Читать книгу Rubinrot - Керстин Гир - Страница 4
1.
ОглавлениеMontagmittag in der Schul-Cafeteria spürte ich es zum ersten Mal. Für einen Moment hatte ich ein Gefühl im Bauch wie auf der Achterbahn, wenn man von der höchsten Stelle bergab rast. Es dauerte nur zwei Sekunden, aber es reichte, um mir einen Teller Kartoffelpüree mit Soße über die Schuluniform zu kippen. Das Besteck schepperte zu Boden, den Teller konnte ich gerade noch festhalten.
»Das Zeug schmeckt ohnehin wie schon mal vom Boden aufgewischt«, sagte meine Freundin Leslie, während ich die Schweinerei notdürftig beseitigte. Natürlich schauten alle zu mir herüber. »Wenn du willst, kannst du dir meine Portion gerne auch noch auf die Bluse schmieren.«
»Nein, danke.« Die Bluse der Schuluniform von Saint Lennox hatte zwar zufälligerweise die Farbe von Kartoffelpüree, trotzdem fiel der Fleck unangenehm ins Auge. Ich knöpfte die dunkelblaue Jacke darüber zu.
»Na, muss die kleine Gwenny wieder mal mit ihrem Essen spielen?«, sagte Cynthia Dale. »Setz dich bloß nicht neben mich, Schlabbertante.«
»Als ob ich mich freiwillig neben dich setzen würde, Cyn.« Leider passierte mir öfter ein kleines Missgeschick mit dem Schulessen. Erst letzte Woche war mir eine grüne Götterspeise aus ihrer Alu-Form gehüpft und zwei Meter weiter in den Spaghetti Carbonara eines Fünftklässlers gelandet. Die Woche davor war mir Kirschsaft umgekippt und alle am Tisch hatten ausgesehen, als hätten sie die Masern. Und wie oft ich die blöde Krawatte, die zur Schuluniform gehörte, schon in Soße, Saft oder Milch getunkt hatte, konnte ich gar nicht mehr zählen.
Nur schwindelig war mir dabei noch nie gewesen.
Aber wahrscheinlich hatte ich mir das nur eingebildet. In letzter Zeit war bei uns zu Hause einfach zu viel von Schwindelgefühlen die Rede gewesen.
Allerdings nicht von meinen, sondern denen meiner Cousine Charlotte, die, wunderschön und makellos wie immer, neben Cynthia saß und ihren Kartoffelbrei löffelte.
Die ganze Familie wartete darauf, dass Charlotte schwindelig wurde. An manchen Tagen erkundigte sich Lady Arista – meine Großmutter – alle zehn Minuten, ob sie etwas spüre. Die Pause dazwischen nutzte meine Tante Glenda, Charlottes Mutter, um haargenau das Gleiche zu fragen.
Und jedes Mal, wenn Charlotte verneinte, kniff Lady Arista die Lippen zusammen und Tante Glenda seufzte. Manchmal auch umgekehrt.
Wir anderen – meine Mum, meine Schwester Caroline, mein Bruder Nick und Großtante Maddy – verdrehten die Augen. Natürlich war es aufregend, jemanden mit einem Zeitreise-Gen in der Familie zu haben, aber mit den Jahren nutzte sich das doch merklich ab. Manchmal hatten wir das Theater, das um Charlotte veranstaltet wurde, einfach über.
Charlotte selber pflegte ihre Gefühle hinter einem geheimnisvollen Mona-Lisa-Lächeln zu verbergen. An ihrer Stelle hätte ich auch nicht gewusst, ob ich mich über fehlende Schwindelgefühle freuen oder ärgern sollte. Na ja, um ehrlich zu sein, ich hätte mich vermutlich gefreut. Ich war eher der ängstliche Typ. Ich hatte gern meine Ruhe.
»Früher oder später ist es so weit«, sagte Lady Arista jeden Tag. »Und dann müssen wir bereit sein.«
Tatsächlich war es nach dem Mittagessen so weit, im Geschichtsunterricht bei Mr Whitman. Ich war hungrig aus der Cafeteria aufgestanden. Zu allem Überfluss hatte ich nämlich ein schwarzes Haar im Nachtisch – Stachelbeerkompott mit Vanillepudding – gefunden und war mir nicht sicher gewesen, ob es sich um mein eigenes oder das einer Küchenhilfe gehandelt hatte. So oder so war mir der Appetit vergangen.
Mr Whitman gab uns den Geschichtstest zurück, den wir letzte Woche geschrieben hatten. »Offenbar habt ihr euch gut vorbereitet. Besonders Charlotte. Ein A plus für dich.«
Charlotte strich sich eine ihrer glänzenden roten Haarsträhnen aus dem Gesicht und sagte »Oh«, als ob das Ergebnis eine Überraschung für sie sei. Dabei hatte sie immer und überall die besten Noten.
Aber Leslie und ich konnten diesmal auch zufrieden sein. Wir hatten beide ein A minus, obwohl unsere »gute Vorbereitung« darin bestanden hatte, uns die Elizabeth-Filme mit Cate Blanchett auf DVD anzuschauen und dazu Chips und Eis zu futtern. Allerdings hatten wir im Unterricht immer gut aufgepasst, was in anderen Fächern leider weniger der Fall war.
Mr Whitmans Unterricht war einfach so interessant, dass man gar nicht anders konnte, als zuzuhören. Mr Whitman selber war auch sehr interessant. Die meisten Mädchen waren heimlich oder auch unheimlich in ihn verliebt. Und Mrs Counter, unsere Erdkundelehrerin, ebenfalls. Sie wurde jedes Mal knallrot, wenn Mr Whitman an ihr vorbeiging. Er sah aber auch verboten gut aus, da waren sich alle einig. Das heißt alle, außer Leslie. Sie fand, Mr Whitman sähe aus wie ein Eichhörnchen aus einem Trickfilm.
»Immer wenn er mich mit seinen großen braunen Augen anguckt, will ich ihm Nüsse geben«, sagte sie. Sie ging sogar so weit, die aufdringlichen Eichhörnchen im Park nicht mehr Eichhörnchen zu nennen, sondern nur noch »Mr Whitmans«. Dummerweise war das irgendwie ansteckend und mittlerweile sagte ich auch immer: »Ach guck doch mal da, ein dickes, kleines Mr Whitman, wie süß!«, wenn ein Eichhörnchen näher hüpfte.
Wegen dieser Eichhörnchensache waren Leslie und ich sicher die einzigen Mädchen in der Klasse, die nicht für Mr Whitman schwärmten. Ich versuchte es immer wieder mal (schon weil die Jungen in unserer Klasse irgendwie alle total kindisch waren), aber es half nichts, der Vergleich zu einem Eichhörnchen hatte sich unwiderruflich in meinem Gehirn eingenistet. Und niemand hegt romantische Gefühle für ein Eichhörnchen!
Cynthia hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, Mr Whitman habe neben dem Studium als Model gearbeitet. Als Beweis hatte sie eine Reklame-Seite aus einem Hochglanzmagazin ausgeschnitten, in dem ein Mann, der Mr Whitman nicht unähnlich sah, sich mit einem Duschgel einseifte.
Außer Cynthia glaubte allerdings niemand, dass Mr Whitman der Duschgel-Mann sei. Der hatte nämlich ein Grübchen im Kinn und Mr Whitman nicht.
Die Jungen aus unserer Klasse fanden Mr Whitman nicht so toll. Vor allem Gordon Gelderman konnte ihn nicht ausstehen. Bevor Mr Whitman an unsere Schule gekommen war, waren die Mädchen aus unserer Klasse nämlich alle in Gordon verliebt gewesen. Ich auch, wie ich leider zugeben muss, aber da war ich elf Jahre alt gewesen und Gordon irgendwie noch ganz niedlich. Jetzt, mit sechzehn, war er nur noch doof. Und seit zwei Jahren in einer Art Dauer-Stimmbruch. Leider hielt ihn das abwechselnde Gekiekse und Gebrumme nicht davon ab, ständig blödes Zeug zu reden.
Er regte sich schrecklich über sein F im Geschichtstest auf. »Das ist diskriminierend, Mr Whitman. Ich habe mindestens ein B verdient. Nur weil ich ein Junge bin, können Sie mir keine schlechten Noten geben.«
Mr Whitman nahm Gordon den Test wieder aus der Hand und blätterte eine Seite um. »Elisabeth I. war so krass hässlich, dass sie keinen Mann abbekam. Sie wurde deshalb von allen die hässliche Jungfrau genannt«, las er vor.
Die Klasse kicherte.
»Ja und? Stimmt doch«, verteidigte sich Gordon. »Ey, die Glupschaugen, der verkniffene Mund und voll die bescheuerte Frisur.«
Wir hatten die Gemälde mit den Tudors darauf in der National Portrait Gallery gründlich studieren müssen und tatsächlich hatte die Elisabeth I. auf den Bildern wenig Ähnlichkeit mit Cate Blanchett. Aber erstens fand man damals vielleicht schmale Lippen und große Nasen total schick und zweitens waren die Klamotten wirklich super. Und drittens hatte Elisabeth I. zwar keinen Ehemann, aber jede Menge Affären – unter anderem eine mit Sir .. . wie hieß er noch gleich? Im Film wurde er von Clive Owen gespielt.
»Sie nannte sich selber die jungfräuliche Königin«, sagte Mr Whitman zu Gordon. »Weil. . .« Er unterbrach sich. »Ist dir nicht gut, Charlotte? Hast du Kopfschmerzen?«
Alle sahen zu Charlotte hinüber. Charlotte hielt sich den Kopf. »Mir ist nur. . . schwindelig«, sagte sie und sah mich an. »Alles dreht sich.«
Ich holte tief Luft. Es war also so weit. Unsere Großmutter würde entzückt sein. Und Tante Glenda erst.
»Oh, cool«, flüsterte Leslie neben mir. »Wird sie jetzt durchsichtig?« Obwohl Lady Arista uns von klein auf eingetrichtert hatte, dass wir unter gar keinen Umständen mit irgendjemandem über die Vorkommnisse in unserer Familie reden dürften, hatte ich für mich selber beschlossen, dieses Verbot bei Leslie zu ignorieren. Schließlich war sie meine allerbeste Freundin und allerbeste Freundinnen haben keine Geheimnisse voreinander.
Charlotte machte zum ersten Mal, seit ich sie kannte (was genau genommen mein ganzes Leben war), einen beinahe hilflosen Eindruck. Aber dafür wusste ich, was zu tun war. Tante Glenda hatte es mir oft genug eingeschärft.
»Ich bringe Charlotte nach Hause«, sagte ich zu Mr Whitman und stand auf. »Wenn das okay ist.«
Mr Whitmans Blick ruhte immer noch auf Charlotte. »Das halte ich für eine gute Idee, Gwendolyn«, sagte er. »Gute Besserung, Charlotte.«
»Danke«, sagte Charlotte. Auf dem Weg zur Tür taumelte sie leicht. »Kommst du, Gwenny?«
Ich beeilte mich, ihren Arm zu nehmen. Zum ersten Mal kam ich mir in Charlottes Gegenwart ein bisschen wichtig vor. Es war ein gutes Gefühl, zur Abwechslung mal gebraucht zu werden.
»Ruf mich unbedingt an und erzähl mir alles«, flüsterte Leslie mir noch zu.
Vor der Tür war Charlottes Hilflosigkeit schon wieder verflogen. Sie wollte tatsächlich noch ihre Sachen aus dem Spind holen.
Ich hielt sie am Ärmel fest. »Lass das doch, Charlotte! Wir müssen so schnell wie möglich nach Hause. Lady Arista hat gesagt . . .«
»Es ist schon wieder vorbei«, sagte Charlotte.
»Na und? Es kann trotzdem jeden Augenblick passieren.« Charlotte ließ sich von mir in die andere Richtung ziehen. »Wo habe ich nur die Kreide?« Ich kramte im Gehen in der Jackentasche. »Ach, hier ist sie ja. Und das Handy. Soll ich schon mal zu Hause anrufen? Hast du Angst? Oh, dumme Frage, tut mir leid. Ich bin aufgeregt.«
»Schon okay. Ich habe keine Angst.«
Ich sah sie von der Seite an, um zu überprüfen, ob sie die Wahrheit sagte. Sie hatte ihr kleines, überlegenes Mona-Lisa-Lächeln aufgesetzt, unmöglich zu erkennen, welche Gefühle sie dahinter verbarg.
»Soll ich zu Hause anrufen?«
»Was soll denn das bringen?«, fragte Charlotte zurück. »Ich dachte nur. . .«
»Du kannst das Denken getrost mir überlassen«, sagte Charlotte.
Wir liefen nebeneinander die Steintreppen hinunter, auf die Nische zu, in der James immer saß. Er erhob sich sofort, als er uns sah, aber ich lächelte ihm nur zu. Das Problem mit James war, dass niemand außer mir ihn sehen und hören konnte.
James war ein Geist. Deshalb vermied ich es, mit ihm zu sprechen, wenn andere dabei waren. Nur bei Leslie machte ich eine Ausnahme. Sie hatte nie auch nur eine Sekunde an James’ Existenz gezweifelt. Leslie glaubte mir alles und das war einer der Gründe, warum sie meine beste Freundin war. Sie bedauerte zutiefst, dass sie James nicht sehen und hören konnte.
Ich war darüber eigentlich ganz froh, denn das Erste, was James sagte, als er Leslie sah, war: »Himmelherrgott! Das arme Kind hat ja mehr Sommersprossen, als Sterne am Himmel sind! Wenn sie nicht schleunigst anfängt, eine gute Bleichlotion aufzutragen, wird sich niemals ein Mann für sie finden!«
»Frag ihn, ob er vielleicht irgendwo einen Schatz vergraben hat«, war hingegen das Erste, was Leslie sagte, als ich die beiden einander vorstellte.
Leider hatte James nirgendwo einen Schatz vergraben. Er war ziemlich beleidigt, dass Leslie ihm das zutraute. Er war auch immer beleidigt, wenn ich so tat, als sähe ich ihn nicht. Er war überhaupt recht schnell beleidigt.
»Ist er durchsichtig?«, hatte Leslie sich bei diesem ersten Zusammentreffen erkundigt. »Oder so schwarz-weiß?«
Nein, James sah eigentlich ganz normal aus. Bis auf die Klamotten natürlich.
»Kannst du durch ihn hindurchgehen?«
»Ich weiß nicht, ich hab’s noch nie versucht.«
»Dann versuch es jetzt mal«, hatte Leslie vorgeschlagen.
Aber James wollte nicht zulassen, dass ich durch ihn hindurchging.
»Was soll das heißen – Geist? Ein James August Peregrin Pimplebottom, Erbe des vierzehnten Earls von Hardsdale, lässt sich nicht beleidigen, auch nicht von kleinen Mädchen.«
Wie so viele Geister wollte er einfach nicht wahrhaben, dass er kein Mensch mehr war. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, gestorben zu sein. Wir kannten uns mittlerweile seit fünf Jahren, seit meinem ersten Schultag auf der Saint Lennox High School, aber für James schien es nur ein paar Tage her zu sein, dass er im Club mit seinen Freunden eine Runde Karten gespielt und über Pferde, Schönheitspflästerchen und Perücken gefachsimpelt hatte. (Er trug beides, Schönheitspflästerchen und Perücke, was aber besser aussah, als es sich jetzt anhören mag.) Dass ich seit Beginn unserer Bekanntschaft um zwanzig Zentimeter gewachsen, eine Zahnspange und einen Busen bekommen hatte sowie die Zahnspange wieder losgeworden war, ignorierte er geflissentlich. Ebenso wie die Tatsache, dass aus dem Stadtpalais seines Vaters längst eine Privatschule geworden war, mit fließendem Wasser, elektrischem Licht und Zentralheizung. Das Einzige, das er von Zeit zu Zeit zu registrieren schien, war die Länge der Röcke unserer Schuluniform. Offenbar war der Anblick weiblicher Waden und Knöchel zu seiner Zeit höchst selten gewesen.
»Es ist nicht besonders höflich von einer Dame, einen höhergestellten Herrn nicht zu grüßen, Miss Gwendolyn«, rief er jetzt, wieder mal total eingeschnappt, weil ich ihm keine Beachtung schenkte.
»Entschuldige. Wir haben es eilig«, sagte ich.
»Wenn ich irgendwie behilflich sein kann, stehe ich selbstverständlich zur Verfügung.« James zupfte sich die Spitzenbesätze an seinen Ärmeln zurecht.
»Nein, vielen Dank. Wir müssen nur schnell nach Hause.« Als ob James irgendwie behilflich hätte sein können! Er konnte nicht mal eine Tür öffnen. »Charlotte fühlt sich nicht gut.«
»Oh, das tut mir leid«, sagte James, der eine Schwäche für Charlotte hatte. Im Gegensatz zu »der Sommersprossigen ohne Manieren«, wie er Leslie zu nennen pflegte, fand er meine Cousine ausschließlich »liebreizend und von bezaubernder Anmut«. Auch heute gab er wieder schleimige Komplimente von sich. »Bitte entrichte ihr meine besten Wünsche. Und sag ihr, sie sieht heute wieder einmal entzückend aus. Ein bisschen blass, aber zauberhaft wie eine Elfe.«
»Ich werde es ihr ausrichten.«
»Hör auf, mit deinem imaginären Freund zu sprechen«, sagte Charlotte. »Sonst landest du irgendwann noch in der Irrenanstalt.«
Okay, ich würde es ihr nicht ausrichten. Sie war ohnehin schon eingebildet genug.
»James ist nicht imaginär, er ist unsichtbar. Das ist ja wohl ein großer Unterschied!«
»Wenn du meinst«, sagte Charlotte. Sie und Tante Glenda waren der Ansicht, dass ich James und die anderen Geister nur erfand, um mich wichtig zu machen. Ich bereute es, ihnen jemals davon erzählt zu haben. Als kleines Kind war es mir allerdings unmöglich gewesen, über lebendig gewordene Wasserspeier zu schweigen, die vor meinen Augen an den Fassaden herumturnten und mir Grimassen schnitten. Die Wasserspeier waren ja noch lustig, aber es gab auch gruselig aussehende dunkle Geistgestalten, vor denen ich mich gefürchtet hatte. Bis ich begriff, dass Geister einem gar nichts anhaben können, hatte es ein paar Jahre gedauert. Das Einzige, was Geister wirklich tun können, ist, einem Angst einzujagen.
James natürlich nicht. Der war völlig harmlos.
»Leslie meint, es ist vielleicht ganz gut, dass James jung gestorben ist. Er hätte mit dem Namen Pimplebottom sowieso keine Frau abgekriegt«, sagte ich, nicht ohne mich zu vergewissern, dass James uns nicht mehr hören konnte. »Ich meine, wer will schon freiwillig Pickelpo heißen?«
Charlotte verdrehte die Augen.
»Er sieht allerdings nicht schlecht aus«, fuhr ich fort. »Und stinkreich ist er auch, wenn man ihm glauben darf. Nur seine Angewohnheit, sich ständig ein parfümiertes Spitzentaschentuch an die Nase zu halten, ist ein wenig unmännlich.«
»Wie schade, dass niemand außer dir ihn bewundern kann«, sagte Charlotte.
Das fand ich allerdings auch.
»Und wie dumm, dass du außerhalb der Familie über deine Absonderlichkeiten sprichst«, setzte Charlotte hinzu.
Das war wieder einmal so ein typischer Charlotte-Seitenhieb. Es sollte mich kränken und das tat es leider auch.
»Ich bin nicht absonderlich!«
»Natürlich bist du das!«
»Das musst du gerade sagen, Gen-Trägerin!«
»Ich quatsche das schließlich nicht überall herum«, sagte Charlotte. »Du hingegen bist wie Großtante Mad-Maddy. Die erzählt sogar dem Milchmann von ihren Visionen.«
»Du bist gemein.«
»Und du bist naiv.«
Streitend liefen wir durch die Vorhalle, vorbei am gläsernen Kabuff unseres Hausmeisters, hinaus auf den Schulhof. Es war windig und der Himmel sah aus, als ob es jeden Augenblick zu regnen anfinge. Ich bereute, dass wir nicht doch unsere Sachen aus den Spinden geholt hatten. Ein Mantel wäre jetzt gut gewesen. »Tut mir leid, der Vergleich mit Großtante Maddy«, sagte Charlotte etwas zerknirscht. »Ich bin wohl doch etwas aufgeregt.« Ich war überrascht. Sie entschuldigte sich sonst nie.
»Kann ich verstehen«, sagte ich schnell. Sie sollte merken, dass ich ihre Entschuldigung zu würdigen wusste. In Wahrheit konnte von Verständnis natürlich keine Rede sein. Ich an ihrer Stelle hätte vor Angst geschlottert. Aufgeregt wäre ich zwar auch gewesen, aber ungefähr so aufgeregt wie bei einem Zahnarztbesuch. »Außerdem mag ich Großtante Maddy.« Das stimmte wirklich. Großtante Maddy war vielleicht ein bisschen redselig und neigte dazu, alles viermal zu sagen, aber das war mir tausendmal lieber als das geheimnisvolle Getue der anderen. Außerdem verteilte Großtante Maddy immer großzügig Zitronenbonbons an uns.
Aber klar, Charlotte machte sich natürlich nichts aus Bonbons. Wir überquerten die Straße und hasteten auf dem Bürgersteig weiter.
»Starr mich nicht so von der Seite an«, sagte Charlotte. »Du wirst schon merken, wenn ich verschwinde. Dann machst du dein blödes Kreidekreuz und rennst weiter nach Hause. Aber es wird gar nicht passieren, nicht heute.«
»Das kannst du doch gar nicht wissen. Bist du gespannt, wo du landen wirst? Ich meine, wann?«
»Natürlich«, sagte Charlotte.
»Hoffentlich nicht mitten im großen Brand 1664.«
»Der große Brand von London war 1666«, sagte Charlotte. »Das kann man sich doch wirklich leicht merken. Außerdem war dieser Teil der Stadt damals noch gar nicht großartig bebaut, ergo hat hier auch nichts gebrannt.«
Sagte ich schon, dass Charlottes weitere Vornamen »Spielverderberin« und »Klugscheißerin« waren?
Doch ich ließ nicht locker. Es war vielleicht gemein, aber ich wollte das blöde Lächeln wenigstens für ein paar Sekunden von ihrem Gesicht radiert sehen. »Wahrscheinlich brennen diese Schuluniformen wie Zunder«, bemerkte ich angelegentlich.
»Ich wüsste, was ich zu tun hätte«, sagte Charlotte knapp und ohne das Lächeln einzustellen.
Ich konnte nicht anders, als sie für ihre Coolness zu bewundern. Für mich war die Vorstellung, plötzlich in der Vergangenheit zu landen, einfach nur Angst einflößend.
Egal zu welcher Zeit, früher war es doch immer fürchterlich gewesen. Ständig gab es Krieg, Pocken und Pest, und sagte man ein falsches Wort, wurde man als Hexe verbrannt. Außerdem gab es nur Plumpsklos und alle Leute hatten Flöhe und morgens kippten sie den Inhalt ihrer Nachttöpfe aus dem Fenster, ganz gleich, ob da unten gerade jemand langging.
Charlotte war ihr ganzes Leben lang darauf vorbereitet worden, sich in der Vergangenheit zurechtzufinden. Sie hatte nie Zeit zum Spielen gehabt, für Freundinnen, Shopping, Kino oder Jungs. Stattdessen hatte sie Unterricht erhalten im Tanzen, Fechten und Reiten, in Sprachen und Geschichte. Seit letztem Jahr fuhr sie überdies jeden Mittwochnachmittag mit Lady Arista und Tante Glenda fort und kam erst spätabends zurück. Sie nannten es »Mysterienunterricht«. Über die Art der Mysterien wollte uns allerdings niemand Auskunft geben, am wenigsten Charlotte selber.
»Das ist ein Geheimnis«, war wahrscheinlich der erste Satz gewesen, den sie fließend hatte sprechen können. Und gleich danach: »Das geht euch gar nichts an.«
Leslie sagte immer, unsere Familie habe vermutlich mehr Geheimnisse als Secret Service und MI 6 zusammen. Gut möglich, dass sie recht hatte.
Normalerweise nahmen wir den Bus von der Schule nach Hause, die Linie 8 hielt am Berkeley Square und von dort war es nicht mehr weit bis zu unserem Haus. Heute liefen wir die vier Stationen zu Fuß, wie Tante Glenda es angeordnet hatte. Ich hielt den ganzen Weg lang die Kreide gezückt, aber Charlotte blieb an meiner Seite.
Als wir die Stufen zur Haustür erklommen, war ich beinahe enttäuscht. Hier endete nämlich mein Part an der Geschichte schon wieder. Ab jetzt würde meine Großmutter die Sache übernehmen.
Ich zupfte Charlotte am Ärmel. »Sieh mal! Der schwarze Mann ist wieder da.«
»Na und?« Charlotte sah sich nicht mal um. Der Mann stand gegenüber im Hauseingang von Nummer 18. Er trug wie immer einen schwarzen Trenchcoat und einen tief ins Gesicht gezogenen Hut. Ich hatte ihn für einen Geist gehalten, bis ich bemerkt hatte, dass meine Geschwister und Leslie ihn auch sehen konnten.
Er beobachtete seit Monaten beinahe rund um die Uhr unser Haus. Möglicherweise waren es auch mehrere Männer, die sich abwechselten und genau gleich aussahen. Wir stritten uns darüber, ob es sich um spionierende Einbrecher, Privatdetektive oder einen bösen Zauberer handelte. Letzteres war die feste Überzeugung meiner Schwester Caroline. Sie war neun und liebte Geschichten mit bösen Zauberern und guten Feen. Mein Bruder Nick war zwölf und fand Geschichten mit Zauberern und Feen blöd, deshalb tippte er auf die spionierenden Einbrecher. Leslie und ich waren für die Privatdetektive.
Wenn wir aber auf die andere Straßenseite gingen, um uns den Mann näher anzuschauen, verschwand er entweder im Haus oder er stieg in einen schwarzen Bentley, der am Bordstein parkte, und fuhr davon.
»Das ist ein Zauberauto«, behauptete Caroline. »Wenn niemand hinschaut, verwandelt es sich in einen Raben. Und der Zauberer wird zu einem winzig kleinen Männlein und reitet auf seinem Rücken durch die Luft.«
Nick hatte sich das Nummernschild des Bentleys notiert, für alle Fälle. »Obwohl sie das Auto nach dem Einbruch sicher umlackieren und ein neues Nummernschild montieren werden«, sagte er.
Die Erwachsenen taten so, als ob sie nichts Verdächtiges daran finden konnten, Tag und Nacht von einem schwarz gekleideten Mann mit Hut beobachtet zu werden.
Charlotte ebenfalls. »Was ihr nur immer mit dem armen Mann habt! Er raucht dort eine Zigarette, das ist alles.«
»Na klar!« Da glaubte ich ja noch eher die Version mit dem verzauberten Raben.
Es hatte angefangen zu regnen, keine Minute zu früh.
»Ist dir wenigstens wieder schwindelig?«, fragte ich, während wir darauf warteten, dass uns die Tür geöffnet wurde. Einen Hausschlüssel besaßen wir nicht.
»Nerv nicht so rum«, sagte Charlotte. »Es passiert, wenn es passieren soll.«
Mr Bernhard öffnete uns die Tür. Leslie meinte, Mr Bernhard sei unser Butler und der endgültige Beweis dafür, dass wir beinahe so reich waren wie die Queen oder Madonna. Ich wusste nicht genau, wer oder was Mr Bernhard wirklich war. Für meine Mum war er »Großmutters Faktotum« und unsere Großmutter selber nannte ihn »einen alten Freund der Familie«. Für meine Geschwister und mich war er einfach »Lady Aristas unheimlicher Diener«.
Bei unserem Anblick zog er die Augenbrauen in die Höhe. »Hallo, Mr Bernhard«, sagte ich. »Scheußliches Wetter, nicht wahr?«
»Absolut scheußlich.« Mit seiner Hakennase und den braunen Augen hinter seiner runden goldfarbenen Brille erinnerte mich Mr Bernhard immer an eine Eule, genauer gesagt an einen Uhu. »Man sollte unbedingt einen Mantel anziehen, wenn man das Haus verlässt.«
»Ähm, ja, das sollte man wohl«, sagte ich.
»Wo ist Lady Arista?«, fragte Charlotte. Sie war nie besonders höflich zu Mr Bernhard. Vielleicht, weil sie im Gegensatz zu uns anderen schon als Kind keinen Respekt vor ihm gehabt hatte. Dabei hatte er die wirklich Respekt einflößende Fähigkeit, überall im Haus scheinbar aus dem Nichts hinter einem aufzutauchen und sich dabei so leise zu bewegen wie eine Katze. Nichts schien ihm zu entgehen und egal um welche Uhrzeit: Mr Bernhard war immer präsent.
Mr Bernhard war schon im Haus gewesen, bevor ich geboren wurde, und meine Mum sagte, ihn hätte es auch schon gegeben, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Deshalb war Mr Bernhard vermutlich fast genauso alt wie Lady Arista, auch wenn er nicht so aussah. Er bewohnte ein Appartement im zweiten Stock, das über einen separaten Korridor und eine Treppe vom ersten Stock aus zu erreichen war. Es war uns verboten, den Korridor auch nur zu betreten.
Mein Bruder behauptete, dass Mr Bernhard dort Falltüren und Ähnliches eingebaut hatte, um unliebsame Besucher abzuhalten. Aber beweisen konnte er es nicht. Niemand von uns hatte sich jemals in diesen Korridor gewagt.
»Mr Bernhard braucht seine Privatsphäre«, sagte Lady Arista oft.
»Jaja«, sagte dann meine Mum. »Die bräuchten wir hier wohl alle.« Aber sie sagte es so leise, dass Lady Arista es nicht hörte.
»Ihre Großmutter ist im Musikzimmer«, informierte Mr Bernhard Charlotte.
»Danke.« Charlotte ließ uns im Eingang stehen und lief die Treppe hinauf. Das Musikzimmer lag im ersten Stock, und warum es so hieß, wusste kein Mensch. Es stand nicht mal ein Klavier darin.
Das Zimmer war der Lieblingsraum von Lady Arista und Großtante Maddy. Die Luft darin roch nach Veilchenparfüm und dem Qualm von Lady Aristas Zigarillos. Gelüftet wurde viel zu selten. Es wurde einem ganz schummrig, wenn man sich länger dort aufhielt.
Mr Bernhard schloss die Haustür. Ich warf noch einen schnellen Blick an ihm vorbei auf die andere Straßenseite. Der Mann mit dem Hut war immer noch da. Täuschte ich mich oder hob er gerade die Hand, beinahe so, als ob er jemandem zuwinkte? Mr Bernhard vielleicht oder am Ende sogar mir?
Die Tür fiel zu und ich konnte den Gedanken nicht zu Ende verfolgen, weil urplötzlich das Achterbahngefühl von vorhin in meinen Magen zurückkehrte. Alles vor meinen Augen verschwamm. Meine Knie gaben nach und ich musste mich an der Wand abstützen, um nicht zu fallen.
Im nächsten Moment war es auch schon wieder vorbei.
Mein Herz klopfte wie verrückt. Irgendwas stimmte nicht mit mir. Ohne Achterbahn wurde einem nicht zweimal innerhalb von zwei Stunden schwindelig.
Es sei denn . . . ach Unsinn! Wahrscheinlich wuchs ich zu schnell. Oder ich hatte.. . ähm ... einen Gehirntumor? Oder vielleicht einfach nur Hunger.
Ja, das musste es sein. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Das Mittagessen war ja auf meiner Bluse gelandet. Erleichtert atmete ich auf.
Jetzt erst bemerkte ich, dass Mr Bernhards Eulenaugen mich aufmerksam musterten.
»Hoppla«, sagte er, reichlich spät.
Ich spürte, wie ich rot wurde. »Ich geh dann mal. . . Hausaufgaben machen«, murmelte ich.
Mr Bernhard nickte mit gleichgültiger Miene. Aber während ich die Treppe hinaufging, spürte ich seine Blicke in meinem Rücken.
Aus den Annalen der Wächter
10. Oktober 1994
Zurück aus Durham, wo ich Lord Montroses jüngste Tochter Grace Shepherd besucht habe, die überraschenderweise vorgestern schon von ihrer Tochter entbunden wurde. Wir freuen uns alle über die Geburt von
Gwendolyn Sophie Elizabeth Sheperd
2460 g, 52 cm.
Mutter und Kind sind wohlauf.
Unserem Großmeister zum fünften Enkelkind unsere herzlichsten Glückwünsche.
Bericht: Thomas George, Innerer Kreis