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Ein unmögliches Arabisch
ОглавлениеDer Sinai: eine verlassene Wüstenlandschaft, trocken, karg, über weite Strecken lebensfeindlich. Kein Ort zum Bleiben, auch nicht für jene Menschen, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts an seinem nördlichem Rand niederlassen, um einen Kanal durch die Halbinsel zu graben. Eine fast unmögliche Aufgabe, denn es fehlt an allem. Nicht einmal Trinkwasser ist selbstverständlich. Zunächst bohren die Arbeiter Brunnen. Gleichzeitig errichten sie Entsalzungsanlagen, um auch mit dem aufbereiteten Meerwasser ihren Durst zu stillen. Doch Salz- in Trinkwasser umzuwandeln ist aufwendig, und so wird zwischen den Orten Zagazig und Ismailia ein zusätzlicher Kanal gezogen, durch den Süßwasser zu den Baustellen fließt. Zudem schaffen Karawanen Wasser vom Nil heran. Im Jahr 1860 schließlich werden erste Pumpen installiert.
Nichts ist selbstverständlich in dieser harschen Gegend. Und doch entsteht hier, Schritt für Schritt und über mehrere Jahre, eine neue Stadt: Port Said, der nördliche Eingang zum Suezkanal. Am Anfang ist diese Stadt nichts als eine Art Basislager, „eine Landzunge auf der man am 25. April 1859 eine von mehreren Zelten umgebene Hütte errichtet hat“, wie ein Augenzeuge notiert.9 Die Versorgung dieses stetig wachsenden Camps liegt zunächst ausschließlich in den Händen der Compagnie. Doch weil Tempo und Qualität der Lieferungen zu wünschen übrig lassen, gibt sie ihr Monopol 1861 auf: der Startschuss für all jene, die hoffen, mit der Versorgung der Arbeiter ein Geschäft machen zu können. So trocken und staubig die Gegend ist, zieht sie doch Menschen mit Geschäftssinn an. Viele lassen sich auch von der Aussicht auf günstige Handelsbedingungen locken, denn Port Said ist ein Freihafen. Erste größere Steinbauten entstehen, immer mehr Läden eröffnen. „Port Said ist fast eine Stadt“, notiert die französische Orientalistin Narcisse Berchère, die 1861/62 auf Einladung de Lesseps’ einige Monate am Suezkanal verbringt. „Man zählt 1023 Europäer und 1578 Araber. Es gibt Restaurants, Cafés, Schneider und Kantinen.“10 Entsprechend breit, schreibt in den 1890er Jahren ein junger Kolonialoffizier, sei auch die Angebotspalette: „Kodakfilme, Whiskey, Ansichtskarten und andere britische Annehmlichkeiten.“11
In Port Said herrscht lebhaftes Treiben, das notiert dreißig Jahre später auch der indische Richter Lala Baijnath. „Port Said ist ständig voller Schiffe, die entoder beladen werden oder darauf warten, durch den Kanal zu fahren. Krieger aus allen Nationen, Auswandererschiffe und Soldaten treffen hier zusammen und geben ein höchst interessantes Panorama ab.“ Der Hafen entwickelt sich zu einer globalen Drehscheibe. „Menschen der unterschiedlichsten Sprachen, Ethnien, Farben und Kleidungsstile drängte sich in den Straßen dieser entstehenden Stadt“, notierte ein französischer Beobachter anlässlich der Eröffnungsfeierlichkeiten des Kanals 1869.12 Die Stadt, schreibt ein anderer, „scheint eine Art Treffpunkt aller Nationen zu sein“.13 Entsprechend holprig ist die Verständigung, das Sprachgewirr hat fast babylonische Ausmaße. „Man sprach schlechtes Italienisch mit den Arabern, noch schlechteres Griechisch mit den Franzosen, und ein unmögliches Arabisch mit den Menschen aus Dalmatien“, hält ein Zeitzeuge fest.14 Aber Hauptsache, man versteht sich. Denn darauf kommt es an in einer Stadt, in der jeder seine Waren an den Mann bringen, möglichst schnell Umsatz machen will. „Die bunten Reklametafeln wecken die Aufmerksamkeit der Anwohner und der Reisenden mit ihren falschen Versprechungen. Alles Nötige und alles Überflüssige wird auf Arabisch, Griechisch, Englisch, Türkisch, Niederländisch angepriesen, und, so Gott will, auch auf Chinesisch“, notiert 1875 ein französischer Reisender. Doch trotz – oder vielleicht auch wegen – all dieser glitzernden Verführung lässt es sich in Port Said ganz gut leben: „Zwei Casinos mit Theater und Garten, mehrere andere Bauten der gleichen Art mit hervorragenden Orchestern, mit Wirtshäusern, griechischen oder arabischen Cafés, englischen Kneipen bringen Tag und Nacht Leben in diese junge Stadt. Deren Einwohner, aktiv und immer bereit zum Kampf (denn ohne diese Eigenschaft wären sie nicht gekommen) scheinen von Tag zu Tag mehr zu werden.“15
Die Hafenstadt Port Said am Ausgang des Suezkanals zum Mittelmeer auf einer Postkarte um 1900.
Freilich geht es, das Zitat ließ es gerade schon anklingen, unter solch entschlossenen Machern nicht immer sanft zu. Unter oder neben der gepflegten Welt der Cafés und Orchestersäle breitete sich ein anderes Port Said aus: das der Spelunken, Glücksspiele und der Prostitution. „Ungerechtigkeit gibt es an vielen Orten dieser Welt, und Laster an allen. Aber die höchste Konzentration aller Ungerechtigkeiten und Laster weltweit findet man in Port Said.“16 Alles lässt sich im Gewirr der Gassen finden, von Pornographie über Rauschmittel bis zu gezinkten Karten und was der kleinen Gaunerwerkzeuge mehr sind. Port Said, fasst ein englischer Reisender seine Eindrücke zusammen, „ist der Ort, an dem alle Laster aus Ost und West gemeinsames Asyl finden.“17 Die vor moralischem Verfall schützenden Traditionen aus Ost und West greifen nicht in dieser frisch aus dem Boden gestampften Kunststadt, zumindest in einigen ihrer Viertel nicht. Dort treffen Menschen aufeinander, die an billigem Vergnügen oder schnellem Geld interessiert sind – oder an beidem zugleich. Sie interessieren sich herzlich wenig für die in der Heimat eingeübten Spielregeln. In Port Said laufen die moralischen Überlieferungen auf Grund, gehen westliche und östliche Grundsätze akzeptabler Lebensführung gleichermaßen in die Knie. Die Menschen, die hier leben, verfolgen schlicht ihre Interessen, mit womöglich größerer Energie als anderswo. Das verleiht dem Ort seine spezifische Anarchie und Gesetzlosigkeit, in der sich all jene bequem einrichten, die sich in solchen Umständen zu Hause fühlen. Warum sie sich an einem solchen Ort so sicher fühle, will eine Aktivistin für gesittete Lebensführung von einer Bordellbetreiberin wissen. „Die Polizei tut mir nichts“, antwortet diese. „Und mein Konsul und mein Richter auch nicht.“18