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Montag, 6. Oktober

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Morgendämmerung auf dem Areal der „alten Mordgrube“, einem stillgelegten Bergwerk, auf dem sich Anfang des letzten Jahrhunderts eine Lederfabrik ansiedelte. Jagdhunde eines zurückkehrenden Jägers entdecken eine von der aufgehenden Sonne angestrahlte, als Engel verkleidete Leiche am Waldrand des angrenzenden Parks. Im Blut des Opfers liegt, am Hals platziert, ein Original Erzgebirgsengel, Modell „Himmelsbote“. Im Mund der Toten steckt ein zusammengerollter und bedruckter Zettel mit dem Spruch: „Dieses war der erste Streich und der zweite folgt sogleich.“ Hauptkommissar Gerhard Voigt von der informierten Mordkommission, kann die Tote bereits vor Ort identifizieren.

„Das ist Ingrid Engel, die nette Verkäuferin aus dem Souvenirladen in Freiberg in der Nähe des Obermarktes. Fast jeder kennt sie seit Jahren wegen ihres auffälligen Engelskostüms, das sie das ganze Jahr über als Werbeträgerin für unsere Stadt tragen musste, unter dem Namen „Engels-Ingrid“. Haben Sie von der Spuren- und Beweissicherung bereits irgendwelche besonderen Hinweise auf dem abgesperrten Areal oder am Opfer selbst erkennen können?“

Voigts Kollege war für seine akribische Arbeit leider oft mit zeitverzögernder Wirkung verbunden, bekannt.

„Gewalteinwirkung durch diverse brutale Einstiche in den Hals mit einem dickeren Messer. Sonstige Gewalt ist aktuell nicht erkennbar. Es handelt sich um kein Sexualdelikt. Die Tatwaffe liegt nicht in der Nähe des Opfers. Wir werden natürlich mit Hilfe der Daktyloskopie Fingerabdrücke nehmen und nach weiteren wichtigen Hinweisen suchen. Sämtliche Wertgegenstände und Papiere befanden sich noch an ihrem Körper. Ein Handy konnten wir leider nicht finden. Es ist anzunehmen, dass der Täter dieses mitgenommen und voraussichtlich entsorgt hat. Jedem Täter, der einen Mord plant, dürfte heutzutage bewusst sein, dass das Entsorgen des Handys aufgrund der darauf enthaltenen vielen Daten oberste Priorität haben sollte. Wir werden Frau Engel zur unverzüglichen Obduktion in das gerichtsmedizinische Institut bringen lassen. Den Kraftfahrzeugschein vom Wagen des Opfers konnten wir auch separat in ihrer rechten Hosentasche finden. Alle anderen Wertgegenstände in der linken.“

Dieser Wagen steht nicht in der Nähe des Tatorts, aber irgendwie muss sie ja hier zu diesem abgelegenen Ort gekommen sein, grübelte Voigt. Vielleicht sogar zusammen mit ihrem Mörder.

„Wir werden unser kleines Städtchen durchsuchen lassen, um dieses Auto zu finden. Zunächst an markanten Orten wie ihrer eigenen Adresse, öffentlichen Parkplätzen und weiteren infrage kommenden Möglichkeiten.“

Hauptkommissar Gerhard Voigt wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, den Täter zu finden. Freiberg war ein kleiner Ort in Sachsen, in dem etwas übertrieben, jeder jeden kannte. Anhand des Zettels im Mund und der dazugehörigen Aussage könnte es sich durchaus um einen potenziellen Serienmörder handeln. Er beschloss direkt in die Stadt in den Laden zu fahren, in dem Ingrid arbeitete. Er musste herausfinden, ob ihre Kollegin etwas Außergewöhnliches mitbekommen hatte.

Der Leichenwagen des naheliegenden Bestattungsinstitutes war bereits in Sicht, um das Opfer in das Institut für Rechtsmedizin zu bringen, als Gerhard Voigt in seinen Dienstwagen stieg und zügig und zielgerichtet zum Souvenirgeschäft fuhr. Erst letztes Wochenende war das beliebte Freiberger Herbstfest mit kleinen Veranstaltungen und verkaufsoffenem Sonntag. Er grübelte, ob der Mord etwas damit zu tun haben könnte. Voigt liebte sein mittelalterliches Städtchen, in dem vor über 800 Jahren Silbererze gefunden wurden und Freiberg zu Reichtum brachte. Er bewunderete den Dom mit der ältesten Orgel Gottfried Silbermanns, die Petrikirche und Nicolaikirche und natürlich das Schloss Freudenstein. Nicht ohne Grund wurde Freiberg in Sachsen zum Unesco Weltkulturerbe ernannt. Sein Urgroßvater und Großvater studierten an der Bergakademie, und jetzt sollte diese derzeitige Idylle durch einen Mord in Aufruhr versetzt werden. Voigt parkte seinen Wagen in einem Parkhaus in der Altstadt. Die ermordete Dame hieß Engel, hatte immer ein Engelskostüm im Laden an, und nachdem sie erstochen wurde, lag auf ihrem blutigen Hals ein Erzgebirgsengel. Handelte es sich um Zufälle, oder war es eiskalt geplant?“ Gedankenvertieft lief er durch die Korngasse Richtung Obermarkt und betrat mit betroffener Miene den Laden.

„Glück auf! Ich weiß, dass Sie die Kollegin von Frau Engel, genannt „Engels-Ingrid“ sind. Setzen Sie sich bitte erst einmal auf den neben ihnen stehenden Stuhl. Es ist etwas Furchtbares passiert und ich wünschte mir, dass ich Ihnen diese Nachricht ersparen könnte, da es auch mir nicht leichtfällt, solche Informationen weiter zu geben. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihre Kollegin in der Nähe eines Ausflugslokals tot aufgefunden wurde.“

„Um Gottes Willen. Mir wird es schwarz vor Augen. Ich glaube, mein Kreislauf spielt verrückt“, antwortete sie mit leiser und trauriger Stimme. Die Tränen liefen über die dicken Wangen ihres rot erhitzten Gesichts. „Ich wusste, dass etwas nicht stimmt. Ingrid war immer pünktlich und heute tauchte sie nicht auf. Ich habe versucht sie telefonisch zu erreichen, aber ohne Erfolg. Oh mein Gott, ist das schrecklich.“ Sie weinte plötzlich bitterlich und wischte sich mit einem neben der Kasse liegenden Tuch die Tränen vom Gesicht.

„Wissen Sie schon, woran sie gestorben sein könnte? War es ein Unfall oder ein natürlicher Tod oder eventuell sogar ein Mord“?

„Die beiden ersten Optionen leider nicht“, erwiderte der Hauptkommissar. „Ingrid Engel wurde kaltblütig ermordet. Aus diesem Grund muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Haben Sie mitbekommen, mit wem sie gestern Kontakt hatte? Oder ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?“

„Oh ja, gestern Abend kurz vor Geschäftsschluss kam ein Mann zu uns in das Geschäft.“ „Glück auf“ rief er beim Betreten des leeren Ladens. Direkt danach rief er fast euphorisch „Ingrid, was machst Du denn hier?“ Lange ist es her, dass wir uns gesehen haben. Was für ein Zufall, gell!? Da fährt man längere Zeit mit dem Zug hier her und wen sieht man als Erstes? Die Ingrid.“ „Mir fiel sofort der weiße Anzug unter seinem schwarzen Mantel auf. Etwas, was hier tagsüber nach Freiberg einfach nicht passt. Wir bieten in diversen Regalen neben Engeln zusätzlich Bergmänner aller Art aus Holz an. Meine ermordete Kollegin war an diesem Tag wie immer selbst als Engel verkleidet. Das ist bei uns, wie Sie ja selbst wissen, seit Jahren Brauch. Der Kunde wollte die fünf Engel neben dem Räuchermann-Piloten kaufen und fragte noch, was dieser kosten würde. Meine liebe Kollegin erwiderte nur, dass sie diesen Piloten auch lieben würde. Er erinnere sie an Freiheit und unendliche Weite. 70 Euro war sein Preis.“ „Aber immer daran denken, die Räucherkerze nachzulegen und anzuzünden, sonst hat das Flugzeug kein Kerosin mehr und kann nicht mehr fliegen, haha“, fügte Ingrid noch lachend dazu. Das war ein unechtes Lachen, wie ich es von ihr vorher noch nie gehört hatte. Unser Kunde nahm alle fünf Engel sowie diesen Räuchermann. Als sie weiter ins Gespräch kamen, erzählte er, dass er aktuell Berichte über die schönsten Orte Deutschlands erstelle und Freiberg da eindeutig dazu gehöre. Um einen Image-Report über das Erzgebirge fertigen zu können, fragte er sie, ob sie ihm vielleicht unterstützend zur Seite stehen könnte und ihn später mit nach Zug, einem Stadtteil von Freiberg, begleiten würde. Er wollte sie dort als Dank in das exklusive und für seine Qualität bekannte Ausflugslokal einladen. Sie würde es ja eventuell kennen, denn der Ausblick von dort aus sei einmalig. Vielleicht könne sie sogar das Engels-Kostüm auf die Tour mitnehmen, um die Reportage noch stärker zu untermalen. Ingrid schien regelrecht begeistert von dieser Idee und fügte hinzu, dass sie gleich in dem Ort Zug um die Ecke wohnen würde. Der Mann betonte noch, was für ein erneuter Zufall das sei, nannte sie „Engel“ und versprach ihr den Montagabend gemütlich ausklingen zu lassen. Sie verließen das Geschäft und fuhren gemeinsam nach Zug. Kurz danach schloss ich die Türen des Ladens ab. Das war das letzte Mal, dass ich meine liebe und so sehr geschätzte Kollegin gesehen habe“, fügte sie unter Tränen hinzu.

Voigt schossen plötzlich diverse Fragen durch den Kopf, ohne deren Antworten er diesen Raum nicht verlassen wollte. Er schaute auf das kitschige Namensschild der Dame. „Frau Winkler, Sie sagten, er habe sechs Erzgebirgs-Schnitzereien gekauft. Könnten Sie sich eventuell trotz der für Sie im Moment schweren Situation daran erinnern, um welche Engel es sich handelte? Dieses könnte für unsere weiteren Ermittlungen sehr wichtig sein.“

Elisabeth Winkler dachte sichtlich nach, antwortete allerdings nicht, sondern ging zu einer Schublade und holte einen Coupon hervor.

„An zwei der gekauften Engel kann ich mich sehr gut erinnern, da ich sie schon immer geliebt habe.“ Sie gab Hauptkommissar Voigt den Zettel. Auf diesem stand als Datum der Vortag und die Uhrzeit Viertel vor fünf nachmittags. Gekaufte Artikel waren: 1.Bäckerengel mit Cupcake in der Hand, 2. Kochengel mit Weinflasche, 3. Engel mit goldener Feder und goldenem Buch 4. Engel als Himmelsbote 5. Engelspärchen mit Trennwand 6. Piloten Räuchermann in Holzflugzeug.

„Wie alt war Ihres Erachtens der Kunde?“

„So plus minus 50 Jahre alt.“ Voigt dachte nach.

„Sprach er Hochdeutsch oder hatte er einen Dialekt?“ Elisabeth Winklers Antwort kam verzögert.

„Je länger ich darüber nachdenke, bilde ich mir ein, dass er tendenzmäßig etwas Hessisch sprach. Ich kenne den Dialekt von den Touristengruppen, die regelmäßig aus unserer Partnerstadt Darmstadt zu uns kommen. Sie besuchen nach Besichtigung der Höhepunkte unseres Städtchens oft noch einmal unseren Laden, um Souvenirs wie Erzgebirgsengel oder andere typische Erinnerungen zu kaufen. Das Wort „gell“ fällt bei ihren Einkäufen relativ häufig. Nach dem Motto ist das nicht ein wunderschöner Engel, gell? Ein Wort, das meines Erachtens in keinem anderen Bundesland gesagt wird. Es entspricht unserem Sächsischen „noor“, also „nicht wahr“?“ Eines stand fest. Der Mann, der mit Ingrid Engel zuletzt den Laden verlassen hatte, um mit ihr in die Natur und zum Essen nach Zug ins Restaurant zu fahren, stand unter dringendstem Mordverdacht. Der Himmelsboten-Engel, der auf ihrem blutverschmierten Hals lag, das Engelskostüm, das sie anhatte, und die Tatsache, dass er sie noch zum Essen einladen wollte, sprachen zumindest dafür. Weitere Beweise, wie zum Beispiel Haarspuren oder das Blut des Täters könnten dafür sorgen, ihn möglichst schnell zu überführen. Da es sich um einen potenziellen Serienmörder zu handeln schien, war größte Eile angesagt. Voigt wusste, dass ihm die Zeit davonlief und drängte daher darauf, weitere Beweise zu erhalten.

„Ist Ihnen sonst noch irgendetwas in der letzten Zeit aufgefallen oder gestern an dem Mann selbst? Denken Sie bitte intensiv darüber nach und melden sich dann bei mir. Hier ist meine Karte. Wir müssen jetzt leider Ihren Laden schließen lassen. Die Spurensicherung wird nach weiteren Hinweisen wie Haarproben oder genetischen Fingerabdrücken suchen und diese sicherstellen. Gehen Sie am besten nach Hause und ruhen sich aus. Man sieht Ihnen an, wie sehr Sie diese schreckliche Nachricht mitgenommen hat. Aber noch eine kurze Frage. Seit wann arbeitete Ingrid in diesem Laden?“ Elisabeth Winkler verzog das Gesicht.

„Soweit ich weiß, kommt sie zwar aus Freiberg, war aber nicht immer hier. Ingrid war jahrelang nicht vor Ort. Ich weiß nur, dass sie früher geschäftlich sehr viel von Deutschland und auch von Spanien gesehen hat. Mehr leider nicht. Darüber haben wir komischerweise nie gesprochen. Ich weiß außerdem noch, dass ihr Urgroßvater in der alten Lederfabrik oben in Zug gearbeitet hat. Das verband sie von klein auf immer mit Freiberg und deshalb verbrachte sie hier, in diesem schönen Städtchen bis auf die Jahre dazwischen auch den größten Teil ihres Lebens. Sie war so eine liebe Frau.“

Hauptkommissar Voigt stand unter Druck und fragte erneut nach. „Das war leider keine Antwort auf meine Frage, liebe Frau Winkler. Ich möchte wissen, seit wann Ihre Kollegin in diesem Laden gearbeitet hat.“

„Lassen Sie mich es kurz anhand des Todesdatums meines Mannes nachrechnen. Es müssten etwas weniger als zehn Jahre gewesen sein.“

Voigt bedankte sich bei ihr und wünschte gleichzeitig der eingetroffenen Spurensicherung viel Erfolg. Er lief zurück zur Tiefgarage, um seinen Wagen zu holen, um anschließend sofort in sein Büro zu fahren. Ihm war bewusst, dass der Mörder seine nächste Tat vorbereiten könnte und kontaktierte direkt die Gerichtsmedizin. Seine Hoffnung bestand darin, anhand molekulargenetisch auswertbaren Spurenmaterials neue Erkenntnisse gewinnen zu können. Sein zuverlässiger Kollege, Professor der Forensischen Pathologie in Dresden, arbeitete unter Hochdruck. Er wies ihn allerdings darauf hin, dass er ihm erst in ein paar Stunden wichtige Informationen überbringen könnte. Voigt wurde von Minute zu Minute ungeduldiger und empfand es geradezu als Erlösung, als bereits nach einer Stunde sein Telefon klingelte. Allerdings war sein Kollege am Apparat, der mit seinem Team den Wagen vom Opfer suchte.

„Kommissar Voigt, das Suchen hat sich gelohnt. Wir haben den PKW direkt am Bahnhof von Freiberg gefunden und sofort die Spurensicherung angefordert.“

Er war erleichtert, wusste allerdings, dass die Ergebnisse dadurch erneut verzögert würden. Voigt beschloss die Zeit zu überbrücken, indem er gemeinsam mit zwei Kollegen und auch seiner Assistentin eine Art kreatives Brainstorming machte. Die Zeit verging allerdings ohne große Ergebnisse. Es war bereits abends, als sein Telefon klingelte und ein Kollege der Spurensicherung sowie der Pathologie am Apparat waren.

„Zunächst einmal ist interessant, dass die Tote, wie bereits am Tatort erwähnt, noch sämtliche Wertgegenstände am Körper trug und nichts entwendet wurde. Eine Tatwaffe wurde nicht vor Ort gefunden, der Fundort der Leiche war auch der Tatort der Leiche. Bei dem Mordinstrument dürfte es sich um ein altes Fliegermesser handeln, das in Notfällen, wie bei Abschüssen oder Ähnlichem, von Militärfliegern benutzt wurde. Piloten trugen es in Notfällen bei lebensrettenden Absprüngen mit dem Fallschirm zum eigenen Schutz direkt am Körper mit sich. Tatzeit und Todeszeitpunkt gestern gegen halb zwölf nachts. Und was interessant ist, dem Opfer wurde circa zwei Stunden vor der Tat ein langsam wirkendes Schlafmittel verabreicht. Untersuchungen des Bluts sowie des Mageninhalts haben dieses ergeben. Dieses wirkt in Verbindung mit Alkohol noch stärker als ohne und davon hatte sie ebenfalls mehr als genug im Blut. Circa 1,5 Promille. Der Engel weist Fingerabdrücke diverser Personen auf. Der Täter scheint bei seiner Tat alte Lederhandschuhe getragen zu haben, da wir an diversen Stellen alte Lederfasern fanden. Diese scheint er auch beim Fahren des Autos nach seiner Tat zum Bahnhof getragen zu haben, da diese Fasern auch auf der Fahrerseite von Ingrid Engels Auto zu finden waren. Dort steht der Wagen seit der Mordnacht. Blutspuren des Täters konnten wir leider keine entdecken, aber die Haarproben und Hautpartikel, die wir auf der Leiche fanden, stimmen mit den Haarproben, die wir im Geschäft und auch im Auto fanden, überein. Anhand unserer Fluoreszenz Mikroskopie konnten wir auch feststellen, dass es sich um denselben Anzug und Mantel handelt. Es ist also auf jeden Fall der Mann, der die Engel und die Räucherkerzen-Figur gekauft hat, und mit Ingrid essen war. Er fuhr auch ihr Auto nach der Tat zum Bahnhof. Den Spuren auf dem Weg können wir entnehmen, dass der Täter Schuhgröße vierundvierzig hat.“ Voigt war nun klar, dass es sich eigentlich um einen ganz einfachen Vorgang gehandelt haben musste. Der Täter hatte sein Opfer mit Alkohol und einem langsam wirkenden Schlafmittel betäubt. Sie mussten aber noch einige Zeit nach ihrem Dinner im angrenzenden Park spazieren gegangen sein, da die Tatzeit erst halb zwölf war, das Restaurant aber bereits um zehn Uhr geschlossen hatte. Danach dürfte sie langsam am nebenliegenden Waldesrand eingeschlafen sein. Sie wurde nicht vom Tatort entfernt, da keine Schleifspuren zu erkennen waren. Er nahm den Autoschlüssel aus ihrer Tasche und holte das Engelskostüm, das sie täglich beruflich trug, aus ihrem Wagen, der noch auf dem angrenzenden Parkplatz stand. Anschließend zog er es ihr am Tatort an. Danach stieß er das Messer in ihre Kehle und platzierte den Engel auf dem blutigen Hals. Den vorbereiteten Zettel mit der Nachricht steckte er in ihren Mund. Anschließend ging er zurück zum Auto und fuhr zum Bahnhof. Voigt wusste, dass er die Bedienung des Lokals als Zeugen befragen musste. Er wollte herausfinden, ob sie sich an das Gästepaar erinnerten und was ihnen eventuell aufgefallen sein könnte. Ein Phantombild war unumgänglich, um es systemintern bundesweit einzustellen und parallel öffentlich zur Fahndung herauszugeben. Voigt holte sich noch schnell in einer der typischen Freiberger Fischräuchereien ein köstliches Räucherfischbrötchen und fuhr los.

Die Bedienung des Vorabends war leider nicht vor Ort, aber Hauptkommissar Voigt erhielt seine Privatadresse, sodass er ihn zu Hause erreichen konnte.

„Wissen Sie, ich hatte das Gefühl, dass sich die Beiden nicht zum ersten Mal begegnet sind. Das Ganze kam mir doch ziemlich vertraut vor. Sie lachten viel, tranken sächsischen Wein und zum Schluss noch zwei unserer guten hausgemachten Schnäpse. Gegessen haben sie jeder nur eine Hauptspeise, aber die sind ja, wie Sie wissen, bei uns auch immer ziemlich üppig. Ich musste sie dann mehr oder weniger rausschmeißen, weil sie sonst weiter gefeiert hätten. Wie Sie eventuell wissen, war Ingrid ja auch ein lebensfreudiger Mensch, wobei mir auffiel, dass sie zum Schluss dann doch ziemlich müde war.“

Voigt überlegte. „Ist Ihnen sonst noch irgendetwas aufgefallen?“

„Natürlich. Jetzt, wo Sie es sagen. Der weiße Anzug der Begleitung war schon etwas unpassend und sehr auffällig. Durch sein wenig aufgeknöpftes Hemd konnte ich so etwas wie ein Tattoo erkennen. Eins davon war auf jeden Fall ein Totenkopf. Aber vielleicht habe ich mich da auch getäuscht. Es war ja nicht mehr ganz so früh und ich hatte an dem Tag eine Hochzeitsveranstaltung vorbereitet und war dadurch etwas müde. Aber durch den weißen Anzug und das helle Hemd schimmerte schon einiges durch.“

Voigt notierte sich sämtliche Details und sagte mit trauriger Stimme: „Nur, damit Sie es wissen, Ingrid Engel ist gestern ermordet worden und der Herr, der sie begleitet hat, steht unter dringendem Mordverdacht. Eine kurze Frage. Wo waren Sie, nachdem Sie das Lokal verlassen haben?“ Nach einer kurzen, bedächtigen Pause antwortete er leise.

„Ich bin direkt gegen 22h15 zu meiner Familie gefahren. Sie können meine Frau fragen. Sie ist in der Küche.“

Hauptkommissar Voigt überlegte kurz, verneinte dann aber, da er wusste, dass seine Ehefrau befangen war und zudem ihrem Gespräch an der Türe zugehört hatte. Voigt bat ihn allerdings darum, nachmittags im Präsidium vorbeizukommen, um ein Phantombild vom vermuteten Täter erstellen zu lassen. Er verabschiedete sich und wies erneut auf den späteren Termin im Revier hin. Auf dem Rückweg klingelte sein Telefon. Elisabeth Winkler war in der Leitung.

„Hallo Herr Polizeihauptkommissar. Sie hatten versucht mich zu erreichen?“.

„Ja“, antwortete Voigt.

„Bitte kommen Sie direkt zu uns ins Revier. Wir möchten mit Ihrer Hilfe ein Phantombild des Täters erstellen lassen.“

„Ich bin auf dem Weg“, antwortete Elisabeth. „Bis gleich.“ Elisabeth Winkler und die Bedienung des Restaurants trafen mehr oder weniger zur selben Zeit im Kommissariat ein. Sie wurden hintereinander in das Zimmer gerufen, um eine gegenseitige Beeinflussung der Täterbeschreibung zu vermeiden.

„So. Wie haben Sie den Mann spontan in Erinnerung?“ Elisabeth antwortete sofort.

„Schwarze Haare und relativ kurz geschnitten, also drei bis vier Zentimeter lang.“

„Langsam, langsam!“, antwortete der zuständige Sachbearbeiter. “Ungefähr so?“

„Ja. Perfekt. Außerdem ziemlich dichte Haare. Dunkle Augenbrauen. Augenfarbe blau. Keinen Bart und einen relativ großen Mund mit dickeren Lippen. Größere Ohren als Standard. Körpergröße circa einen Meter achtzig. Weißer Anzug und weißes Hemd, darüber ein schwarzer Mantel. Muskulöser Hals und eventuell ein oder zwei Tattoos am Oberkörper, die am Ansatz des V-Ausschnitts seines Hemdes mit etwas Fantasie zu erahnen waren.“

Voigt war skeptisch. „Wie konnten Sie die Tattoos erkennen, wenn er über seinem Anzug noch einen Mantel anhatte?“

Elisabeth antwortete direkt. „Er trug den Mantel über seinem Anzug, das ist richtig. Allerdings hatte er zeitweise beide Hände in seinen Hosentaschen, sodass beide Kleidungsstücke nach hinten gedrückt wurden und sein Hemd ohne Probleme sichtbar war. Sobald er sie aus den Taschen nahm, sah man seine großen und dicken Finger. Sonst sind mir keine Besonderheiten aufgefallen. Ach doch, der geringe hessische Dialekt, den ich, wie bereits erwähnt, an dem einen Wort „gell“ erkennen konnte.“

„Danke Elisabeth. Hier geht es im Moment aber nur um das Phantombild. Meinen Sie, dass dieses Bild ungefähr der Realität entspricht?“

„Ja, so habe ich ihn in Erinnerung.“

„Ihren Hinweis auf einen eventuellen hessischen Dialekt, werden wir separat im Text der Fahndung angeben. Könnten Sie bitte den nächsten Zeugen, der vor der Türe wartet, hereinbitten?“

„Dunkle, kurze und dichte Haare. Augenbrauen dunkel, allerdings waren die Augen blau, was ja bei Dunkelhaarigen selten ist, aber gerade das fällt einem dann auf. An den Mund und die Lippen kann ich mich nicht so richtig erinnern. Ich glaube Standard, also normal, unauffällig. Körpergröße einen Meter fünfundsiebzig bis einen Meter fünfundachtzig. Durchtrainierter, sportlicher Körper, und wie bereits zu Hause angedeutet, meines Erachtens ein bis zwei Tattoos auf dem Oberkörper, Höhe beginnender Hals. Ja. So ist es perfekt. Ach, und natürlich der weiße Anzug und der schwarze Mantel.“ „Vielen Dank. Falls Ihnen in den nächsten Tagen weitere Dinge einfallen sollten, rufen Sie uns bitte unverzüglich an.“

Direkt im Anschluss erstellte die Kripo ein Täterprofil, ergänzt durch das Phantombild und stellte es intern bundesweit in alle Polizeisysteme zur Fahndung ein. Hauptkommissar Gerhard Voigt unterstrich erneut die Dringlichkeit der Tätersuche, da es sich um einen sehr organisierten Täter und potenziellen Serienmörder handeln könnte.

ENGELSMÖRDER

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