Читать книгу Wundersame Weihnacht - Das Wispern der Bücher - Kerstin Peschel - Страница 5
Ein Weltreich in einem Cognac-Schwenker
Оглавлениеvon Lion Obra
––––––––
Ich hielt die Fernbedienung in der Hand. Unruhig. Im raschen Wechsel schaltete ich zwischen einer Doku über den Bau der Pyramiden von Gizeh, die gerade auf ARTE lief, und einer restaurierten Ausgabe der Tagesschau von vor zwanzig Jahren auf ARD-alpha hin und her. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn ich träumte, ich wäre mit dem Philosophenkaiser Hadrian Anfang des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts im Isis-Tempel auf einer Insel im Nil bei Assuan gewesen. Fackeln und magische Lichter einer Prozession erhellten die Nacht. Gespenster und Zauberwesen tanzten ekstatisch um ihren Tempel. Dieser Rausch ergriff auch mich. Und es fühlte sich an, als wäre ich wirklich dort gewesen. Im Traum tat ich mich mit einem netten Jungen aus dem Gefolge des Kaisers zusammen. Er hieß Antonius und seine Pflichten bestanden darin, sich um den Bart und die Haartracht Hadrians zu kümmern, als kaiserlicher Frisör sozusagen. Ich reiste mit ihm von der Insel im Nil weiter zu den Pyramiden. Diese erhoben sich vor unseren Augen noch in ihrer vollständigen Gestalt aus dem Wüstensand: bis hinauf mit riesigen polierten Platten verkleidet und über und über mit Hieroglyphen bedeckt. Die polierten Platten brachten diese gewaltigen Bauwerke zum Leuchten, gerade so, als würden sie in Flammen stehen. Verschiedene Steinarten erzeugten unterschiedlich farbige Streifen von Hellrot über Schwarz bis Grün. Und die Spitze selbst gleißte vor lauter Gold vor dem azurnen Himmel. Ob die Israeliten diesen Jubelgruß der Pyramiden an die goldene Sonne auch gesehen haben, als sie Sklavendienste für den Pharao leisten mussten?
Auf einmal erblickte ich meinen Frisörfreund Antonius, der mir all die Herrlichkeiten gezeigt hatte. Er war plötzlich gealtert, erwachsen geworden. Die muskulösen Arme, der athletische Körperbau überraschten mich. Ich staunte über den Backenbart, der sein breites Grinsen betonte. Seine Augen blickten so verschmitzt wie stets, aber sein Gesicht strahlte jetzt die Klugheit eines reifen Mannes aus. Auf dem Namensschildchen an seinem Revers stand unter dem Namen Anton Heinrich die Bezeichnung Religionswissenschaftler. Er saß in einem Raum, wie ich ihn noch nie betreten hatte. Wo mochte ich sein? Im Herrensalon eines Königsschlosses? In der Bibliothek einer altehrwürdigen Abtei? Hatte hier jemand eine Wasserpfeife in Brand gesteckt? Rauchschwaden zogen an den dunkelroten Vorhängen entlang, um sich an den Zimmerpalmen, die in jeder Ecke des Raumes zu zweien oder dreien zusammenstanden, zu verwirbeln und zu vermengen. Das edle Parkett aus Räuchereiche war mir vertraut. Ich hatte es in der Pinakothek der Moderne gesehen, wo ich zuletzt von Caspar David Friedrich das Motiv der Kirchenruine im Wald betrachtet hatte.
Dieser Raum war seltsam. In einem Mönchskloster würde man dieses Ambiente jedenfalls schwerlich finden. Das wurde mir jetzt klar. Vielleicht war es der Salon einer vornehmen Gesellschaft? War ich in eine Geschichte Chestertons geraten und befand mich im Hinterzimmer seines geheimnisvollen Clubs? Ein halbes Dutzend runder Biedermeiertischchen stand da, adventlich dekoriert und mit goldenen Schälchen voller Weihnachtsplätzchen versehen. Inmitten auf jedem der Tische ein üppiger Weihnachtsstern, darum herum gruppierten sich sternförmige Teelichthalter und zu Weihnachtsdörfern zusammengestellte Lichthäuser. Ausgerechnet in dieser Umgebung entdeckte ich meinen Freund aus Ägypten. Er hatte es sich in einem voluminösen lederüberzogenen Ohrensessel bequem gemacht, der wie die mit Stoff bespannten Wände des Clubraums in sandfarbenem Braun gehalten war.
Meinem Freund gegenüber saß ein vornehmer Herr, der mich an Sir Arthur Conan Doyle erinnerte. Er spielte mit den Kettengliedern seiner goldenen Taschenuhr. Offensichtlich eine kostbare Antiquität. Der maßgeschneiderte hellelfenbeinfarbene Anzug entstammte jedoch eindeutig einer Schneiderei des 21. Jahrhunderts. Der Mann sog genussvoll an einer Brasil. Gedankenverloren. Entspannt studierte er die Schichtung der Holzscheite in dem knisternden Kaminfeuer. Rauch stieg von der Spitze seiner Zigarre auf, deren Asche sich bald selbstständig machen und das Parkett um helle Sprengsel bereichern würde. Nachdenkliches Schweigen lag über der Sitzgruppe, wo die beiden Herren saßen. Wie zwei imposante Zweimastschoner, die schon so manchen Sturm durchsegelt hatten, lagen sie nun vor Anker, still und bewegungslos. Scheinbar zur Ruhe gekommen.
Der vornehme Herr mit der Zigarre räusperte sich. Ich umrundete die beiden, um auch sein Namensschild lesen zu können. Es lautete auf Professor Dr. Linus Hauser, Theologe und Kulturtheoretiker. Er sagte gerade: »Das erinnert mich an einen Spruch von Clive Staples Lewis: ›Wenn die Richtigen das Falsche tun, dann werden die Falschen das Richtige tun‹.«
Anton Heinrich zuckte leicht mit den Fingern, hatte offensichtlich eine Entgegnung auf den Lippen. Aber er ließ sich Zeit und stierte mit Buddha-Blick vor sich hin. Unbeweglich, als bräuchte es mehr als C. S. Lewis, bis sich der Berg bewegte. Schließlich richtete er sich auf. »Klingt mir reichlich kryptisch. Ich weiß nicht, Linus, ob sich das so sagen lässt.«
Der Angesprochene legte den Kopf schief. »Nun, mein lieber Anton, eigentlich sehe ich das ganz klar. Wenn man das Alte Testament zur Hand nimmt, fällt einem sofort ins Auge, dass sich Jahwe eine bestimmte Gruppe von Menschen speziell ausgesucht hat. Das auserwählte Volk. Auserwählt, seinen Willen zu tun. Nur leider taten sie selten seinen Willen. Vielmehr brachten sie seine Propheten um die Ecke, wenn ich das mal so salopp ausdrücken darf. Sie waren die Richtigen, weil sie von Gott erwählt waren. Aber dummerweise taten sie stets das Falsche. So meinte Lewis das wohl.«
Ich wunderte mich ein wenig darüber, dass die beiden mich nicht wahrnahmen, denn ich stand praktisch zwischen ihnen. Hinter mir staksten livrierte Diener mit Tabletts durch den Raum. Sie boten den Herren in den Ledersesseln Cognac in Schwenkgläsern, die so groß waren wie Wassermelonen. Kurzerhand setzte ich mich zwischen zwei Palmen auf den Boden, wo niemand auf mich treten konnte. Von hier aus überblickte ich alles und hörte genau, was die beiden redeten.
Sie prosteten sich zu und taten sich an der bernsteinfarbenen Flüssigkeit gütlich. »Nun gut.« Anton Heinrich stellte seinen Cognacschwenker auf das Biedermeiertischchen und schlug die Beine übereinander. »Und weiter, Linus. Wer sind denn die anderen, die an Stelle des auserwählten Volkes das Richtige tun? Darauf spielt das Zitat ja wohl an.«
»Das ist nicht schwer zu sagen. Als sie selbst den Sohn ihres Gottes nicht erkannten, sondern am Kreuz sehen wollten, entstand eine neue Gruppe: die Christen. Allerdings gewannen diese eine völlig andere philosophische Grundlage. Ihre Weltsicht basierte auf Aristoteles und Platon. Und mit diesem Rüstzeug versuchten nun die Christen, den Willen Jahwes zu erfüllen. Ohne Zweifel war diese Absicht gut und richtig. Bloß waren es die falschen Leute, die plötzlich aktiv wurden. Weil also das auserwählte Volk nicht das Richtige tat, mussten es die Falschen tun. Denn der Wille des Herrn ist nicht zu stoppen.«
»Könnte das bedeuten«, Anton Heinrich stockte, »wenn die Hebräer, wenn das auserwählte Volk, den Willen Gottes getan hätte, würde es die Christen gar nicht geben?«
»Wer weiß?« Linus Hauser blies eine dicke Rauchwolke aus. Und ich, ich sah ihm dabei mit Vergnügen zu. Als Kind hatte ich mir manchmal vorgestellt, meine Abende in so einem Club zu verbringen. Ich hatte mir ausgemalt, dass Tolkien und Lewis, vielleicht zusammen mit Chesterton und Williams in einer solchen Runde zusammengesessen haben mussten und über ihre Werke diskutiert hatten. Und ich mitten darin. Gut möglich, dass bei einem solchen Abend die Ideen zu Tolkiens Herr der Ringe oder zur Perelandra-Trilogie von Lewis geboren wurden. »Wenn du unsere Gläser noch einmal mit diesem milden Weinbrand füllen lässt, erzähle ich dir eine Geschichte.«
»Dazu müsste ich ja aufstehen und an die Bar gehen.« Anton Heinrich lachte boshaft. »Ein relativ großer Aufwand, wenn man bedenkt, dass ich gar keinen Anhaltspunkt dafür habe, ob die Geschichte auch wirklich gut ist.«
Linus Hauser schmunzelte. »Ich verspreche dir, die Geschichte wird dich interessieren.«
»Hm.« Anton lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und machte keinerlei Anstalten, für Nachschub zu sorgen.
»Na gut. Ich gebe dir einen kleinen Vorgeschmack und erzähle, wie ich auf die Geschichte gestoßen bin. Als ich als Chairman der Gesellschaft für Christlich-Ezidische Zusammenarbeit fungierte, ergab sich eine Reise in den Norden des Iraks. Wir besuchten unter anderem die Heilige Stadt Lalisch.«
»Dorthin hast du dich gewagt?«
Professor Hauser winkte ab. »Wir wurden von schwerbewaffneten Eskorten begleitet. Uns ging es bei der Unternehmung um das Treffen mit dem weltlich-religiösen Oberhaupt der Eziden. Und dort wurde ich völlig überraschend mit dem Thema der Himmelsreise konfrontiert. Na, Anton, interessiert dich das?«
»Himmelsreise sagtest du?« Anton Heinrich trommelte mit den Fingern auf die Armlehne des Sessels.
Professor Hauser nickte. »Bist du mit dem Thema vertraut?«
Der Angesprochene beugte sich vor. »Aber ja. Schließlich bin ich Religionswissenschaftler. Himmelsreise-Erzählungen gibt es in vielen Kulturen. Wenn etwas wirklich ungenügend erforscht ist, dann das.«
»Ich bin da einer Sache auf der Spur, die ist ... ungewöhnlich. Bekomme ich jetzt den Weinbrand?«
Anstelle einer Antwort erhob Heinrich sich und ging an die Bar. Mit zwei großzügig gefüllten Cognac-Schwenkern kehrte er zurück und reichte Linus Hauser eines der Gläser. »Erzähl mir davon. Was hast du entdeckt?«
»Gern. Auf dein Wohl!« Professor Linus Hauser nippte an dem teuren Getränk, lehnte sich zurück und begann, das Glas mit dem Weinbrand in seiner Handfläche zu wärmen.
Dann erzählte er seine Geschichte: »Dir ist bestimmt bekannt, dass die älteste Darstellung einer Himmelsreise aus dem fünften Jahrhundert vor Christus stammt. Man findet sie bei Parmenides von Elea. Darin geht es um die Reise eines Wahrheitssuchenden, der von den Gehilfinnen des Sonnengottes in die Region der Götter entführt wird und von seiner Muse Aufschluss über die Grundlagen der Metaphysik erhält.«
Ich horchte auf, denn im Grunde war mir in meinem Traum nichts anderes widerfahren. Von Ägypten in einen edlen Club? Wie sollte das vonstattengehen, wenn nicht schlafend in Morpheus Armen? Dabei war das bärtige Haupt Kaiser Hadrians so lebendig, so präsent gewesen ... Vielleicht hatte ich ja selbst eine Himmelsreise erlebt und erlebte sie noch? Oder aber, ich war immer noch in diesem Traum gefangen. Aber wie könnte ich dessen sicher sein?
Professor Hauser hatte schon weitergesprochen: »Verallgemeinernd könnte man sagen, dass Himmelsreisen dazu dienen, umfassende Orientierung zu finden, denn sie zeigen die Welt von oben, also im Überblick. Aber nicht nur das. Sie sind manchmal auch Zeitreisen, wenn sie einen Blick auf den ersten Anfang und das letzte Ende ermöglichen.«
Der Religionswissenschaftler Anton Heinrich lachte. »Du dozierst ja, lieber Linus. Das lässt sich auch ganz einfach sagen: Nach einer Himmelsreise weiß man, wie es mit dem Menschen, dem Universum und dem ganzen lausigen Rest gemeint war.«
Linus Hauser konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, sog mit Genuss an seiner Zigarre und fuhr fort: »Bei meiner Reise in den Nord-Irak, steckte mir ein Teilnehmer der Delegation beim Oberhaupt der Eziden etwas zu.«
»Was denn?«
»Ein Zettelchen. Klein und in merkwürdigem Englisch bekritzelt. Es war eine Einladung. Offenbar wusste der anonyme Absender über unseren Reiseplan bestens Bescheid. Denn dort stand, ich sollte mich am morgigen Mittag zum Coptan Café beim Azadi Park begeben. Der Unbekannte war über unsere Termine informiert. Den nächsten Tag wollten wir nämlich in der Stadt Dohuk verbringen. Und der Azadi Park liegt mitten in Dohuk.«
»Und wer war der anonyme Gastgeber?«
»Keine Ahnung, ich bin nicht hingegangen. Das Sicherheitspersonal unserer Eskorte hat dringend davon abgeraten. Außerdem hatten wir ohnehin einen Termin mit einem hochrangigen Vertreter der Autonomen Region Kurdistan.«
»Dann war das schon alles?«
»Aber nein. Abends im Hotel in Dohuk klopfte der Zimmerservice an unsere Tür und brachte ein Tablett mit frischen Früchten und Saft. Versteckt unter einem sorgsam gefalteten Deckchen neben dem Obst fand ich ein Kuvert mit einem Stapel kopierter Blätter.«
Anton Heinrich verknotete seine Finger ineinander. »Und?«
»Auf den Kopien war die Erzählung einer Himmelsreise des Propheten Mohammad abgedruckt. Aus unbekannter Quelle. Höchstwahrscheinlich noch nirgends veröffentlicht. Jedenfalls ist mir noch keine Belegstelle dafür untergekommen.«
»Das ist doch nicht dein Ernst?«
»Du hast dich nicht verhört, verehrter Anton. Meines Wissens nach ist sie noch nie im Westen gedruckt worden. Brandneu entdeckt sozusagen. Oder absichtlich lange Zeit im Verborgenen gehalten, bis sie schließlich vergessen wurde.«
»Erstaunlich. Linus, das ist wirklich erstaunlich. Und wird sie von dir nun ediert oder im Rahmen eines Aufsatzes erscheinen?«
»Nein, sie wird überhaupt nicht veröffentlicht.«
Anton Heinrich schluckte. »Das ist nicht dein Ernst?«
»Doch.«
»Aber wieso? Das ist doch eine einmalige Sache. Gerade so, als hätte man einen vergessenen Paulusbrief entdeckt.«
»Ja, das stimmt. Die Bedeutung ist immens. Aber dennoch kann ich den Text nicht veröffentlichen.«
»Linus, ich verstehe das nicht.«
»Warte, bis du die Erzählung von der Himmelsreise gehört hast. Dann wird dir alles klar.« Er lehnte sich zurück. »Vielleicht gelingt es mir, mich beim Sprechen in den eigentümlichen Stil des Textes hineinzuversetzen. Sieh es mir bitte nach, wenn es nicht gleich funktioniert. Aber ich werde mich bemühen. Also: Es begann an einem Abend, als sich Mohammad schlafengelegt hatte. Da kamen Gabriel und eine Schar Engel zu ihm, legten ihn auf den Rücken, öffneten seinen Körper und wuschen mit einem besonderen Wasser alles fort, was sie in ihm fanden an Zweifel, Götzenverehrung, Heidentum und Irrtum. Anschließend brachten sie ein goldenes Gefäß, gefüllt mit Weisheit und Glauben. Und Mohammads Körper wurde gefüllt mit Weisheit und Glauben. Als die Engel seinen Leib wieder geschlossen hatten, richtete Mohammad sich auf und pries den Herrn. Etwa so: ›Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen. Preis ihm, der bei Nacht seinen Diener heimsucht, der ihm die Augen öffnet, ihn sehend macht.‹«
Linus Hauser nahm einen Schluck aus seinem Glas. Anton dagegen schien vergessen zu haben, dass er ebenfalls einen Schwenker, gefüllt mit teurem Weinbrand, in der Hand hielt. Er saß da wie gebannt und hörte zu.
»Darauf ergriffen die Engel Mohammad und trugen ihn zu einem Buraq. Dieser Buraq war etwas kleiner als ein Maultier, aber doch größer als ein Esel. An seinen Flanken blähten sich gewaltige Schwingen. Mohammad saß auf und flog auf dem Rücken des Buraq mit Gabriel nach Jerusalem. Unterwegs stießen sie sowohl auf gute als auch auf niederträchtige Mächte. Sie besuchten Hebron und Betlehem und trafen in Jerusalem Abraham, Moses und viele weitere Propheten. Mohammad hob an und pries den Herrn. Dieser Lobpreis wiederholt sich so oft in dem Text, dass ich ihn inzwischen praktisch wörtlich wiedergeben kann: ›Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen. Preis ihm, der bei Nacht seinen Diener hinwegführte auf einem Buraq nach Jerusalem, auf dass wir ihm einige unserer Zeichen zeigen. Wahrlich, er ist der Allhörende, der Allsehende.‹«
Anton Heinrich nickte. »Du machst das ausgezeichnet. Der Duktus erinnert an Quellen, die einen ähnlichen Hintergrund haben. Fahr doch bitte fort.«
»Schließlich wurde Mohammad von Gabriel zum untersten Himmel geführt. Da öffnete sich ein Tor und sie begannen, dadurch hinaufzusteigen. Am Tor eines jeden der sieben Himmel, durch die er mit dem Engel wanderte, wurde Gabriel nach seinem Namen und dem von seinem Begleiter gefragt. Nachdem ihn der Engel zu Gott selber geleitet hatte, erfuhr Mohammad den Grund für seine nächtliche Reise, die mit dem Ritt auf dem vierfüßigen, geflügelten Buraq begann, und pries wiederum den Herrn: ›Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen. Preis ihm, der bei Nacht seinen Diener zu sich rief, ihm Weisheit und Glauben schenkte.‹ Darauf wurde ein Buch aufgeschlagen. Es war überschrieben mit: Das dritte Buch der Chronik. Mohammad las die erste Zeile. ›Davids Salbung zum König‹. Darunter stand der Text: ›Ganz Israel versammelte sich bei David in Hebron und, sagte der Herr, dein Gott hat zu dir gesagt, du sollst der Hirt meines Volkes Israel sein, du sollst der Fürst meines Volkes Israel werden. Sie salbten David zum König von Israel.‹ Über dem nächsten Abschnitt in dem Buch stand die Zeile: ›Die Eroberung Jerusalems‹. Der Abschnitt selbst lautet so: ›David zog mit ganz Israel nach Jerusalem. Dort saßen noch die Jebusiter, die damals im Land wohnten. Die Jebusiter aber sagten zu David, du wirst nicht in die Stadt hineinkommen. Doch David eroberte die Burg Zion. Sie wurde die Stadt Davids. David ließ sich in der Burg nieder, und daher nannte man sie Davidstadt. David nahm sich Frauen in Jerusalem und zeugte noch Söhne und Töchter.‹ Die Namen der Söhne und Töchter, die ihm in Jerusalem geboren wurden, sind in dem Buch ganz akribisch verzeichnet. Sie lauten: Schima, Schobab, Natan, Salomo, Jibhar, Elischua, Elpelet, Nogah, Nefeg, Jafia, Elischama, Beeljada und Elifelet. Mohammad las in dem Buch viele Abschnitte. Doch nur die wichtigsten sind in der Erzählung von seiner Himmelsreise an der Seite Gabriels niedergeschrieben.«
Der Professor nahm einen Schluck aus seinem Glas. Er schien mit der Temperatur der edlen Flüssigkeit zufrieden. Mit einem Blick auf Heinrich versicherte er sich dessen Aufmerksamkeit und fuhr fort: »Ich werde die Inhalte der einzelnen Abschnitte ein wenig zusammenfassen, aber bestimmt nichts Wichtiges auslassen. Also weiter: Die Philister hörten, dass David zum König von ganz Israel gesalbt worden war. Da zogen sie hinauf, um David gefangen zu nehmen. Als die Philister herankamen, befragte David Gott: ›Soll ich die Philister angreifen? Wirst du sie in meine Hand geben?‹ Der Herr antwortete ihm: ›Greif sie an. Ich will sie in deine Hand geben.‹ David tat, was Gott ihm befohlen hatte, und er schlug das Heer der Philister im ganzen Gebiet. So drang der Ruhm Davids in alle Länder, und der Herr legte Furcht vor ihm auf alle Völker.
Dann ging es um die Bundeslade in der Stadt Davids: David baute sich Häuser in der Davidstadt. Er richtete auch eine Stätte für die Lade Gottes her und stellte ein Zelt für sie auf. Man trug die Lade an ihren Platz in der Mitte des Zeltes und brachte Brandopfer vor Gott dar. Als David mit dem Darbringen der Opfer fertig war, segnete er das Volk im Namen des Herrn und ließ an alle Israeliten je einen Laib Brot, einen Dattelkuchen und einen Traubenkuchen austeilen. David bestellte für den Dienst vor der Lade des Herrn Leviten, die den Herrn, den Gott Israels, rühmen, loben und preisen sollten.
Nun der Feldzug gegen die Ammoniter: Um die Jahreswende, zu der Zeit, in der die Könige in den Krieg ziehen, führte David die Streitmacht in das Feld und verwüstete das Land der Ammoniter. Er eroberte Rabba und zerstörte es. David nahm dem König der Ammoniter die Krone vom Haupt. Er stellte fest, dass ihr Gewicht ein Talent Gold betrug. An ihr war auch ein kostbarer Stein. Sie wurde nun Davids Krone. Und er schaffte eine sehr große Beute aus der Stadt fort. Dann kehrte David mit dem ganzen Heer nach Jerusalem zurück. David wurde immer mächtiger, und der Herr der Heere war mit ihm. David regierte in Israel vierzig Jahre. Er starb in hohem Alter, satt an Tagen, Reichtum und Ehre. Sein Sohn Salomo wurde König an seiner Stelle. Die frühere und die spätere Geschichte des Königs David ist aufgezeichnet in der Geschichte des Sehers Samuel, in der Geschichte des Propheten Natan und in der Geschichte des Sehers Gad. Sie berichten von seiner ganzen Regierung, seiner Machtentfaltung und von den Zeiten, die über ihn, über Israel und alle Reiche der Länder hinweggegangen sind.«
»Du erzählst so wunderbar, mein verehrter Linus, dass ich dir stundenlang zuhören möchte. Aber ich fürchte, so viel Zeit haben wir heute Abend nicht. Außerdem ist das ja, man verzeihe mir die Bemerkung, nichts anderes als die altbekannte Geschichte des auserwählten Volkes ...«
»Geduld, Geduld, lieber Anton. Jetzt kommt die Geschichte von Salomo und dem Tempelbau. Salomo beschloss, einen Tempel für den Namen des Herrn und eine königliche Residenz für sich bereitmachen zu lassen. Salomo begann, das Haus des Herrn in Jerusalem auf dem Berg Morija zu bauen, wo der Herr seinem Vater David erschienen war, an der Stätte, die David bestimmt hatte. Er begann die Errichtung des Tempels im zweiten Monat, im vierten Jahr seiner Regierung. Nach Ablauf von zwanzig Jahren, in denen Salomo das Haus des Herrn und seinen Palast errichtet hatte, baute er auch die Städte, die Hiram ihm gegeben hatte, und siedelte Israeliten darin an. Jetzt folgen noch Salomos Herrlichkeit und sein Tod: Die Königin von Saba hörte vom Ruf Salomos und kam mit sehr großem Gefolge, mit Kamelen, die Balsam, eine Menge Gold und Edelsteine trugen, nach Jerusalem. Als nun die Königin von Saba die Weisheit Salomos erkannte, als sie den Palast sah, den er gebaut hatte, die Speisen auf seiner Tafel und sein Opfer, das er im Haus des Herrn darbrachte, da stockte ihr der Atem. Sie sagte zum König: ›Gepriesen sei Jahwe, dein Gott. Er hat an dir Gefallen gefunden und dich auf seinen Thron gesetzt, damit du Recht und Gerechtigkeit übst und so König bist für Jahwe, deinen Gott. Wenn du in Treue zu ihm stehst, ihm in allem gehorchst und seinen Willen erfüllst, wird dein Gott dich und dein Haus groß machen. Deine Nachkommen werden herrschen bis an die Enden der Erde.‹ Bis an die Enden der Erde.«
Anton Heinrich räusperte sich geräuschvoll.
Linus Hauser blickte auf. Er hatte zu der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in seinem Glas gesprochen, als wäre sie der Ozean, bis zu dessen Küsten die Herrschaft der Nachkommen Salomos reichen sollte. Ich zwang mich zur Aufmerksamkeit. Wohin führte das alles? Was hatte die Königin von Saba da zu Salomo gesagt? Konnte sich das vielleicht wirklich so verhalten, dass Jahwe diejenigen groß macht, die in Treue zu ihm stehen, ihm gehorchen und in allem seinen Willen tun?
Obwohl ich äußerst unbequem auf dem Parkettboden hockte, fühlte ich keinen Schmerz. Das überraschte mich. Denn meine Beine rebellierten eigentlich immer, wenn ich sie nicht hin und wieder ausstreckte oder wenigstens meine Position veränderte.
Jetzt hatte ich verpasst, wie die Erzählung weitergegangen war. Professor Hauser war mit der Schilderung bereits fortgefahren: »... die übrige Geschichte Salomos ist in den Weissagungen Ahijas aus Schilo und in der Vision des Sehers Jedo über Jerobeam, den Sohn Nebats aufgezeichnet. Salomo war vierzig Jahre in Jerusalem König über ganz Israel. Er entschlief zu seinen Vätern, und man begrub ihn in der Stadt seines Vaters David. Sein Sohn Rehabeam wurde König an seiner Stelle. Auf Rehabeam folgte dessen Sohn Abija, dann dessen Sohn Asa, und wiederum dessen Sohn Joschafat, dann dessen Sohn Joram. Und unter Joram ereigneten sich Gottlosigkeit und Unheil:
Joram, der alle seine Brüder und auch einige führende Männer Israels mit dem Schwert hinrichten ließ, war zweiunddreißig Jahre alt, als er König wurde. Er regierte acht Jahre in Jerusalem. Joram heiratete Atalja, die Tochter des gottlosen Ahab, der für Baal einen Tempel gebaut hatte. In diesen Tagen fiel Edom von Joram ab und setzte einen eigenen König ein. Joram zog daher mit seinen Obersten und allen Kriegswagen gegen sie. Während der Nacht griff er an und schlug die Edomiter, die ihn und die Obersten der Kriegswagen umzingelt hatten. Nach der Rückkehr vom Sieg über die Edomiter stellte Joram ihre Götter, die er mitgebracht hatte, als Götter für sich auf, fiel vor ihnen nieder und brachte ihnen Opfer dar. Auch errichtete er Kulthöhen, auf den Bergen Judas und verführte die Einwohner Jerusalems zur Untreue und zum Abfall von Jahwe, dem Gott ihrer Väter. Die Granatäpfel, die Salomo an kettenförmigen Bändern am Tempel hatte anbringen lassen, entehrte Joram, indem er sie für den Baalskult gab. Auch ließ er Gussbilder für die Baale anfertigen und opferte im Tal Ben-Hinnom und ahmte so die Gräuel der Völker nach, die der Herr vor den Augen der Israeliten vertrieben hatte. Natürlich konnte das nicht gut gehen. Es folgte der Untergang Jorams:
Der Herr reizte nun den Wagemut der Philister und der Araber, die neben den Kuschitern wohnten, gegen Joram auf. Sie zogen gegen Juda, überfielen das Land und nahmen ihren ganzen Besitz hinweg, der sich im Palast des Königs fand. Die Mauer der Davidstadt rissen sie vom Efraimtor bis zum Ecktor auf einer Strecke von vierhundert Ellen nieder. Und Joram zahlte an die Philister Tribut. Nach all dem schlug der Herr den Joram mit einer unheilbaren Krankheit in den Eingeweiden. Nach Jahr und Tag fielen in Folge der Krankheit seine Eingeweide heraus und er starb unter großen Schmerzen. Das Volk zündete zu seiner Ehre kein Feuer an, wie das bei seinen Vätern geschehen war. Man begrub ihn in Jerusalem, aber nicht in den Gräbern der Könige.
Der nächste Abschnitt behandelt die Reue und den Aufstieg Ahasjas: Die Einwohner Jerusalems machten nun seinen jüngsten Sohn Ahasja zum König an seiner Stelle. Auf den Rat des Propheten Elija gab er seine Mutter Atalja, eine Enkelin Omris, unter das Schwert, denn Atalja wollte ihn zum Bösen verführen. Ahasja ließ die Götter der Edomiter, die sein Vater ins Land gebracht hatte, zerschlagen und im Kidrontal verbrennen. Die Baal-Tempel zerstörte er und die Baal-Priester ließ er töten. Die Kulthöhen auf den Bergen Judas aber tastete er nicht an.«
»Warum?«
»Wie bitte?«
»Ich meine«, Heinrich hob die Hände wie zu einer Beschwörung. »Ich meine, warum er alles, was in der Nähe des Tempels an Baal erinnerte, zerstören ließ, die Kulthöhen aber nicht?«
Professor Hauser schob die Schälchen mit den Florentinern und den Kokosmakronen auf der polierten Oberfläche des Tischchens zur Seite, um Platz für seinen Schwenker zu schaffen. Dann zündete er sich die erloschene Zigarre wieder an.
»Nun, die Sache mit den Kulthöhen auf den Bergen Judas ist verzwickt. Nicht so einfach zu klären. Ich hätte da schon eine Theorie. Aber lass die Sache noch ein wenig gären. Ich schicke dir bei Gelegenheit einen Aufsatz dazu, wenn ich ihn finde.«
Anton Heinrich nickte und griff sich eines der Nougatplätzchen, die neben der Poinsettie platziert waren.
»Jetzt aber zurück zu Ahasja. Der Herr sah mit Wohlgefallen auf ihn. Der Herr gewährte Ahasja den Sieg über die Araber, die neben den Kuschitern wohnten. Er vertrieb die Philister aus Juda und stellte die Mauern Jerusalems wieder her. Da er aber auf den Kulthöhen und Hügeln und unter jedem üppigen Baum Schlacht- und Rauchopfer darbrachte, strafte ihn der Herr mit dem Aussatz, sodass er in einem abgesonderten Haus wohnen musste, während sein Sohn Joasch das Land regierte. Der Herr kämpfte an der Seite des Joasch ...«
»Moment bitte«, Heinrich hob die Hand. »Das ist alles irgendwie ... irgendwie, wie soll ich sagen? Das ist doch falsch. Das stimmt doch nicht!«
Linus Hauser lehnte sich zurück und sog vorsichtig an seiner Zigarre, um sie nicht zu heiß werden zu lassen. Er blickte Heinrich nicht an, schien auf etwas zu warten.
Anton Heinrich wiegte den Kopf. Seine Stimme war plötzlich ganz leise, fast ein Flüstern. »Das soll der Text sein, der dir im Norden des Irak zugesteckt wurde? Das ist ja kaum zu glauben.«
»Findest du? Ich versichere dir, dass ich die Geschichte nicht erfunden habe.«
»Aber jemand hat doch etwas gedreht. Es stimmt ganz einfach nicht, dass der junge König seine Mutter umbringen ließ. Ganz in Gegenteil. Er ist der Sünde seiner Eltern gefolgt und hat den Baalskult gefördert, nicht abgeschafft.«
»Hm.« Hauser schien zu lächeln. »Dann gibt es hier wohl einen Widerspruch.«
»Und ob. Und zwar zur Geschichtsschreibung wie sie den Gelehrten bisher geläufig war.«
»Na, na.« Jetzt ließ der Professor seine Zähne blitzen. »Sagen wir doch einfach, dass die Konstruktion der Geschichte, der wir gewohnt sind hinterherzulaufen, nicht mit dieser Quelle in Deckung gebracht werden kann.«
»Allerdings.« Heinrich schnaufte. Er griff sich zwei Vanillekipferl. »Wie ging es denn mit Joasch in diesem Text weiter? Ich finde das alles einfach unglaublich. Unglaublich.«
»Joasch war sieben Jahre alt, als er König wurde, und regierte vierzig Jahre in Jerusalem. Seine Mutter hieß Zibja und stammte aus Beerscheba. Joasch tat, was dem Herrn gefiel. Er gab die Kulthöhen auf und fasste den Entschluss, das Haus des Herrn zu erneuern. Er ordnete an: Nur vor einem einzigen Altar darf sich das Volk niederwerfen und auf ihm Opfer für den Herrn anzünden. Den Priestern und Leviten trug er auf, in die Städte Judas zu gehen, Geld zu sammeln und Jahr für Jahr Ausbesserungen am Tempel vorzunehmen. Als nun die Philister erneut im Tal der Rafaiter umherstreiften, befragte Joasch Gott und Gott antwortete ihm: ›Zieh nicht hinter ihnen her, sondern umgeh sie und komm von den Baka-Bäumen her an sie heran. Wenn du dann in den Wipfeln der Baka-Bäume ein Geräusch wie von Schritten hörst, dann rück zum Kampf aus, denn Gott geht vor dir her, um das Heer der Philister zu schlagen.’ Joasch tat, was Gott ihm befohlen hatte, und er schlug das Heer der Philister im ganzen Gebiet. Bald darauf errang er auch den Sieg über die Araber, die bei Gur-Baal wohnten, und über die Meuniter. Joasch dehnte bis zum vierzigsten Jahr seiner Regierung seine Herrschaft bis nach Ägypten und bis zum Euphrat hin aus.
Nachfolger des Joasch war sein Sohn Amazja. Er wurde König im Alter von fünfundzwanzig Jahren und regierte dreißig Jahre in Jerusalem. Er tat, was dem Herrn gefiel. Mit ungeteiltem Herzen diente er dem Herrn. Amazja versammelte die zwölf Stämme und stellte sie nach Großfamilien unter den Führern der Tausend- und Hundertschaften auf. Er ließ alle, die zwanzig Jahre und darüber waren, mustern. Ihre Zählung ergab achthunderttausend auserlesene, wehrfähige Männer, die Lanze und Schild tragen konnten. Sie führte er gegen Assur. Der Herr ließ Feuer auf Assur regnen, sodass Amazja die Stadt kampflos einnehmen konnte. In Ninive machte er reiche Beute. Er erschlug an einem Tag einhundertzwanzigtausend Mann, lauter tapfere Krieger. Assyrien wurde mit allen seinen Provinzen dem Amazja, Sohn des Joasch, tributpflichtig.
Jedes Jahr brachten sie dreitausend Talente Gold vom Ofirgold, zehntausend Golddariken und siebentausend Talente geläutertes Silber, achtzehntausend Talente Bronze, hunderttausend Talente Eisen, wertvolles Algummimholz und Edelsteine, Elfenbein, Affen und Perlhühner nach Jerusalem. Nach dem Sieg schlachtete Amazja dem Herrn sieben Rinder. Die Priester fingen das Blut auf und sprengten es an den Altar. Dann schlachteten sie dem Herrn sieben Lämmer und sprengten das Blut an den Altar. Zuletzt schlachteten die Priester die Ziegenböcke für das Sündopfer, um für ganz Israel Sühne zu erwirken. Amazja stellte die Leviten mit Zimbeln, Harfen und Zithern im Haus des Herrn auf, wie es die Anordnung Davids, des königlichen Sehers Gad und des Propheten Natan entsprach. Als Amazja starb, legte man ihn in die Gräber der Könige. Das Volk zündete zu seiner Ehre ein großes Feuer an. Denn er hatte getan, was dem Herrn gefiel.«
Anton Heinrich schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein. Das ist auch wieder falsch. Es stimmt nicht. Weder tat Amazja, was dem Herrn gefiel, noch diente er ihm mit ungeteiltem Herzen. Ich habe die Geschichte ganz anders in Erinnerung. Amazja zog in den Krieg gegen die Edomiter, erbeutete Götterbilder, die ihm gefielen. Er kniete vor ihnen nieder und betete sie an, brachte ihnen Opfer dar.« Heinrich redete sich in Rage. »Ich erinnere mich genau. Nach einem Prophetenspruch verließ Amazja das Glück. Er verlor alles, was er hatte und wurde schließlich bei Lachisch erschlagen. Dass man ihn nicht verscharrte wie einen Hund, kann einen nur wundern. Und außerdem: Amazja hatte Assur niemals eingenommen. Assur war eine Großmacht, es hätte wirklich der Allmacht Gottes bedurft, um dieses Reich zu Fall zu bringen.«
»Mein lieber Anton, ich halte mich streng an meine Quelle«, entgegnete der Professor. »Was könnte ich anderes tun? Also weiter:
Dann kam Usija. Das ganze Volk folgte Usija, der damals sechzehn Jahre alt war und machte ihn zum König. Er baute Elat aus und begann bald einen Feldzug gegen Ägypten. Usija war sechzehn Jahre alt, als er König wurde, und er regierte zweiundfünfzig Jahre in Jerusalem. Seine Mutter hieß Jecholja und stammte aus Jerusalem. Genau wie sein Vater Amazja tat Usija, was dem Herrn gefiel. Er war bestrebt, Gott zu suchen, und solange er den Herrn suchte, ließ Gott ihn erfolgreich sein. Der Herr sandte den Geist der Zwietracht zwischen Bubastis und Theben, und brachte die Ägypter auf diese Weise gegeneinander auf. Usija zog mit seinen zweihunderttausend Mann bis Memphis. Dort traf er auf das Heer der Ägypter, Streitwagen und Reiter. Usija versammelte um sich seine Krieger und sprach: ›Seid mutig und tapfer. Fürchtet euch nicht und erschreckt nicht vor dem Pharao und dem großen Heer, das bei ihm ist. Denn bei uns ist mehr als bei ihm. Bei ihm sind Arme aus Fleisch, bei uns aber ist der Herr, unser Gott, der uns hilft und unsere Kriege führt.‹«
Linus Hauser machte eine Pause. Er schien auf eine Widerrede zu warten. Da Heinrich aber schwieg, fuhr er fort: »Und Usija rief zum Herrn, seinem Gott: ›Hilf uns, Herr unser Gott, denn du bist unsere Stütze. In deinem Namen sind wir gegen diese Übermacht gezogen. Herr, du bist unser Gott, und kein Mensch soll etwas gegen dich vermögen.‹ Da schlug der Herr die Ägypter und ein Engel des Herrn vernichtete alle Kriegshelden, Fürsten und Hauptleute der Ägypter. Usija wurde Reichtum und Ehre in hohem Maß zuteil. Er erwarb Schätze an Silber, Gold, Edelsteinen, Balsam, Schilden und allerlei kostbaren Geräten. Und danach siegte Usija im Zweistromland. Im achtunddreißigsten Jahr seiner Regierung sandte Usija seinen Heerführer Anatot, den Sohn Jischwis, gegen Babylon. Eine Million Mann, tausend ägyptische Streitwagen des Pharaos und das ganze Heer des Tiglat-Pileser, des Königs von Assur, zogen mit ihm den Euphrat hinab. Wie ein gewaltiger Sturm unterwarfen sie Babylon, Borsippa und Nippur. Die Summerer wurden Usija tributpflichtig. In Ur sang Usija dem Herrn dieses Lied: ›Gepriesen bist du, Herr, Gott unseres Vaters David, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Dein, Herr, sind Größe und Kraft, Ruhm und Glanz und Hoheit. Dein ist alles im Himmel und auf Erden. Du bist der Herrscher über das All. Von deiner Hand kommt alle Größe und Macht. Von dir kommt alles. Was wir dir darbringen, stammt aus deiner Hand.‹ Dann befahl Usija der ganzen Versammlung: ›Preist den Herrn, euren Gott, der große Reiche in unsere Hand legt.‹ Die Leviten und Priester sangen dem Herrn mit lauten Instrumenten, sie schlachteten ihm tausend Stiere.«
Was ging hier vor? Ich blickte zwischen Anton Heinrich und Professor Hauser hin und her.
Der Professor schien die Situation zu genießen, während mein kaiserlicher Frisörfreund immer blasser und blasser wurde. Das verschmitzte Glitzern war aus seinen Augen gewichen. Seine Stimme klang brüchig: »Der Fall liegt ganz anders. Usija war einer der Könige, die dem Volk erlaubten, auf den Kulthöhen fremden Göttern zu opfern. Und weil er sich selber für so großartig hielt, machte er sich im Jahwe-Tempel gleich auch noch zum obersten Opferpriester. Der Herr strafte ihn dafür mit Aussatz, sodass er bis zu seinem Tod nicht mehr unter Menschen gehen konnte. So lautet die Geschichte, die ich kenne. Aber was höre ich hier? Zuerst soll Usija mit Gottes Hilfe das hochgerüstete und uneinnehmbare Ägypten unterworfen haben, dann nahm er dessen Armeen gleich in Pflicht, holte die Truppen Assurs noch dazu, die bereits Amazja unterworfen hatte, und zog mit dem größten Heer der Weltgeschichte gegen Babylon. Dieses Großreich unterwirft er auch noch. Damit wurden die Könige von Juda zu den Beherrschern der damaligen Welt. Um Himmels willen! Was ist denn das für ein Text?« Anton Heinrichs Hände zitterten, als er nach der Schale mit den Plätzchen griff.
Linus Hauser lehnte sich zurück. Er schlug die Beine übereinander. »Usija zeugte zweiundsechzig Söhne und achtzehn Töchter. Bevor er starb, unterwarf er das Reich der Meder seinem Gott. Auf Pferden brachte man ihn in die Davidstadt und begrub ihn bei seinen Vätern.
An seiner Stelle wurde sein Sohn Jotam König in Jerusalem. Er festigte die Grenzen des Reiches, das größer war, als je ein Reich davor, und verschaffte seinem Volk sechzehn Jahre Frieden. Die frühere und die spätere Geschichte Jotams ist in der Geschichte Pirams, des Sohnes Anatots, aufgezeichnet. Sie berichtet von seiner ganzen Regierung, seiner Machtentfaltung und von den Zeiten, die über ihn, über Israel und alle Reiche der Länder hinweggegangen sind. Auf Jotam folgte sein Sohn Ahas. Er wurde König im Alter von zweiundzwanzig Jahren und regierte einundvierzig Jahre in Jerusalem. Mit ungeteiltem Herzen diente er dem Herrn. Wie sein Vater Jotam, Sohn des Usija, tat er, was dem Herrn gefiel. Er starb im hohen Alter, satt an Tagen, Reichtum und Ehre. Die übrige Geschichte von Ahas ist aufgezeichnet im Buch des Sehers Serug.«
Heinrich schüttelte den Kopf. »Der Ahas, den ich zu kennen glaube, verbündete sich mit Tiglat-Pileser, dem König von Assur, und baute sogar dessen Opferaltar in Jerusalem nach. Ahas war nichts anderes als ein kleiner, windiger Vasall des assyrischen Königs. Nicht so in deiner Geschichte. Hier ist Ahas plötzlich der Herrscher eines Reiches, größer als das Alexanders des Großen. Unvorstellbar.«
»Es kommt noch besser, nämlich in dem Abschnitt über Hiskijas Treue zum Haus des Herrn. Auf Ahas folgte sein Sohn Hiskija. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, als er König wurde und regierte einundzwanzig Jahre in Jerusalem und acht Jahre in Benhajil am gelben Fluss. Seine Mutter hieß Abi und war eine Tochter Sescharjas. Genau wie David tat er, was dem Herrn gefiel. Er verachtete die Götter der unterworfenen Völker und opferte nur dem Herrn, seinem Gott. Im ersten Jahr seiner Regierung, im ersten Monat, öffnete er die Tore des Hauses des Herrn und setzte sie wieder instand. Er versammelte die Priester und die Leviten und sagte zu ihnen: ›Heiligt euch jetzt und heiligt das Haus des Herrn, des Gottes eurer Väter. Haltet alles Unreine fern von dem Heiligtum.‹ Mit ungeteiltem Herzen diente Hiskija dem Herrn. Er wurde immer mächtiger, und der Herr der Heere war mit ihm. Bald versammelte Hiskija seine Hundert- und Tausendschaften in Babylon. Auch die Hundert- und Tausendschaften der tributpflichtigen Völker versammelte er in Babylon. Er zog das Heer der Meder zusammen, zehnmal zehntausend Bogenschützen der Summerer und zehnmal zehntausend ägyptische Streitwagen und Reiter. Allein seine Befehlshaber, Heerführer und die Hauptleute der Kriegswagen waren siebentausend erfahrene Krieger. Sie standen dem größten Heer vor, das je von einem Sterblichen aufgestellt worden war. Hiskija teilte sie in Kampftruppen geordnet nach berittenen Bogenschützen, Wagenlenkern und Fußvolk ein. Für den Transport der Kriegsgeräte beschaffte er sich eine gewaltige Menge an Kamelen, Eseln und Maultieren sowie tausend Elefanten. Außerdem brachte er eine unübersehbare Herde von Schafen, Rindern und Ziegen für ihre Verpflegung zusammen, dazu reichlich Proviant für alle und sehr viel Gold und Silber aus den Palästen der Könige.
Um die Jahreswende, zu der Zeit, in der die Könige in den Krieg zogen, setzte sich Hiskija mit seinem ganzen Heer in Marsch. Er bezwang Wüsten und Gebirge und begann, die Länder im Osten mit seinen Wagen, Reitern und Elitetruppen zu überfluten. Eine Masse von Hilfsvölkern schloss sich ihnen an, unübersehbar wie ein Heuschreckenschwarm und der Sand der Erde. Man konnte ihre Menge nicht zählen. Immer weiter zog er der Sonne entgegen und der Herr war mit ihm. Er unterwarf die Völker am Dach der Welt, die Reiche am großen Fluss und kam nach Magadha. Er unterwarf dem Herrn das ganze Land Chu und belagerte Luoji. Nach vierzig Tagen nahm er die Stadt ein und machte reiche Beute. Die große und prächtige Stadt Luoji und das ganze Land Chu, alle umliegenden Provinzen und alle mandeläugigen Völker unterwarf Hiskija dem Herrn. Alles unterwarf er dem Herrn bis an die Grenzen der Erde. Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang erstreckte sich sein Reich.«
»Der König von Juda. Der König von Juda ...«, flüsterte Anton Heinrich. Er starrte auf das Parkett, als wäre darauf eine Landkarte, die den Zug Hiskijas bis zum Reich der Mitte abbildete.
»Hiskija zog mit seinem Heer den gelben Fluss hinauf bis zu seiner Mündung am großen Meer, wo er die Stadt Benhajil errichtete. Dort starb er, dort wurde er begraben. Benhajil übertraf bald die Davidstadt in Einfluss und Ansehen. Sie wurde die Mitte des Reiches und die Mitte der Erde. Alle Wege führen nach Benhajil, so sangen sie. Das Volk zündete zu Hiskijas Ehre große Feuer an. Denn er hatte getan, was dem Herrn gefiel. Man begrub ihn in einer Königsgruft am gelben Fluss fern seiner Väter. Die übrige Geschichte von Hiskija, seinen Fahrten über das Meer und die Namen seiner Söhne und Töchter sind aufgezeichnet im Buch des Königs Hiskija und im Buch des Sehers Siddhattha Gotama und im Buch des Sehers K´ung Ch´iu.«
Linus Hauser schwieg. Sein Blick verlor sich in der feurigen Glut im offenen Kamin.
»Das war alles?« Mein Freund, der Religionswissenschaftler, löste sich aus seiner Erstarrung.
Der Professor schüttelte den Kopf. »Es kommt noch ein kleiner Nachsatz etwa folgenden Inhalts: Mohammad hielt im Himmel noch siebzigtausend Gespräche mit Allah, dann verstand er. Er pries ein letztes Mal den Herrn: ›Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen. Preis ihm, der seinem Diener die Augen öffnet.‹ Nachdem Mohammad siebzigtausend Mal mit Allah im Himmel gesprochen und die goldenen Bücher gelesen hatte, führte ihn Gabriel zu dem Buraq und geleitete ihn zurück. Mohammads Reise ging so schnell, dass sein Bett noch warm war, als er zurückkehrte.« Linus Hauser sog an seiner Zigarre. Aber sie war ausgegangen.
Anton Heinrich lehnte sich zurück. Schnaufte. Er streckte die Beine von sich, sodass unter dem Saum seiner Hosenbeine das musselinartige Webmuster seiner Strümpfe sichtbar wurde.
Ich blieb still sitzen. Bewegungslos. Noch immer schien niemand von mir Notiz zu nehmen.
Linus Hauser winkte einem der Bediensteten und ließ sich Cognac nachschenken. Er sah fasziniert dabei zu, wie der Mann die köstliche Flüssigkeit am Rand des Schwenkers hinabrinnen ließ. Vorsichtig, fast andächtig.
Anton Heinrich räusperte sich. »Ein Text wie aus einer anderen Zeit.« Er schielte zu mir. Jetzt sah er mir direkt in die Augen. Ich wollte mich hinter der Zimmerpalme verkriechen. Doch ich konnte mich nicht bewegen.
Heinrich probierte eines der Mürbeteigplätzchen und fischte sich dann zwischen den weißen und dunklen Elisen einen Biscotti-Lebkuchen heraus. Dann fuhr er fort: »So hätte es sein können, wenn die Könige Israels von Anfang an den Willen Jahwes erfüllt hätten, nicht wahr?«
Linus Hauser zuckte mit den Achseln, sagte aber nichts.
Heinrich bemerkte: »Warum nimmst du eigentlich keine Plätzchen.«
»Ich bevorzuge Spitzbuben. Die haben sie hier nicht.«
»Na gut. Das auserwählte Volk also erfüllte den Plan des Herrn, ohne auf die anderen Götter hereinzufallen. So war es Jahwes Wille. Und weil sie Jahwes Willen erfüllten, galten sie ihm als sein Volk und er war ihr Gott.«
Linus Hauser drehte leicht den Kopf und fasste mich ins Auge. Konnte er mich etwa sehen oder blickte er nur zufällig in meine Richtung? Hatte er die ganze Zeit gewusst, dass ich da war? Ich rutschte auf meinem Hosenboden näher an die Zimmerpalme heran.
Anton Heinrich sagte: »Wenn ich richtig zugehört habe, dann kam der Wendepunkt mit dem Propheten Elija. Im Gegensatz zur Geschichte Israels, die wir kennen, beherzigte der König diesmal die Weisung des Propheten und ab da nahm alles einen anderen Verlauf. Das auserwählte Volk trat seinen Siegeszug über den ganzen Erdkreis an. Kein Christus, kein Islam, kein Buddhismus. Wahrscheinlich keine Achsenzeit. Ich bin sprachlos.«
Der Professor fingerte nach dem Feuerzeug.
»Warum willst du den Text nicht veröffentlichen?«, fragte Anton.
Linus Hauser verharrte mitten in der Bewegung. Schließlich zündete er umständlich seine Zigarre an und verzog das Gesicht. Sie schmeckte bitter.
Heinrich setzte sich auf dem Sessel zurecht und schlug die Beine übereinander. Er schielte auf die Kokosmakronen, überlegte es sich dann aber offenbar anders. »Mir fällt da etwas auf. Wenn die Richtigen das Falsche tun, dann tun die Falschen das Richtige. So hieß doch der Spruch von Lewis, oder?«
Der Professor nickte.
»Die Richtigen taten in diesem Text also das Richtige. Ganz im Gegensatz zu dem Geschichtsverlauf, den wir kennen. Du wirst mir sicher verzeihen, wenn ich als Religionswissenschaftler eine ketzerische Frage aufwerfe. Aber wir sind ja hier unter uns. Ich frage mich jetzt nämlich Folgendes. Wenn die Christen in der Geschichtsschreibung, die wir kennen, anstelle des auserwählten Volkes das Richtige getan haben, also den Willen des Herrn erfüllten, weshalb gibt es dann den Islam?«
Linus Hauser nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas und schwieg. Sein beharrliches Schweigen hatte etwas Unheimliches.
Heinrich setzte noch einmal nach: »Müsste man nicht in Rom, ich meine, beim Präfekten der römischen Glaubenskongregation davon Meldung machen?«
»Ich selbst habe ihn bereits darüber informiert.«
Heinrich schnappte nach Luft. »Aha. Willst du den Text deshalb nicht veröffentlichen?«
Der Professor zuckte mit den Achseln. Und wieder ruhte sein Blick auf mir. Wieso wollte er diese Sache zurückhalten? Selbsterhaltungstrieb? Was hatte der Präfekt zu ihm gesagt? Und was hatte der Religionswissenschaftler damit gemeint: Es sei ein Text aus einer anderen Zeit? Kann es denn eine andere Zeit geben als die unsere? Etwa eine Zeitlinie, in der ich mit Kaiser Hadrian das Imperium Romanum durcheilen könnte ...?
Ich blickte auf. Es war spät geworden. Der Club hatte sich fast vollständig geleert. Nur einer der Bediensteten stand abwartend hinter der Bar. Die beiden Gesprächspartner schwiegen. Sie sahen den Rauchschwaden nach, die langsam an den dunkelroten Vorhängen entlangzogen, geradeso als suchten sie einen Weg hinaus ins Freie.
––––––––
ENDE