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Das Wispern der Bücher
ОглавлениеEine wundersame Weihnachtsgeschichte
von Hans-Jürgen Raben
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Die Tür quietschte leise, als Bastian Kramer sein Antiquariat verließ. Wie jeden Abend um diese Zeit. Auch wenn der letzte Kunde schon lange gegangen war, er blieb bis zur letzten Minute der offiziellen Öffnungszeit. Das hatte er von seinem Vater gelernt, der dieses Geschäft vor langer Zeit in der Innenstadt von Hamburg gegründet hatte. Pünktlichkeit hatte er besonders geschätzt, neben den vielen anderen Vorzügen, die er besaß und die ein Geschäftsmann seiner Meinung nach unbedingt haben musste. Denn schließlich ging es um das Vertrauen der Kunden.
»Enttäusche sie nie, Bastian«, hatte sein Vater ihm geraten, »dann werden sie dir lange erhalten bleiben.« Bastian hatte seinem alten Herrn immer zugehört und dessen Ratschläge beherzigt. Er hatte es nie bereuen müssen.
Auch heute, am Heiligen Abend, hatte er den Laden keine Sekunde früher geschlossen. Ausnahmen von den Regeln akzeptierte er nicht. Bastian Kramer hatte sein ganzes Leben nach festen Regeln ausgerichtet. Auch sein Privatleben und das seiner Familie. Er registrierte es schon, wenn seine Frau gelegentlich die Augen verdrehte, wenn er an festen Essenszeiten festhielt. Doch er war der Meinung, dass ihrer aller Leben dank seiner Regeln leichter war.
Manche nannten ihn einen Pedanten, doch er wusste, dass seine Familie ihn trotz all seiner Regeln liebte. Und sie hatte auch jeden Grund dazu. Bastian war ein guter Ehemann und Vater. Eines hatte er dabei gelernt: Kinder brauchten ihren Freiraum. Daher wurden die Regeln bei ihnen nicht so streng angewendet. Seine Familie war das Wichtigste in seinem Leben. Danach kamen allerdings die Bücher.
Er liebte Bücher über alles. Manchmal geschah es, dass er sich nur schwer von einem besonderen Band trennen konnte, den ein Kunde kaufte. Tagelang starrte er immer wieder auf die leere Stelle, die das Buch hinterlassen hatte. Bücher besaßen für ihn ihre eigene Persönlichkeit, die über den Inhalt hinausging. Der Geruch des Papiers, die unterschiedlichen Schriftarten oder das Leder eines alten Einbandes faszinierten ihn immer wieder.
Er war dankbar, dass er einen Beruf hatte, der so eng mit Büchern verbunden war.
Der Schlüssel drehte sich, überwand wie immer einen kleinen Widerstand, ehe das Schloss einrastete. Ein metallisches Geräusch, als der Schlüssel abgezogen wurde. Ein letzter Blick auf die Weihnachtsdekoration des Schaufensters, die ein Lächeln auf sein Gesicht zauberte. Es gab einige leere Stellen, wo schöne alte Kinderbücher gestanden hatten. Er hatte sie nicht ersetzt, da er für den nächsten Arbeitstag ohnehin eine neue Dekoration geplant hatte.
Dann ertönte das Rasseln des Rollladens vor dem Schaufenster, danach das Scheppern des Scherengitters vor der Eingangstür. Schritte, die sich entfernten.
Stille.
Im Laden war es dunkel geworden. Durch das kleine Fenster im oberen Teil der Tür wagte sich ein Lichtspeer in die Tiefen des Antiquariats, wurde zurückgeworfen von spiegelnden Umschlägen oder verschluckt von ledernen Einbänden. Der Staub, der im Laufe des Tages immer wieder hochgewirbelt worden war, setzte sich auf die Bretter der Regale, auf die Bücherstapel oder auf den Fußboden aus gewachsten Holzbohlen.
Unvermutet begann das Wispern.
Nun, eigentlich war es mehr eine Schwingung, wie der Nachhall einer sanft angeschlagenen Saite. Nicht hörbar, nicht real, und doch ...
Es geschah nur einmal im Jahr. An diesem Tag. Am Heiligen Abend. Wenn kein Mensch in der Nähe war, der es aber ohnehin nicht hätte hören können. Denn es war die Sprache der Bücher. Es war ihr Geheimnis.
Es begann mit dem Glockenschlag um zwölf Uhr mittags, und es endete vierundzwanzig Stunden später. Keines der vielen Bücher wusste, warum es geschah. Oder seit wann. Oder wer dafür verantwortlich war.
Nur Das Alte Testament hatte sich bei diesem Thema in den Vordergrund gedrängelt und behauptet, auf seinen Seiten stünde alles haargenau. Der Widerspruch hatte nicht lange auf sich warten lassen. Worte wie Evolution und Urknall, Quantentheorie und Raumzeit wirbelten durcheinander. Es blieb schließlich bei Vermutungen, und das alte Buch schwieg beleidigt.
Irgendwann später hatte die Kulturgeschichte des Weihnachtsfestes ihren Weg auf eines der Regale gefunden. Alle hatten aus weitschweifigen Erklärungen mitbekommen, dass eine lange Tradition hinter diesem Datum steckte. Eine sehr lange Tradition, die weit über die heutige Bedeutung dieses Tages zurückreichte.
Andererseits gab es Legenden, die immer wieder erzählt wurden. Danach hätten schon vor langer Zeit die Bücher nach einem Weg gesucht, wie sie sich untereinander verständigen könnten. Sie wollten nicht nur als einzelnes Exemplar für den einzelnen Leser da sein. Es erschien ihnen zu einseitig, und so hatten sie irgendwann den Weg gefunden, sich untereinander auszutauschen. Einmal im Jahr.
Heute!
Es begann diesmal mit einer Frage. »Was ist passiert? Wo bin ich hier?«
»Einer der Neuzugänge«, raunte die Geschichte der Neuzeit, einer der Bände, die hier schon länger auf dem Regal lagen. Er hatte noch keinen Käufer gefunden, weil der Umschlag verschmutzt und die Seiten mit Randbemerkungen versehen waren.
»Die Neuen tun sich immer schwer, wenn sie sich plötzlich in einer anderen Umgebung wiederfinden«, erläuterte das Kochbuch für Vegetarier. »Ich habe diesen Tag viele Male erlebt, weil ich falsch eingeordnet bin. Ich stehe hier inmitten von Reparaturanleitungen für den Haushalt ...«
Der letzte Satz klang niedergeschlagen, sodass sich die Geschichte des deutschen Humors bemüßigt fühlte, etwas Trost zu spenden. »Irgendwann kommt die Zeit für Gelächter, die alles Unangenehme vergessen lässt.«
»Hallo ...«, klang es schwach aus einem Stapel. Der schmale Band mit Gedichten von Rilke, leider keine Erstausgabe. »Ich fühle mich heute so eingeengt.«
»Das liegt daran«, dozierte das Lehrbuch der Physik, »dass die Gesamtausgaben von Kant und Schopenhauer auf dir liegen, und die gelten bekanntlich als schwere Lektüre.«
Das Wispern klang irgendwie fröhlich.
»Damit ist doch nicht das Gewicht gemeint«, meldete sich der erste Band des zwanzigbändigen Lexikons, der als Wortführer seiner zahlreichen Brüder galt. Genau unter ihm stand ein ebenso umfangreiches Lexikon, das allerdings fast hundert Jahre älter war.
Dessen erster Band gab nur ein missbilligendes Knurren von sich. Für solche Banalitäten waren sich die in gepunztes Leder gebundenen Bände zu schade. Sie wussten alles über Geschichte, zumindest bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Bei neueren Ereignissen kostete das jüngere Lexikon seine Überlegenheit gern aus. Alle anderen Bücher des Antiquariats lauschten in solchen Fällen gespannt dem Schlagabtausch der beiden umfangreichen Werke. Vermutlich würden sie noch lange miteinander streiten können, da offenbar kaum noch jemand ein Lexikon im Buchformat haben wollte. Es war ja auch eine Platzfrage.
Den eigentlichen Grund hatten sie alle jedoch von einem Neuzugang erfahren, dem Internet für Anfänger. Da gab es also eine Einrichtung, die möglicherweise Bücher überflüssig machen würde. Sie waren alle sehr besorgt, doch zum Glück gab es immer noch Menschen, die Bücher kauften. Neue Hoffnung hatte sich ausgebreitet, dass sie alle irgendwann einmal in einer wunderbaren Bibliothek stehen würde.
Davon träumten sie: ein repräsentativer Standort in einem Regal aus Edelholz in der Nachbarschaft nobel gebundener anderer Bücher. Man würde sie abstauben, vorsichtig aufschlagen und mit Respekt behandeln. Natürlich würde es gedämpftes Licht geben, damit die Einbände nicht ausbleichten. Dort würde man nicht in ihnen herumkritzeln, Ecken umschlagen oder Fettflecken hinterlassen. Sie würden es nur mit ausgewählten Personen zu tun haben, die den Umgang mit den wertvollen Bänden gelernt hatten.
Es waren schöne Gedanken, obwohl die meisten von ihnen wussten, dass es nie dazu kommen würde. Wer weiß, wo sie irgendwann landen würden. Sie hatten die schlimmsten Befürchtungen, seit der Neuzugang Recycling einige unheilvolle Andeutungen gemacht hatte, welches Schicksal altem Papier und anderen Überesten der Zivilisation blühte.
Sie machten sich gegenseitig Mut, und einige waren sogar der Meinung, dass ihnen eine solche Zukunft erspart bliebe. So war Goethes Gesamtausgabe der Ansicht, dass sie über all diesen Dingen stand und auf jeden Fall eines Tages wieder in einer gepflegten Bibliothek zu finden wäre. Für diese Überzeugung gab es viel Beifall, wenn auch nur von einer bestimmten Gruppe, die sich Die Klassiker nannte und die alle aus mehr als einem Band bestanden und denen eine gewisse Überheblichkeit zu eigen war.
Andere wiederum amüsierten sich insgeheim über diese Einstellung und wiesen darauf hin, dass diese sogenannten Klassiker schon ziemlich lange Staub angesetzt hatten, weil niemand sie haben wollte.
»Da sind wir doch besser dran«, kam es aus einer Ecke, in der nur ein einziges Regal stand, vollgestopft mit Taschenbüchern aller Art. Mit ihren eingerissenen Umschlägen, Eselsohren und verschmutzten Seiten waren sie die Parias des Antiquariats. Keines der in feines Leinen oder wenigstens stabiler Pappe gebundenen Bücher wollte mit den ärmlichen Verwandten in näheren Kontakt treten, obwohl es auch unter ihnen durchaus Titel gab, die profundes Wissen weitergaben. Im Übrigen war es vielen dieser Ausgaben bewusst, dass sie ursprünglich auch zu den besser gestellten Büchern gehörten, nämlich als sie seinerzeit zum ersten Mal erschienen waren und in prächtiger Ausstattung daherkamen.
Die anderen – nun, darüber schwieg man in den teuren Regalen, zumal es das Gerücht gab, dass manche dieser Titel in sehr hohen Stückzahlen gedruckt worden waren, und auf einen solchen Vergleich wollte sich lieber niemand einlassen. Also blieben die Taschenbücher unter sich und nahmen einmal im Jahr die Gelegenheit wahr, heftig über die steifen Bände herzuziehen. Dennoch wurde es nicht bösartig oder verletzend, denn letztlich stammten sie alle miteinander aus dem gleichen Holz, wie die Geschichte des Waldes einmal zutreffend bemerkt hatte.
In die gleiche Kerbe hatte anschließend Das Kapital gehauen, sich jedoch im gleichen Atemzug darüber beschwert, dass die Klassenkämpfe untereinander immer noch kein Ende gefunden hätten, es jedoch nicht mehr lange dauern würde, bis alle gleich seien.
»Vor Gott sind sowieso alle gleich«, hatte Die Bibel mahnend hinzugefügt.
»Aber nur, solange das Geld noch nicht erfunden war«, warf der Leitfaden zur Vermögensbildung ein.
Ein Geräusch wie das Reiben von Pergamentseiten. »Wir sollten uns doch lieber den wirklich wichtigen Fragen widmen. Woher kommen wir und wohin gehen wir? Was ist der Sinn von allem?«
»Das ist die Geschichte der Philosophie«, raunte Der Graf von Monte Christo dem Neuen neben ihm zu, dem Reiseführer Rügen. »Alle haben ziemlichen Respekt vor dem Buch, weil darin angeblich alles erklärt wird. Die meisten von uns verstehen jedoch nicht, wovon die Rede ist. Zum Glück gibt es nur den ersten Band, der zweite fehlt. Deshalb werden die Erklärungen nie zu Ende geführt, und wir anderen können uns über die Dinge austauschen, die uns mehr interessieren.«
»Und die wären?«
»Nun, das sind vor allem Dinge technischer Natur. Meinungen zu Papiersorten und Druckfarben zum Beispiel. Bei älteren Bänden ist das Problem der Stockflecke ein wichtiges Thema. Wie haltbar bleibt man?«
Im Untergeschoss, wie das unterste Regal von vielen genannt wurde, kam Unruhe auf. Dort standen und lagen die bunten Kinderbücher teilweise wild durcheinander, so wie sie von den Kinderhänden hinterlassen worden waren, die gelegentlich herumstöberten. Nur dank der dicken Pappeinbände wurden häufig die Seiten zusammengehalten, in denen Kekskrümel und Milchreste unauflöslich mit dem Papier verbunden waren. Kleine schmutzige Finger hatten zusätzlich ihre Spuren hinterlassen, und ungelenke Hände mit dicken Malstiften die gedruckten Zeichnungen ergänzt.
Es schien zu einem Streit zu kommen, wobei niemand aus den oberen Etagen wusste, worum es dabei ging. Eigentlich interessierte es auch nicht sonderlich, solange die Erörterung zeitloser Fragen nicht gestört wurde.
»Silentium!« dröhnte es plötzlich dazwischen, und alle schwiegen erschrocken. »Sichert die eigenen Nachschublinien und schneidet dem Feind die Zufuhr ab, dann wird der Sieg uns gehören.«
Wie immer rätselten alle, was die kryptischen Worte des großen, alten Textes wohl zu bedeuten hatten. Vielleicht Geheimnisse, die ihnen auf ewig verschlossen bleiben würden, vielleicht Spuren zu noch größeren Rätseln, in denen die letzten unbekannten Weisheiten verborgen waren.
»De Bello Gallico«, erläuterte der Graf von Monte Christo seinem Nachbarn, dem Reiseführer. »Cäsars gallischer Krieg ist hier eine der höchsten Autoritäten, und da es sich um eine zweisprachige Ausgabe handelt, benutzt der Kollege gern das Original. Außer der ursprünglichen Bibel gibt es wohl nichts, das älter wäre.«
Er machte eine kleine Pause, ehe er betrübt fortfuhr. »Ich bin ja auch schon in vielen Auflagen gedruckt worden, aber der ... da kann noch nicht mal das Neue Testament mithalten ...«
»Ist immer noch Standardlektüre«, mischte sich Latein für die Oberstufe ein. »Einfache Sprache, simple Grammatik, na, ja, eben ein Militär ... da solltet ihr mal Cicero lesen ...«
Es klang wie ein vergnügtes Lachen.
»Und die da drüben auf dem Tisch?«, fragte der Reiseführer Rügen. »Die sind viel größer und dicker als die meisten anderen.«
»Die halten sich für was Besonderes«, erläuterte das Werk von Dumas. »Das ist die Oberschicht. Bildbände auf Hochglanzpapier. Da geht es um Kunst und Architektur, Landschaften und Gärten oder Fotografie und Mode. Von denen redet keiner mit uns. Sie haben ja auch wenig Text zur Verfügung, und die Bilder können sie uns nicht zeigen, da uns die Gabe des Sehens fehlt. Einen Vorteil haben sie. Jeder, der an ihnen vorbeigeht, empfindet eine Art Zwang, die Bände aufzuschlagen und durchzublättern. Damit genießen diese Prachtausgaben viel mehr Aufmerksamkeit, als ihnen vom Inhalt her zustehen würde, und sie lassen uns diesen Vorteil spüren. Du kannst dir vorstellen, dass diejenigen von uns, die wichtige Inhalte repräsentieren, darüber ziemlich erbost sind.«
»Das verstehe ich«, entgegnete der Reiseführer und wirkte stark beeindruckt, sich in so illustrer Umgebung zu finden, wo er doch ursprünglich von einem Bahnhofskiosk stammte, zwischen Stapeln von Comic-Heften gezwängt. Niemals hätte er erwartet, in der Nähe so bedeutender Werke zu sein, von denen er zwar noch nie gehört, aber geahnt hatte, dass es sie geben musste. Er war sehr angetan von der neuen Umgebung und von den Möglichkeiten dieser ungeahnten Kommunikation zwischen den Büchern. DAS hatte es im Kiosk nicht gegeben, weder zu Weihnachten noch an einem anderen Tag.
Aus einer hinteren Ecke des Antiquariats, in der es bisher ruhig geblieben war, kam es inzwischen zu hitzigen Auseinandersetzungen. Die Schwingungen überlagerten sich, bis nur noch ein unverständliches Rauschen zu empfangen war. Jede andere Kommunikation erstarb für einen Moment, bis allen klar war, dass der Streit wie in jedem Jahr von der gleichen Gruppe ausging: Waffenkunde und Militärgeschichte.
»Was haben die denn?«, wollte der Reiseführer Rügen wissen.
»Es geht immer um das gleiche Thema. Wer hat die beste Ausrüstung? Wer hat wann gesiegt, und wer hat eigentlich am Ende gewonnen? Darüber kommen die nie zu einer Einigung, vor allen Dingen, wenn es Neuzugänge gibt. Dann fängt die ganze Diskussion von vorne an.«
»Zum Glück geht mir das am Buchrücken vorbei«, zog der Reiseführer seine Schlussfolgerung.
In diesem Moment kam eine leise, aber scharf vorgetragene Äußerung aus der hinteren Ecke, die sofort alle anderen zum Schweigen brachte.
»Ihr habt alle keine Ahnung!«
Ein Gefühl von Schadenfreude breitete sich schlagartig aus.
»Was war das denn?«, erkundigte sich der Reiseführer.
»Das ...«
Der Graf von Monte Christo kostete sein überlegenes Wissen ein paar Sekunden lag aus. »Das war eine militärische Autorität, die noch älter ist als Cäsar.«
»Noch älter? Und wird immer noch gedruckt?«
»Das ist Die Kunst des Krieges von einem gewissen Sun Tse. Dem wagt hier niemand zu widersprechen.«
In die augenblickliche Stille mischte sich plötzlich eine neue Stimme.
»Ich will ja nicht stören, aber wir haben hier unten ein echtes Problem.« Es klang, als ob die Energie für die Kommunikation fehlte oder stark eingeschränkt war.
Ein lautloses Lärmen hob an, bis eine voll tönende Schwingung sich über alle anderen hinwegsetzte.
»So sagt uns, ihr Götter der unteren Welt, was ist eure Klage?«
»Was war das denn?«, erkundigte sich der Reiseführer mit einer gewissen Verblüffung.
»Das, mein junger Freund, war die Ilias von einem gewissen Homer. Von dem Band hört man ganz selten etwas, und wenn, dann in gestelzten Hexametern. Das ist ein altes Versmaß, wird sonst von niemandem benutzt. Ich glaube, das ist hier überhaupt der älteste Vertreter unserer Zunft. Keiner weiß, wann diese Dichtung zum ersten Mal erschienen ist.«
»Ich schon«, mischte sich das Lexikon ein. »Wenigstens ungefähr.«
»Der weiß alles besser«, raunte der Graf.
»Wir verlieren an Substanz«, kam die schwache Nachricht von unten. »Irgendetwas zerrt und reißt an uns.«
Schweigen.
Das vielbändige Lexikon meldete sich erneut. »Ich habe mich mit meinem Bruder Nummer vierzehn ausgetauscht. Er weiß alles über Mag bis Mod. Der Übeltäter dort unten muss ein kleiner Nager namens Maus sein. Der hat vor alten Büchern keinen Respekt. Aber wir wissen nicht, was man dagegen tun könnte.«
»Vielleicht doch!« schwang sich eine selbstbewusste Meinung durch den Raum. »Ich bin der große Weltatlas, und ich liege direkt über den betroffenen Gefährten. Ich brauche etwas Hilfe, und dann werden wir diesen räuberischen Nager stoppen.«
Dann setzte eine Art Stöhnen und Ächzen ein, wie es nie zuvor gehört worden war. Alle schwiegen und lauschten dem ungewohnten Vorgang, bis endlich wieder das Licht eines neuen Tages in den Raum fiel. Nach und nach trat Ruhe ein, bis ein lauter Knall einen Schlusspunkt setzte. Wenig später schlug die Glocke der benachbarten Kirche. Zwölf Uhr. Für ein Jahr lang herrschte wieder Stille zwischen den Büchern.
Am ersten Werktag nach den Feiertagen öffnete Bastian Kramer pünktlich sein Antiquariat, trat ein und schloss rasch die Tür hinter sich. Es war empfindlich kalt geworden, und der Wetterbericht hielt sogar Schneefall für möglich.
Bastian schälte sich aus seinem dicken Mantel und rieb sich die Hände. Sehr warm war es hier drinnen nicht. Er tröstete sich damit, dass die Bücher es lieber etwas kühler mochten. Sein Rundgang durch die Buchreihen stoppte bereits im ersten Gang zwischen den Regalen.
»Das gibt´s doch nicht«, murmelte er. »Die lagen doch vorher nicht dort unten!«
Ganz am Ende des schmalen Ganges türmte sich ein Stapel übereinander liegender Atlanten direkt vor der Wand.
Bastian sah sich aufmerksam um. Alles sah aus wie immer. Der Laden war nicht betreten worden, das hätte er bemerkt. Die Luft war abgestanden, wie sie nach ein paar Tagen sein musste. Nein, niemand war hier gewesen.
Hatte er vielleicht doch selbst ...?
Er schüttelte langsam den Kopf, bückte sich und hob die Atlanten nacheinander auf, um sie wieder in die Lücke zu legen, wo sie hingehörten. Sogar der Staubrand war auf dem Regal erkennbar. Sehr sonderbar ...
Dann entdeckte er das Mäuseloch, das von den Büchern verdeckt worden war. Seine Verblüffung wuchs, als er bei den Folianten auf dem untersten Brett den Mäusefraß und die Papierfetzen entdeckte.
Wieso hatte er diesen Vandalismus übersehen können?
Vorsichtig legte er den schweren Weltatlas zuoberst auf den Stapel.
Anschließend suchte er nach einem alten Lappen und stopfte ihn in das Loch, um weiteren Schaden an seinen Büchern zu verhindern.
Bastian Kramer rätselte noch lange, wer ihm da wohl zuvorgekommen war.
––––––––
ENDE