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Morgen mit Tod

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Ilka wanderte durch den Wald. Ihr war leicht zumute, leicht und glücklich, als sie den Harzgeruch der Bäume wahrnahm, als sie den federnden Waldboden unter den Füßen und Philipps Hand fest und warm in ihrer spürte. Es war Frühsommer, im Unterholz knackte und knisterte es nur so vor Leben, und die Vögel überboten sich in ihren Gesangsdarbietungen.

Speziell dieser eine – was war das denn nur? Nicht, dass Ilka sich mit den gefiederten Freunden besonders gut ausgekannt hätte, aber so einen Vogel hatte sie noch nie gehört. Der war ja lauter als alle anderen, und er klang überhaupt nicht angenehm. Er klang…

…wie ihr Telefon.

Ilka riss mühsam die Augen auf und tastete im Dunkeln auf dem Nachttisch herum, bis sie den Störenfried gefunden hatte, und meldete sich verschlafen. Während sie zuhörte, ordnete sie ihre Gedanken, so gut es gerade ging: Es war nicht Frühsommer, sondern Oktober. Sie war nicht im Wald, sondern allein im Bett. Philipp war nicht ihr Freund, sondern ein dreckiger Betrüger, den sie darüber hinaus andauernd bei der Arbeit traf, es war kurz vor fünf Uhr früh, und sie musste zu einem Leichenfund am Haarmannsbrunnen. Sie knipste das Licht an und mobilisierte all ihre Kräfte, um trotz dieser großartigen Umstände aufzustehen und den Tag anzugehen. Sie wankte unter die Dusche und drehte das Wasser auf lauwarm. Zwar wusste sie, dass kaltes Wasser sie ungleich schneller wecken würde, aber sie hatte es noch nie übers Herz gebracht, derart grausam zu sich selbst zu sein. Auch so tat das nasse Element seine Wirkung, und nur Minuten später verließ sie ihre Wohnung. Auf dem Weg zu ihrem Fahrrad fuhr sie sich mit allen zehn Fingern durch die schlafwirren, kastanienfarbigen Haare und beglückwünschte sich einmal mehr dazu, dass sie sich diesen kurzen Bob hatte schneiden lassen. Es gab ganz einfach nichts Praktischeres, gerade in einem Beruf, der sie morgens in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett warf.

Mit dem Fahrrad war Ilka binnen fünf Minuten durch die dunkle, nasskalte, stille Stadt gesaust und erreichte den Haarmannsbrunnen am Herrenteichswall. Hier stand ein Kollege in Uniform zusammen mit einem Mann von etwa 55 Jahren, der sichtlich verstört immer wieder zu der Toten vor dem Brunnen blickte und sich mit einer Hand an der Tür eines Kastenwagens abstützte. Die ersten Kollegen von der Spurensicherung waren bereits vor Ort und nahmen die Umgebung in Augenschein. Viel konnten sie nicht tun: Im Mülleimer neben der Bank beim Brunnen war fast nichts, und der Boden war gleichmäßig nass geregnet.

Ilka warf einen Blick auf die Tote. Junge Frau, registrierte sie, Mitte zwanzig. Lange blonde Haare, schwarzer Übergangsmantel.

Mit einem freundlichen Gruß trat sie zu dem Kollegen und dem Mann, der vermutlich die Tote gemeldet hatte.

„Kriminalkommissarin Ilka Behnke, guten Morgen.“

Der Uniformierte hob grüßend die Hand. „Scheener, Morgen auch. Das hier ist Robert Gahner, er hat uns verständigt.“

Ilka wandte sich dem verstört blickenden Gahner zu.

„Erzählen Sie mir, was passiert ist.“

Halt suchend lehnte der Mann sich an seinen Wagen, ehe er antwortete. „Ich hab eine Lieferung, die ich um halb fünf abliefern sollte“, und er winkte mit der Hand in Richtung der Fußgängerzone, „Kosmetika und so für eine Drogerie. Ich bin hier vorbei gekommen und hab gesehen, dass da jemand liegt. Komisch, hab ich gedacht, direkt da auf dem Bürgersteig vor dem Zebrastreifen? Vielleicht ist die Person verletzt und braucht Hilfe. Also hab ich angehalten und bin gucken gegangen, und da hab ich gesehen, dass sie noch ein Mädchen ist. Sie hatte keinen Puls und hat sich kalt angefühlt.“

„Sie haben ihren Puls überprüft? Am Handgelenk oder am Hals?“

„Am Hals. Am Handgelenk finde ich den schon bei mir selbst nicht. Aber ich hatte mal im Fernsehen gesehen, dass man manchmal den Puls nicht mehr fühlt, die Person aber trotzdem lebt. Ich hab also einen Spiegel aus dem Auto geholt und ihn unter ihre Nase gehalten, um zu sehen, ob er beschlägt, weil sie atmet. Sie hat aber nicht geatmet. Und dann hab ich den Riss im Mantel gesehen und das Blut bemerkt und die Polizei gerufen. Das war vor etwa einer guten halben Stunde.“

Ilka warf einen raschen Seitenblick auf die Tote. Im Schein der Straßenlaterne war tatsächlich nur wenig zu sehen, und das Schwarz des Mantels hatte die Blutflecke auch vor ihren Augen verborgen. Es klang plausibel, was der Zeuge berichtete.

„Haben Sie die Tote schon einmal gesehen?“

Gahner schüttelte den Kopf. Er wirkte elend.

„Noch nie. Armes Ding, noch so jung. Wer tut denn so etwas?“

„Das werden wir herausfinden müssen. Geben Sie dem Kollegen Scheener bitte Ihre Personalien, Herr Gahner, falls wir später noch Fragen haben sollten. Und dann müssten wir einen Blick in Ihren Wagen werfen, ehe Sie die Waren abliefern.“

Ilka biss die Zähne zusammen, weil sie mit empörten Protesten rechnete, aber der krimifilmgestählte Zeuge wusste offenbar, was notwendig war, und nickte nur mit hängenden Schultern.

Dankbar fragte Ilka: „Haben Sie mit Ihren Auftraggebern schon telefoniert?“

Gahner nickte wieder. „Die wissen, was los ist. Sind nicht gerade glücklich, aber sie sehen ein, dass ich nichts dafür kann.“

Ilka bedankte sich bei dem Lieferanten, gab Scheener einen Wink, dass er sich um den Wagen kümmern solle und trat selbst zu der Leiche. Das Mädchen hatte wundervolle, lange goldblonde Haare gehabt, die nun leicht gewellt auf dem nassen Boden lagen und einen dramatischen Kontrast zum schwarzen Mantel bildeten. Die schlanken Beine steckten in schwarzen Strumpfhosen; an den Füßen trug die Tote Pumps. Ilka tippte bei der Bekleidung unter dem Mantel auf ein Winterkleid.

Sie betrachtete das junge Gesicht: Glatte Haut, sorgfältig geschminkt, gezupfte Brauen, dunkle Wimpern über grauen Augen, gekonnter Lidstrich. Die Tote war hübsch gewesen und hatte eine Menge dafür getan, um das zu unterstreichen.

Aus dem Gesicht ließ sich sonst nichts herauslesen. Es war nicht qualvoll verzerrt, es lag kein überrascht-fragender Ausdruck in den Augen oder was auch immer man sonst so in Krimis las, es war ganz einfach tot. Die junge Frau war nicht mehr, es war nur noch eine Hülle zurückgeblieben.

Der Riss im Mantel war etwas über zwei Zentimeter lang und schmal; aller Wahrscheinlichkeit nach hatte ein Messer ihn verursacht. Eine Kugel kam jedenfalls nicht in Frage.

Ilka richtete sich auf, als sie eine Autotür zuschlagen hörte. Über den nassen Asphalt lief ihr Partner Mike Bredau auf sie zu. Leicht außer Atem stoppte er vor ihr ab.

„Verdammt, wie schaffst du das immer, vor mir da zu sein?“

Ilka warf einen langen Blick auf seine sorgsam frisierten Haare, die an den Spitzen blond gefärbt waren.

„Ich brauche nicht jeden Morgen eine halbe Stunde im Bad, Schätzchen.“

Mike verdrehte die Augen.

„Nicht jeder sieht von Natur aus so gut aus wie du, da muss man schon ein bisschen nachhelfen.“

Ilka lächelte kurz, sie war dankbar für die kleine Frotzelei. Wenn man das überhaupt vergleichen konnte, dann sah Mike ganz klar besser aus als sie: Durchtrainiert, fit, groß gewachsen – sogar sein Gesicht war ziemlich attraktiv. Er verbrachte viel Zeit im Fitnesscenter, um in Form zu bleiben, besuchte in den Wintermonaten regelmäßig die Sonnenbank und betrachtete seine Frisur als eine Art Heiligtum. Aus Mikes lakonischen Bemerkungen nach den Wochenenden, mehr aber noch durch die Gerüchteküche der Kollegen wusste Ilka, dass er ausgesprochen erfolgreich bei den Damen war. Allerdings bevorzugte er, wie er es nannte, seichte Unterhaltung. Schönheit und Dummheit waren für ihn die perfekte Mischung, um nach der Arbeit abzuschalten.

Ilka hatte ihn einmal gefragt, ob ihn die jeweilige Frau denn dann auf die Dauer nicht auf den Geist ginge, und hatte dafür nur einen verständnislosen Blick geerntet. „Auf die Dauer?“ Daraufhin hatte sie sich die Ohren zugehalten und ihn nicht mehr auf seine amourösen Verwicklungen angesprochen.

Ilka selbst empfand sich neben Mike als durchschnittlich aussehend: Normale Größe, nettes Gesicht, normale weibliche Figur. Während Mike begeistert trainierte, musste sie sich immer wieder selbst dazu zwingen, um in Form zu bleiben. Während er Proteinshakes in sich hinein kippte, kochte sie, wenn sie die Muße hatte, für sich selbst mehrgängige Menus. Und als sie ihm erzählt hatte, dass sie jahrelang Raucher gewesen war, hatte er ihr völlig entsetzt einen mehrstündigen Vortrag gehalten.

Wenn er nun also von den Vorzügen ihrer natürlichen Schönheit sprach, war das weder ernst gemeint noch wurde es so aufgenommen.

Mike warf einen Blick auf die Leiche, und ehrliches Bedauern zeichnete sich auf seinen Zügen ab.

„Verdammt, was für eine Verschwendung. Sie sah toll aus.“

Ilka, die neben Ermordeten auf Oberflächlichkeiten immer etwas dünnhäutig reagierte, biss sich auf die Lippen, um ihn nicht zu maßregeln. Jeder geht mit Gewaltverbrechen anders um, dafür darfst du ihm keine runterhauen, ermahnte sie sich in Gedanken. Stattdessen setzte sie ihn vom dem in Kenntnis, was Gahner ausgesagt hatte. Gemeinsam sahen sie dabei zu, wie die Spurensicherung den Platz systematisch untersuchte und der Leichnam in einem der schwarzen Säcke verstaut wurde. Danach nahm Ilka den Ausweis des Opfers entgegen und warf einen Blick darauf. Jetzt hatte die Tote einen Namen: Vanessa Beerkamp. Fast 25 Jahre alt, konstatierte Ilka. Auf dem Ausweisbild lachte Vanessa und blickte selbstbewusst in die Kamera. Der Fotograf hatte sich wahrscheinlich gefreut.

Die Durchsuchung des Lieferwagens wurde abgeschlossen. Wie nicht anders erwartet, fanden sich hier nur die Dinge, die Gahner auch angegeben hatte. Ilka verabschiedete sich von dem Lieferanten und wandte sich an Mike: „Komm, wir fahren ins Büro. Da gibt es zumindest Kaffee. Und wenn die Bäckereien aufmachen, kannst du uns Brötchen holen.“ Mike stimmte ohne Murren zu, denn Ilka hatte auf ihrer Fensterbank eine Kaffeepad-Maschine stehen, und gegen ihren Kaffee war der aus dem Automaten Übelkeit erregend.

In ihrem Büro angekommen kochte Ilka erst einmal Kaffee, ehe sie sich seufzend an ihren Tisch setzte, Mike gegenüber.

„Wir müssen den Obduktionsbericht für Einzelheiten abwarten, aber für mich sah das wie ein Stich ins Herz aus.“

Mike nickte zustimmend. Ilka musterte ihren Partner unauffällig und dachte, dass sie ihn einem kleinen Test unterziehen könnte: Hatte er wirklich nur die Schönheit der Toten bemerkt?

„Ist dir noch etwas Besonderes aufgefallen?“, fragte sie beiläufig.

Mike nickte wieder. „Allerdings. Keine Abwehrverletzungen. Die Kleidung war nicht zerknittert und abgesehen von dem Riss über der Wunde unversehrt, und sie hatte lange, künstliche, fantasievoll verzierte Fingernägel – nie im Leben hätten alle zehn es unbeschadet überstanden, wenn sie handgreiflich gegen ihren Mörder vorgegangen wäre.“

Ilka atmete innerlich auf, wenn sie sich auch sonst nichts anmerken ließ. Eigentlich wusste sie ja, dass Mike nicht ganz so oberflächlich war, wie er tat, aber er schaffte es doch immer wieder, sie aus dem Konzept zu bringen. Sie betrachtete ihn als eine Art kleinen Bruder – mit seinen 28 Jahren war er immerhin ganze zwei Jahre jünger als sie – und fühlte sich für ihn verantwortlich.

„Genau“, stimmte sie zu. „Entweder hatte sie den Mörder noch nie gesehen, und es ist sozusagen ein unpersönliches Verbrechen, oder sie kannte denjenigen, der sie getötet hat, und glaubte, von ihm oder ihr nichts befürchten zu müssen.“

Mike legte nachdenklich den Kopf schief. „Ein unpersönliches Verbrechen? Hast du so etwas schon mal erlebt?“

„Nur im Fernsehen gesehen“, gab sie zurück. Ihrer Meinung nach war Mord das persönlichste Verbrechen überhaupt. Natürlich kannte sie die ganzen Serienkillergeschichten: Meist handelte es sich um Männer, die sich auf einen bestimmten Typus beschränkten, aber sie selbst hatte das noch nie erlebt. In allen Fällen, die sie bisher untersucht hatte und die keine reinen Raubmorde gewesen waren, hatte der Täter ein mehr oder minder gutes, grundsätzlich aber sehr persönliches Motiv gehabt.

Ilka warf einen Blick auf ihre Uhr.

„Zeit, dass du Brötchen holst, Mike. Und nach dem Frühstück müssen wir wohl oder übel zu Vanessas Eltern.“

„Da vergeht mir eigentlich der Appetit.“

„Mir auch, aber wir stehen den Tag nicht durch, wenn wir nichts in den Magen bekommen. Also hopp!“

Zwei Stunden später schloss sich die Haustür der Beerkamps hinter den beiden Kriminalkommissaren. Ilka atmete tief durch und versuchte, den Kloß in ihrem Hals aufzulösen. Wie wenig Zeit es doch in Anspruch genommen hatte, das Leben dieser beiden Menschen zu zerstören. Es hatte nur einen Satz dafür gebraucht: „Ihre Tochter ist tot.“

Ilka hasste diesen Teil ihres Berufs. Schlimmer noch als das Überbringen der Nachricht war für sie, dass sie die schockierten, fassungslosen, trauernden Angehörigen danach nicht in Ruhe lassen durfte, sondern dableiben und tausend Dinge fragen musste. Gerade, wenn die Opfer junge Menschen waren, hatte sie die Erfahrung gemacht, dass Eltern meist nur wenig Ahnung davon haben, mit wem genau ihre Sprösslinge verkehrten. Fast nie konnte sich jemand vorstellen, wer seinem Sohn oder seiner Tochter etwas antun wollte. Da aber gerade Eltern die Menschen sind, denen der jeweilige Sprössling einige Dinge vielleicht nicht unbedingt auf die Nase binden muss, ließ sich Ilka grundsätzlich die besten Freunde der Opfer nennen. Diesmal musste sie eine Christin Hauser aufsuchen.

„Die beiden sind unzertrennlich“, hatte die Mutter geschluchzt. „Arbeiten zusammen im Hair & Pare, und sie gehen oft zusammen aus. Sonst telefonieren sie stundenlang.“

Ilka hatte sich den Namen des Mädchens und des Beautysalons notiert.

„Hatte Ihre Tochter einen Freund?“

Die Frau hatte den Kopf geschüttelt.

„Nicht mehr. Sie war etwa zwei Jahre lang mit jemandem zusammen, mit Benjamin Schulze, aber vor ein paar Monaten haben die beiden sich gestritten und getrennt. Inzwischen sprechen sie wieder miteinander, aber er hat eine neue Freundin, und sie hat sich daran nicht sehr gestört. Ich glaube, er war einfach nicht das Richtige für sie. Schade, ich habe ihn gemocht.“

In diesem Moment hatte Frau Beerkamp Ilka so sehr an ihre eigene Mutter erinnert, dass sich ihr der Magen zusammen gezogen hatte. Ja, Vanessa Beerkamps Mutter musste die Hoffnung auf Enkelkinder nun aufgeben – wie hart das ihre eigene Mutter Marieka treffen würde!

Schnell hatte sie sich geräuspert und Mike einen Blick zugeworfen, um zu sehen, ob er noch Fragen hatte. Der hatte ein winziges Kopfschütteln angedeutet, und sie waren unter Beileidsbekundungen gegangen, um herauszufinden, wer der Tochter dieser beiden fassungslosen Menschen das Leben genommen hatte.

Draußen schüttelte sie sich wie ein nasser Hund. Mit einem Blick auf ihren Notizblock sagte sie: „Gut, ich setze auf Christin Hauser. Den Exfreund können wir bei Bedarf später immer noch ansprechen, oder was meinst du?“

Mike nickte entschieden. „Wenn die zusammen arbeiten, ausgehen und sich den Mund fusselig telefonieren, weiß Christin mehr über Vanessa als jeder andere.“

Ilka steckte das Heft wieder ein.

„Dann nichts wie los.“

Christin wohnte in einem winzigen Ein-Zimmer-Appartment. Zwar fraß das den Großteil ihres bescheidenen Gehalts, aber sie liebte es, eine eigene Wohnung zu haben und unabhängig zu sein. Mit drei Leuten war es allerdings schon ziemlich eng in dem Raum, und Mike fühlte sich sichtlich unwohl.

Christin war noch im Schlafanzug, als sie die Tür erst nach den dritten Klingeln öffnete. Sobald sie erfahren hatte, was ihrer Freundin passiert war, war sie in Tränen ausgebrochen und hatte sich bis jetzt nicht beruhigen können.

Ilka schickte Mike in der winzigen Küchenzeile auf die Suche nach Tee, um ihm etwas zu tun zu geben, und setzte sich selbst behutsam neben Christin auf die Schlafcouch.

Das Mädchen war vielleicht ein, zwei Jahre jünger als ihre Freundin, hatte schwarze, fransig geschnittene Haare mit blonden Strähnchen, zentimeterlange rot und schwarz lackierte Krallen und trug rührenderweise einen abgenutzten Frotteeschlafanzug mit kleinen Hunden darauf. Jede Wette, dass noch nie ein Freund den zu Gesicht bekommen hat, ging es Ilka durch den Kopf.

„Frau Hauser“, begann sie sanft, „wir möchten so schnell wie möglich aufklären, was Ihrer Freundin passiert ist. Haben Sie sie gestern gesehen?“

Das Mädchen nickte und schniefte. „Wir waren nach der Arbeit noch aus, haben zu Abend gegessen und dann in einer Lounge etwas getrunken und gequatscht. Eigentlich wollten wir gar nicht so lange bleiben, aber sie war so aufgeregt und hatte so viel zu erzählen – oh Gott, sie war so glücklich!“

Und sie senkte das Gesicht in die Hände und wimmerte.

Mike drehte sich mit dem Wasserkocher in den Händen um und hob fragend die Brauen. Ilka winkte ihm, sich wieder um den Tee zu kümmern.

„Warum war sie glücklich, Frau Hauser?“

„Sagen Sie doch Christin, bitte, das tut jeder. Vanessa war total happy, weil sie ein wunderbares Wochenende mit dem Typen verbracht hat, in den sie bis über beide Ohren verliebt ist.“

„Und jetzt lassen Sie mich raten“, sagte Ilka, „es handelt sich nicht um Benjamin Schulze.“

Christin blickte sie zwischen tränenfeuchten Wimpern überrascht an.

„Was? Nein, gar nicht. Ich glaube, in den war sie nicht einmal bis über beide Ohren verliebt, als sie noch mit ihm zusammen war. Nein, diesmal hat es sie richtig erwischt, mit Herzklopfen und weichen Knien und allem Drum und Dran, und ich hab mir etwas Sorgen um sie gemacht, weil ich nicht einschätzen kann, wie der Typ drauf ist, ob er sie nicht nur verarscht oder so.“

„Kennen Sie den Namen?“

„Den kennen Sie wahrscheinlich auch: Gabriel, der Sänger.“

Ilka entsann sich, den Namen zumindest mal auf einem Plakat gelesen zu haben, und auch Mike nickte.

„Kennen Sie seinen vollen Namen?“

„Ich… ich glaube, er heißt eigentlich Arndt Gabriel, aber für seinen Künstlernamen hat den Vornamen weggelassen. Gabriel fand er wohl cool genug, Vanessa hat erzählt, dass er sagt, so heißt ein Engel oder so.“

„Da hat er sogar recht.“ Mike kam mit einem Becher herüber, in dem ein Teebeutel zog, und stellte ihn vor Christin ab. „Was können Sie uns sonst noch über Vanessa erzählen? Lassen Sie sich ruhig Zeit – wir müssen ein möglichst genaues Bild von ihr haben.“

Eine gute Stunde später hatten sie ein ziemlich genaues Bild von ihr: Ein Bild, wie es nur eine liebevolle beste Freundin zeichnen kann. Vanessa war lebenslustig, aber nicht übermäßig wild gewesen, freundlich, voller lustiger Einfälle, einfühlsam, eben die beste Freundin, die man sich vorstellen kann. Und rasend verliebt in diesen Gabriel. Von dem hätte sie auch den ganzen Abend schwärmen müssen, erklärte Christin, sonst wäre sie gar nicht mehr so spät in dieser Ecke unterwegs gewesen, wo sie dann letztendlich gestorben sei. Erst um kurz vor halb eins hätten sie sich nach Hause aufgemacht. Ein wenig erschrocken seien sie gewesen, weil es doch so spät war und sie heute arbeiten mussten. Darum habe sie auch heute etwas verschlafen und müsse dringend im Salon anrufen.

„Sofort. Eine Frage noch: Sind andere Gäste zeitgleich mit Ihnen aufgebrochen?“

Christin schüttelte den Kopf. „Unter der Woche ist da nie so lange was los, und die Barkeeper putzten schon um uns herum. Wir waren die Letzten.“

Ilka und Mike erhoben sich, um zu gehen. Der Anblick des verweinten jungen Gesichts versetzte Ilka jedoch einen Stich ins Herz.

„Haben Sie jemanden, den Sie anrufen können?“, fragte sie.

Christin nickte und las den Namen auf der Karte, die Ilka ihr gegeben hatte.

„Tun Sie mir nur einen Gefallen, Frau Behnke, und finden Sie den Typen!“

„Ich tue mein Bestes“, versprach Ilka.

„Ich finde, wir stellen den Exfreund noch einmal zurück und gucken uns diesen Sänger näher an“, schlug Mike vor. „Oder willst du dringend erst zu dem Schönheitssalon?“

Das letzte hatte ein bisschen herausfordernd geklungen, und Ilka hob die Brauen.

„Danke, nein. Wenn du deine Sehnsucht nach Eau de Cologne und Maniküre noch etwas bezähmen kannst, würde ich ebenfalls den Sänger vorziehen.“

„Eau de Cologne“, höhnte Mike, „was kommt als Nächstes? Die Brennschere fürs Haar oder so? In was für eine Welt lebst du eigentlich, Behnke?“

„In einer rauen Männerwelt, Schätzchen, und dich habe ich dort noch nicht getroffen.“

Sie stiegen grinsend in den Wagen, und Mike telefonierte mit der Zentrale, um die Adresse des Sängers heraus zu finden. Er schnalzte mit der Zunge, als sie durchgegeben wurde. „Das kenn ich, das ist am Westerberg. Ganz was Edles – wir Normalsterblichen können uns das im Leben nicht leisten.“

„Was meinst du, ist unser Nicht-Normalsterblicher schon wach?“

„Warum sollte er? Ich wär’s jedenfalls an seiner Stelle nicht.“

Mike täuschte sich jedoch. Sie fuhren durch Straßen, in denen die Grundstücke größer und die Zäune höher wurden und erreichten schließlich die noble Villa, in der der Sänger lebte. Sie durchschritten den planvoll angelegten, gut gepflegten Vorgarten. Im Sommer muss es hier wunderschön aussehen, dachte Ilka mit einem Blick auf die Rosensträucher. Selbst jetzt noch, an diesem dürftigen Oktobermorgen, streckten sich einige hartnäckige Restblüten nach der fahlen Sonne.

Sie erreichten die Tür der Villa und drückte auf die Klingel. Wohlgefällig lauschte sie dem altmodisch-melodiösen Ton im Innern. Die Klingel in ihrer Mietwohnung klang so, als wolle sie keinen Besuch, sondern einen Angriff ankündigen.

Eine Frau mittleren Alters mit verschlossenem Gesicht öffnete die Tür.

Ilka stellte Mike und sich vor, und sie hielten ihr ihre Ausweise entgegen. Misstrauisch prüfte die Frau erst den einen, dann den anderen Ausweis. Bisher hatte sie nichts gesagt, auch die Vorstellung nicht erwidert. Nun trat sie einen Schritt zurück und öffnete die Tür, damit die Kriminalkommissare eintreten konnten. Sie gab ihnen einen Wink, ihr zu folgen, und klopfte an die Tür im rückwärtigen Bereich der Eingangsdiele. Nachdem sie einige Worte in den Raum hinein gemurmelt hatte, bedeutete sie Ilka und Mike, einzutreten.

Der Raum entpuppte sich als Bibliothek. Hohe Wände waren über und über mit Bücherregalen bestückt, in denen sich Sammlerstücke mit moderner Unterhaltungsliteratur mischten. Ein offener Kamin mit Teetisch und Sesseln davor, ein pompöser Leuchter und ein antiker dunkler Schreibtisch komplettierten den Raum.

Der Sänger Arndt Gabriel erhob sich hinter dem Schreibtisch und kam auf die Polizisten zu. Neugierde stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er ihnen die Hand reichte. Ilka musterte ihn rasch. Etwa ihr eigenes Alter, Anfang dreißig, mittelblonder Scheitel, markantes Gesicht, schlank. Selbstgefällig.

Sie stellte sich und Mike vor und erklärte den Grund ihres Besuchs.

Gabriel starrte sie an. „Wie bitte? Vanessa ist tot?“

Wenn er kein wirklich guter Schauspieler war, war er tatsächlich überrascht. Überrascht und betroffen.

„Ja, sie wurde heute Morgen um halb fünf tot aufgefunden. Ein Unfall ist auszuschließen, und als wir Erkundigungen in ihrem näheren Umfeld eingezogen haben, ist Ihr Name gefallen.“

Gabriel fuhr sich mit der Hand durch den Scheitel und wies dann auf die Sessel, die vor dem Kamin standen.

„Setzen wir uns doch.“

Als sie Platz genommen hatten, fügte er hinzu: „In welchem Zusammenhang ist mein Name gefallen, wenn ich fragen darf?“

„Uns wurde erklärt, dass Sie und die Tote eine Beziehung hatten.“

Der Sänger seufzte tief.

„Beziehung – das ist etwas zu viel gesagt. Vanessa war ein Fan, sie liebte meine Musik und sie war von mir als Person angetan. Wir haben uns gegenseitig einige schöne Stunden bereitet, speziell physisch, aber die für eine Beziehung notwendige psychische Verbindung war denn doch eher nicht gegeben.“

Ilka dachte daran, wie sehr Vanessa an ihrem letzten Abend von diesem Mann geschwärmt hatte, und erinnerte sich an Christins Befürchtungen. Dass Mike in diesem Moment zu den Ausführungen des Sängers verständnisinnig nickte, war nicht eben dazu angetan, ihren aufsteigenden Zorn zu mildern.

„Haben Sie nie einen Gedanken daran verschwendet, dass Vanessa Ihre Verbindung mit anderen Augen betrachten könnte?“

Ein zufriedenes Blitzen in den Augen des Sängers verriet ihr, dass ihm dieser Gedanke sehr wohl gekommen sei. Er wischte den Einwand jedoch mit großer Geste beiseite.

„Ach was, das darf man nicht zu Ernst nehmen. Das Mädchen hat an Heldenverehrung gelitten; es wäre ihr schon früh genug aufgegangen, dass ich nicht so interessant bin, wie sie denkt.“

„Das zumindest erscheint mir plausibel“, versetzte Ilka unwillkürlich und biss sich dann auf die Zunge. Mike rutschte neben ihr auf dem Sessel hin und her, während sie versuchte, ein Pokerface zu wahren. Eine kurze Regung von Kränkung huschte über Gabriels Gesicht, ehe er sich wieder in der Gewalt hatte.

„Nun, nachdem wir da übereinstimmen, womit kann ich Ihnen helfen?“

Ilka war erleichtert, als sie die Bibliothek endlich verlassen konnten. Sie hatten aus dem Sänger nichts Brauchbares herausbekommen: Nach eigenen Angaben hatte er Vanessa am Sonntagmorgen zuletzt gesehen, als sie sich verkatert aus seinem Bett gequält hatte. Seitdem habe er mit ihr nicht telefoniert und auch ansonsten nichts von ihr gehört. Die Namen von anderen jungen Damen, mit denen er sich in letzter Zeit getroffen habe? Ob das notwendig sei? Er wolle die Lieben nun wirklich nicht erschrecken… gut, gut, er schriebe ja schon. Die letzte Nacht habe er zu Hause verbracht, bedauerlicherweise allein.

Seine Redeweise, dieses Machogetue und seine ganze Einstellung waren mit der Sanftheit einer Käsereibe über Ilkas ethisches Empfinden gefahren. Sie hatte streng achtgeben müssen, um nicht ausfallend zu werden, während Mike offenbar nichts Verwerfliches an Gabriel hatte finden können.

Die missbilligende Frau, die ihnen die Tür geöffnet hatte, stand auf der Treppe in der Ecke der Eingansdiele, als sie aus der Bibliothek traten.

Rasch trat Ilka auf sie zu und sagte: „Wir würden Ihnen gern einige Fragen stellen.“

Die Frau zuckte sichtlich zurück und lehnte sich nach hinten, ehe sie widerstrebend zum Fuß der Treppe kam.

„Ja?“

„Wie heißen Sie, bitte?“

„Meyer.“

„Und mit Vornamen?“

„Elsa.“

„Frau Meyer, kennen Sie dieses Mädchen?“

Sie hielt ihr ein Bild der Toten entgegen. Elsa Meyer warf kaum einen Blick darauf.

„Hab ich nie gesehen.“

„Sie führen Herrn Gabriels Haushalt, nicht wahr?“

Sie nickte.

„Und dieses Mädchen ist mindestens drei Mal hier gewesen. Gucken Sie noch einmal genauer hin.“

Elsa Meyers Blick fokussierte einen Punkt neben Ilka.

„Ich hab doch gesagt, ich hab sie nie gesehen. Ich wohne nicht hier, und ich kann mich nicht um jede Frau kümmern, die Herr Gabriel mitbringt. Ich hab genug zu tun.“

Und sie presste die Lippen zusammen.

Ilka seufzte und zog eine ihrer Visitenkarten heraus, die sie der Frau entgegenstreckte. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.“

Elsa Meyer nahm die Karte, ließ sich jedoch nicht zu einem Nicken herab.

Ilka presste einen Abschiedsgruß hervor und ließ die Haustür hinter Mike und sich etwas lauter als unbedingt notwendig ins Schloss fallen.

„Was für eine wunderschöne Villa, und dann ist sie bevölkert von totalen Arschlöchern. Das ist das umgekehrte Bild von der Blume auf dem Misthaufen: Hier hat man einen wundervollen Blumengarten, in dem zwei Misthaufen wohnen!“

„Komm mal runter“, empfahl ihr Mike zartfühlend. „Meinst du nicht, dass du da drin ein bisschen übertrieben hast?“

Sekunden später wurde ihm klar, dass er den größtmöglichen Fehler begangen hatte.

Als sie auf dem Revier ankamen, stritten sie immer noch. Erst auf dem Weg zu ihrem Büro verstummte Ilka abrupt, als sie hinter einer Ecke fast mit Philipp zusammenstieß. Zwar verschwand der in Sekundenschnelle, nachdem er irgendetwas gemurmelt hatte, aber allein die Begegnung reichte aus, um sie zum Schweigen zu bringen. Mike schob sie in ihr Büro und machte die Tür hinter sich zu. Er sah auf einmal nicht mehr so angriffslustig aus wie in den letzten zwanzig Minuten. Seufzend drückte er sie auf ihren Stuhl und machte sich daran, die Kaffeemaschine zu befüllen.

„Weißt du, Behnke, Gott liebt mich einfach. Wenn du wütend durch die Gegend stapfst und meinen Lebensstil kritisierst, dann schickt er uns garantiert dein Arschloch von Exfreund über den Weg. Das ist zwar nicht nett von ihm, aber heilsam. Frieden?“

Ilka nickte beschämt. Sie hatte sich hinreißen lassen, hatte ihre Empörung über den Sänger an Mike ausgelassen, indem sie ihm dasselbe oberflächliche, gedankenlose Handeln unterstellt hatte.

Mike setzte eine Tasse vor ihre Nase.

„Und damit du jetzt völlig glücklich und zufrieden bist: Ich bin nicht so heiß drauf wie dieser Gabriel, dass man auf mich steht. Ich mache grundsätzlich von vornherein klar, dass ich nichts Festes suche. Bei mir weiß jede, woran sie ist.“

Ilka starrte ihn aus großen Augen an.

„Und das klappt dann noch?“

Jetzt konnte Mike sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.

„Wenn ich das Ganze verschweigen würde, würde es zwar öfter klappen, aber ja – ich kann mich eigentlich nicht beklagen. Die Zeiten haben sich geändert: Auch junge Frauen wissen heute ganz genau, was sie wollen. Und wenn sich dieser Wunsch zufällig mit meinem überschneidet, dann ist doch nichts Verwerfliches daran, schließlich sind alle Beteiligten erwachsen.“

Ilka schüttelte irritiert den Kopf.

„Das kann ich mir nur schwer vorstellen, aber wenn du es sagst… Moment mal, was meinst du mit ‚alle Beteiligten’ Das klingt mir zahlenmäßig nach mehr als üblich?“

Im nächsten Moment hätte sie sich ohrfeigen können, denn Mike setzte ein derart dreckiges Grinsen auf, dass sie sich entsetzt die Ohren zuhielt und ‚Lalala’ sang, um von einer eventuellen Antwort nichts mitzubekommen.

Dabei starrte sie auf ihren Schreibtisch und direkt auf den Bericht des Gerichtsmediziners, den sie bisher im Wust der anderen Papiere übersehen hatte. Sie nahm ihn auf und gebot ihrem promiskuitiven Partner mit erhobener Hand Einhalt: „Stopp, Schätzchen, zieh dein Gehirn aus den abartigen Sümpfen, in denen es momentan watet – hier hat sich jemand wirklich beeilt.“

Rasch überflog sie die Ergebnisse. Todesursache war wie vermutet ein Stich ins Herz; die Tiefe der Wunde und ihr Verlauf würden zu vielen handelsüblichen Fleischmessern passen. Ilka seufzte und blätterte weiter. Etwa fünf Stunden vor ihrem Tod hatte Vanessa einen Salat mit Thunfisch gegessen, und ihr Blutalkoholwert lag bei 0,9 Promille, als sie starb. Der Todeszeitpunkt lag zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh.

Resigniert reichte sie den Bericht zu Mike hinüber, der ebenso wenig damit anfangen konnte wie sie.

„Dann sollten wir jetzt pro forma beim Exfreund vorbei schauen, und dann müssen wir uns wohl oder übel an Gabriels ‚Süße’ machen.“

„Eher ‚wohl’“, konstatierte Mike. „Der Mann mag nicht ganz deine Kragenweite sein, aber er hat einen guten Geschmack.“

Ilka verbiss sich einen Kommentar für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Allmächtige ihr als Strafe für einen erneuten Rüffel wieder ihre untreuen Exfreund vor die Nase stellen würde.

Wie erwartet hatte der Exfreund des Opfers nichts Wissenswertes beizusteuern. Benjamin Schulze war sichtlich schockiert von den Nachrichten, hatte nichts gehört, nichts gesehen und keine Idee. Die letzte Nacht hatte er mit seiner Freundin verbracht, die er jetzt bei der Arbeit anrufen wollte. Als die Kriminalkommissare gingen, unterdrückte er die Tränen.

„Dann fahren wir jetzt zu… Daniela Möllner“, verkündete Mike bestimmt. Ilka schnaubte, ließ sich aber die Adresse geben. Die junge Frau war aber nicht daheim, und sie hinterließen eine Nachricht mit der Bitte um Rückruf auf ihrer Mailbox. Mit Kerstin Hornbach hatten sie nicht mehr Glück, erst Jenny Mühlenstedt trafen sie zu Hause an. Sie öffnete in einem dicken Saunabademantel, hielt sich ein Taschentuch vor die Nase und schien fiebrig und erschöpft. Sie hörte sich an, was Ilka ihr erklärte, erschrak und bat die beiden Polizisten mit rauer Stimme herein. Kraftlos ging sie voran in die Küche und ließ sich auf einen der Stühle fallen, während sie mit der Hand auf die anderen wies.

„Setzen Sie sich. Sie sagen, Vanessa ist tot?“

„Ja, sie wurde heute Morgen tot aufgefunden. Wie gut kannten Sie sie?“

Jenny nieste. „Nicht besonders gut. Wir haben uns hin und wieder in der Stadt getroffen – sie arbeitet in einem Schönheitssalon, ich in einer Boutique – und dann auf den Konzerten von Gabriel.“

Unter ihrer roten Nase erblühte plötzlich ein erstaunlich süßes, wehmütiges Lächeln.

„Auch wenn uns sonst nicht so viel verbunden hat, hatten wir immerhin denselben Geschmack, was Männer angeht. Die letzten Abende hatte allerdings sie die Nase vorn. Sie und Daniela.“

„Wie stehen Sie zu Arndt Gabriel?“

„Gabriel“, stellte das fiebernde Mädchen klar. „Seinen Vornamen mag er nicht. Ich liebe ihn.“

Ilka vermied es sorgsam, Mike anzublicken. „Wissen Sie, wie Vanessa zu ihm stand?“

Jenny nickte. „Wie ich, wie Daniela, wie noch viele andere. Es ist… magisch, wissen Sie? Zum Teil bin ich immer noch davon überzeugt, dass ihm eines Tages aufgeht, dass ich die Richtige bin.“ Nachdenklich spielte sie an ihrem wirren blonden Zopf. „Meine beste Freundin verzweifelt an mir. Kennen Sie ihn?“

Ilka hielt ihre Mimik streng unter Kontrolle. „Wir hatten bereits das Vergnügen.“

„Dann wissen Sie es ja.“

Mike warf schnell ein: „Wann haben Sie Vanessa zuletzt gesehen, Frau Mühlenstedt?“

Jenny runzelte die Stirn und nieste erneut. „Samstagabend, auf dem Konzert. Beziehungsweise nach dem Konzert, als ich gehofft hatte, dass Gabriel den Rest des Abends mit mir verbringen würde. Er wollte ihn aber mit Vanessa verbringen, und ich bin deprimiert heimgelaufen. Dabei hat es ziemlich geregnet, aber ich habe mir kein Taxi bestellt, weil das Mistwetter so gut zu meiner Stimmung gepasst hat. Naja, und dabei hab ich mich wohl fies erkältet.“

„Sie liegen seit Sonntag mit Fieber im Bett?“

Das erschöpfte Mädchen nickte mit halbgeschlossenen Augen; offenbar ging ihr der Sinn der Frage gar nicht auf.

Ilka reichte ihr ihre Karte und bat um Anruf, falls ihr noch etwas Wichtiges einfallen möge. Dann überließen sie die junge Frau ihrer Genesung.

Auf dem Bordstein vor dem Haus schüttelte Ilka fassungslos den Kopf. „Schöne junge Frau läuft weinend durch den Regen und wird krank wegen dieses Typen, glaubt aber immer noch, die Richtige für ihn zu sein. Was ist bloß los mit dem Mann? Hat er Drogen auf der Zunge?“

Mike zuckte die Achseln. „Er hat wohl das gewisse Etwas, wenn man es erstmal erkennt. Und sein Geschmack ist tatsächlich exzellent – wenn die kleine Mühlenstedt nicht die Grippe gehabt hätte, wäre sie der Hammer gewesen, da bin ich mir ziemlich sicher.“

Ilka verdrehte die Augen.

Stunden später klingelte Ilka bei ihren Eltern. Im Laufe des Tages hatten Mike und sie noch mit Vanessas entsetzten Kollegen einerseits und mit Kerstin Hornbach und Daniela Möllner andererseits gesprochen. Ersteres Gespräch ergab nichts, bis auf einige Tränen, und abgesehen von weniger Niesern hatten die Gespräche mit den beiden Gabriel-Fans frappierend an das mit Jenny Mühlenstedt erinnert: Sie hatten Vanessa oberflächlich gekannt, waren erschrocken, konnten aber nichts Besonderes aussagen. Beide Mädchen waren am Samstag auf dem Konzert gewesen; beide waren enttäuscht heimgekehrt, als Gabriel mit Vanessa verschwunden war. Beide sagten aus, sie seien in der vergangenen Nacht daheim gewesen, keine von ihnen hatte dafür einen Zeugen. Sie teilten auch Jennys Überzeugung, die einzig Richtige für Gabriel zu sein. Ilka war angewidert, aber was ihr tatsächlich keine Ruhe ließ, war die Erinnerung an das Gespräch mit Vanessas Eltern. Also hatte sie am Nachmittag bei ihren Eltern angerufen und sich zum Abendessen eingeladen.

Uwe Behnke öffnete die Tür und nahm seine Tochter lächelnd in die Arme.

„Schön, dich zu sehen. Komm rein, Marieka ist in der Küche. Es gibt Stopsel.“

Und er strahlte, während Ilkas Lächeln etwas verblasste. Stopsel? Bäh. Ihr Vater liebte das fettige Gemisch aus zerkleinertem Schweinefleisch, Speck und Grütze, das er auf dick gebuttertes Schwarzbrot häufte und mit Spiegelei verzierte, aber sie selbst fand es ekelhaft.

Wann immer Freunde von außerhalb sie im Herbst oder Winter besuchen kamen, hieß es früher oder später vor irgendeiner Fleischerei: „Stopsel? Was ist das denn? Das klingt lustig, wollen wir das essen?“ Und Ilka wehrte jedes Mal entschieden ab.

Allerdings war auch Marieka nicht so hingerissen von dieser regionaltypischen Spezialität, und als Ilka unter dem herben Stopselgeruch einen leichten Rosmarinduft wahrnahm, während sie die Küchentür öffnete, schöpfte sie wieder Hoffnung. Marieka legte den Löffel weg, mit dem sie gerade die Rosmarin-Sahnesauce abgeschmeckt hatte, in der die Hähnchenfiletstreifen für sie und ihre Tochter schmurgelten, um drückte Ilka an sich.

„Hallo, Liebes! Dein Anruf hat mich vor Stopsel gerettet. Ich mach jetzt nur welches für deinen Vater, und wir bekommen etwas Leckeres.“ Sie zwinkerte ihr zu und winkte in Richtung des Küchenschranks. „Deck mal den Tisch, ja?“

Das Abendessen verlief friedlich; Marieka erzählte von den Blumen, die sie zum Überwintern in den Keller gebracht hatte, und von der Scheidung der Tochter ihrer Freundin. Uwe warf hin und wieder einen trockenen Kommentar ein, und Ilka spürte, wie sie das sanft plätschernde Erzählen angenehm beruhigte. Dann allerdings fragte ihre Mutter, was es denn Neues gebe, und widerstrebend gab sie in knappen Worten die Geschehnisse des Tages wieder. Uwe zog die Brauen zusammen, und Marieka ließ einen klagenden Ton hören. „Wie schrecklich! So ein junges Ding – sie ist ja sogar jünger als du! Ja, da sieht man doch, dass man für jeden Tag dankbar sein muss.“ Rasch drückte sie die Hand ihrer Tochter. „Hast du schon irgendwelche Anhaltspunkte?“

Uwe räusperte sich, aber Ilka war schneller. „Mama, du weißt doch, dass ich darüber nicht reden darf. Lass uns das Thema wechseln, ja?“

Marieka nickte reuig. „Tut mir Leid, es ist nur so empörend. Aber du hast Recht. Ich wollte dich sowieso noch fragen, ob du Philipp mal wieder gesehen hast.“

Ilka unterdrückte ein Stöhnen. Lieber würde sie alles über den Mord ausplaudern als diese Geschichte noch einmal aufzuwärmen.

„Ja, ich sehe ihn immer mal wieder auf dem Revier, und das ist keine Freude.“

Marieka schob ihr letztes Stück Hähnchen hin und her.

„Es geht mich ja nichts an, Liebes, aber meinst du nicht, dass ein Fehltritt vielleicht verzeihlich wäre? Ihr habt euch doch so gut verstanden…“

Ilka seufzte tief. Sie würde wohl deutlicher werden müssen, als sie das bisher gewesen war.

„Theoretisch, wenn wir zu der Zeit Probleme gehabt hätten oder so, dann wäre das vielleicht etwas anderes gewesen. Oder wenn er auf einer Party und betrunken gewesen wäre. Aber es lief gerade alles super, und er war stocknüchtern, als er hat sich klaren Geistes dazu entschieden hat, mit diesem Anfängerhäschen ins Bett zu springen. Und wenn ich einen Mann an der Seite hätte, der bei jedem neu eingestellten Polizistinnenhintern, der gerade jung und knackig den Sporttest bestanden hat, in Versuchung gerät, dann hätte ich keine ruhige Minute mehr. Tut mir Leid, Mama, aber das Vertrauen ist weg.“

Marieka machte ein etwas erschrockenes Gesicht – die näheren Umstände, die zum Bruch in der Beziehung ihrer Tochter geführt hatten, waren ihr nicht bekannt gewesen.

„Was für ein Jammer…“, murmelte sie schließlich. „Hoffentlich lernst du bald wieder einen netten jungen Mann kennen. Es ist doch schöner, wenn man zu zweit ist.“

Uwe ließ ein zustimmendes Brummen ertönen, und Ilka betrachtete einen Moment lang gerührt, wie ihre Eltern einen liebevollen Blick austauschten.

„Ich sehe, was ich tun kann. Aber ich verspreche nichts“, sagte sie.

Fallende Blätter

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