Читать книгу Rubinrot - Керстин Гир - Страница 6

3.

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Als ich wieder klar sehen konnte, bog ein Oldtimer um die Ecke und ich kniete auf dem Bürgersteig und zitterte vor Schreck.

Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Straße. Sie sah anders aus als sonst. Alles war in der letzten Sekunde anders geworden.

Der Regen hatte aufgehört, dafür wehte ein eisiger Wind und es war viel dunkler als vorhin, fast Nacht. Der Magnolienbaum trug weder Blüten noch Blätter. Ich war nicht mal sicher, ob es überhaupt noch ein Magnolienbaum war.

Die Spitzen des Zauns, der ihn umgab, waren golden bemalt. Ich hätte schwören können, dass sie gestern noch schwarz gewesen waren.

Wieder bog ein Oldtimer um die Ecke. Ein seltsames Gefährt mit hohen Rädern und hellen Speichen. Ich blickte den Bürgersteig entlang – die Pfützen waren verschwunden. Und die Verkehrsschilder. Dafür war das Pflaster krumm und buckelig und die Straßenlaternen sahen anders aus, ihr gelbliches Licht drang kaum weiter als bis zum nächsten Hauseingang.

Tief in meinem Inneren schwante mir Übles, aber ich war noch nicht so weit, diesen Gedanken zuzulassen.

Also zwang ich mich erst einmal durchzuatmen. Dann schaute ich mich noch einmal um, diesmal gründlicher.

Okay, genau genommen war gar nicht so viel anders. Die meisten Häuser sahen eigentlich aus wie immer. Trotzdem – dort hinten war der Teeladen verschwunden, in dem Mum die leckeren Prince-of-Wales-Kekse einkaufte, und das Eckhaus da drüben mit den mächtigen Säulen davor hatte ich noch nie zuvor gesehen.

Ein Mann mit Hut und schwarzem Mantel musterte mich im Vorbeigehen leicht pikiert, machte aber keine Anstalten, mich anzusprechen oder mir gar aufzuhelfen. Ich stand auf und klopfte mir den Dreck von den Knien.

Das Üble, das mir geschwant hatte, wurde langsam, aber sicher zur schrecklichen Gewissheit.

Wem wollte ich hier etwas vormachen?

Ich war weder in eine Oldtimer-Rallye geraten, noch hatte der Magnolienbaum urplötzlich die Blätter abgeworfen. Und obwohl ich alles dafür gegeben hätte, wenn Nicole Kidman plötzlich um die Ecke gebogen wäre, war dies leider auch nicht die Kulisse eines Henry-James-Films.

Ich wusste genau, was passiert war. Ich wusste es einfach. Und ich wusste auch, dass hier ein Irrtum vorliegen musste.

Ich war in einer anderen Zeit gelandet.

Nicht Charlotte. Ich. Irgendjemand hatte einen großen Fehler gemacht.

Unvermittelt begannen meine Zähne zu klappern. Nicht nur vor Aufregung, sondern auch vor Kälte. Es war bitterkalt.

»Ich wüsste, was ich zu tun hätte« – Charlottes Worte klangen mir wieder im Ohr.

Klar, Charlotte wüsste, was sie tun müsste. Aber mir hatte es niemand verraten.

Also stand ich zitternd und zähneklappernd an meiner Straßenecke und ließ mich von den Leuten begaffen. Viele waren es nicht, die hier entlangliefen. Eine junge Frau im knöchellangen Mantel kam mit einem Korb am Arm an mir vorbei, hinter ihr ging ein Mann mit Hut und hochgeschlagenem Kragen.

»Entschuldigung«, sagte ich. »Sie können mir nicht zufällig sagen, welches Jahr wir haben?«

Die Frau tat, als habe sie mich nicht gehört, und beschleunigte ihre Schritte.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Unverschämtheit«, knurrte er.

Ich seufzte. Wirklich viel genutzt hätte mir die Information sowieso nicht. Es spielte im Grunde keine Rolle, ob wir uns im Jahr 1899 befanden oder im Jahr 1923.

Wenigstens wusste ich, wo ich war. Ich wohnte ja keine hundert Meter von hier. Was lag da näher, als einfach nach Hause zu gehen?

Irgendetwas musste ich ja tun.

Die Straße wirkte friedlich und ruhig in der Dämmerung, während ich langsam zurückging, mich nach allen Seiten umschauend. Was war anders, was war gleich? Die Häuser glichen auch bei näherem Hinsehen sehr denen aus meiner Zeit. Bei vielen Details hatte ich zwar das Gefühl, ich sähe sie zum ersten Mal, aber vielleicht hatte ich bisher nur nicht darauf geachtet. Automatisch warf ich einen Blick hinüber zu Nummer 18, aber der Hauseingang war leer, kein schwarzer Mann weit und breit.

Ich blieb stehen.

Unser Haus sah genauso aus wie in meiner eigenen Zeit. Die Fenster im Erdgeschoss und im ersten Stock waren hell erleuchtet, auch in Mums Zimmer unterm Dach brannte Licht. Ich bekam richtig Heimweh, als ich hinaufsah. Von den Dachgauben hingen Eiszapfen herab.

»Ich wüsste, was ich zu tun hätte.«

Ja, was würde Charlotte tun? Es wurde gleich dunkel und es war bitterkalt. Wo würde Charlotte hingehen, um nicht zu erfrieren? Nach Hause?

Ich starrte zu den Fenstern hoch. Vielleicht lebte ja mein Großvater schon. Vielleicht würde er mich sogar erkennen. Er hatte mich schließlich auf seinen Knien reiten lassen, als ich klein war. . . ach, Blödsinn.

Selbst wenn er schon geboren war, konnte er sich ja wohl schlecht daran erinnern, dass er mich mal auf den Knien schaukeln würde, wenn er ein alter Mann war.

Die Kälte kroch unter den Regenmantel. Also gut, ich würde jetzt einfach klingeln und um ein Quartier für die Nacht bitten. Die Frage war nur, wie ich das anstellen sollte.

»Hallo, mein Name ist Gwendolyn und ich bin die Enkeltochter von Lord Lucas Montrose, der möglicherweise noch gar nicht geboren ist.«

Ich konnte wohl nicht annehmen, dass man mir das glauben würde. Wahrscheinlich wäre ich schneller in einer Nervenheilanstalt, als mir lieb war. Und sicher waren das in dieser Zeit trostlose Orte, einmal drin, kam man niemals wieder raus.

Auf der anderen Seite hatte ich wenig Alternativen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es stockdunkel war, und irgendwo musste ich die Nacht ja verbringen, ohne zu erfrieren. Und ohne von Jack the Ripper entdeckt zu werden. Himmelherrgott! Wann hatte der eigentlich sein Unwesen getrieben? Und wo? Doch hoffentlich nicht hier im gediegenen Mayfair!

Wenn es mir gelang, mit einem meiner Vorfahren zu sprechen, würde ich ihn vielleicht überzeugen können, dass ich mehr von der Familie und dem Haus wusste, als irgendein normaler Fremder wissen konnte.

Wer außer mir könnte zum Beispiel auf Anhieb herunterrasseln, dass das Pferd von Ururuurgroßonkel Hugh Fat Annie geheißen hatte? Das war ja wohl das pure Insiderwissen.

Ein Windstoß ließ mich zusammenfahren. Es war so kalt. Es hätte mich nicht gewundert, wenn es angefangen hätte zu schneien.

»Hallo, ich bin Gwendolyn und ich komme aus der Zukunft. Als Beweis zeige ich Ihnen diesen Reißverschluss. Ich wette, der ist noch gar nicht erfunden, stimmt’s? Ebenso wenig wie Jumbojets und Fernseher und Kühlschränke. . .«

Ich konnte es ja wenigstens versuchen. Tief durchatmend ging ich auf die Haustür zu.

Die Stufen fühlten sich seltsam vertraut und fremd zugleich an. Automatisch tastete ich nach dem Klingelknopf. Aber es gab keinen. Elektrische Klingeln waren offenbar auch noch nicht erfunden. Leider gab mir das aber auch keinen Hinweis auf die genaue Jahreszahl. Ich wusste noch nicht einmal, wann sie das mit dem elektrischen Strom überhaupt erfunden hatten. Vor oder nach den Dampfschiffen? Hatten wir das in der Schule gelernt? Wenn ja, konnte ich mich leider nicht daran erinnern.

Ich fand einen Knauf, der an einer Kette hing, ähnlich der altmodischen Klospülung bei Leslie zu Hause. Ich zog kräftig daran und hörte hinter der Tür eine Glocke schellen.

Oh mein Gott.

Wahrscheinlich würde jemand vom Hauspersonal öffnen. Was konnte ich sagen, damit er mich zu einem Familienmitglied vorließ? Vielleicht lebte Ururuururgroßonkel Hugh noch? Oder schon. Oder überhaupt. Ich würde einfach nach ihm fragen. Oder nach Fat Annie.

Schritte näherten sich und ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. Aber ich sah nicht mehr, wer mir die Tür öffnete, denn abermals riss es mich von den Füßen, schleuderte mich einmal durch Zeit und Raum und spuckte mich wieder aus.

Ich fand mich auf der Fußmatte vor unserer Haustür wieder, sprang auf und sah mich um. Alles sah aus wie vorhin, als ich losgegangen war, Tante Maddys Zitronenbonbons zu kaufen. Die Häuser, die parkenden Autos, sogar der Regen.

Der schwarze Mann im Hauseingang von Nummer 18 starrte zu mir hinüber.

»Ja, da staunst nicht nur du«, murmelte ich.

Wie lang war ich fort gewesen? Hatte der schwarze Mann gesehen, wie ich an der Straßenecke verschwunden und auf der Fußmatte wieder aufgetaucht war? Sicher konnte er seinen Augen nicht trauen. Das geschah ihm ganz recht. Jetzt konnte er mal sehen, wie das war, wenn andere einem ein Rätsel aufgaben.

Ich klingelte Sturm. Mr Bernhard öffnete die Tür.

»Haben wir es eilig?«, fragte er.

»Sie wahrscheinlich nicht, aber ich!«

Mr Bernhard hob seine Augenbrauen.

»Entschuldigung, ich habe etwas Wichtiges vergessen.« Ich schob mich an ihm vorbei und rannte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

Großtante Maddy sah überrascht auf, als ich zur Tür hineinstürzte. »Ich dachte, du wärst schon weg, Engelchen.«

Außer Atem schaute ich auf die Wanduhr. Es war gerade mal zwanzig Minuten her, dass ich aus dem Zimmer gegangen war.

»Aber gut, dass du noch mal wiederkommst. Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass sie bei Selfridges die gleichen Bonbons auch ohne Zucker haben, und die Verpackung sieht genau gleich aus! Die darfst du aber auf keinen Fall kaufen, denn von denen ohne Zucker bekommt man .. . – nun ja – Durchfall!«

»Tante Maddy, warum sind alle so sicher, dass Charlotte das Gen hat?«

»Weil . . . kannst du mich nicht etwas Einfacheres fragen?« Großtante Maddy sah ein bisschen verwirrt aus.

»Hat man ihr Blut untersucht? Könnte nicht auch jemand anders das Gen haben?« Allmählich beruhigte sich mein Atem. »Charlotte ist mit Sicherheit eine Gen-Trägerin.«

»Weil man es in ihrer DNS nachgewiesen hat?«

»Engelchen, du fragst wirklich die falsche Person. In Biologie war ich immer eine komplette Niete, ich weiß ja nicht mal, was DNS ist. Ich glaube, das hat alles weniger mit Biologie zu tun als mit höherer Mathematik. Leider war ich auch in Mathematik immer sehr schlecht. Wenn es um Zahlen und Formeln geht, schalte ich meine Ohren grundsätzlich auf Durchzug. Ich kann dir nur sagen, dass Charlotte genau am für sie bestimmten und seit Jahrhunderten berechneten Tag zur Welt gekommen ist.«

»Das Geburtsdatum bestimmt also, ob man das Gen hat oder nicht?« Ich kaute an meiner Unterlippe. Charlotte war am siebten Oktober geboren, ich am achten. Es trennte uns nur ein einziger Tag.

»Wohl eher umgekehrt«, sagte Großtante Maddy. »Das Gen bestimmt die Geburtsstunde. Sie haben das alles genau berechnet.« »Und wenn sie sich verrechnet haben?«

Um einen Tag! So einfach war das. Es war eine Verwechslung.

Nicht Charlotte hatte dieses verdammte Gen, sondern ich. Oder wir hatten es alle beide. Oder. . . Ich ließ mich auf den Schemel sinken.

Großtante Maddy schüttelte den Kopf. »Sie haben sich nicht verrechnet, Engelchen. Ich glaube, wenn diese Leute etwas wirklich gut können, dann ist es rechnen.«

Wer waren »diese Leute« denn überhaupt?

»Jeder kann sich doch mal verrechnen«, sagte ich.

Großtante Maddy lachte. »Nicht Isaac Newton, fürchte ich.«

»Newton hat Charlottes Geburtsdatum ausgerechnet?«

»Mein liebes Kind, ich verstehe ja deine Neugier. Als ich so jung war wie du, war ich genauso. Aber erstens ist es manchmal besser, unwissend zu sein, und zweitens hätte ich wirklich, wirklich gern meine Zitronenbonbons.«

»Das ist alles so unlogisch«, sagte ich.

»Nur scheinbar.« Großtante Maddy streichelte über meine Hand. »Auch wenn du jetzt genauso klug bist wie vorher: Dieses Gespräch bleibt unter uns. Wenn deine Großmutter erfährt, was ich dir alles erzählt habe, wird sie böse werden. Und wenn sie böse ist, ist sie noch fürchterlicher als sonst.«

»Ich verpetze dich schon nicht, Tante Maddy. Und ich hole dir sofort die Bonbons.«

»Du bist ein gutes Kind.«

»Ich habe nur noch eine Frage: Wie lange dauert es nach dem ersten Zeitsprung, bis es wieder passiert?«

Großtante Maddy seufzte.

»Bitte!«, sagte ich.

»Ich glaube nicht, dass es da Regeln gibt«, sagte Großtante Maddy. »Jeder Gen-Träger ist wohl anders. Aber keiner kann die Zeitreisen selber steuern. Es passiert ihm täglich, vollkommen unkontrolliert, sogar mehrmals am Tag. Deshalb ist dieser Chronograf ja so wichtig. Wie ich das verstanden habe, muss Charlotte sich dank seiner Hilfe nicht hilflos in der Zeit herumschleudern lassen. Sie kann ganz gezielt in ungefährliche Zeiten geschickt werden, wo ihr nichts passieren kann. Also mach dir keine Sorgen um sie.«

Ehrlich gesagt machte ich mir viel mehr Sorgen um mich selber.

»Wie lange ist man denn in der Gegenwart verschwunden, während man sich in der Vergangenheit aufhält?«, fragte ich atemlos. »Und kann man beim zweiten Mal vielleicht doch bis zu den Dinosauriern zurückspringen, als hier noch alles Sumpf war?«

Meine Großtante schnitt mir mit einer Handbewegung das Wort ab. »Genug jetzt, Gwendolyn. Ich weiß das alles doch auch nicht!«

Ich rappelte mich auf. »Trotzdem danke für deine Antworten«, sagte ich. »Du hast mir sehr geholfen.«

»Das glaube ich wohl weniger. Ich habe ein fürchterlich schlechtes Gewissen. Eigentlich sollte ich dich nicht auch noch in deinem Interesse unterstützen, zumal ich das alles ja selbst nicht wissen dürfte. Wenn ich meinen Bruder – deinen lieben Großvater – früher über all diese Geheimnisse ausgefragt habe, hat er mir immer die gleiche Antwort gegeben. Er hat gesagt, je weniger man darüber weißt, desto besser für die Gesundheit. Gehst du denn jetzt endlich meine Bonbons holen? Und bitte vergiss nicht: mit Zucker!«

Großtante Maddy winkte mir hinterher.

Wie konnten Geheimnisse schlecht für die Gesundheit sein? Und wie viel hatte mein Großvater über all das gewusst?

»Isaac Newton?«, wiederholte Leslie verblüfft. »War das nicht der mit der Schwerkraft?«

»Ja, klar. Aber offenbar hat er auch Charlottes Geburtsdatum ausgerechnet.« Ich stand in der Lebensmittelabteilung bei Selfridges vor den Joghurts und hielt mir mit der rechten Hand das Handy ans eine Ohr, während ich mir das andere mit der linken Hand zuhielt. »Nur dummerweise glaubt keiner, dass er sich verrechnet hat. Klar – wer würde das auch glauben, bei Newton! Aber er muss sich vertan haben, Leslie. Ich bin einen Tag nach Charlotte geboren und ich bin in der Zeit gesprungen, nicht sie.«

»Das ist wirklich mehr als mysteriös. Ach, das Scheißding braucht wieder mal Stunden, um hochzufahren. Mach schon, du Mistvieh!« Leslie beschimpfte ihren Computer.

»Oh, Leslie, das war so – seltsam! Beinahe hätte ich mit einem meiner Vorfahren gesprochen! Weißt du, vielleicht mit diesem dicken Kerl von dem Gemälde vor der Geheimtür, Urururururgroßonkel Hugh. Das heißt, falls es seine Zeit war und nicht eine andere. Sie hätten mich allerdings auch in ein Irrenhaus einweisen lassen können.«

»Dir hätte weiß der Himmel was passieren können«, sagte Leslie. »Ich fasse es immer noch nicht! Da machen die all die Jahre so ein Theater wegen Charlotte und dann passiert so was! Du musst das sofort deiner Mum erzählen. Du musst überhaupt sofort nach Hause! Es kann doch jeden Augenblick wieder passieren!«

»Gruselig, oder?«

»Absolut. Okay, jetzt bin ich online. Ich google mal als Erstes Newton. Und du gehst nach Hause, los! Hast du eine Ahnung, wie lange es Selfridges schon gibt? Möglicherweise war da ja früher mal eine Grube und du fällst gleich zwölf Meter tief!«

»Großmutter wird total ausrasten, wenn sie das erfährt«, sagte ich.

»Ja, und die arme Charlotte erst . . . denk mal, all die Jahre musste sie auf alles verzichten und jetzt hat sie nicht mal was davon. Also, ich hab’s. Newton. Geboren 1643 in Woolsthorpe – wo ist denn das? –, gestorben 1727 in London. Blablabla. Hier steht nichts von Zeitreisen, nur was von Infinitesimalrechnung, nie gehört, du? Transzendenz aller Spiralen . . . Quadratix, Optik, Himmelsmechanik, blabla, ah, da ist auch das Gravitationsgesetz. . . na ja, das mit der Transzendenz der Spiralen klingt irgendwie am ehesten nach Zeitreisen, findest du nicht?«

»Ehrlich gesagt – nö«, sagte ich.

Neben mir diskutierte ein Pärchen lautstark über die Joghurtsorte, die es kaufen wollte.

»Bist du etwa immer noch bei Selfridges?«, rief Leslie. »Mach, dass du nach Hause kommst!«

»Bin schon unterwegs«, sagte ich und schwenkte die gelbe Papiertüte mit Großtante Maddys Bonbons darin Richtung Ausgang. »Aber Leslie, ich kann das zu Hause nicht erzählen. Die halten mich doch für irre.«

Leslie prustete ins Telefon. »Gwen! Jede andere Familie würde dich vielleicht in die Klapse einweisen lassen, aber nicht deine! Die reden doch von nichts anderem als von Zeitreisegenen und Chronometern und Mysterienunterricht.«

»Chronograf«, verbesserte ich. »Das Ding funktioniert mit Blut! Ist das ekelig oder ist das ekelig?«

»Chro no graf! Okay, ich hab’s gegoogelt.«

Ich schob mich durch das Menschengewühl in der Oxford Street bis zur nächsten Ampel. »Tante Glenda wird sagen, dass ich das alles nur erfinde, um mich wichtig zu machen und Charlotte die Show zu stehlen.«

»Na und? Spätestens, wenn du das nächste Mal springst, wird sie ja merken, dass sie falschliegt.«

»Und wenn ich gar nicht mehr springe? Wenn das nur eine einmalige Sache war? Wie ein Schnupfen.«

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Okay, ein Chronograf scheint eine stinknormale Armbanduhr zu sein. Kriegst du massenhaft bei eBay, ab zehn Pfund. Mist.. . warte, ich google mal Isaac Newton und Chronograf und Zeitreisen und Blut.«

»Na?«

»Null Treffer.« Leslie seufzte. »Jetzt tut es mir leid, dass wir das nicht alles früher erforscht haben. Ich besorg uns mal als Erstes Literatur. Alles, was ich über Zeitreisen finden kann. Wozu habe ich diesen doofen Bibliotheksausweis denn? Wo bist du gerade?«

»Ich überquere die Oxford Street und biege dann in die Duke Street ein.« Plötzlich musste ich kichern. »Fragst du, weil du herkommen und ein Kreidekreuz machen willst, falls die Verbindung plötzlich abbricht? Ich frage mich ja mittlerweile, wofür das blöde Kreidekreuz bei Charlotte überhaupt gut sein sollte.«

»Na, vielleicht hätten sie ihr diesen anderen Zeitreisetyp hinterhergeschickt. Wie heißt er noch gleich?«

»Gideon de Villiers.«

»Heißer Name. Den google ich auch mal. Gideon de Villiers. Wie wird das geschrieben?«

»Woher soll ich das wissen? Noch mal zum Kreidekreuz: Wohin hätten sie diesen Gideon denn schicken sollen? Ich meine, in welche Zeit? Charlotte hätte ja überall sein können. In jeder Minute, in jeder Stunde, in jedem Jahr, in jedem Jahrhundert. Nee, das Kreidekreuz macht keinen Sinn.«

Leslie kreischte so laut in mein Ohr, dass ich das Handy beinahe fallen gelassen hätte. »Gideon de Villiers. Ich hab einen.« »Echt?«

»Yep. Hier steht’s: Die Polomannschaft des Greenwicher Vincent-Internats hat auch in diesem Jahr wieder den All-England-School-Polowettbewerb gewonnen. Über den Pokal freuen sich, von links nach rechts, Direktor William Henderson, Trainer John Carpenter, Mannschaftskapitän Gideon de Villiers . . . und so weiter und so fort. Wow, Kapitän ist er auch noch. Leider ist das Bild winzig, man kann nicht unterscheiden, was Pferde und was Jungs sind. Wo bist du gerade, Gwen?«

»Immer noch Duke Street. Das passt doch: Internat in Greenwich, Polo – das ist er bestimmt. Steht da vielleicht auch, dass er ab und an einfach verschwindet? Vielleicht direkt vom Pferd?«

»Ach, ich sehe gerade, der Artikel ist schon drei Jahre alt. Mittlerweile ist er vielleicht schon mit der Schule fertig. Ist dir wieder schwindelig.«

»Bis jetzt nicht.«

»Wo bist du gerade?«

»Leslie! Immer noch Duke Street. Ich gehe schon, so schnell ich kann.«

»Okay, wir telefonieren, bis du vor der Haustür bist, und sofort, wenn du heimkommst, redest du mit deiner Mum.«

Ich sah auf meine Armbanduhr. »Die ist noch gar nicht von der Arbeit zurück.«

»Dann wartest du eben so lange, aber du redest mit ihr, ist das klar? Sie weiß, was zu tun ist, damit dir nichts passieren kann. Gwen? Bist du noch dran? Hast du mich verstanden?«

»Ja. Habe ich. Leslie?«

»Hm?«

»Ich bin froh, dass ich dich habe. Du bist die beste Freundin der Welt.«

»Du bist als Freundin auch nicht übel«, sagte Leslie. »Ich meine, du kannst mir demnächst coole Sachen aus der Vergangenheit mitbringen. Welche Freundin kann das schon? Und wenn wir das nächste Mal für einen blöden Geschichtstest lernen müssen, recherchierst du das Ganze einfach vor Ort.«

»Wenn ich dich nicht hätte, wüsste ich gar nicht, was ich tun sollte.« Ich wusste selbst, dass ich mich irgendwie jammerig anhörte. Aber Herrgott – ich fühlte mich auch jammerig.

»Kann man eigentlich Gegenstände aus der Vergangenheit mitbringen?«, fragte Leslie.

»Keine Ahnung. Wirklich absolut keinen Schimmer. Ich probiere es beim nächsten Mal einfach aus. Bin übrigens jetzt am Grosvenor Square.«

»Dann hast du es bald geschafft«, sagte Leslie erleichtert. »Außer dieser Polosache hat Google nichts mehr über einen Gideon de Villiers gefunden. Dafür jede Menge über eine Privatbank de Villiers und eine Anwaltskanzlei de Villiers in Temple.«

»Ja, das müssen sie sein.«

»Irgendwelche Schwindelgefühle?«

»Nein, aber danke der Nachfrage.«

Leslie räusperte sich. »Ich weiß, du hast Angst, aber irgendwie ist das alles ziemlich cool. Ich meine, es ist ein echtes Abenteuer, Gwen. Und du steckst mittendrin!«

Ja. Ich steckte mittendrin. So eine Scheiße.

Leslie hatte recht: Es gab keinen Grund anzunehmen, dass meine Mum mir nicht glauben würde. Meine »Geistergeschichten« hatte sie sich auch von jeher mit gebührendem Ernst angehört. Ich hatte immer zu ihr kommen können, wenn mich etwas geängstigt hatte.

Als wir noch in Durham gewohnt hatten, war ich monatelang vom Geist eines Dämons verfolgt worden, der eigentlich als steinerner Wasserspeier auf den Dächern der Kathedrale seinen Dienst hätte verrichten müssen. Sein Name war Asrael und er sah aus wie eine Mischung aus Mensch, Katze und Adler. Als er bemerkt hatte, dass ich ihn sehen konnte, war er so entzückt gewesen, endlich mit jemandem reden zu können, dass er auf Schritt und Tritt hinter mir herrannte oder -flog, mich vollquatschte und nachts sogar in meinem Bett schlafen wollte. Nachdem ich meine anfängliche Angst überwunden hatte – Asrael war wie alle Wasserspeier mit einer ziemlich gruseligen Fratze ausgestattet –, waren wir allmählich Freunde geworden. Leider hatte Asrael nicht von Durham mit nach London ziehen können und er fehlte mir immer noch. Die wenigen Wasserspeier-Dämonen, die ich hier in London gesehen hatte, waren eher unsympathische Wesen, bis jetzt hatte ich jedenfalls noch keinen getroffen, der Asrael das Wasser hätte reichen können.

Wenn Mum mir Asrael geglaubt hatte, würde sie die Zeitreise wohl auch glauben. Ich wartete auf einen günstigen Augenblick, um mit ihr zu sprechen. Aber irgendwie wollte der günstige Augenblick nicht so recht kommen. Kaum war sie von der Arbeit nach Hause gekommen, musste sie mit meiner Schwester Caroline diskutieren, weil Caroline sich dafür eingetragen hatte, während der Sommerferien das Klassenterrarium in Obhut zu nehmen, inklusive des Klassenmaskottchens, eines Chamäleons namens Mr Bean. Obwohl es bis zu den Sommerferien noch mehrere Monate hin war, ließ sich die Diskussion offenbar nicht aufschieben.

»Du kannst Mr Bean nicht in Pflege nehmen, Caroline! Du weißt genau, dass deine Großmutter Tiere im Haus verboten hat«, sagte Mum. »Und Tante Glenda ist allergisch.«

»Aber Mr Bean hat gar kein Fell«, sagte Caroline. »Und er bleibt die ganze Zeit in seinem Terrarium. Er stört keinen.«

»Er stört deine Großmutter!«

»Dann ist meine Großmutter blöd!«

»Caroline – es geht nicht! Hier hat auch niemand Ahnung von einem Chamäleon. Stell dir nur vor, wir würden was falsch machen und Mr Bean würde krank werden und sterben!«

»Das würde er nicht. Ich weiß, wie man sich um ihn kümmert. Bitte, Mummy! Lass mich ihn nehmen! Wenn ich ihn nicht nehme, nimmt ihn wieder Tess und die gibt immer so an, dass sie Mr Beans Lieblingskind wäre.«

»Caroline, nein!«

Eine Viertelstunde später diskutierten sie immer noch, auch als Mum ins Badezimmer ging und die Tür hinter sich abschloss. Caroline stellte sich davor auf und rief: »Lady Arista müsste ja nichts davon merken. Wir könnten das Terrarium ins Haus schmuggeln, wenn sie nicht da ist. Sie kommt doch so gut wie nie in mein Zimmer.«

»Kann man hier nicht wenigstens auf dem Klo mal seine Ruhe haben?«, rief Mum.

»Nein«, sagte Caroline. Sie konnte eine fürchterliche Nervensäge sein. Sie hörte erst auf zu quengeln, als Mum versprach, sich höchstpersönlich bei Lady Arista für den Ferienaufenthalt von Mr Bean in unserem Haus zu verwenden.

Die Zeit, die Caroline und Mum mit ihrer Diskussion verplemperten, nutzte ich, um meinem Bruder Nick Kaugummi aus den Haaren zu entfernen.

Wir saßen im Nähzimmer. Er hatte ungefähr ein halbes Pfund von dem Zeug auf dem Kopf kleben, konnte sich aber nicht erinnern, wie es da hingekommen war.

»Das muss man aber doch merken!«, sagte ich. »Ich muss dir leider ein paar Strähnen abschneiden.«

»Macht nichts«, sagte Nick. »Du kannst die anderen gleich mit abschneiden. Lady Arista hat gesagt, ich sähe aus wie ein Mädchen.«

»Für Lady Arista sehen alle wie ein Mädchen aus, deren Haare länger als ein Streichholz sind. Bei deinen schönen Locken wäre es eine Schande, sie so kurz zu scheren.«

»Die wachsen ja wieder. Schneid sie alle ab, ja?«

»Das geht nicht mit einer Nagelschere. Dafür musst du zum Friseur.«

»Du kannst das schon«, sagte Nick vertrauensvoll. Er hatte offenbar vollkommen vergessen, dass ich ihm schon einmal mit einer Nagelschere die Haare geschnitten hatte und dass er damals ausgesehen hatte wie ein frisch geschlüpftes Geierküken. Ich war sieben, er vier Jahre alt gewesen. Ich hatte seine Locken gebraucht, weil ich mir eine Perücke daraus hatte basteln wollen. Das hatte allerdings nicht geklappt, dafür hatte ich aber einen Tag Hausarrest aufgebrummt bekommen.

»Untersteh dich«, sagte Mum. Sie war ins Zimmer gekommen und nahm mir sicherheitshalber die Schere aus der Hand. »Wenn überhaupt, dann macht das ein Friseur. Morgen. Jetzt müssen wir zum Abendessen nach unten.«

Nick stöhnte.

»Keine Sorge, Lady Arista ist heute nicht da!« Ich grinste ihn an. »Niemand wird wegen des Kaugummis meckern. Oder wegen des Flecks auf deinem Sweatshirt.«

»Was für ein Fleck?« Nick sah an sich herab. »Oh, Mist, das muss Granatapfelsaft sein. Hab ich gar nicht bemerkt.« Der arme Kleine, er kam ganz auf mich.

»Wie gesagt, niemand wird schimpfen.«

»Aber heute ist doch gar nicht Mittwoch!«, sagte Nick. »Sie sind trotzdem weggefahren.«

»Cool.«

Wenn Lady Arista, Charlotte und Tante Glenda dabei waren, war das Dinner immer eher eine anstrengende Angelegenheit. Lady Arista kritisierte vor allem Carolines und Nicks Tischmanieren (manchmal auch die von Großtante Maddy), Tante Glenda erkundigte sich ständig nach meinen Schulnoten, um sie dann mit Charlottes zu vergleichen, und Charlotte lächelte wie Mona Lisa und sagte: »Das geht euch nichts an«, wenn man sie etwas fragte.

Alles in allem hätten wir auf diese abendlichen Versammlungen also gut verzichten können, aber unsere Großmutter bestand darauf, dass jeder teilnahm.

Nur wer eine ansteckende Krankheit hatte, war entschuldigt. Zubereitet wurde das Essen von Mrs Brompton, die montags bis freitags ins Haus kam und sich neben dem Essen auch um die Wäsche kümmerte. (An den Wochenenden kochten entweder

Tante Glenda oder Mum. Essen vom Pizzadienst oder vom Chinesen gab es zu Nicks und meinem Kummer nie.)

An den Mittwochabenden, wenn Lady Arista, Tante Glenda und Charlotte ihren Mysterien nachgingen, war das Dinner deutlich entspannter. Und wir fanden alle herrlich, dass heute, obwohl erst Montag, schon Mittwochsverhältnisse herrschten. Nicht dass wir dann laut schlürften, schmatzten und rülpsten, aber wir trauten uns durcheinanderzureden, die Ellenbogen auf den Tisch zu legen und Themen zu erörtern, die Lady Arista unpassend fand.

Chamäleons zum Beispiel.

»Magst du Chamäleons, Tante Maddy? Würdest du nicht gerne mal eins haben wollen? Ein ganz zahmes?«

»Also, ähm, eigentlich, doch ja, wo du es jetzt so sagst, da merke ich, dass ich wirklich schon immer mal ein Chamäleon haben wollte«, sagte Großtante Maddy und häufte sich Rosmarinkartoffeln auf den Teller. »Unbedingt.«

Caroline strahlte. »Vielleicht geht dein Wunsch ja bald in Erfüllung.«

»Haben Lady Arista und Glenda etwas von sich hören lassen?«, erkundigte sich Mum.

»Deine Mutter hat am Nachmittag angerufen, um zu sagen, dass sie beim Abendessen nicht dabei sein werden«, sagte Großtante Maddy. »Ich habe in unser allen Namen unser großes Bedauern darüber ausgesprochen, ich hoffe, das war euch recht.«

»Oh ja.« Nick kicherte.

»Und Charlotte? Ist sie. . .?«, fragte Mum.

»Bis jetzt wohl nicht.« Großtante Maddy hob die Schultern. »Sie rechnen aber jeden Augenblick damit. Dem armen Mädchen ist

unentwegt schwindelig und jetzt hat sie auch noch Migräne bekommen.«

»Sie ist wirklich zu bedauern«, sagte Mum. Sie legte ihre Gabel beiseite und starrte geistesabwesend auf die dunkle Täfelung unseres Esszimmers, die in etwa so aussah, als hätte jemand die Wände aus Versehen mit dem Boden verwechselt und dort Parkett verlegt.

»Was passiert denn, wenn Charlotte gar nicht in der Zeit springt?«, fragte ich.

»Früher oder später wird es passieren!«, imitierte Nick die salbungsvolle Stimme unserer Großmutter.

Alle außer Mum und mir lachten.

»Aber wenn es nicht passiert? Wenn sie sich vertan haben und Charlotte dieses Gen überhaupt gar nicht besitzt?«, fragte ich.

Diesmal äffte Nick Tante Glenda nach: »Gleich als Baby konnte man Charlotte ansehen, dass sie zu Höherem geboren wurde. Man kann sie mit euch gewöhnlichen Kindern gar nicht vergleichen.«

Wieder lachten alle. Außer Mum. »Wie kommst du denn darauf, Gwendolyn?«

»Nur so . . .« Ich zögerte.

»Ich habe dir doch erklärt, dass da gar kein Irrtum möglich ist«, sagte Großtante Maddy.

»Ja, weil Isaac Newton ein Genie ist, das sich nicht verrechnet, ich weiß«, sagte ich. »Warum hat Newton denn Charlottes Geburtsdatum überhaupt ausgerechnet?«

»Tante Maddy!« Mum sah Großtante Maddy vorwurfsvoll an. Die schnalzte mit der Zunge. »Sie hat mir Löcher in den Bauch gefragt, was sollte ich denn tun? Sie ist genau wie du, als du klein warst, Grace. Abgesehen davon hat sie versprochen, absolutes Stillschweigen über unser Gespräch zu bewahren.«

»Nur Großmutter gegenüber«, sagte ich. »Hat Isaac Newton vielleicht auch diesen Chronografen erfunden?«

»Petze«, sagte Großtante Maddy. »Dir sag ich gar nichts mehr.« »Was für einen Chronografen?«, fragte Nick.

»Das ist eine Zeitmaschine, mit der Charlotte in die Vergangenheit geschickt wird«, erklärte ich ihm. »Und Charlottes Blut ist sozusagen der Treibstoff für diese Maschine.«

»Krass«, sagte Nick und Caroline kreischte: »Iiih, Blut!«

»Kann man mit dem Chronografen auch in die Zukunft reisen?«, fragte Nick.

Mum stöhnte. »Sieh nur, was du angerichtet hast, Tante Maddy.«

»Es sind deine Kinder, Grace«, sagte Großtante Maddy lächelnd. »Es ist normal, dass sie Bescheid wissen wollen.«

»Ja, wahrscheinlich.« Mum sah uns der Reihe nach an. »Aber ihr dürft solche Fragen niemals eurer Großmutter stellen, hört ihr?«

»Dabei wüsste sie wahrscheinlich als Einzige die Antworten«, sagte ich.

»Aber sie würde sie euch nicht geben.«

»Und wie viel weißt du von alldem, Mum?«

»Mehr, als mir lieb ist.« Mum lächelte zwar dabei, aber ich fand, es war ein trauriges Lächeln. »Man kann übrigens nicht in die Zukunft reisen, Nick, und zwar deshalb nicht, weil die Zukunft noch gar nicht stattgefunden hat.«

»Hä?«, machte Nick. »Was ist denn das für eine Logik?«

Es klopfte und Mr Bernhard trat ein, mit dem Telefon. Leslie wäre vermutlich völlig ausgeflippt, wenn sie gesehen hätte, dass das Telefon auf einem silbernen Tablett lag. Manchmal übertrieb Mr Bernhard es wirklich ein bisschen.

»Ein Telefongespräch für Miss Grace«, sagte er.

Mum nahm das Telefon vom Tablett und Mr Bernhard machte kehrt und verließ das Esszimmer wieder. Er aß nur mit uns zu Abend, wenn Lady Arista ihn ausdrücklich darum bat, was aber nur ein paar Mal im Jahr vorkam. Nick und ich argwöhnten, dass er sich heimlich was vom Italiener oder Chinesen kommen ließ und es sich damit gemütlich machte.

»Ja? Ach, Mutter, du bist es.«

Großtante Maddy zwinkerte uns zu. »Eure Großmutter kann Gedanken lesen!«, flüsterte sie. »Sie ahnt, dass wir hier verbotene Gespräche führen. Wer von euch räumt das Geschirr ab? Wir brauchen Platz für Mrs Bromptons Apfelkuchen.«

»Und die Vanillecreme!« Obwohl ich einen Riesenberg Rosmarinkartoffeln mit karamellisierten Möhren und Schweinemedaillons gegessen hatte, war ich immer noch nicht satt. Die ganze Aufregung hatte mich nur zusätzlich hungrig gemacht. Ich stand auf und begann, das schmutzige Geschirr in den Speiseaufzug zu räumen.

»Wenn Charlotte zu den Dinosauriern reist, kann sie mir dann ein Dinosaurier-Baby mitbringen?«, fragte Caroline.

Großtante Maddy schüttelte den Kopf. »Tiere und Menschen ohne das Zeitreise-Gen können nicht durch die Zeit transportiert werden. Und so weit zurück kann man auch nicht reisen.«

»Schade«, sagte Caroline.

»Na, ich finde das aber ganz gut so«, sagte ich. »Stell dir mal vor, was hier los wäre, wenn die Zeitreisenden ständig Dinosaurier und Säbelzahntiger mitbrächten – oder Attila den Hunnenkönig oder Adolf Hitler.«

Mums Telefonat war beendet. »Sie bleiben über Nacht dort«, sagte sie. »Sicherheitshalber.«

»Wo denn?«, fragte Nick.

Mum antwortete nicht. »Tante Maddy? Ist alles in Ordnung?«

Zwölf Säulen tragen das Schloss der Zeit.

Zwölf Tiere regieren das Reich.

Der Adler ist zum Aufstieg bereit.

Die Fünf ist Schlüssel und Basis zugleich.

So ist im Kreis der Zwölf die Zwölf die Zwei.

Der Falke schlüpft als Siebenter und ist doch Nummer drei .

Aus den Geheimschriften des Grafen von Saint Germain

Rubinrot

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