg. Man fühlte sich allein gelassen mit einem gänzlich wertlos gewordenen Leben.

Toni erblickte auf einem der Nachttische ein gerahmtes Foto mit Alberto und einer Frau darauf. Beide strahlten in die Kamera, standen auf einer Hochseejacht. Er hielt noch die mächtige Angelrute in seinen Händen. Am Haken hing ein Barrakuda. Es war wohl eine Szene aus glücklichen Tagen, eine Momentaufnahme des persönlichen Triumphs. Hatte ihn seine Freundin oder Frau nach dem finanziellen Absturz verlassen? Es musste wohl so sein. Wie sonst hätte sich Alberto fast jeden Abend im Kasino herumtreiben können?

Im Bericht der Detektei stand nichts über seine Familienverhältnisse. Doch die Pleite von Madoff lag mehr als ein Jahr zurück. Genügend Zeit für eine endgültige Trennung oder eine Scheidung.

Toni Scapia schüttelte seine trüben Gedanken ab, konzentrierte sich darauf, was als Nächstes zu tun war.

Hatte er irgendetwas im Haus berührt? Ja, die Türgriffe zu den Räumen hier oben. Mechanisch erhob er sich, strich mit der Hand den Abdruck seines Hinterns auf dem Laken glatt, ging hinaus auf den Flur, zog dort ein Taschentuch hervor und begann alle Fingerabdrücke von den Klinken abzuwischen. Zurück in seinem Hotel würde er auch seine Kleidung komplett auswechseln und die alte wegwerfen. Auch das Hotelzimmer würde er nun wechseln. Denn kein Polizist und schon gar kein Special Agent eines Geheimdienstes sollte eine Verbindung zwischen ihm und dem Haus von Alberto Valandera und damit zu Hecksmith & Born herstellen können.

Erst am späteren Nachmittag wurde Toni so richtig bewusst, dass ihm von seinen drei Zielpersonen gerade mal eine übrig geblieben war. Seine volle Aufmerksamkeit musste nun Caspar Jakes gelten. Hoffentlich überbrachte ihm die Detektei endlich nützliche Informationen über die eigentlichen Ziele des General-Managers der Kanzlei in Los Angeles und San Francisco.

*

»Dein Tipp mit dem Haus in der Quergasse war goldrichtig, Manuel«, berichtete Henry wenig später seinem mexikanischen Freund, während er sich mit den Fingerkuppen vorsichtig die dunklen Linsen vor seinen Pupillen entfernte, »ich hab ihnen vor die Tür gekotzt und kam danach kaum drei Schritte weit, schon waren zwei Bewaffnete draußen und hatten mich am Wickel. Eine Kamera konnte ich zwar nirgendwo entdecken, doch sie scheinen diese Türe oder auch die gesamte Gasse ständig zu überwachen.«

Manuel verzog sein Gesicht zu einem unglücklichen Lächeln.

»Du gehst zu große Risiken ein, Henry. Was wäre gewesen, wenn sie entdeckt hätten, dass du gar kein Mexikaner bist? Du hast dich zwar recht gut zurecht gemacht und das Bräunungsmittel tat ein Übriges. Doch du weißt genau, dass die Poren deiner Gesichtshaut viel zu fein für einen Einheimischen sind. Hätten sie dich genauer betrachtet, sie hätten bemerkt, dass du kein Mexikaner sein kannst. Zumindest hätten sie Verdacht geschöpft.«

Henry musste bei diesen mahnenden Worten breit lächeln.

»Wer schaut schon einem stinkenden Betrunkenen genau in sein mit Kotze verschmiertes Gesicht? Nein, nein, Manuel, meine Tarnung wäre nur aufgeflogen, wenn ich eine der Augenlinsen verloren hätte. Und dafür haben sie den alten Saufkopf nicht hart genug angefasst.«

»Und was willst du als Nächstes unternehmen? Auch wenn du dir nun sicher bist, wo du ansetzen kannst, so ist das WIE doch noch völlig offen?«

Manuels Fragen waren berechtigt. Wie sollte Henry jemals in die so scharf bewachte Höhle des Löwen vordringen, ohne entdeckt und getötet zu werden?

*

Der erste Tag an der Universidade Federal do Rio de Janeiro begann für Chufu Lederer mehr als harzig. Das Einschreibe-Prozedere am frühen Morgen verlief noch ohne Probleme für ihn, doch im ersten Hörsaal, wo Professor Alessandro Purrin Aspekte der Psychoanalyse lehrte, war der Andrang an Studenten so groß, dass für Chufu bloß noch ein unbequemer Platz auf einer Treppenstufe weit oben übrigblieb. Und im nächsten Vortragsaal rund zwei Stunden später war es sogar noch voller. Es blieb ihm und weiteren rund zwanzig Studenten keine Alternative. Sie mussten sich auf den Flur vor dem Hörsaal hinsetzen. Bei offener Türe versuchten sie, möglichst viel von dem mitzubekommen, was drinnen gesagt wurde. Den Rest mussten sie sich zusammenreimen, vor allem all das, was der Professor über den Beamer als Bilder und Grafiken an die Wand warf und kommentierte.

Frustriert saß Chufu später beim Mittagessen an einem der langen Tische, schaufelte das einfache, aber schmackhafte Einheitsmenü in sich hinein und überlegte, ob er nicht Alabima und Jules anrufen und seine Ausland-Studier-Übung heute noch abbrechen sollte.

Normalerweise gab Chufu zwar nicht so leicht auf. Jules hatte ihn, seitdem sie zusammenlebten, eigentlich ständig auf Ausdauer getrimmt. Nicht nur das körperliche Training dreimal die Woche mit einigen Elementen des Kampfsports, sondern auch seine geistige Beweglichkeit und vor allem den absoluten Durchhaltewillen wurden von seinem Adoptivvater immer wieder auf die Probe gestellt und gefördert. Chufu hatte seine unvollständige Schulbildung in wenigen Jahren auf Vordermann gebracht, die Matura in der Schweiz in Rekordzeit geschafft und sich für das Studium der Psychologie entschieden, was Alabima und Jules vollkommen unterstützten.

»Es kann nichts schaden, wenn du nicht nur instinktiv, sondern auch professionell hinter die aufgesetzten Fassaden anderer Menschen blicken kannst.«

Das waren die Worte von Jules, als er vom Studienwunsch von Chufu das erste Mal hörte. Und seine Eltern widersetzten sich auch nicht seiner Bitte, sich an der Universität in Rio de Janeiro einzuschreiben, auch wenn ihnen ein halbes Jahr recht kurz erschien, um Portugiesisch zu erlernen. Doch nun schienen alle seine Träume hier in Brasilien bereits geplatzt zu sein.

»Ist hier noch frei?«, ließ ihn eine helle, weibliche Stimme in seinem Rücken aus den dunklen Gedanken aufschrecken. Überrascht drehte er seinen Kopf und blickte in zwei schwarze Mandelaugen in einem runden, asiatischen Gesicht.

»Na... Natürlich«, stotterte er eine Zustimmung und rückte sein Tablett zum Zeichen seines Einverständnisses ein wenig zur Seite.

»Hallo, ich bin Mei Ling«, plapperte die junge Frau fröhlich drauflos, setzte ihr Tablett neben seinem ab und streckte ihm eine kleine, etwas fleischig runde Hand mit kurzen Fingern entgegen. Sie fühlte sich warm und weich an, drückte jedoch recht kräftig die seine.

»Ich heiße Chufu Lederer«, murmelte er, während sie sich auf den Stuhl neben ihn setzte.

»Bist du auch neu hier am Institudo de Psicologia?«, war ihr Anknüpfungspunkt für eine Unterhaltung.

»Ja, heute erster Tag«, gab Chufu etwas mundfaul zurück.

Die Chinesin besaß zwar ein freundliches, gewinnendes Wesen, doch ihr Vollmondgesicht und die etwas pummelige Figur entsprachen in keiner Weise seinem Geschmack bei Frauen. Überhaupt hatte er während dem gesamten Morgen noch kein einziges weibliches Wesen erblickt, das seiner Vorstellung von Brasilien auch nur im Geringsten nahekam. Vielleicht lagen vor allem darin seine Enttäuschung und der Grund für die so rasch aufgekommene Frustration. Denn Studieren ohne Spaß machte nirgendwo auf dieser Welt wirklich Freude.

»Du bist doch auch in der Vorlesung von Professor Purrin gewesen, oder?«, verriet die Chinesin den Grund, warum sie sich gerade neben ihn hatte setzen wollen.

Chufu nickte nur und stopfte sich die nächste Gabel mit Essen so vehement in den Mund, als wolle er sicher gehen, ja nicht antworten zu müssen.

»Aber du hast dich auf die Treppe gesetzt. Hast du denn keinen Espaçores?«

Chufu konnte zwar recht gut Portugiesisch, das Wort Espaçores hatte er jedoch noch nie gehört.

»Was ist ein Espaçores?«, fragte er darum zurück.

»Na, ein Platzhalter, einer, der dir den Sitzplatz freihält, bis du im Hörsaal eintriffst. Oder halten dich deine Eltern finanziell zu knapp, dass du dir keine leisten kannst?«

Chufus Gehirnwindungen schalteten rasch.

»Du meinst, man kann sich hier Leute mieten, die einem in den Hörsälen einen Sitzplatz freihalten?«

»Selbstverständlich«, kam ihre Klarstellung postwendend zurück, »jeder beschäftigt hier zwei oder drei Espaçores, wenn er sie sich leisten kann.«

»Und wie funktioniert das?«

»Espaçores sind Studenten aus ärmeren Familien. Sie verdienen sich ihr Studium, indem sie sich für Fächer einschreiben, für die sie sich gar nicht wirklich interessieren. Sie halten ihrem Auftraggeber stets einen Sitzplatz frei und bekommen dafür 200 Real pro Vortrag und Semester.«

»Und wie komme ich an meine eigenen Espaçores?«

»Das ist ganz einfach. Geh im Intranet der Uni auf die Seite mit den Arbeitsangeboten. Dort findest du haufenweise Studenten, die sich mit Nebenjobs ein wenig Geld hinzuverdienen möchten. Die Espaçores schreiben natürlich nicht direkt, dass sie für dich einen Sitzplatz freihalten wollen. Das würde die Uni unterbinden. Doch alle Espaçores führen in ihren Profilen nur die Lehrgänge auf, in denen sie sich angemeldet haben, die sie jedoch nicht wirklich interessieren und wo sie auch frühzeitig im Hörsaal sitzen können, um für dich einen Platz freizuhalten. Du kontaktierst also einfach diejenigen Studenten, die in ihrem Profil deine Studienreihe erwähnen. Der Rest ergibt sich dann von selbst und ist reine Verhandlungssache.«

Chufu blickte die Chinesin bewundernd an.

»Woher weißt du das alles, wenn du auch neu hier bist?«

Mei Ling lächelte verschmitzt.

»Ich bin die dritte in meiner Familie, die hier an der Uni studiert. Meine beiden älteren Schwestern haben mir einen ganzen Haufen an Tricks verraten, vor allem, wie man sich hier am besten durchschlägt.«

Chufu betrachtete die kontaktfreudige Mei Ling nun mit etwas anderen Augen. Ihr rundes Gesicht mit der wenig vorteilhaften Bubikopf-Kurzhaarfrisur konnte ihn weiterhin nicht begeistern. Doch Mei Ling besaß einen süßen, kleinen Mund mit frischen, rosafarbenen Lippen. Dieser Mund wies den gewissen Schwung auf, den Chufu mochte. Er versprach ein aufgewecktes Wesen mit hoher Intelligenz, aber auch einiges an Durchsetzungswillen und eine gehörige Portion an Humor und Selbstironie. Jedenfalls bildete sich Chufu all dies bei ihrem Anblick ein.

»Und welche Vorträge belegst du sonst noch?«, fragte er nun seinerseits die Chinesin interessiert und verriet ihr damit, dass er gerne mehr mit ihr gemeinsam hätte.

»Na, Pereira und Peres, und selbstverständlich auch Drummond, sowie Arruda.«

»Die ersten drei habe ich auch, doch statt Arruda habe ich Professor Freire«, gab Chufu zurück.

»Oh je. Professor Freire? Die Hummel?«

»Was heißt hier Hummel?«

»Na, Professor Freire wird von den Studierenden seit vielen Jahren bloß noch Die Hummel genannt, weil er so fleißig wie eine ist, aber so chaotisch auftritt. Hast du schon einmal beobachtet, wie eine Hummel durch eine Blütentraube rauscht, wie sie von Nektarquelle zu Nektarquelle hetzt und dabei rücksichtslos die kleineren Honigbienen wegstößt und verdrängt? Das ist Professor Freire wie er leibt und lebt. Ich rate dir, mach dir immer gleich zwei oder drei Kopien von deinen Arbeiten, denn der Professor ist dafür berüchtigt, viele von ihnen zu verlegen, zu verlieren oder sonst wie zum Verschwinden zu bringen.«

»Vier von fünf ist aber auch ganz gut«, sinnierte Chufu laut, »so können wir uns jeweils gegenseitig unterstützen, falls du magst.«

Mei Ling nickte, wobei sich ihr Mund spöttisch verzog. Das konnte alles und nichts bedeuten, denn Chufu hatte keinerlei Erfahrung mit Chinesinnen, konnte Mei Ling nicht wirklich einordnen. Im Internat in Rosey gingen zwar auch über ein Dutzend Mädchen aus dem Land des Roten Drachens zur Schule. Doch keine von ihnen gefiel ihm so gut, als dass er nähere Bekanntschaft geschlossen hätte. Mit großer Freude registrierte Chufu jedoch, dass sich Mei Ling beim Essen an die westliche Etikette hielt und weder schmatzte noch mit offenem Mund kaute oder gar genüsslich rülpste und spuckte.

»Und woher kommst du so?«, fragte er sie neugierig.

»Mein Großvater ist vor mehr als fünfzig Jahren als junger Mann nach Brasilien ausgewandert. Er machte hier eine richtige Tellerwäscher-Karriere, wortwörtlich gemeint. Irgendwann konnte er sich mit einem eigenen kantonesischen Restaurant selbständig machen. Mein Vater hat daraus in den letzten zwanzig Jahren eine kleine Kette aufgebaut, besitzt heute ein gutes Dutzend Lokale in und um Rio. Und woher stammst du?«

»Ich bin auf den Philippinen geboren und von meiner Mutter direkt in einem Waisenhaus abgegeben worden. Ich kenne sie deshalb ebenso wenig, wie meinen leiblichen Vater. Mit vierzehn Jahren büchste ich dort allerdings aus und fuhr dann als Schiffsjunge zur See. Mit fünfzehn traf ich auf meinen heutigen Adoptivvater, auf Jules. Er hat mich zusammen mit seiner Partnerin Alabima adoptiert. Seither lebe ich vor allem in der Schweiz und kam nun als Student hierher nach Rio.«

»Alabima?«, plapperte die Chinesin munter drauflos, »ein echt ungewöhnlicher Name.«

»Ja, meine Mutter ist eine Oromo, eine Äthiopierin.«

»Dein Vater ist also weiß, deine Mutter schwarz und du bist gelb?«, stellte Mei Ling mehr fest, als dass sie ihn danach fragte, wobei sie verschmitzt lächelte.

»Genau. Wir sind weniger eine Patchwork-Familie als vielmehr ein richtiger Fleckenteppich.«

Mei Ling lachte schallend auf und Chufu grinste breit. Es schienen sich zwei Seelen gefunden zu haben.

Die Mittagspause ging leider allzu rasch zu Ende. Chufu begleitete Mei Ling zwar noch bis zum nächsten Hörsaal, wo ihr Espaçores bereits ungeduldig auf sie wartete, boxte ihr auch einen Weg durch die belagerte Eingangstüre frei, doch statt sich anschließend wiederum im Flur mit den anderen hinzusetzen, beschloss der junge Philippine, die nächsten zwei Stunden lieber für die Suche im Intranet nach ein paar persönlichen Platzhaltern zu nutzen.

*

Jules traf vier Tage nach dem Anruf von Henry in Juárez ein. Sein britischer Freund hatte ihm mitgeteilt, dass er mit den Verhandlungen nicht weiterkäme und dringende Unterstützung bräuchte, um vielleicht doch noch einen Durchbruch zu erzielen.

Sie trafen sich im Lokal von Manuel und setzten sich nach der Begrüßung mit dem ehemaligen Polizeipräfekten an einen Tisch. Vorsorglich hatte Manuel an diesem Morgen seiner Küchenhilfe frei gegeben, würde sein Café an diesem Mittag gar nicht öffnen.

Zu Anfang hatte Jules seinen alten Freund Henry nicht einmal auf Anhieb erkannt, denn der fühlte sich in seiner neuen Rolle als alter Mexikaner pudelwohl. Aus seiner sonst straffen Körperhaltung war ein leichter Buckel geworden, Bewegungen führte er matt und langsam aus, vermied dabei jeden unnötigen Handgriff. Hinzu kamen die sehr dunkle Hautfarbe und das pechschwarze Haar, sowie eine Plastikeinlage in seinem Mundraum, die seine Backen etwas blähte und seinem Gesicht ein rundlicheres Aussehen verlieh.

Manuel brachte drei hohe Tassen gefüllt mit schwarzem Kaffee an den Tisch. Die beiden Europäer rührten sich vorsorglich ein paar Löffel Zucker hinein, bevor sie vorsichtig kosteten und dann zufrieden lächelten.

»Und wie stehen die Aktien?«, eröffnet Jules den Reigen.

Henry hatte dem Schweizer von Manuel und seinem Café in Juárez als seine erste Anlaufstelle in Mexiko bereits vor seiner Abreise erzählt. Denn eine der wichtigsten Grundsätze bei gefährlichen Einsätzen lautete, dass die Partner jeden Schritt im Voraus kannten und auf diese Weise auch mitdenken und im Fall der Fälle auch unverzüglich Hilfe leisten konnten.

»Manuel hat für uns das Hauptquartier des wohl gewichtigsten Drogenkartells hier in Juárez ausfindig gemacht. Ich habe den Ort vor ein paar Tagen überprüft. Die reagieren dort nervös, was zumindest zweierlei beweist. Sie bewachen das Gebäude äußerst scharf und sie haben darin wohl auch Einiges zu verbergen.«

»Können wir dort heimlich eindringen?«

Der Kopf von Manuel schüttelte sogleich ein Nein.

»Über einen Freund in der Stadtverwaltung habe ich uns die Baupläne aller Häuser in dieser Gasse besorgt. Doch es scheint, als ob man in den letzten zwei Jahren einige bauliche Veränderungen ohne Bewilligung und damit ohne offizielle Planunterlagen durchgeführt hat. Ein heimliches Eindringen wäre nicht nur schwierig, sondern mehr als gefährlich.«

»Vielleicht können wir jemanden bestechen?«

»Das Haus und die Gebäude daneben lassen wir seit ein paar Tagen überwachen und die ein- und ausgehenden Leute bis nach Hause verfolgen. Wir haben auf diese Weise zehn Mitarbeitende herausgefiltert, die sich täglich für einige Stunden dort aufhalten. Sechs davon sind bekannte Schlägertypen und wohl für die Bewachung und den Schutz zuständig. Die vier anderen dürften normale Büroangestellte sein. Es sind jedenfalls Leute, die polizeilich nicht registriert sind und mit ihren Familien in kleinen Mietwohnungen leben. Der Eigentümer des Hauses ist ein großer Baulöwe hier in Juárez.«

»Hat er das Gebäude vermietet oder gehört er zum Kartell?«

»Das ließ sich bisher nicht feststellen. Pancho Rosales, so heißt der Mann, hat sich jedenfalls die letzten Tage kein einziges Mal dort blicken lassen. Überhaupt konnten wir bislang noch kein einziges prominentes Gesicht aus der bekannten Drogenszene dort entdeckt. Es herrscht zwar ein reges Kommen und Gehen, doch es scheint eher ein Sammelplatz kleiner Ganoven, Informanten und Befehlsempfängern zu sein.«

»In Zeiten des Internets brauchen sich Bosse nicht mehr persönlich in ihren Hauptquartieren blicken zu lassen«, sinnierte Jules laut, »können wir einen der Angestellten vielleicht schmieren? Oder erpressen?«

Henry und Manuel schüttelten gleichzeitig ihren Kopf.

»Von diesem Versuch würde ich dringend abraten. Denn damit würden wir nicht nur ihn, sondern auch alle seine Angehörigen in unmittelbare Gefahr bringen. Es gibt hier in Juárez immer wieder Fälle von Massenexekutionen ganzer Familien. Sobald die Drogenbosse an einen Verrat glauben, lassen sie sämtliche Menschen im Umfeld des möglichen Abtrünnigen töten. Falls uns also eine Bestechung gelänge, wären wir später vielleicht für den Tod einer großen Zahl von völlig Unschuldigen verantwortlich.«

»Also müssen wir persönlich ins Gebäude einsteigen. Vielleicht am besten am späten Abend oder in der Nacht, wenn nur noch die Wächter dort sind«, stellte Jules fest und wirkte dabei grimmig entschlossen.

»Oder ihr macht es am nächsten Sonntag, wenn alle das Fest zu Ehren der heiligen Jungfrau Maria feiern«, meinte Manuel trocken.

Henry und Jules sahen sich vielsagend an.

»Erzähl uns mehr darüber, Manuel.«

*

Es war eine eindrückliche Prozession, die sich an diesem frühen Sonntagnachmittag langsam durch die Straßen der fünftgrößten Stadt Mexikos zog. Zehntausende von Menschen säumten die Straßen. Ganz Juárez schien auf den Beinen zu sein, um der heiligen Mutter Gottes zu huldigen und ihren Segen zu erbitten. Sechs Priester trugen die fast zwei Meter große Marienfigur auf einem Gestell auf ihren Schultern. Sie musste sehr schwer sein, denn die Träger wurden durch andere Männer alle paar Meter reihum abgelöst. Hinter ihnen schritt eine Heerschar von Kirchenleuten, Ministranten und Offiziellen der Stadt. Sie alle trugen Blumensträuße in den Händen, wirkten gefasst, aber auch sehr fröhlich.

Henry und Jules waren als mexikanische Trunkenbolde unterwegs. Sie befanden sich an diesem Tag allerdings in guter Gesellschaft, denn der hohe Festtag war für manch anderen ebenso Anlass genug, sich schon vor dem Mittagessen mehrere Gläser Mezcal zu gönnen. Schwankend bogen Henry und Jules in die schmale Gasse zum Hauptquartier des Juárez Kartells ein, hatten sich ihre Arme gegenseitig eingehakt und grölten ein mexikanisches Volkslied. Neben der schlichten Eingangstüre mit der abblätternden Farbe blieben sie stehen. Jules drehte sich rülpsend zur Hauswand hin, zog den Saum seiner Baumwollhose etwas nach unten und schon bald plätscherte ein fröhlicher Strahl gegen den schmutzigen Verputz. Es dauerte keine zehn Sekunden, da sprang die Türe auf und zwei bullige Mexikaner stürmten heraus, schwangen ihre Fäuste und übergossen die beiden Trunkenbolde in der Gasse mit derben Flüchen. Henry drehte sich ohne Hast zu ihnen um, wirkte dabei völlig nüchtern. In seinen Händen hielt er zwei Tazer, löste sie auch ohne zu zögern aus, worauf die kleinen Pfeile mit den Kabeln auf die beiden Wachposten zu schossen, sich durch die Kleidung in ihre Haut bohrten und die ersten Stromwellen durch ihre Körper zucken ließen. Im selben Moment spurtete Jules auch schon los, umrundete die beiden zitternden und auf den Boden fallenden Mexikaner, ohne sich um sie zu kümmern, war auch schon durch die Eingangstüre in das Innere des Hauses verschwunden. Hinter einer Theke saß ein dritter Mann, der die Szene vor dem Haus auf einem Monitor fassungslos beobachtet hatte und eben dabei war, aufzuspringen, um vielleicht auch nach draußen zu stürmen. Jules erreichte ihn mit zwei Sprüngen, noch bevor der Mann seine Waffe aus dem Schulterholster ziehen und in Anschlag bringen konnte. Er setzte den Mann mit einem Ura-Zuki und einem anschließendem Kagi-Zuki außer Gefecht.

Jules wirbelte herum. Seine Augen schienen überall zu sein. Gleichzeitig lauschte er angespannt. Im Haus rührte sich nichts. So stürmte der Schweizer auch schon wieder hinaus in die Gasse, packte wie Henry einen der beiden bewusstlosen Wächter unter den Schultern und zog ihn in den Flur, warf die Eingangstüre hinter sich zu.

Die beiden Europäer schnauften nach diesem explosionsartigen Kraftakt, sahen sich mit triumphierend blitzenden Augen an. Henry setzte sich hinter die Theke und kontrollierte über die installierten Bildschirme, ob sich in der Gasse draußen irgendetwas regte. Jules wandte sich den unteren Räumen zu, ging den Flur entlang und spähte in jedes Zimmer hinein.

Die Ablage in der kleinen Küche war mit schmutzigem Geschirr vollgestellt, das anschließende Bad roch muffig, danach folgte ein Raum mit einer Sitzgruppe, wohl der bevorzugte Aufenthaltsort für die Wachleute. Rasch kehrte er zurück zu Henry und gemeinsam verschnürten sie mit den mitgebrachten Textilklebebändern die drei bewusstlosen Männer, vergaßen auch nicht, sie sorgfältig zu knebeln. Danach gingen sie recht sorglos die Treppe hoch ins Obergeschoss.

»Noch drei Minuten«, sagte Jules nach einem Blick auf seine Armbanduhr zu Henry, denn sie hatten zuvor vereinbart, sich nicht länger als fünf Minuten im Gebäude aufzuhalten.

Oben betrat jeder von ihnen einen anderen Raum und sie begannen mit der Durchsuchung nach interessanten Akten oder Belegen. Rasch fanden sie heraus, dass die Personal Computer mittels Netzwerk mit einem Server verbunden waren. Jules fand ihn in einem der Nebenräume, schraubte ihn auf und entnahm die vier Festplatten, ließ sie in einem mitgebrachten Leinenbeutel verschwinden.

Einen stählernen, fast mannshohen Tresor ließen die beiden Männer unbeachtet. Es hätte viel zu lange gedauert, sein Schloss oder seine Panzerung zu knacken. Stattdessen wandten sie sich den vielen Schränken und Schubladen zu, rissen sie auf, wühlten darin herum und packten zusammen, was ihnen von Interesse schien. Auch Henry hatte einen Beutel dabei, der sich rasch füllte.

»Noch eine Minute, Abmarsch«, rief Jules laut, worauf sich Henry sogleich zu ihm gesellte. Gemeinsam knüllten sie irgendwelches Papier zusammen, warfen es auf einen Haufen. Darüber legten sie weiteres, brennbares Material, zwei Bürostühle, Aktenordner, einen wollenen Teppich. Jules zündete ein Streichholz an. Rasch züngelten Flammen empor, leckten nach den Sitzflächen der Stühle, die auch schon zu qualmen begannen.

Ohne Eile gingen die beiden Europäer die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Die drei Geknebelten waren mittlerweile erwacht und blickten ängstlich zu ihnen hoch. Jules holte ein Teppichmesser aus seiner Hosentasche und durchschnitt bei allen dreien die Klebebänder an den Fußgelenken. Die Wachposten taumelten mit ihrer Hilfe hoch und wurden von Henry und Jules widerstandslos nach draußen und auf die Gasse dirigiert. Hinter den Fenstern im Obergeschoss loderte bereits ein Flammenmeer. Eines davon stand offen und dichter, schwarzer Rauch quoll aus ihm heraus und in den Himmel empor. In der Ferne ertönte näherkommender Lärm einer Sirene. Ein aufmerksamer Nachbar hatte wohl bereits die Feuerwehr alarmiert.

Henry und Jules ließen die drei Mexikaner einfach stehen und machten sich mit ihrer Beute davon. Und während sie an der Mündung der Gasse zur Lerdo aus dem Blickfeld der Wachleute verschwanden, versuchten die drei immer noch, mit ihren Zähnen das Klebeband um ihre Handgelenke durchzunagen.

*

Auf ihrem Rückweg zum Café von Rodrigez betraten Henry und Jules ein recht nahe gelegenes, modernes Wohnhaus, in dem ihnen Manuel ein Appartement angemietet hatte. Sie zogen ihre Baumwollsachen und die Sandalen aus, schminkten sich ab und verwandelten sich zurück in europäische Weiße. Dazu gehörten sportliche Anzüge und polierte, schwarze Lackschuhe. Sie packten die gestohlenen Unterlagen in zwei Aktenkoffer und verließen das Haus wenig später in einem gemieteten schwarzen Mercedes mit amerikanischen Kennzeichen über die Ausfahrt der Tiefgarage.

Sie fuhren über die Good Neighbor International Bridge zurück in die USA. Die Zollbeamten prüften ihre Ausweise sehr genau, denn die beiden Europäer sahen mit ihren tiefschwarz gefärbten Haaren doch recht verändert zu den Abbildungen aus. Doch die Kontrolle der Passnummern über den Computer förderte nichts Negatives über die beiden an den Tag und so wurden sie durchgewunken.

Sie hatten sich am Tag zuvor ein Zimmer im Plaza Hotel genommen. Dort schlüpften sie erst einmal in bequeme Freizeitkleidung. Erst danach begannen die beiden, den Inhalt der beiden Aktenkoffer zu sichten.

Die vier Festplatten legten sie erst einmal beiseite. Ihr Inhalt war mit Sicherheit mit Passwörtern geschützt, eventuell sogar vollständig verschlüsselt. Ihnen sollte sich in den kommenden Wochen ein vertrauenswürdiger Spezialist in London widmen.

Die gestohlenen Papiere zeigten ihnen ein weites Feld verschiedenster Aktivitäten. Doch erst auf den zweiten Blick trat auch Verdächtiges ins Auge. Jules und Henry fanden Quittungen und Bankauszüge von fünf verschiedenen in Juárez ansässigen Firmen, einem Warenhaus, drei Restaurants und einer Wäscherei. Sie stellten sich gegenseitig Rechnungen aus, wohl zum Zweck der Geldwäsche beziehungsweise deren Vorbereitung. Von den Beträgen und Zeitpunkten her schien es, dass die Gelder ausschließlich von den drei Restaurants über die Wäscherei an das Warenhaus verschoben wurden.

Die mexikanische Steuerfahndung hätte bestimmt Freude an diesen Dokumenten bekundet. Für die Zwecke von Jules und Henry waren sie jedoch völlig wertlos, zeigten sie doch keinerlei Verbindungen hinüber in die USA. Höchsten die Bankverbindungen konnten ihnen unter Umständen nützliche Informationen liefern. Sie lauteten auf eine Filiale der früheren Wachovia Bank in El Paso. Die 1879 gegründete Bank verlor ihre Selbständigkeit im Zuge der Finanzkrise und wurde vor etwas über einem Jahr von Wells Fargo übernommen.

»Vielleicht können wir die Eigentümer der Firmen ermitteln und sehen dann etwas klarer«, meinte Henry aufmunternd.

»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, entgegnete Jules ein wenig frustriert, »doch was haben wir von unserem Sonntagsspaziergang auch anderes erwarten können? Die Vielfalt an Indizien zeigt uns zwar, dass es sich um eine recht große Organisation handeln muss. So gesehen passt sie in unser Beuteschema. Doch wir stehen immer noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Schau dir das hier an«, und damit pflückte er aus den Schriftstücken vor sich eines heraus und hielt es Henry vor die Nase. Auf dem Papier waren von Hand fünf Namen und daneben Beträge notiert.

»Bestechungsgelder?«

»Könnte durchaus stimmen. Wir werden die Liste erst einmal Manuel zeigen. Wer weiß, vielleicht kennt er einige der Leute?«

»Dann war unser Überfall ein Schlag ins Wasser?«

»Das werden wir erst wissen, wenn die Festplatten geknackt und ihre Inhalte analysiert sind. Bis dahin bleibt uns erst einmal wohl nur Manuel mit seinem Wissen und seinen Verbindungen.«

Sie verließen das Hotel zu Fuß, nahmen sich jedoch ein Taxi bis zum Grenzübergang Paso del Norte, gingen zu Fuß und als gewöhnliche Tagestouristen über die Brücke und suchten das Lokal von Manuel auf. Bei ihrem Eintreffen war das Café recht gut besetzt. Mexikanische Familien genossen Kuchen oder Eis, Limonade oder Kaffee, ließen den feierlichen Sonntagnachmittag gemütlich ausklingen. Henry und Jules setzten sich an einen Tisch nahe der Theke und wurden von Manuel erst einmal wie gewöhnliche Gäste mit Kaffee und Torte bewirtet.

Es dauerte über eine Stunde, bis endlich die letzten Einheimischen gegangen waren und sich die drei ungestört unterhalten konnten.

»Und? Hat’s funktioniert?«, die Stimme des ehemaligen Polizeipräfekten verriet neugierige Ungeduld.

Jules zog das Papier mit den fünf Namen und Beträgen aus der Jackeninnentasche und legte es ausgebreitet vor Manuel hin.

Der stierte auf das Blatt und pfiff dann leise durch die Zähne. Dann deutete er auf den ersten Namen, hinter dem ein Betrag von 5’000 Dollar stand.

»Emanuel Hernandoz ist der stellvertretende Bürgermeister von Juárez. Und das hier«, er deutete auf den zweiten Namen der Liste, Oswald della Padrosa, »ist der Polizeikommandant im dritten Revier. Bei den beiden nächsten bin ich mir nicht sicher, doch es könnten zwei Abgeordnete des Stadtrates sein. Doch ihre Namen sind recht häufig in und um Juárez. Dieser Fünfte hier jedoch, Rosaro Alamandera, der mit den siebzigtausend Dollar, den kenne ich nicht.«

»Und was sagt dir die Höhe der Beträge? Kannst du daraus irgendwelche Rückschlüsse ziehen?«, wollte Henry von ihm wissen.

»Fünftausend oder zehntausend Dollar könnte das Geld für kleinere Gefälligkeiten sein, zum Beispiel eine verratene Polizeirazzia in einem Bordell oder das Durchwinken einer mittelgroßen Menge an Drogen am Zoll.«

»Und siebzigtausend?«

»Der Auftragsmord an einem hohen Politiker?«, mutmaßte Manuel laut, »doch für siebzig Tausend Dollar kannst du hier in Mexiko auch über zwei Tonnen Marihuana kaufen.«

»Dann könnte dieser Rosaro Alamandera ein Drogenanbauer für das Juárez-Kartell sein?«

»Nein, nein. Der Einkaufspreis im Landesinneren beträgt keine sechstausend Dollar pro Tonne. Doch hier in Juárez, direkt an der Grenze, müsste man als amerikanischer Importeur bereits fünfunddreißig bezahlen, um es danach auf eigenes Risiko über die Grenze zu schaffen, wo es anschließend zum fünffachen Preis auf den Straßen verkauft wird.«

»Wofür könnte das S hinter der Zahl stehen?«

»S? Vielleicht für Soborno?«

Die drei blickten sich an.

»Das würde dann aber bedeuten...?«, begann Henry und Jules nahm ihm das Wort aus dem Mund, »... ja, genau das würde es bedeuten.«

*

Chufu hatte sich nach zwei Wochen gut eingelebt. Ricarda, die fast erwachsene Tochter der Ferreiras, brachte ihn zwar immer wieder ins Schwitzen, denn schon zweimal traf er sie splitternackt in seinem Bett an, als er abends auf sein Zimmer ging. Nicht etwa, dass Chufu ein Kostverächter gewesen wäre und das Mädchen war mehr als nur hübsch. Doch er wollte unter keinen Umständen einen Familienkrach verursachen. Denn ein kurzes Abenteuer mit der kessen Tochter konnte seine sofortige Rückkehr in die Schweiz erzwingen. Also zeigte er der Kleinen die kalte Schulter und schlief beide Male im Wohnzimmer auf dem Sofa. Ricarda rächte sich jedoch an ihm und beschuldigte ihn bei ihren Eltern, er sei ihr gegenüber zudringlich geworden. Doch Ana und Luís kannten ihr kleines Biest viel zu gut und glaubten den ehrlichen Beteuerungen des jungen Philippinen. So war mittlerweile auf dieser Front eine Art von Waffenstillstand eingetreten.

Mit Mei Ling verstand sich Chufu dagegen prächtig. Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getäuscht. Sie war intelligent und ihm in Diskussionen auf jedem Gebiet ebenbürtig. Dazu besaß sie eine ganze Menge an Sarkasmus und Schalk. Was für eine explosive Mischung.

Bald einmal verbrachten die beiden den größten Teil ihrer Freizeit zusammen, besuchten den Zuckerhut und die Copacabana, wo Chufu zwar endlich die brasilianischen Schönheiten in ihren knappen Tangas und den aufregenden Kurven bewundern konnte, diese Mädchen aber gleichzeitig mit der geistreichen Chinesin verglich, die ihre üppige Körperform mit gut zehnmal so viel Stoff und mit einem altmodisch wirkenden Bikini zusammenhielt.

Chufu war ein sportlicher junger Mann, besaß einen durchtrainierten Waschbrettbauch und für einen Asiaten eine wohl ausgeprägte Arm- und Beinmuskulatur. Er war hochgewachsen, über eins achtzig und bewegte sich mit der natürlichen Kraft eines jungen Bullen. Mehr als eine der Schönheiten am Strand warf ihm lockende Blicke zu, worauf ihn Mei Ling jeweils spöttisch musterte und sichtlich auf seine Reaktion wartete. Ja, die Chinesin begann damit, ihn immer öfters zu necken und aufzuziehen.

»Wäre die nicht was für deine Lenden?«, begann sie gerne eine ihrer Attacken auf sein Selbstbewusstsein.

»Welche meinst du?«

»Na, die sehr Dunkelhäutige dort, die mit den drei rosa Schuhbändel, die sie statt einem Bikini trägt. Ich meine den Hungerhaken mit der mehr als reichlich gestopften Oberweite und den Fett-abgesaugten Oberschenkeln.«

Auch wenn Mei Ling die abwertende Beschreibung der jungen Frau recht selbstsicher vortrug und bestimmt auch so meinte, hörte Chufu doch auch einen fremden Beiklang aus ihrer Stimme heraus. Keine Frau der Welt bezeichnete sich selbst als schön und ihre eigenen Vergleiche mit anderen Frauen fielen meist zu ihren Ungunsten aus, vor allem an einem solchen Sandstrand, an dem sich die Schönen der Stadt in aller Pracht präsentierten und nach männlicher Beute Ausschau hielten.

Chufu drehte sich zu Mei Ling um und legte seine rechte Hand freundschaftlich auf ihren linken Oberschenkel.

»Äußere Schönheit ist nicht alles«, stellte er trocken fest und versuchte dabei, seiner Stimme Überlegenheit zu verleihen.

»Aber die männlichen Hormone kommen durch sie doch ganz schön in Wallung«, gab sie spitz zurück.

Chufu sah der Chinesin erst in die Augen, dann wanderte sein Blick an ihrem sinnlichen Mund vorbei auf ihren etwas zu kurz geratenen Hals, der zudem ausgesprochen fleischig wirkte. Sein Blick fiel auf ihren nicht allzu großen Busen, der vom Badeoberteil flach auf ihre Brust gedrückt wurde. Mei Ling besaß einen süßen Bauchnabel, wie Chufu schon bei ihrem ersten Strandbesuch festgestellt hatte. Er war klein, nicht allzu tief und sah irgendwie knuddelig aus, wie er sich eingestand.

Seine Hand ruhte immer noch auf dem von der Sonne heißen Schenkel der Studentin. Chufu bemerkte, dass sich ihre Bauchmuskeln unter seiner Berührung angespannt hatten und die Bauchdecke nun kurz erzitterten. Bei diesem Anblick überkam ihn auf einmal eine ungeheure sexuelle Erregung und er spürte, wie sich sein Glied augenblicklich unter seiner Badehose zu versteifen begann.

War das möglich?

Die Chinesin entsprach doch nicht seinem Bild einer Sexpartnerin. Sie war doch bloß eine Kollegin, eher noch ein guter Kumpel, geeignet zum Pferde stehlen und zum gemeinsamen Studium. Die pummelige Mei Ling mit den strammen Schenkeln und einem übermäßig breiten Becken konnte ihn doch unmöglich sexuell stimulieren?

Chufu wusste zwar, dass je älter Männer wurden, umso eher begehrten sie Frauen mit etwas dran, wie man im Volksmund sagte. Doch er war jung, noch keine zwanzig. Was wollte er mit einer alles andere als schlanken Chinesin ohne viel Busen und einem eher dicken Hintern? War das nicht wider die Natur?

Trotz diesen Gedanken spürte er den Druck unter seiner Hose weiter anwachsen und war froh, dass er sein Badetuch locker um die Hüfte geschlungen trug. Als er wieder in Mei Lings Augen blickte, erkannte er darin eine gespannte und irgendwie auch hoffnungsvolle Erwartung. Vielleicht nach mehr? Oder machte sie sich bloß einmal mehr lustig über ihn?

Rasch zog er seine Hand von ihrem Schenkel weg und drehte sich wieder in Richtung Strand um. Möglichst sachlich und ohne Betonung fragte er die Studentin dann: »Gehen wir heute Abend in den Klub?«

Damit meinte er das Nuth, die derzeit angesagteste Diskothek in Rio.

»Wenn du willst?«, gab die Chinesin mit ebenso neutraler Stimme zurück. Chufu glaubte allerdings, darin eine Spur von Enttäuschung herauszuhören. Sie stierten nun beide ohne großes Interesse auf die anderen Halbnackten am Strand, die sich mit Ballspielen und Sonnenbädern den späten Nachmittag totschlugen, hingen irgendwelchen Gedanken nach. Und so schwiegen sie beide eine lange Zeit, empfanden vielleicht dasselbe Gefühl, so als wenn ihre bislang so ausgelassene und unbekümmerte Freundschaft auf einmal durch eine hohe Mauer blockiert war.

Als seine Erektion endlich abgeklungen war, bot Chufu ihr an, ein Eis im Strandlokal zu besorgen. Mei Ling lehnte mit den Worten, »Nein danke. Sonst werde ich nur noch fetter«, recht schroff ab, worauf der Philippine einen heftigen Kloß in seinem Hals verspürte und gleichzeitig fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er antwortete nichts darauf.

*

Zwanzig Meilen außerhalb Juárez lag auf einem flachen, mit Bäumen und viel Buschwerk überwucherten Hügel eine weiße und hellstrahlende, riesige Hazienda. Die üppige Vegetation war im Grunde genommen ein Wunder, hier im trockenen Norden von Mexiko, doch nicht, wenn ein reicher Drogenboss für genügend Bewässerung sorgte. Vicente Carrillo Fuentes hatte sich hierhin zurückgezogen, bezahlte brav jeden Monat seine Bestechungsgelder an den Polizeichef und die Armeeführung in der Region und lebte mit seiner Familie seit mehreren Jahren völlig unbehelligt vor der Justiz. An diesem Sonntagnachmittag lag er mit seiner dritten Ehefrau Denise aus Detroit unter ein paar schattigen Bäumen am Pool. Ein Diener servierte ihnen zwei Frozen Margaritas. Die Kinder plantschten mit ein paar Freunden ausgelassen im großen Becken.

»Du hast Sorgen, Vicente«, stellte seine Gattin fest, nachdem sie durch den Strohhalm ein Schlückchen des Getränks gesogen und geschluckt hatte.

Carrillo blickte weiterhin grimmig geradeaus und auf das glitzernde Wasser des Pools, schien erst gar nicht antworten zu wollen.

»Es ist nichts. Das Übliche«, beschwichtigte er dann kurz angebunden.

»Teil deinen Kummer mit mir«, verlangte seine Ehefrau. Denise wusste selbstverständlich von den Drogengeschäften ihres Mannes, hatte sie schon bei ihrem Kennenlernen vermutet. Für einen Geschäftsmann, der sein Geld ehrlich und manchmal auch mühsam verdiente, gab er viel zu viel und viel zu locker aus. Denn Vicente lebte damals so, als wenn jeder Tag sein letzter wäre. Das konnte bei einem Drogenboss der Fall sein. Erst einige Jahre nach ihrer Hochzeit, der Geburt der Zwillinge und ihrer Tochter Felicitas wurde ihr Ehemann ruhiger, legte seine stets ein wenig gehetzt wirkende Art ab. Doch an diesem Nachmittag schien er wieder einmal mehr innerlich aufgewühlt und angespannt. Ein bestimmtes Problem schien seine Gedanken zu fesseln.

Endlich drehte Vicente seinen Kopf zu seiner Frau herum und begann, ihr von seinen Sorgen zu erzählen.

»Das Sinaloa-Kartell hat schon wieder einen meiner Transporte auffliegen lassen. Dabei sah alles so perfekt aus. Wir hatten das Flugzeug in Chihuahua bereits beladen und waren startklar für den Direktflug nach Amarillo. Auch dort war alles längst vorbereitet und der Weitertransport organisiert. Doch kurz vor dem Start tauchte auf einmal die Drogenfahndung auf und beschlagnahmte alles.«

»Und wie viel hast du dabei verloren?«

»Ach«, winkte der Boss des Juárez-Kartells unwirsch ab, »im Prinzip nur den Jet, den wir für knapp zwei Millionen gekauft hatten. Die Ware gehörte mir gar nicht. Was aber wirklich schwer wiegt, das ist die steigende Unzuverlässigkeit meiner Transportwege. Weißt du, Liebes, wir führen pro Jahr für etwa fünf Milliarden Dollar Kokain aus Kolumbien in die USA ein. Gegen eine Milliarde betragen unsere Frachtgebühren. Die zwei Millionen für das Flugzeug fallen also nicht ins Gewicht. Doch meine Geschäftsfreunde in Kolumbien und den USA werden langsam nervös. Viel braucht es nicht mehr und sie wechseln zu Guzman über.«

»Was willst du dagegen unternehmen?«

Carrillo starrte wieder auf die Wasserfläche mit ihren Reflexionen. Bisher hatte er seinen Drink noch nicht angerührt.

»Ich vermute, irgendeiner aus meiner Organisation redet, hat die Seite gewechselt. Es kann gar nicht anders sein.«

»Und wen hast du in Verdacht?«

»Jeden und keinen. Für meine engsten Vertrauten lege ich meine Hand ins Feuer. Doch bei einem dieser Kerle würde ich sie mir wahrscheinlich verbrennen. Bloß bei welchem?«

Ein anderer Diener kam um den Pool herum zum Ehepaar, trug auf einem Tablett ein Handy herbei.

»Ein Anruf, Señor, aus der Stadt.«

Vicente griff nach dem Telefon.

»Ja?«

Seine Stimme hatte jede Unsicherheit verloren. Hart, klar und fordernd drang sie an das Ohr seines Gesprächspartners.

»Es gab einen Überfall. Auf unsere Zentrale in Juárez. Vor zwei Stunden«, tönte es aus dem kleinen Lautsprecher. Carrillos Gesicht nahm eine fahle Farbe an.

»Ein Überfall? Von wem?«, schnarrte er ungeduldig ins Mikrofon.

»Es waren zwei Mexikaner. Sie haben anschließend Feuer gelegt. Das Gebäude ist vollständig ausgebrannt.«

»Wie viele Tote?«

»Keine Toten. Unsere Wächter wurden bloß ausgeschaltet. Dann durchsuchten die beiden Männer die Büros, nahmen wohl auch einige der Akten mit, legten Feuer und brachten unsere Leute ins Freie, bevor sie so rasch verschwanden, wie sie aufgetaucht waren.«

Vicente Carrillo war einen Moment lang still, dachte angestrengt nach.

»Habt ihr die Kerle gefilmt?«

»Ja, natürlich. Die Kameras in der Lerdo funktionierten einwandfrei.«

Die Mine des Kartellbosses hellte sich etwas auf.

»Okay. Treffen wir uns bei Alvarez. In einer Stunde. Ruf die Jungs zusammen.«

Als er die Leitung unterbrochen hatte, blickte ihn seine Frau Denise aufmerksam an.

»Ein Überfall? Wo? Gab es Tote?«

Carrillo schien immer noch nachzudenken, antwortete seiner Gattin geistesabwesend: »Nein, keine Toten. Das ist das Seltsame. Irgendjemand hat meine Zentrale in der Stadt überfallen, die Wachen ausgeschaltet und Feuer gelegt. Doch sie ließen alle meine Leute am Leben. Ich begreife das nicht. Das ergibt doch keinen Sinn?«

Denise kümmerte sich in der Regel kaum um die Geschäfte ihres Gatten. Dass er wegen des anhaltenden Kriegs zwischen den rivalisierenden Drogenkartellen immer öfters gereizt und manchmal auch verbitterte war, kannte sie schon. Doch ratlos hatte sie ihn noch nie zuvor erlebt.

»Vielleicht ein Außenseiter? Ein Neuer? Der noch gewisse Skrupel kennt?«, versuchte sie die Gedanken ihres Ehemannes in eine bestimmte Richtung zu lenken.

»Nonsens. Niemand in unserem Geschäft kann sich den Luxus von Skrupeln leisten. Das ganze sieht mir auf den ersten Blick eher nach einer Polizeiaktion aus. Doch die mexikanische hat dafür gar nicht die richtigen Leute. Die würden auch gleich mit fünfzig oder gar hundert Mann anrücken, das gesamte Gebiet absperren, Unbeteiligte evakuieren und erst danach stürmen. Doch diesmal sollen es bloß zwei Mann gewesen sein, die meine Leute ausschalteten.«

»Stecken vielleicht die Amerikaner dahinter?«

»Die hätten zwar die richtigen Männer für so was, doch warum sollten sie sich ihre Geschäfte mit uns verderben? Immerhin bezahlen wir sie fürstlich für ihre Dienste.«

»Vielleicht ein Konkurrent deiner amerikanischen Freunde?«

Carrillo dachte einen Moment lang in diese Richtung nach.

»CIA, NSA und Heimatschutzministerium fressen uns aus der Hand. Wenn überhaupt, dann käme nur die ATF in Frage.«

»Die ATF?«

»Alcohol, Tobacco and Firearms, die letzte US-Behörde, die uns ernsthaft bekämpft. Doch dieser Überfall trägt kaum ihre Handschrift. Sie dürften auch kaum über Spezialeinheiten verfügen, die im Ausland operieren.«

»Und was ist mit der DEA?«

»Gemäß meinen Freunden bei der CIA operiert die DEA derzeit überhaupt nicht hier in Mexiko.«

»Vielleicht war es doch das Sinaloa-Kartell von Guzman?«

»Nein, mein Schatz, dann hätte keiner meiner Leute überlebt. Aber wir haben die Kerle wenigstens auf Video aufgezeichnet. Vielleicht bringt uns die Auswertung der Aufnahmen mehr Klarheit. Ich fahr rüber zu Gonzales.«

Damit erhob sich Carrillo von seiner Liege, winkte den Kindern im Pool freundlich lächelnd zu und verschwand im Haus. Denise Carrillo widmete sich wieder ihrer Cosmopolitan.

*

Acht Männer hatten sich im Hinterzimmer von Gonzales Alvarez versammelt. Alvarez betrieb einen Schlachthof mit angeschlossener Großmetzgerei, war Mitglied im Stadtparlament von Juárez und seit vielen Jahren ein enger Freund von Carrillo. Das Juárez-Kartell durfte seine Räumlichkeiten als Ausweichquartier benutzen, auch wenn Alvarez sonst nichts mit dem Drogenhandel zu tun hatte und davon auch in keiner Weise profitierte. Doch Carrillo und er waren als Nachbarkinder vor mehr als dreißig Jahren gute Freunde geworden, hatten auch gemeinsam die Schulbank gedrückt und große Pläne für ihre Zukunft geschmiedet.

»Also, was habt ihr bislang herausgefunden?«, leitete Carrillo die Zusammenkunft seiner Führungskräfte ein.

»Leider nicht viel mehr, Vicente«, meinte sein derzeitiger Stellvertreter, Armando Vasquez, »ich hab mir die Video-Aufnahmen zwar schon mehrere Male angeschaut, aber darin nichts wirklich Greifbares gefunden, das uns weiterbrächte.«

»Und was hast du mit unseren Versagern gemacht, die sich so dämlich überrumpeln ließen?«

»Ihre Leichen liegen längst in der Wüste. Man wird sie wohl morgen oder übermorgen finden. Wir haben ihnen auch die Köpfe abgeschlagen und diese an einem ganz anderen Ort vergraben, damit es nach Morden des Zetas-Kartells aussieht.«

Carrillo nickte zufrieden.

»Also gut. Dann lasst mich auch mal die Aufnahmen sehen.«

Vasquez schaltete das Deckenlicht im bereits abgedunkelten Raum aus und startete den Beamer. An der Wand erschienen Bilder der schmalen Gasse zu ihrem ehemaligen Hauptquartier, darauf zwei betrunkene Mexikaner, die sich der Türe zum Hauptquartier des Juárez-Kartells schwankend näherten. Sie blieben stehen, dann zog einer seine Hose runter und pinkelte an die Mauer. Die Tür ging auf und zwei Wächter stürzten heraus, wurden durch den anderen Mexikaner mit Elektroschockern gestoppt, während der Pinkler bereits durch den Eingang ins Innere des Gebäudes stürzte. Wenig später kam dieser Mann wieder heraus und gemeinsam zogen die beiden Mexikaner die immer noch paralysierten Wachen ins Haus hinein und schlossen dann die Tür hinter sich.

Vasquez spulte den Film vor, die Uhrzeit in der Ecke rechts oben lief rasch weiter und knapp vier Minuten später öffnete sich die Türe wieder und die drei Wächter wurden in die Gasse getrieben. Sie mussten sich hinsetzen, danach machten sich die beiden Mexikaner davon.

»Das ist alles«, vermeldete Armando Vasquez.

»Die beiden Männer trugen Stoffbeutel auf sich, als sie rauskamen. Was haben sie mir gestohlen?«

»Wir sind noch dabei, es herauszufinden. Doch das Gebäude ist völlig ausgebrannt. Teilweise sind sogar die Decken eingestürzt. Den Tresor haben wir allerdings bereits gefunden und auch in Sicherheit gebracht. Er wurde nicht aufgebrochen, was auch kein Wunder ist, da die Eindringlinge ja bloß ein paar Minuten Zeit hatten. Welche Papiere gestohlen wurden, das versuchen wir mit Hilfe unserer Buchhalter derzeit herauszufinden. Auf den ersten Blick dürfte ihnen bloß unwichtiges Zeug in die Hände gefallen sein.«

»Und nach was sieht dieser Überfall in euren Augen aus?«

Carrillo blickte seine engsten Vertrauten der Reihe nach in die Gesichter. Doch die zuckten bloß mit ihren Schultern oder grinsten verlegen.

»Wir haben keine Ahnung. Gegen ein anderes Kartell spricht, dass unsere Leute am Leben geblieben sind. Und von einer verdeckten Polizei- oder gar Armeeaktion hätten wir bestimmt schon im Vorfeld erfahren.«

»Lasst mich die Aufnahme noch einmal sehen.«

Vasquez spulte das Band zurück und ließ es wieder anlaufen.

Als die beiden Wächter nach draußen stürmten, rief Carrillo plötzlich »Stopp!«.

Das Bild blieb stehen, zeigte die Szene kurz vor dem Angriff mit den Schockpistolen.

»Etwas zurückspulen ... noch etwas ... halt!«, kommandierte Carrillo, dann deutete er auf den pinkelnden Mann auf der rechten Seite des Bildes, »seht doch! Er ist ein Gringo!«

Seine Männer starrten auf das Bild, konnten ihrem Boss jedoch nicht sogleich folgen.

»Schaut euch doch nur seinen Schwanz an, ihr Idioten! Der ist doch viel zu hell für einen Mexikaner!«

*

Jules hatte den Flug nach Las Vegas genommen, wollte sich mit Toni Scapia persönlich treffen und die nächsten Schritte besprechen. Manuel Gonzales hatte sich anerboten, in Juárez einen Trupp aus zuverlässigen Männern auf die Beine zu stellen, die den spärlichen Hinweisen aus den gestohlenen Akten nachgehen konnten. Er würde dabei auf Leute aus Mexiko City zurückgreifen, denn hier an der Grenze zu den USA war die Gefahr einer Unterwanderung durch Spitzel der örtlichen Drogenmafia viel zu groß.

Henry seinerseits wollte mit den vier Festplatten zuerst einmal nach London zurückkehren, um sie dort auswerten zu lassen. Danach plante er weiter nach Bogota in Kolumbien zu reisen, wo er einen vor vielen Jahren ausgewanderten Briten treffen wollte. Jason Meltings war als Journalist für die London Times tätig und würde ihn auf den neuesten Stand in Sachen Drogenanbau und Schmuggel bringen und ihm bestimmt auch sagen können, wie groß der Anteil der Rebellenorganisation FARC an diesem Geschäft war. Vielleicht konnte er ihm sogar Hinweise über Verbindungen zu US-Behörden geben.

Toni und Jules trafen sich nicht in der Stadt, sondern am Hoover Staudamm, an der Grenze zu Arizona. Dutzende von Touristen schwirrten um sie herum, knipsten Fotos und staunten über das mächtige Bauwerk. Die beiden Männer standen etwas abseits vom Trubel, stützten ihre Unterarme auf das Geländer der Staumauer und betrachteten das Wasser tief unter sich. An den Felsrändern war ein breiter, heller Streifen zu sehen. Er zeigte auf, wie tief der Pegel des Stausees derzeit lag. Viel zu viel Wasser wurde dem einst so wilden Colorado viele hundert Meilen weiter stromauf zur Bewässerung von Plantagen entrissen. Der einst mächtige Fluss war längst gezähmt, versickerte zur Schande der USA sogar im Erdreich von Kalifornien, noch bevor er den Pazifik erreichen konnte. Was für ein überaus trauriges Ende für den Erschaffer des Naturwunders Grand Canyon.

»Wie kommst du voran? Wo stehen wir?«

Jules Frage enthielt keinerlei Tadel, eher Aufmunterung.

»Leider nur schleppend. Der erste der drei ursprünglichen Zielpersonen könnte sich vielleicht für eine Erpressung eignen.«

Jules Lederer verzog sein Gesicht, als wenn er Magenschmerzen verspüren würde.

»Ganz schlecht«, war sein Kommentar zum halbherzig vorgetragenen Vorschlag von Toni Scapia.

»Der zweite Kerl hat leider vor drei Tagen Selbstmord begangen.«

»Dann fällt der wohl auch aus?«

Der Schweizer versuchte, seiner Stimme einen belustigten Klang zu verleihen, was ihm nicht wirklich gelang.

»Den dritten lasse ich nun Rund-um-die-Uhr von einer Detektei verfolgen. Er fliegt nämlich oft nach Los Angeles und San Francisco und ich frage mich wozu? Wenn sie in diesem Anwaltsbüro vor allem von Briefkastenfirmen leben, dann sind Flüge zu Kunden doch überflüssig?«

»Ja, das ist ein möglicher Ansatzpunkt, Toni. Bleib auf jeden Fall an ihm dran. Doch wie steht es mit deinen Ermittlungen in Delaware? Hast du dort schon etwas unternehmen können?«

Toni Scapia schnaufte hörbar.

»Die Adresse dort erbrachte bislang recht wenig. Sie gehört einer sehr großen Kanzlei, die mit Sicherheit zehntausende von Scheinfirmen für ihre Kunden repräsentiert. Dieses Büro zu unterwandern ist in meinen Augen wenig sinnvoll. Es käme einer weiteren Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleich.«

»Und was schlägst du stattdessen vor?«

Der Tonfall von Jules Frage verriet, dass er mit einer besseren Strategie seines amerikanischen Freundes rechnete.

»Es gibt eine angesehene, mittelgroße Anwaltskanzlei in Wilmington. Sun, Heuscher & Bush heißt sie und besitzt einige Niederlassungen und Zweigstellen. Sie vertreten immer wieder US-Behörden vor Gericht. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie auch für die Gründung von Scheinfirmen hinzugezogen wird.«

»Das ist durchaus möglich. Doch wie willst du das in Erfahrung bringen?«

»Du weißt, ich habe Verbindungen zu einigen eher zwielichtigen Leuten. Einer davon ist ein gewisser Michael Langtry. Er war der Chef-Buchhalter von Enrico Monti. Enrico sitzt wegen mehrfachem Anlagebetrug seit fünf Jahren hinter Gittern und wird dort noch eine lange Zeit schmoren. Dieser Michael Langtry hat sich von mir anheuern lassen. Ihn will ich entweder bei Sun, Heuscher & Bush in Wilmington einschleusen oder noch besser direkt bei einer ihrer kleineren Agenturen. Er kann dort für uns den Maulwurf spielen.«

Jules dachte einen kurzen Moment lang nach.

»Wenn er genügend verlässlich ist und dichthalten kann?«

»Ich hab ihm erzählt, um was es uns geht, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen. Er kennt das Risiko. Für eine Million Dollar ist er bereit, uns zu helfen.«

»Gut. Deine Entscheidung. Doch wie willst du ihn einschleusen?«

»Oh, dazu müssen wohl erst ein paar Stellen bei denen frei werden.«

»Du denkst dabei doch hoffentlich nicht an Verletzte oder gar Tote?«

»Nein, nein. Ich denke dabei an ein paar freie Stellen in meinen Büros in Miami und New York, die ich unbedingt durch Angestellte von Sun, Heuscher & Bush besetzen will. Die Angebote an die Damen und Herren werden so fabelhaft ausfallen, dass sie ihnen kaum widerstehen werden.«

*

Vicente Carrillo Fuentes hatte vorsorglich seine Los Aztecas ausgeschickt. Sie sollten einige Mitglieder anderer Banden aufspüren und töten, nur um sicher zu gehen, dass eine dem Überfall angemessene Rache verübt wurde, falls doch ein anderes Kartell hinter dem Angriff auf sein Hauptquartier stecken sollte.

Noch in derselben Nacht überfielen drei bekiffte Jugendliche ein Kino und ballerten mit ihren AK-47 wild um sich, schoben ein Magazin nach dem anderen ein, leerten sie auf die in Panik flüchtenden Zuschauer. Die Polizei zählte später acht Tote, dreiundvierzig zum Teil schwer Verletzte und über fünfhundert Einschusslöcher. Am nächsten Tag wurde das Basketball-Turnier einer öffentlichen Schule beschossen. Zwei Jugendliche von fünfzehn Jahren starben, sechs weitere wurden verletzt. An der Kreuzung Morelia und Balcón de la Nube fand die Polizei einen Morgen später vier Männer in einem völlig zerschossenen Mercedes Cabriolet. Sie wurden als Mitglieder der Mexides identifiziert.

Der Krieg der Kartelle schien in eine neue, noch brutalere Phase getreten zu sein und etliche Polizisten quittierten noch am selben Tag ihren Dienst. Bürgermeister José Reyes Ferriz rief den Gouverneur der Provinz an und bat um die Entsendung weiterer Einheiten der Armee. Sein Hilferuf wurde umgehend an den Präsidenten Mexikos weitergeleitet.

Vicente Carrillo Fuentes ließ an diesem Morgen den Vertrauensmann der CIA zu sich rufen. Jeffrey Immels, ein stets glatt rasierter Blondschopf mit markanten Gesichtszügen und maßgeschneiderten Anzügen schien sehr aufgebracht, als er vor den Boss des Juárez Kartells trat.

»Sind Sie wahnsinnig geworden, Vicente? Sie können doch nicht die Hölle entfachen und haufenweise Unschuldige umbringen, nur weil irgendjemand Ihr Hauptquartier abgefackelt hat.«

Carrillo hob beschwichtigend seine Arme, zeigte seinem Besucher die offenen Handflächen.

»Das sind bloß ein paar kleine Denkzettel, Jeffrey, die längst schon fällig waren. Kein Grund zur Beunruhigung. Die anderen Kartelle werden meine Wut verstehen und ihre eigenen Jungs zurückhalten.«

»Und warum haben Sie mich zu sich gerufen?«

»Es gibt da ein Problem. Ich suche nämlich zwei Gringos, die hinter dem Überfall auf mein Hauptquartier stecken. Ich denke, sie sind von auswärts eingeflogen worden. Ich möchte von Ihnen darum die Passagierlisten sämtlicher angekommenen und abgeflogenen Maschinen in El Paso seit dem achten Februar. Bis wann können Sie sie mir liefern?«

Jeffrey Immels biss sich auf die Unterlippe. Er wusste, dass sein Gegenüber keinen Spaß verstand, wenn er eine solche Forderung stellte. Trotzdem versuchte er einen Einwand.

»Vicente, ich verstehe ja Ihren Zorn. Doch die Passagierlisten sind geheim. Die kann ich Ihnen nicht kopieren.«

»Unsinn. Die CIA hat bestimmt Zugriff auf die Daten.«

Immels nickte.

»Das stimmt schon. Doch auf den Listen finden sich auch viele unserer eigenen Männer und die CIA hat etwas dagegen, wenn Außenstehende von möglichen Operationen der Agency Wind bekommen.«

»Sagen Sie mir nicht, die CIA wäre für den Überfall auf mich verantwortlich.«

Die Stimme Carrillo hatte einen gefährlichen Unterton angenommen und Jeffrey Immels zuckte unwillkürlich zusammen.

»Nein, selbstverständlich nicht. Davon hätte ich längst erfahren.«

»Dann gibt es auch keinen Grund, mir die Namen zu verweigern. Ihr könnt eure Leute vorher von den Listen streichen.«

Immels nickte diesmal zögerlich.

»Okay. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.«

»Danke, Jeffrey, das wäre auch schon alles«, meinte Carrillo nun wieder freundlich lächelnd, ließ sogar seine blendend weißen Zähne blitzen. Doch Immels kam es vor, als blickte er auf das fletschende Gebiss eines gereizten Pumas.

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