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8 Das Vaterunser: Gottes Heiligkeit MATTHÄUS 6,9

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Im siebten Kapitel haben wir festgestellt, dass am Anfang des Vaterunsers mit den Worten „Unser Vater“ ein liebevoller Gott angerufen wird, der sowohl nah als auch „im Himmel“ ist. Er ist der Schöpfergott, der uns in der Menschwerdung Jesu nahekommt. Mit dem gleichen Ausdruck bekräftigt Jesus auch, dass Gott unabhängig davon existiert, ob wir ihn und sein Wirken wahrnehmen. Die Bibel geht schlichtweg von der Existenz Gottes aus und begründet sie nirgendwo. Gebet beruht auf der Voraussetzung, dass der Schöpfergott uns hören kann, wenn wir ihn ansprechen.

Nachdem geklärt ist, zu wem wir beten, nämlich zu „unserem Vater im Himmel“, richtet das Gebet sechs bzw. sieben Bitten an Gott; da die letzten beiden Bitten thematisch eng zusammenhängen, fasse ich sie zusammen:

1. Geheiligt werde dein Name;

2. dein Reich komme;

3. dein Wille geschehe,

wie im Himmel, so auch auf Erden!

4. Unser tägliches Brot gib uns heute;

5. und vergib uns unsere Schulden,

wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben;

6. und führe uns nicht in Versuchung,

sondern rette uns von dem Bösen!

Die ersten drei werden oft „Du-Bitten“ genannt, weil sie sich auf die „Vogelperspektive“ konzentrieren, auf die Meta-Erzählung, und den Beter daran erinnern, dass er Teil der großen Menschheitsgeschichte ist. Sie berühren folgende zentrale Themen:

– die Heiligung von Gottes Namen,

– das Kommen von Gottes Königreich und

– die Erfüllung von Gottes Willen.

Danach richtet das Gebet seinen Blick auf die aktuelle Welt des Beters und seine konkreten Bedürfnisse. Diese Bitten werden auch „Wir-Bitten“ genannt und konzentrieren sich auf:

– das tägliche Brot,

– Vergebung in der Gemeinschaft und

– Befreiung vom Bösen.

Jede dieser sechs Bitten erfordert ein Eingreifen Gottes und nennt – direkt oder indirekt – eine Beteiligung durch den Glaubenden. Das heißt, zu jeder Bitte gehört die Souveränität Gottes und die Freiheit und Verantwortung des Menschen:

1. Gott selbst macht seinen Namen heilig,

und von mir wird erwartet, ein heiliges Leben zu führen.

2. Gott bringt sein Königreich herbei,

und ich soll auf das Ziel seines Kommens hinarbeiten.

3. Gott erfüllt seinen Willen,

und ich soll diesen Willen im Alltag entdecken und ihm gehorchen.

4. Gott schenkt das tägliche Brot,

und ich soll arbeiten, um es zu verdienen.

5. Gott vergibt,

und ich soll ebenso vergeben.

6. Gott führt mich fort vom Bösen,

und ich soll ein gerechtes Leben führen.

Den allumfassenden Charakter dieser sechs Bitten und der Anrede erwähnt auch Jeremias: „In der Tat ist das Vaterunser die klarste und trotz seiner Knappheit umfassendste Zusammenfassung der Verkündigung Jesu, die wir besitzen.“101 Offensichtlich stiftet dieses Gebet einerseits Gemeinschaft und fördert andererseits das persönliche Wachstum des Einzelnen.

Jede der drei monotheistischen Religionen hat solch ein Gebet. Das zentrale Gebet des Islam heißt Fatiha (Die Eröffnung) und enthält eine einzige Bitte: „Führe uns den geraden Weg […]“. Dieser Weg wird dann im Gebet folgendermaßen näher beschrieben:

[…] den Weg derer, denen du Gnade erwiesen hast,

nicht [den Weg] derer, die d[ein]em Zorn verfallen sind

und irregehen!102

Im Islam wird der gerade Weg vom islamischen Gesetz vorgegeben. Der Inhalt der einzigen Bitte der Fatiha deckt sich mit der wichtigen Rolle, die das islamische Gesetz im Islam innehat.

Die Segenssprüche der Tefilla (auch: Achtzehngebet) bilden das zentrale Gebet des Judentums. Die Zusammenstellung dieser Gebete begann vermutlich im vierten Jahrhundert v. Chr. und erlebte ihre „Endredaktion“ unter Gamaliel II. um 100 n. Chr.103 Sie werden in jedem Synagogengottesdienst gebetet und sind ein wichtiger Bestandteil der jüdischen Identitätsbildung. In den Segenssprüchen sind vierzehn Bitten enthalten, die hier gekürzt wiedergegeben werden:104

1. Begnade uns von dir mit Erkenntnis, Einsicht und Verstand.

2. Führe uns zurück, unser Vater, zu deiner Lehre, und bringe uns, unser König, deinem Dienst nahe und lass uns in vollkommener Rückkehr zu dir zurückkehren.

3. Vergib uns.

4. Schaue auf unser Elend, führe unseren Streit und erlöse uns rasch um deines Namens willen.

5. Bringe vollkommene Heilung allen unseren Wunden.

6. Segne uns dieses Jahr und alle Arten seines Ertrages zum Guten.

7. Stoße in das große Schofar zu unserer Befreiung, erhebe das Panier, unsere Verbannten zu sammeln.

8. Bringe uns unsere Richter wieder wie früher; rechtfertige uns im Gericht.

9. Den Verleumdern sei keine Hoffnung, und alle Ruchlosen mögen im Augenblick verloren sein …

10. Über die Gerechten, über die Frommen, über die Ältesten deines Volkes, des Hauses Israel, über den Überrest ihrer Gelehrten, über die frommen Proselyten und über uns sei dein Erbarmen rege!

11. Nach deiner Stadt Jerusalem kehre in Erbarmen zurück; erbaue sie bald in unseren Tagen.

12. Den Sprössling deines Knechtes David lass rasch emporsprießen, sein Horn erhöhe durch deine Hilfe.

13. Höre unsere Stimme; nimm mit Erbarmen und Wohlgefallen unser Gebet an.

14. Bringe den Dienst wieder in das Heiligtum deines Hauses.

15. Verleihe Frieden, Glück und Segen, Gunst und Gnade und Erbarmen uns und ganz Israel, deinem Volke, segne uns, unser Vater, uns alle.

Es wird gemeinhin angenommen, dass die meisten dieser Gebete zur Zeit Jesu in Gebrauch waren; daher helfen sie uns, die theologische Welt zu verstehen, zu der er gehörte. Ein vollständiger Vergleich zwischen dem Vaterunser und dieser Gebetssammlung geht über die Möglichkeiten dieses Kapitels hinaus, doch einige Beobachtungen sind vielleicht hilfreich. Die Bitten enthalten:

– Eine starke Betonung Jerusalems und des Tempels (10, 11, 14, 17).

– Die Nennung eines heiligen Buches. Neben einer Bitte um Erkenntnis um Einsicht steht auch ein Bekenntnis der Treue zur Heiligen Schrift (4, 5).

– Eine Betonung des Leidens der Glaubensgemeinschaft und die Notwendigkeit der Befreiung und Wiederherstellung (7, 8, 11, 13, 15, 17).

– Eine Bitte um Vergebung, die allerdings nicht mit der Vergebung anderen gegenüber verknüpft ist (5, 6).

– Ein Gebet um Segen für das landwirtschaftliche Jahr (9).

– Ein Ruf nach Vernichtung der Feinde [ha-Minim] (12).

– Die Bitte um Erbarmen, Gebetserhörung, Frieden und Glück (16, 19).

Trotz all ihrer ehrenwerten und bewundernswerten Aspekte ist diese Gebetssammlung eindeutig für eine bestimmte ethnische Gemeinschaft mit ihrem Zentrum in Jerusalem bestimmt. Jesus entzionisiert diese Tradition.105 Das Vaterunser enthält keinen Hinweis auf Jerusalem oder den Tempel und die Jünger werden gelehrt, um das Kommen des Königreiches Gottes „auf Erden“ zu beten: Alle Menschen weltweit werden in den Blick genommen. Vergebung ist an die Vergebung anderen gegenüber gebunden. Es wird kein Wunsch nach der Vernichtung Außenstehender formuliert, und es gibt keine Bitte, Gott möge auf das Leiden seines Volks sehen oder für sein Volk kämpfen.

Jeder Erneuerer muss sich mit den Traditionen der Vergangenheit auseinandersetzen. Manche Dinge werden weggelassen, während andere unbestritten bestätigt werden. Wieder andere werden akzeptiert und durch die Einführung neuer Elemente verändert. Jesus ist dabei keine Ausnahme. Ein Blick auf das, was er weglässt, was er bestätigt und was er revidiert, indem er neue Elemente hinzufügt, kann uns helfen, seine Absicht zu verstehen. Das bringt uns zur ersten „Du-Bitte“.

Jesus war kein Europäer

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