Читать книгу Rubinrot - Керстин Гир - Страница 5
2.
ОглавлениеLeslie nannte unser Haus »einen vornehmen Palast« wegen der vielen Zimmer, Gemälde, Holzvertäfelungen und Antiquitäten. Sie vermutete hinter jeder Wand einen Geheimgang und in jedem Schrank mindestens ein Geheimfach. Als wir noch jünger waren, gingen wir bei jedem ihrer Besuche auf Entdeckungsreise durch das Haus. Dass uns das Herumschnüffeln streng verboten worden war, machte es erst recht spannend. Wir entwickelten immer ausgebufftere Strategien, um uns nicht erwischen zu lassen. Im Laufe der Zeit hatten wir wirklich einige Geheimfächer und sogar eine Geheimtür gefunden. Sie lag im Treppenhaus hinter einem Ölgemälde, auf dem ein dicker Mann mit Bart und gezücktem Degen auf einem Pferd saß und grimmig guckte.
Bei dem grimmigen Mann handelte es sich laut Auskunft von Großtante Maddy um meinen Urururururgroßonkel Hugh und seine Fuchsstute mit Namen Fat Annie. Die Tür hinter dem Bild führte zwar nur ein paar Stufen hinab in ein Badezimmer, aber geheim war sie deshalb irgendwie trotzdem.
»Du bist ja so ein Glückspilz, dass du hier wohnen darfst!«, sagte Leslie immer.
Ich fand eher, dass Leslie ein Glückspilz war. Sie wohnte mit ihrer Mutter, ihrem Vater und einem zotteligen Hund namens Bertie in einem gemütlichen Reihenhaus in North Kensington. Da gab es keine Geheimnisse, keine unheimlichen Diener und keine nervenden Verwandten.
Früher hatten wir auch mal in so einem Haus gewohnt, meine Mum, mein Dad, meine Geschwister und ich, in einem kleinen Haus in Durham, in Nordengland. Aber dann war mein Dad gestorben. Meine Schwester war gerade ein halbes Jahr alt gewesen und Mum war mit uns nach London gezogen, wahrscheinlich weil sie sich einsam gefühlt hatte. Vielleicht war sie auch mit dem Geld nicht hingekommen.
Mum war in diesem Haus hier groß geworden, zusammen mit ihren Geschwistern Glenda und Harry. Onkel Harry lebte als Einziger nicht in London, er wohnte mit seiner Frau in Gloucestershire.
Zuerst war mir das Haus auch wie ein Palast vorgekommen, genau wie Leslie. Aber wenn man einen Palast mit einer großen Familie teilen muss, kommt er einem nach einer gewissen Zeit gar nicht mehr so groß vor. Zumal es jede Menge überflüssige Räume gab, wie den Ballsaal im Erdgeschoss, der sich über die gesamte Hausbreite erstreckte.
Hier hätte man toll skaten können, aber das war verboten. Der Raum war wunderschön mit seinen hohen Fenstern, den Stuckdecken und den Kronleuchtern, aber zu meinen Lebzeiten hatte es hier nicht einen einzigen Ball gegeben, kein großes Fest, keine Party.
Das Einzige, das im Ballsaal stattfand, waren Charlottes Tanzstunden und ihr Fechtunterricht. Die Orchesterempore, die man von der Vorhalle über die Treppe erreichen konnte, war überflüssig wie ein Kropf. Außer vielleicht für Caroline und ihre Freundinnen, die die dunklen Winkel unter den Treppen, die von hier hinauf in den ersten Stock führten, beim Versteckspielen in Beschlag nahmen.
Im ersten Stock gab es das bereits erwähnte Musikzimmer, außerdem Lady Aristas und Großtante Maddys Räume, ein Etagenbad (das mit der Geheimtür) sowie das Esszimmer, in dem sich die Familie jeden Abend um halb acht zum Essen zu versammeln hatte. Zwischen dem Esszimmer und der Küche, die genau darunterlag, gab es einen altmodischen Speisenaufzug, mit dem sich Nick und Caroline manchmal zum Spaß gegenseitig auf- und abkurbelten, obwohl es natürlich streng verboten war. Leslie und ich hatten das früher auch immer gemacht, jetzt passten wir leider nicht mehr hinein.
Im zweiten Stock lagen Mr Bernhards Wohnung, das Arbeitszimmer meines verstorbenen Großvaters – Lord Montrose – und eine riesige Bibliothek. In diesem Stockwerk hatte auch Charlotte ihr Zimmer, es ging über Eck und hatte einen Erker, mit dem Charlotte gerne angab. Ihre Mutter bewohnte einen Salon und ein Schlafzimmer mit Fenstern zur Straße hin.
Von Charlottes Vater war Tante Glenda geschieden, er lebte mit einer neuen Frau irgendwo in Kent. Deshalb gab es außer Mr Bernhard keinen Mann im Haus, es sei denn, man zählte meinen Bruder mit. Haustiere gab es auch nicht, egal wie sehr wir auch darum bettelten. Lady Arista mochte keine Tiere und Tante Glenda war allergisch gegen alles, was Fell hatte.
Meine Mum, meine Geschwister und ich wohnten im dritten Stock, direkt unter dem Dach, wo es viele schräge Wände, aber auch zwei kleine Balkone gab. Wir hatten jeder ein eigenes Zimmer und auf unser großes Bad war Charlotte neidisch, weil das Bad im zweiten Stock keine Fenster hatte, unseres aber gleich
zwei. Aber ich mochte es auch deswegen in unserem Stockwerk, weil hier Mum, Nick, Caroline und ich für uns waren, was in diesem Irrenhaus manchmal ein Segen sein konnte.
Nachteil war nur, dass wir verdammt weit weg von der Küche waren, was mir wieder mal unangenehm auffiel, als ich jetzt oben ankam. Ich hätte mir wenigstens einen Apfel mitnehmen sollen. So musste ich mich mit den Butterkeksen aus dem Vorrat zufriedengeben, den meine Mum im Schrank angelegt hatte.
Aus lauter Angst, das Schwindelgefühl könnte zurückkehren, aß ich elf Butterkekse hintereinander. Ich zog meine Schuhe und die Jacke aus, ließ mich auf das Sofa im Nähzimmer plumpsen und streckte mich lang aus.
Heute war irgendwie alles seltsam. Ich meine, noch seltsamer als sonst.
Es war erst zwei Uhr. Bis ich Leslie anrufen und meine Probleme mit ihr erörtern konnte, dauerte es noch mindestens zweieinhalb Stunden. Auch meine Geschwister würden nicht vor vier Uhr aus der Schule kommen und meine Mum machte immer erst gegen fünf bei der Arbeit Schluss. Normalerweise liebte ich es, allein in der Wohnung zu sein. Ich konnte in Ruhe ein Bad nehmen, ohne dass jemand an die Tür klopfte, weil er dringend auf die Toilette musste. Ich konnte die Musik aufdrehen und laut mitsingen, ohne dass jemand lachte. Und ich konnte im Fernsehen anschauen, was ich wollte, ohne dass jemand »aber jetzt kommt gleich Sponge Bob« quengelte.
Aber heute hatte ich zu alldem keine Lust. Nicht mal nach einem Schläfchen war mir zumute. Im Gegenteil, das Sofa – sonst ein Platz unübertroffener Geborgenheit – kam mir vor wie ein wackliges Floß in einem reißenden Fluss. Ich hatte Angst, es könne mit mir davonschwimmen, sobald ich die Augen schließen würde.
Um auf andere Gedanken zu kommen, stand ich auf und fing an, das Nähzimmer ein bisschen aufzuräumen. Es war so etwas wie unser inoffizielles Wohnzimmer, denn glücklicherweise nähten weder die Tanten noch meine Großmutter, weshalb sie höchst selten in den dritten Stock hinaufkamen. Es gab auch keine Nähmaschine hier, dafür eine enge Stiege, die hinauf aufs Dach führte. Die Stiege war nur für den Schornsteinfeger bestimmt, aber Leslie und ich hatten das Dach zu einem unserer Lieblingsplätze erkoren. Man hatte einen wunderbaren Ausblick von da oben und es gab keinen besseren Ort für Mädchengespräche. (Zum Beispiel über Jungs und dass wir keine kannten, in die es sich zu verlieben lohnte.)
Natürlich war es ein bisschen gefährlich, weil es kein Geländer gab, nur eine kniehohe Firstverzierung aus galvanisiertem Eisen. Aber man musste ja da auch nicht gerade Weitsprung üben oder bis an den Abgrund tanzen. Der Schlüssel, der zu der Tür auf dem Dach gehörte, lag in einer Zuckerdose mit Rosenmuster im Schrank. In meiner Familie wusste niemand, dass ich das Versteck kannte, sonst wäre sicher die Hölle los gewesen. Deshalb passte ich immer sehr auf, dass niemand mitbekam, wenn ich mich aufs Dach schlich. Man konnte sich dort auch sonnen, picknicken oder sich einfach nur verstecken, wenn man mal seine Ruhe haben wollte. Was ich wie gesagt oft wollte, nur gerade jetzt nicht.
Ich faltete unsere Wolldecken zusammen, fegte Kekskrümel vom Sofa, klopfte Kissen in Form und räumte herumfliegende Schachfiguren zurück in ihre Schachtel. Ich goss sogar die Azalee, die in einem Topf auf dem Sekretär in der Ecke stand, und wischte mit einem feuchten Tuch über den Couchtisch. Dann sah ich mich unschlüssig in dem nun tadellos aufgeräumten Zimmer um. Es waren gerade mal zehn Minuten vergangen und ich sehnte mich noch mehr nach Gesellschaft als vorher.
Ob Charlotte unten im Musikzimmer wieder schwindelig war? Was passierte eigentlich, wenn man vom ersten Stock eines Hauses im Mayfair des 21. Jahrhunderts ins Mayfair des, sagen wir mal, 15. Jahrhunderts sprang, als es an diesem Ort noch gar keine oder nur wenige Häuser gegeben hatte? Landete man dann in der Luft und plumpste sieben Meter tief auf die Erde? In einen Ameisenhaufen vielleicht? Arme Charlotte. Aber vielleicht lehrte man sie ja in ihrem mysteriösen Mysterienunterricht das Fliegen.
Apropos Mysterien: Mit einem Mal fiel mir etwas ein, womit ich mich ablenken konnte. Ich ging in Mums Zimmer und schaute hinunter auf die Straße. Im Hauseingang von Nummer 18 stand immer noch der schwarze Mann. Ich konnte seine Beine und einen Teil seines Trenchcoats sehen. So tief wie heute waren mir die drei Stockwerke noch nie vorgekommen. Spaßeshalber rechnete ich aus, wie weit es von hier oben bis zum Erdboden war.
Konnte man einen Sturz aus vierzehn Metern Höhe überhaupt überleben? Na, vielleicht, wenn man Glück hatte und in sumpfigem Marschland landete. Angeblich war ganz London mal sumpfiges Marschland gewesen, sagte jedenfalls Mrs Counter, unsere Erdkundelehrerin. Sumpf war gut, da landete man wenigstens weich. Allerdings nur, um dann elend im Schlamm zu ertrinken.
Ich schluckte. Meine eigenen Gedanken waren mir unheimlich.
Um nicht länger allein sein zu müssen, beschloss ich, meiner Verwandtschaft im Musikzimmer einen Besuch abzustatten, auch auf die Gefahr hin, wegen streng geheimer Gespräche wieder hinausgeschickt zu werden.
Als ich eintrat, saß Großtante Maddy auf ihrem Lieblingssessel am Fenster und Charlotte stand am anderen Fenster, ihren Hintern gegen den Louis-quatorze-Schreibtisch gelehnt, dessen bunt lackierte und vergoldete Oberfläche zu berühren, uns streng verboten war, egal mit welchem Körperteil. (Nicht zu fassen, dass etwas so Grottenhässliches wie dieser Schreibtisch so wertvoll sein konnte, wie Lady Arista immer behauptete. Er hatte nicht mal Geheimfächer, das hatten Leslie und ich vor Jahren schon herausgefunden.) Charlotte hatte sich umgezogen und trug anstelle der Schuluniform ein dunkelblaues Kleid, das wie eine Mischung aus Nachthemd, Bademantel und Nonnenkluft aussah.
»Ich bin noch da, wie du siehst«, sagte sie.
»Das ist .. . schön«, sagte ich, während ich mich bemühte, das Kleid nicht allzu entsetzt anzustarren.
»Es ist unerträglich«, sagte Tante Glenda, die zwischen den beiden Fenstern auf und ab ging. Wie Charlotte war sie groß und schlank und hatte leuchtend rote Locken. Meine Mum hatte die gleichen Locken und auch meine Großmutter war mal rothaarig gewesen. Caroline und Nick hatten die Haarfarbe ebenfalls geerbt. Nur ich war dunkel- und glatthaarig wie mein Vater.
Früher hatte ich auch unbedingt rote Haare haben wollen, aber Leslie hatte mich davon überzeugt, dass meine schwarzen Haare einen reizvollen Kontrast zu meinen blauen Augen und der hellen Haut bildeten. Leslie redete mir auch erfolgreich ein, dass mein halbmondförmiges Muttermal an der Schläfe – das Tante Glenda immer »komische Banane« nannte – geheimnisvoll und apart aussähe. Mittlerweile fand ich mich selber ganz hübsch, nicht zuletzt dank der Zahnspange, die meine vorstehenden Vorderzähne gebändigt und mir das Häschenähnliche genommen hatte. Auch wenn ich natürlich längst nicht so »liebreizend und voll bezaubernder Anmut« war wie Charlotte, um mit James zu sprechen. Ha, ich wünschte, er könnte sie in diesem Sackkleid sehen.
»Gwendolyn, Engelchen, möchtest du ein Zitronenbonbon?« Großtante Maddy klopfte auf den Schemel neben sich. »Setz dich doch zu mir und lenk mich ein bisschen ab. Glenda macht mich schrecklich nervös mit ihrem Hin- und Hergerenne.«
»Du hast ja keine Ahnung von den Gefühlen einer Mutter, Tante Maddy«, sagte Tante Glenda.
»Nein, das habe ich wohl nicht«, seufzte Großtante Maddy. Sie war die Schwester meines Großvaters und sie war nie verheiratet gewesen. Sie war eine rundliche, kleine Person mit fröhlichen blauen Kinderaugen und goldblond gefärbten Haaren, in denen nicht selten ein vergessener Lockenwickler steckte.
»Wo ist denn Lady Arista?«, fragte ich, während ich mir ein Zitronenbonbon nahm.
»Sie telefoniert nebenan«, sagte Großtante Maddy. »Aber so leise, dass man leider kein Wort verstehen kann. Das war übrigens die letzte Dose Bonbons. Du hättest nicht zufällig Zeit, zu Selfridges zu laufen und neue zu besorgen?«
»Klar«, sagte ich.
Charlotte verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere und sofort fuhr Tante Glenda herum.
»Charlotte?«
»Nichts«, sagte Charlotte.
Tante Glenda kniff ihre Lippen zusammen.
»Solltest du nicht besser im Erdgeschoss warten?«, fragte ich Charlotte. »Du würdest dann nicht so tief fallen.«
»Solltest du nicht besser die Klappe halten, wenn du von Dingen überhaupt keine Ahnung hast?«, fragte Charlotte zurück.
»Wirklich, das Letzte, was Charlotte im Augenblick gebrauchen kann, sind blöde Bemerkungen«, sagte Tante Glenda.
Ich fing an zu bereuen, heruntergekommen zu sein.
»Beim ersten Mal springt der Gen-Träger nie weiter zurück als hundertfünfzig Jahre«, erklärte Großtante Maddy liebenswürdig. »Dieses Haus ist 1781 fertiggestellt worden, hier im Musikzimmer ist Charlotte also absolut sicher. Sie könnte höchstens ein paar musizierende Ladys erschrecken.«
»In dem Kleid bestimmt«, sagte ich so leise, dass nur meine Großtante mich hören konnte. Sie kicherte.
Die Tür flog auf und Lady Arista kam herein. Sie sah wie immer aus, als habe sie einen Stock verschluckt. Oder auch mehrere. Einen für ihre Arme, einen für ihre Beine und einen, der in der Mitte alles zusammenhielt. Die weißen Haare waren straff aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken zu einem Knoten gesteckt, wie bei einer Ballettlehrerin, mit der nicht gut Kirschen essen war. »Ein Fahrer ist unterwegs. Die de Villiers erwarten uns in Temple. Dann kann Charlotte bei ihrer Rückkehr gleich in den Chronografen eingelesen werden.«
Ich verstand nur Bahnhof.
»Und wenn es heute noch gar nicht passiert?«, fragte Charlotte. »Charlotte, Liebes, dir war schon dreimal schwindelig«, sagte Tante Glenda.
»Früher oder später wird es passieren«, sagte Lady Arista. »Kommt jetzt, der Fahrer wird jeden Augenblick hier sein.«
Tante Glenda nahm Charlottes Arm und zusammen mit Lady Arista verließen sie den Raum. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, sahen Großtante Maddy und ich uns an.
»Manchmal könnte man denken, man sei unsichtbar, nicht wahr?«, sagte Großtante Maddy. »Wenigstens ein Auf Wiedersehen oder ein Hallo ab und an wäre doch nett. Oder auch ein kluges Liebe Maddy, hattest du vielleicht eine Vision, die uns weiterhelfen könnte?«
»Hattest du eine?«
»Nein«, sagte Großtante Maddy. »Gott sei Dank nicht. Ich kriege nach den Visionen immer so schrecklichen Hunger und ich bin ohnehin zu fett.«
»Wer sind die de Villiers?«, fragte ich.
»Ein Haufen arroganter Schnösel, wenn du mich fragst«, sagte Großtante Maddy. »Alles Anwälte und Bankiers. Sie besitzen die Privatbank de Villiers in der City. Wir haben unsere Konten dort.«
Das klang herzlich wenig mystisch.
»Und was haben die Leute mit Charlotte zu tun?«
»Sagen wir mal, sie haben ähnliche Probleme wie wir.«
»Welche Probleme?« Mussten sie auch mit einer tyrannischen Großmutter, einer biestigen Tante und einer eingebildeten Cousine unter einem Dach wohnen?
»Das Zeitreise-Gen«, sagte Großtante Maddy. »Bei den de Villiers vererbt es sich an die männlichen Nachkommen.«
»Sie haben also auch eine Charlotte zu Hause?«
»Das männliche Gegenstück dazu. Er heißt Gideon, soviel ich weiß.«
»Und der wartet auch darauf, dass ihm schwindelig wird?«
»Er hat es schon hinter sich. Er ist zwei Jahre älter als Charlotte.«
»Das heißt, er springt seit zwei Jahren munter in der Zeit herum?«
»Das ist anzunehmen.«
Ich versuchte, die neuen Informationen mit dem wenigen, was ich bereits wusste, zusammenzubringen. Weil Großtante Maddy heute so ungeheuer auskunftsfreudig war, gönnte ich mir aber nur ein paar Sekunden dafür. »Und was ist ein Chroni-, Chrono.. .?«
»Chronograf!« Großtante Maddy verdrehte die blauen Kulleraugen. »Das ist eine Art Apparat, mit dem man die Gen-Träger – und nur die! – in eine bestimmte Zeit schicken kann. Hat irgendwas mit Blut zu tun.«
»Eine Zeitmaschine?« Betankt mit Blut? Lieber Himmel!
Großtante Maddy zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, wie das Ding funktioniert. Du vergisst, dass ich auch nur weiß, was ich zufällig mitbekomme, während ich hier sitze und so tue, als könnte ich kein Wässerchen trüben. Das ist alles sehr geheim.«
»Ja. Und sehr kompliziert«, sagte ich. »Woher weiß man denn überhaupt, dass Charlotte dieses Gen hat? Und warum hat sie es und nicht zum Beispiel. .. ähm .. . du?«
»Ich kann es nicht haben, gottlob«, antwortete sie. »Wir Montroses waren zwar schon immer komische Vögel, aber das Gen kam erst durch deine Großmutter in unsere Familie. Weil mein Bruder sie ja unbedingt heiraten musste.« Tante Maddy grinste. Sie war die Schwester meines verstorbenen Großvaters Lucas.
Weil sie selbst keinen Mann hatte, war sie schon in jungen Jahren zu ihm gezogen und hatte ihm den Haushalt geführt. »Nach der Hochzeit von Lucas und Lady Arista hörte ich das erste Mal von diesem Gen. Die letzte Gen-Trägerin in Charlottes Erblinie war eine Dame namens Margret Tilney und die wiederum war die Großmutter deiner Großmutter Arista.«
»Und Charlotte erbte das Gen von dieser Margret?«
»Oh nein, dazwischen erbte es Lucy. Das arme Mädchen.« »Was für eine Lucy?«
»Deine Cousine Lucy, Harrys älteste Tochter.«
»Oh! Die Lucy.« Mein Onkel Harry, der aus Gloucestershire, war deutlich älter als Glenda und meine Mum. Seine drei Kinder waren schon längst erwachsen. David, der Jüngste, war achtundzwanzig und Pilot bei British Airways. Was leider nicht bedeutete, dass wir billiger an Flugtickets kamen. Und Janet, die Mittlere, hatte selber schon Kinder, zwei kleine Nervensägen namens Poppy und Daisy. Lucy, die Älteste, hatte ich nie kennengelernt. Viel wusste ich auch nicht über sie. Die Familie pflegte Lucy totzuschweigen. Sie war nämlich so etwas wie das schwarze Schaf der Montroses. Mit siebzehn war sie von zu Hause abgehauen und hatte seitdem nie wieder etwas von sich hören lassen.
»Lucy ist also eine Gen-Trägerin?«
»Oh ja«, sagte Großtante Maddy. »Hier war die Hölle los, als sie verschwand. Deine Großmutter hatte beinahe einen Herzinfarkt. Es war ein fürchterlicher Skandal.« Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre goldenen Löckchen völlig durcheinandergerieten.
»Das kann ich mir denken.« Ich stellte mir vor, was wohl passieren würde, wenn Charlotte einfach ihre Koffer packen und abhauen würde.
»Nein, nein, das kannst du nicht. Du weißt ja nicht, unter welch dramatischen Umständen sie verschwand und wie das alles mit diesem Jungen zusammenhing. . . Gwendolyn! Nimm den Finger aus dem Mund! Das ist eine grässliche Angewohnheit!«
»Entschuldigung.« Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich angefangen hatte, an meinem Fingernagel zu knabbern. »Das ist nur die Aufregung. Es gibt da so viel, das ich nicht verstehe.. .«
»Das geht mir genauso«, versicherte Großtante Maddy. »Und ich hör mir den Kram schon an, seit ich fünfzehn bin. Dafür besitze ich so etwas wie eine natürliche Begabung für Mysterien. Alle Montroses lieben Geheimnisse. Das war schon immer so. Nur deshalb hat mein unglückseliger Bruder deine Großmutter überhaupt geheiratet, wenn du mich fragst. Ihr liebreizender Charme kann es auf keinen Fall gewesen sein, denn sie hatte keinen.« Sie tauchte ihre Hand in die Bonbondose und seufzte, als sie ins Leere griff. »Ach herrje, ich fürchte, ich bin süchtig nach diesen Dingern.«
»Ich laufe schnell zu Selfridges und hole dir neue«, sagte ich.
»Du bist und bleibst mein liebstes Engelchen. Gib mir einen Kuss und zieh dir einen Mantel an, es regnet. Und kau niemals mehr an deinen Fingernägeln, hörst du?«
Da mein Mantel noch im Spind in der Schule hing, zog ich Mums geblümten Regenmantel an und zog die Kapuze über den Kopf, als ich vor die Haustür trat. Der Mann im Hauseingang von Nummer 18 zündete sich gerade eine Zigarette an. Einer plötzlichen Eingebung folgend winkte ich ihm zu, während ich die Treppen hinuntersprang.
Er winkte nicht zurück. Natürlich nicht.
»Blödmann.« Ich lief los, Richtung Oxford Street. Es regnete
fürchterlich. Ich hätte besser nicht nur den Regenmantel, sondern auch Gummistiefel angezogen. Mein Lieblings-Magnolienbaum an der Ecke ließ traurig seine Blüten hängen. Bevor ich ihn erreicht hatte, war ich schon dreimal in eine Pfütze getreten. Als ich gerade eine vierte umgehen wollte, riss es mich vollkommen ohne Vorwarnung von den Beinen. Mein Magen fuhr Achterbahn und die Straße verschwamm vor meinen Augen zu einem grauen Fluss.
Ex hoc momento pendet aeternitas.
(An diesem Augenblick hängt die Ewigkeit.)
Inschrift einer Sonnenuhr, Middle Temple, London