Читать книгу Fallende Blätter - Kim Bergmann - Страница 5
Er ist wirklich gut
ОглавлениеProfessor Kühne ließ seine Taschenuhr aufschnappen, warf einen Blick darauf und seufzte.
„Also, meine Damen und Herren, Sie haben es fast geschafft. Letzte Frage: Von wem stammte das Zitat, das ich eben vorgetragen habe?“
Er betrachtete die Gesichter der vielen jungen Leute, die es sorgfältig vermieden, seinem Blick zu begegnen.
„Weiß es niemand?“
Leises Geraschel zeigte an, dass die Studenten im Geiste bereits im Wochenende weilten und sich durch verstohlenes Einpacken ihrer Unterlagen darauf vorbereiteten, sofort mit Seminarschluss aus dem Raum stürmen zu können.
Leise seufzte der Professor noch einmal. Er würde es nie verstehen können, dass diese jungen Personen ihre Partys und… und Handys oder so interessanter fanden als italienische Literaturgeschichte, aber da dem offenbar so war, gab er ihnen eine Hilfestellung.
„Na, kommen Sie. Es war nicht Dante, nicht Petrarca…?“
In der Seitenreihe am Fenster hob sich eine schmale Hand, und eine ruhige, hohe Stimme konstatierte: „Dann war es Boccaccio.“
Professor Kühne nickte dankbar. „Richtig, Frau Kettler. Und jetzt ab ins Wochenende mit Ihnen, Sie können es ja kaum noch erwarten.“
Der letzte Halbsatz ging bereits im Geraschel und Getrampel der fünfundzwanzig Studenten unter, die gleichzeitig aufsprangen und zur Tür drängten.
Der Professor schüttelte leise den Kopf, dachte, dass die junge Kettler doch die Einzige sei, die ein bisschen Interesse an den Tag legte, und verließ den Seminarraum, um sich für das Wochenende in den Ohrensessel in seinem Arbeitszimmer zurückzuziehen.
Draußen im Flur musste er den fliegenden blonden Haaren einer seiner Studentinnen ausweichen, die gerade energisch den Kopf schüttelte. Dass die fröhliche, desinteressierte Daniela Möllner sich so die Müdigkeit abzuschütteln versuchte, die sie in diesem schnarchlangweiligen Seminar immer heimsuchte, ahnte der würdige Mann glücklicherweise nicht.
„Huch!“ Geschmeidig sprang Daniela aus des Professors Weg, schenkte ihm ein breites Lächeln, bis er vorbei war und wandte sich dann wieder der Freundin zu.
„Himmel, ich danke dir, dass du immer zu diesen Stunden mitkommst, obwohl du nicht musst. Ohne dich würde ich einschlafen.“
Frauke blickte sie bass erstaunt an.
„Machst du Witze? Ich hätte dieses Seminar auf jeden Fall besucht. Italienische Literaturgeschichte aus der Renaissance ist ein unheimlich wichtiges Kapitel, und gerade durch das damalige Mäzenatentum auch sehr ergiebig. Und solche Sachen wie der ‚Rasende Roland’ machen die ganzen Jahreszahlen doch locker wieder wett, oder?“
Daniela legte den Kopf zur Seite und betrachtete sie einige Sekunden lang schweigend.
„Du meist das wirklich ernst, nicht wahr? Du bist doch immer wieder ein Wunder zum Staunen. A propos Staunen“, sie senkte die Stimme, so tief sie konnte: „Wie machst du das bloß, Frau Kettler?“
Mit in Falten gelegter Stirn imitierte sie Professor Kühne so treffend, dass Frauke kichern musste.
„Nee, im Ernst.“ Daniela klang wieder normal. „Woher weißt du so was? Woher wusstest du, dass das Zitat von Boccaccio war, wer auch immer das sein mag?“
Frauke zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht genau… das ist halt so, dass Dante, Petrarca und er in der italienschen Literaturgeschichte eine Art Dreigestirn bilden. Wenn man nach einem Namen gefragt wird, und die anderen beiden werden genannt, dann kann man sich sicher sein, dass die Antwort der Dritte ist. Und Boccaccio – weißt du was, ich bringe dir mal eins seiner Bücher mit.“
Der halb entsetzte Blick der Freundin brachte sie zum Lachen.
„Keine Angst, du wirst ihn mögen. Ich rede vom Decameron, das sind viele kleine Kurzgeschichten, die sich beispielsweise um lüsterne Mönche drehen. Ist ausgesprochen kurzweilig und manchmal ein bisschen bösartig.“
Daniela schauderte kurz bei dem Gedanken daran, dass sie sich bei Lektüre von vor wer weiß wie vielen Jahrhunderten amüsieren sollte, doch dann bekam sie einen Geistesblitz.
„Pass auf“, wandte sie sich an Frauke. „Ich guck mir das Buch mal an, und dafür kommst du heute Abend mit mir ins Mexx. Da ist ein Konzert von Gabriel, den wirst du mögen, hat ´ne Menge intelligenter Texte und so. Ich stehe auf der Gästeliste, weil… hm, ich ihn ganz gut kenne. Und hinter meinem Namen auf der Liste steht +1, ich kann also noch jemanden mitbringen, und es wär doch bestimmt total witzig, wenn wir da zusammen auflaufen würden, oder? Kostet dich dann auch nichts.“
In diesem Moment kam ein Kommilitone Danielas angeschlendert und blieb vor den Mädchen stehen. Frauke kannte ihn vom Sehen und wusste nicht Recht, wie sie ihn einordnen sollte: Er trug betont lässige Kleidung, ein Augenbrauenpiercing mit einem türkisen Stein und eine Frisur, die Unmengen Gel erforderte. Was Frauke aber besonders seltsam vorkam, war, dass er immer müde aussah. Jetzt heftete er seine geschwollenen roten Augen auf Daniela, und ein breites, träges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Heeeey, Dany! Wie schaut’s?“
Daniela umarmte ihn herzlich zur Begrüßung. „Danke, bestens. Kennt ihr euch? Peter – Frauke, Frauke – Peter“, stellte sie vor. Frauke nickte dem Jungen zu, der sie mit einem Seitenblick streifte und „hi“ murmelte, ehe er sich wieder an Daniela wandte.
„Hab ich das richtig mitgekriegt gestern, haben dich echt die Bullen angerufen?“
Daniela nickte. „Ja, aber ich konnte ihnen nicht helfen. Ein Mädchen ist ermordet worden, das ich ein paar Mal gesehen hatte.“
Frauke machte große Augen, und Peter sagte: „Das ist ja krass, Alter! Also… also hatte das gar nichts zu tun mit…?“
Daniela stupste ihn sanft an der Schulter an. „Quatsch. Und du weißt ja, selbst wenn, ich weiß von nichts. Mach dir mal keine Sorgen.“
Das war es offensichtlich, was Peter hatte hören wollen, und nach ein paar unzusammenhängenden Abschiedsworten schlurfte er weiter.
Frauke starrte ihm hinterher.
„Was war das denn?“
Daniela zuckte die Achseln. „Was meinst du?“
„Erstmal: Wovon weißt du nichts?“
Ihre Freundin machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Ach so, war das nicht offensichtlich? Peter dealt mit Gras; manchmal glaube ich allerdings, dass er selbst sein bester Kunde ist.“
„Und du deckst das?“
„Ach komm, das ist doch nicht so schlimm. Und Peter ist echt ein ganz Lieber, glaub mir.“
Frauke blickte zweifelnd drein, beließ es aber erstmal dabei. Der andere Punkt war nämlich eigentlich noch interessanter.
„Okay, und zweitens: Du wurdest wegen eines Mordes von der Polizei angerufen? Warum erzählst du so etwas denn nicht?“
„Wir haben uns doch seitdem gar nicht gesehen, und du magst es ja nicht, in den Seminaren zu quatschen“, verteidigte Daniela sich. „Und so interessant ist das jetzt auch nicht. Ich hab ja gesagt, ich kannte das Mädchen kaum und konnte der Polizei nicht helfen.“
„Und wie kommen die dann auf dich?“
„Das Mädchen, Vanessa, war am Samstag auf demselben Konzert wie ich. Ich weiß nicht, ob die Polizei da jetzt einen Zusammenhang sieht oder erst einmal in alle Richtungen ermittelt. Das wird sich wohl zeigen. Aber hey, wenn dich das interessiert, dann ist das noch ein Grund mehr, mit zu Gabriels Konzert zu kommen, das Samstag war nämlich auch eins von ihm. Bitte sag ja!“
Frauke wollte eigentlich das Lernen für ihre Doktorarbeit als Entschuldigung anführen, denn Clubbesuche und Konzerte gehörten so gar nicht zu ihren bevorzugten Freizeitbeschäftigungen, doch Daniela kannte die ungleiche Freundin gut genug, dass sie die Unterlippe leicht vorschob und einen Hundeblick aufsetzte. „Bitte! Du musst doch auch mal was anderes sehen als deine Bücher, und das würde doch so viel Spaß machen! Bitte, bitte, bitte!“
Frauke blickte auf in das bettelnde Gesicht – Daniela war fast einen Kopf größer als sie – und gab lachend auf.
„Okay, okay. Wann soll es denn losgehen?“
Daniela ließ einen triumphierenden kleinen Schrei hören.
„Ich hol dich um sieben ab, ja? Bis dahin bin ich nicht erreichbar.“
Sie schwang ihre Tasche über ihre Schulter, drehte sich einmal um sich selbst, winkte kurz und tänzelte davon.
Damit kann ich nicht mehr absagen, dachte Frauke und musste leise lächeln. Daniela kannte sie eben doch sehr gut.
Seufzend stellte sie in Gedanken den Arbeitsplan für den Tag um.
Sie glaubte fest an Regeln und Pläne, nach denen sie ihr Leben ausrichtete. Mit sechzehn hatte sie in einem Verkehrsunfall ihre Eltern verloren; Geschwister hatte sie nicht. Ihre Eltern – freundliche, arbeitsame, grundsolide Menschen – hatten eine Lebensversicherung abgeschlossen, von der Frauke ihr Leben bis zum Abitur und durch das Studium hindurch finanziert hatte. Seit sie die Doktorarbeit begonnen hatte, bekam sie ein Stipendium, das sie als sehr großzügig ansah; ihre finanziellen Bedürfnisse waren relativ gering. Sie ging selten aus, trank kaum Alkohol, kochte bescheiden und verbrachte den Großteil ihrer Zeit tatsächlich in der Bibliothek. An Kleidung war sie nur insoweit interessiert, als dass sie gern sauber, ordentlich und adrett aussah. Marken waren für sie kein Muss, und sie war objektiv genug um zu erkennen, dass ihr nicht jeder Modetrend stand. Das momentane Angebot von Hüfthosen und gerade geschnittenen Oberteilen stimmte sie sehr zufrieden, da sie eher knabenhaft gebaut und der Unterschied zwischen Taillen- und Hüftumfang bei ihr nur gering war. Hin und wieder gestattete sie sich genügend weibliche Eitelkeit, um auf Danielas beeindruckende Oberweite und Kurven neidisch zu sein, doch meist beendete sie solche Gedanken mit der Feststellung, dass sie nun mal unterschiedliche Typen waren.
Tatsächlich wunderte sie sich oft heimlich, was die Freundin zu ihr hinzog. Seit sie die Lehramtsstudentin in einer Germanistikvorlesung kennen gelernt hatten, hatten sie sich oft getroffen, was auch durchaus an Danielas ausgeprägter Treue lag. Frauke musste sich eingestehen, dass sie selbst dazu neigte, soziale Bindungen einschlafen zu lassen. Daniela war so impulsiv, extrovertiert und genusssüchtig, wie sie selbst unflexibel, still und vergeistigt war. Sie selbst hatte Daniela ob ihrer Lebendigkeit willen gern, und sie war vernünftig genug um einzusehen, dass für Daniela umgekehrt ebenfalls die charakterlichen Unterschiede fesselnd sein mussten, auch, wenn sie sich selbst für so faszinierend hielt wie ein Stück Brot. Also musste sie hier wohl nicht verstehen, nur dankbar sein.
An ihrem kleinen Appartement in einer Seitenstraße in Universitätsnähe angekommen, war Frauke in Gedanken schon mitten in ihrem Arbeitsplan. Sie schloss die Tür auf und registrierte nur nebenher das heimelige Gefühl, das sie in dem kleinen Zimmer, das von Bücherregalen dominiert wurde, immer wieder überkam. Sie entnahm ihrer Tasche die neuesten Aufzeichnungen, die sie vor dem Seminar in der Bibliothek gemacht hatte, stellte in der Küchenzeile Wasser für eine Suppe auf und öffnete den Laptop.
Während sie darauf wartete, dass das Wasser zu kochen begann, suchte sie die Seite heraus, auf der sie die gefundenen Literaturstellen zitieren wollte.
Sie kam so gut voran, dass sie erst aufblickte, als bereits das Kondenswasser von den Scheiben ihrer zwei Fenster troff. Seufzend füllte sie Wasser nach, wartete diesmal ab, bis es kochte und schüttete das Instantpulver hinein. Mit einem Buch in der Hand stand sie lesend und rührend am Herd, bis die Suppe fertig war. Sie löffelte, während sie gleichzeitig Anmerkungen auf ihrem Block notierte, und als sie schließlich um sechs Uhr ihre Arbeit einstellte, war sie mit ihrem Tagwerk tatsächlich zufrieden.
Sie stellte sich in ihrem winzigen, fensterlosen Badezimmer unter die Dusche und dachte sehnsüchtig daran, wie schön es wäre, sich danach lediglich in ihren dicken Frotteebademantel zu hüllen, es sich auf der Couch mit einem Buch bequem zu machen oder vielleicht ein bisschen fernzusehen, anstatt sich aufzutakeln, um sich mit vielen anderen Menschen in einen Club zu quetschen. Aber wenn Daniela so viel daran lag…
Sie trocknete sich ab, schlang das Handtuch um ihre Haare und inspizierte unschlüssig den Inhalt ihres Kleiderschranks. Wenn der Sänger so gut wäre, wie Daniela behauptete, würde es sicherlich voll auf dem Konzert. Und wo viele Leute unterwegs waren, fand sich immer jemand, der versehentlich sein Getränk verschüttete, und zwar meist über jemand anderen. Und ich bin klein genug, um übersehen zu werden, dachte Frauke grimmig und zog eine dunkelblaue Jeans aus dem Schrank. Ein braunes, ärmelloses Top mit hohem, geradem Ausschnitt und eine schlichte braune Bluse komplettierten ihr Outfit. Sie schlüpfte in ihre braunen Stiefeletten und kehrte ins Bad zurück. Kräftiges Frottieren reichte schon fast aus, um ihre schwarzen, weichen Kinderlöckchen zu trocknen. Frauke ließ ihre Haare offen hängen, während sie überlegte, wie viel Schminkarbeit ihr der Abend wert wäre.
Da ihre zarte, helle Haut leicht gereizt reagierte, verzichtete Frauke ganz auf Make-up. Glücklicherweise hatte sie nie mit Hautunreinheiten zu kämpfen; das Schlimmste waren die Sommersprossen, die hellbraun über ihre Nase wanderten, sobald sich die Frühlingssonne heraus traute. Jetzt allerdings, im Oktober, waren sie schon wieder verblasst.
Frauke tuschte sich die Wimpern, legte einen Hauch Rouge auf, weil sie doch sehr blass war, und entschied schließlich, dass etwas Lidschatten nicht schaden könne. Sie benutzte wie immer den braunen, der eine Schattierung heller war als ihre Augen, und war bei einer weiteren Prüfung ihres Gesichts zufrieden. Sie band ihre weichen Haare zurück, legte goldbraune Modeschmuckohrringe und einen passenden Ring an und packte ihre kleine Handtasche.
Ein Blick auf die Uhr belehrte sie, dass sie noch fünf Minuten Zeit haben würde – wenn Daniela diesmal pünktlich käme. Mit einem halben Lächeln nahm Frauke Platz und schaltete den Fernseher ein.
Gerade hatte eine freundliche Frauenstimme am Ende der Nachrichten verkündet, dass das Wetter auch morgen trüb und unangenehm werden würde, als es ungestüm an der Tür klingelte. Frauke machte den Fernseher aus, sprang auf und öffnete Daniela, die mit einem Schwall kalter Herbstluft und tausenderlei Entschuldigungen hereingestürmt kam.
Als Frauke zu ihrem Mantel greifen wollte, wehrte Daniela jedoch ab.
„Ich bin zu spät, aber losgehen müssen wir noch nicht. Ich habe extra ein bisschen Zeit eingeplant, damit wir das hier noch trinken können.“ Sie zauberte eine Flasche Freixenet aus ihrer Tasche und warf Frauke gleichzeitig eine CD zu. „Da, mach die mal an. Erst dachte ich, ich spiele dir schon mal ein paar Lieder von Gabriel vor, aber live kommt er besser rüber. Das da ist Mädchenmusik.“
Gekonnt öffnete sie die Flasche und rügte Frauke nach kurzer Inspektion der Küchenzeile dafür, dass sie noch immer keine Sektgläser gekauft hatte.
„Macht nichts, dann nehmen wir Wassergläser.“
Während sie den Sekt einschenkte, begann sie, bei den ersten Tönen von Son of a Preacher Man mitzuträllern, um sich sofort selbst wieder zu unterbrechen.
„Billie Ray was a preacher’s son, and when his daddy would visit he’d come along… oh man, das arme Mädchen! Mal im Ernst, kannst du dir vorstellen, was mit ‘nem Typen anzufangen, der Billie Ray heißt?”
Frauke, die kurz den Gedanken gehabt hatte, dass sie also locker noch eine Stunde länger etwas hätte tun können, vertrieb den Hauch von Gereiztheit und kicherte leise.
„Nein, das könnte ich nicht. Billie Ray, wow. Vermutlich war er ein ungewolltes Kind.“
Dankend nahm sie den Sekt entgegen und sah zu, wie Daniela sich aus ihrer engen, hüftlangen Jacke schälte. Wie üblich sah sie umwerfend aus: Sie trug einen schwarzen Minirock, glänzende schwarze Stiefel mit acht Zentimeter hohen Absätzen und ein rotes Top, das die Spitze an ihrem BH erahnen ließ. In ihrer üppigen Mähne funkelten goldene Reflexe, während die blauen Augen vor lauter Partylaune und Übermut glänzten. Auch wenn das starke Make-up und speziell der knallrote Lippenstift weit von allem entfernt war, was Frauke selbst je getragen hätte, musste sie neidlos anerkennen, dass es zu Danielas Typ passte und gut auf den Rest ihres Outfits abgestimmt war.
Unter müßigem Geplauder, mit dem Frauke sich immer etwas schwer tat, leerten sie das erste Glas. Das heißt, Daniela leerte das ihre und schenkte sich mit einem Blick auf Fraukes halb volles Glas nach. „Ich zieh dir davon, du musst dich beeilen.“
Dann begann sie, von Gabriel zu erzählen. Er sei ein großartiger Sänger, habe eine tolle Stimme, und außerdem sei er „echt was für’s Auge“. Bei dieser Aussage hob Daniela die sorgfältig gezupften Augenbrauen fast bis an den Haaransatz und fuhr sich spaßhaft mit der Zunge über die Oberlippe. Frauke musste lachen, doch begann sie sich zu fragen, wie die Bekanntschaft ihrer Freundin mit dem Sänger wohl aussehen mochte.
Egal, dachte sie, als sie merkte, wie der Sekt in ihrer Blutbahn zu prickeln begann. Es ist an der Zeit, dass ich mal wieder unter Menschen komme, und ohne Daniela würde ich das nie tun. Soll sie doch ihren Spaß haben, egal, wie der aussieht.
Als schließlich die Flasche leer war, guckte Daniela auf die Uhr und quietschte leise auf.
„Oh, jetzt müssen wir aber los.“
Sie sprang auf und wand sich in ihre Jacke, während Frauke ihren Mantel holte.
Zusammen eilten sie im Schnellschritt durch den nasskalten Abend. Frauke Wohnung war zentral gelegen, und nach der Überquerung zweier Straßen hatten die beiden Mädchen den Taxistand am Neumarkt erreicht. Daniela riss die Beifahrertür des nächsten Wagens auf, bedeutete Frauke, ebenfalls einzusteigen, und ließ sich mit einem „einmal zum Mexx, bitte“, auf den Sitz fallen. Dann drehte sie sich zu Frauke um und kicherte: „Wie kommt das bloß, dass man sich unter Frauen immer derart verquatscht, bis man viel zu spät dran ist?“
„Keine Ahnung“, lächelte Frauke zurück und dachte: Das kannst du für uns beide. Allein wäre ich auf jeden Fall pünktlich gewesen, und ich bin froh, dass du mich abgeholt hast, sonst hätte ich endlos lange einsam in diesem Club gesessen, weil ich als einzige noch nicht kapiert habe, dass man heutzutage nicht mehr pünktlich ist.
Das Taxi hielt vor dem Mexx, und nachdem sie den Fahrer entlohnt hatte, sprang Daniela elastisch aus dem Auto und auf den Eingang zu. Sie strahlte den jungen Mann an der Kasse an und sagte: „Ich steh auf der Gästeliste, Daniela Möllner, und das hier ist meine plus Eins.“
Sie griff nach Fraukes Hand.
Der Mann streifte Frauke mit einem flüchtigen Blick, fuhr mit seinem Finger über die Liste, nickte und lächelte Daniela an. Und als sie weiterging, lächelte er ihr hinterher, während er feststellte, dass sie von hinten ähnlich appetitlich aussah wie von vorne. Die graue Maus in ihrer Begleitung würdigte er keines weiteren Blickes. Komisches Paar, die beiden. Widerstrebend wandte er schließlich seine Aufmerksamkeit von Danielas Hintern ab und den Neuankömmlingen zu.
Die beiden Mädchen gingen in Richtung Hauptraum. Frauke stellte fest, dass die meisten Besucher ihr zumindest vom Sehen her bekannt vorkamen. Viele der Gesichter hatte sie schon in der Universität gesehen, und einige kannte sie auch aus der Kneipe, in die Daniela sie ein paar Mal mitgenommen hatte. Was ihr besonders auffiel, war die Tatsache, dass der überwiegende Teil der Zuschauer weiblich war.
Zehn Meter weiter beugte sich ein Mädchen mit blonden Haaren, rotem Top und schwarzem Mini zum Barkeeper hinüber. Frauke wunderte sich, wie Daniela so schnell an die Theke gelangt sein konnte, aber ein Blick zur Seite belehrte sie, dass die Freundin noch neben ihr stand. Hui, dachte sie, Daniela wird sich gar nicht freuen, dass das Mädchen ihr so ähnelt.
„Wann fängt das Konzert an?“ fragte sie Daniela.
Die warf einen Blick auf die Uhr. „Vor zwanzig Minuten. Willst du was trinken?“
„Nein, danke“, lehnte Frauke ab und fügte hinzu, als sie Danielas sehnsüchtigen Blick sah: „Aber ich komme mit zur Theke.“
Die nächsten zehn Minuten vergingen damit, dass Daniela sich ein Glas Sekt besorgte und Frauke im Raum hin und her führte, um Freunde zu begrüßen. Frauke lächelte und grüßte und lächelte wieder und hatte die meisten Namen schon vergessen, ehe die nächste Personengruppe erreicht war. Danielas leise geflüsterten Anmerkungen beim Weiterschlendern, die sich meist auf den Geisteszustand oder das Sexualleben der eben begeistert Begrüßten bezogen, steigerten noch Fraukes Verwirrung.
Schließlich aber quietschte ein Mikrofon, und der Besitzer des Clubs begrüßte seine Gäste und verkündete, dass er stolz und glücklich sei, Gabriel ankündigen zu dürfen. Er trat zurück, und seine Stelle wurde von dem Sänger eingenommen, was einen Begeisterungssturm im Publikum hervorrief.
Neugierig musterte Frauke den Mann, der ihre Freundin zu „whouwhouwhou“-Schreien hinriss. Er mochte Anfang dreißig sein, und Frauke musste sich ein Grinsen verkneifen, als sie feststellte, dass er einen Smoking trug. Nachmacher, dachte sie. Den trägt Max Raabe auch.
Gabriel begrüßte seine Fans, und Frauke dachte, dass seine Stimme weniger an Max Raabe als an Sven Regener erinnerte, den Sänger von Element of Crime. Schön, das gefiel ihr schon mal.
Gabriel redete noch ein bisschen, doch statt auf seine Worte zu achten, betrachtete Frauke ihn eingehender. Er mochte etwa 1,80 Meter messen, wirkte aber größer, da er sehr schlank war. Und das Gesicht – an wen erinnerte sie das nur? Ja, dachte sie, an einen jungen William Dafoe in einer seiner fieseren Rollen. Zwar sah er ein bisschen besser, ein bisschen hübscher aus, doch der Zug um den Mund herum und die Form seines Kiefers erinnerten sie tatsächlich an den Schauspieler. Gerade warf er lässig seinen sandfarbenen Scheitel zurück, sein Publikum lachte über seine letzte Bemerkung, und die Musik setzte ein.
Gabriel begann zu singen, und mit einem Mal verstand Frauke, warum ihre Freundin so hingerissen war. Eine geradezu magnetische Anziehungskraft ging von dem Singenden aus, und die kehlige Stimme zupfte mit spitzen Fingern an ihren Nervenenden.
Nach den ersten Augenblicken stellte Frauke fest, dass Daniela und viele andere Wort für Wort mitsangen. Es schien sich also um eins der bekannteren Lieder zu handeln, sonst beschränkte sich die allgemeine Textkenntnis ja normalerweise auf den Refrain. Frauke konzentrierte sich, um zu verstehen, worum es ging.
…und wenn wir morgens dann beim Zähneputzen vor dem Spiegel stehn,
kann ich Müdigkeit und Liebe aus deinen Augen schillern sehn.
Doch blick ich in meine Augen – wie ich da erschrecke,
wenn ich erkennen muss, was ich da entdecke:
Müde Liebe.
Entsetzlich müde Liebe.
Lebensmüde Liebe – bald ist sie tot.
Tut mir Leid für dich.
Schlagartig ließ der Zauber nach. Das war ja nicht gerade nett, was der junge Mann da zum Besten gab. Andererseits gab es so viele Lieder über die andere Seite, von Personen, die verlassen werden, dass es so vielleicht auch einmal ganz interessant war.
Frauke klatschte höflich, als das Lied vorbei war, lächelte Daniela an, die „ist er nicht großartig“ in ihr Ohr brüllte, und wartete ab. Im nächsten Lied schien es darum zu gehen, wie Frauen sich darum bemühen, ihren Männern seelisch nahe zu kommen. Frauke wippte vorsichtig mit und war schon bereit, Lied und Sänger zu mögen, als Gabriel zum Refrain kam, wieder unterstützt vom Publikum:
…und schließlich kennt ihr ihn, habt bekommen was ihr wollt,
habt auch viel dafür getan, habt gestreichelt, habt geschmollt.
Habt gegraben und gesucht und dann den Kern des Kerls gefunden,
doch ist der nicht wie ihr gedacht, und schon seid ihr verschwunden.
Doch ich kenne dieses Spiel und ziehe euch in meinen Bann,
bei mir bekommt ihr, was ihr wollt: Ich bin ein Rätselbild von Mann.
Quietschen, Lachen und Klaschen begleiteten den Refrain, und der Sänger blitzte triumphierend ins Publikum. Er wusste, dass er sie alle in der Tasche hatte, dass sie ihn liebten. Wunderbar.
Frauke kochte in der Menge vor Empörung und blickte mit Unverständnis auf die begeisterte Daniela. Was war denn das für ein blödes Klischee? Und warum fanden alle das so großartig? Sah denn niemand, dass der Mann ein widerlicher Narziss war?
Selig lachend wandte sich Daniela an sie und strahlte, und Frauke versuchte, sich zusammenzureißen. Offenbar hatte die Freundin hier einen riesigen Spaß, und sie wollte ihr nicht den Abend verderben. Also blieb sie, wo sie war, klatschte pflichtschuldig und wurde im Laufe des Konzerts immer grimmiger. Der – ach, so tolle! – Gabriel hatte nur wenige Themen: Männer- und vor allem Frauenklischees, die „anderen“, die meist irgendwie blöd waren und seine eigene, goldglänzende, hervorragende Person. Das machte ihn in Fraukes Augen in etwa so lustig wie Mario Barth und so sympathisch wie Michel Friedmann. Dass er durchaus mit der Sprache umzugehen wusste und seine fein konstruierten Texte ab und an intelligente Wortspielereien beinhalteten, machte sie nur noch wütender. Platte Banalitäten sollten gefälligst auch platt vorgetragen werden und die Leute nicht durch clevere Verpackung darüber hinwegtäuschen, was sie tatsächlich waren.
„Sag den Leuten, was du denkst, sag’s ihnen mitten ins Gesicht, sag’s mit einem breiten Lachen: Glauben werden sie dir nicht. Denken bloß: Er scherzt, er spinnt, obwohl sie echt Idioten sind“ – das waren Weisheiten, die in ihren Ohren verächtlich klangen und auch anmaßend, denn was, wenn Leute im persönlichen Umgang mit ihm sich dieser Sätze erinnerten? Er stellte ja seine eigene Glaubwürdigkeit auf den Prüfstand. Was für ein arroganter… Ein schrilles Pfeifen Danielas riss sie aus ihren Gedanken. Die Freundin tanzte auf der Stelle, ihre Handflächen waren rot vom Klatschen.
Frauke biss die Zähne zusammen, während der Rest des Publikums sich in einem euphorischen Taumel verlor. Schließlich war das Konzert nach zwei Zugaben überstanden, und Frauke atmete auf. Sie wollte noch abwarten, bis Daniela wieder ansprechbar war und dann den Aufbruch vorschlagen.
Danielas Pläne jedoch sahen anderes vor. Nachdem sie einige Minuten lang mit gleich gesinnten Mädchen atemlose Kommentare über das eben Gesehene ausgetauscht hatte, wirbelte sie wieder zu Frauke zurück und sagte: „Jetzt machen sie den Raum für seine besonderen Gäste auf. Komm, dann lernst du Gabriel auch persönlich kennen.“
Mit grenzenloser Energie zog sie die sich sträubende Frauke hinter sich her.
Das Zimmer für die Aftershowparty war klein und gemütlich; ein ovaler Tisch stand im Raum, rund fünfzehn Stühle gruppierten sich darum. Gemeinsam mit Frauke und Daniela schwappte eine Welle ebenfalls Eingeladener herein, und Fraukes Stimmung sank tatsächlich noch etwas mehr, als sie sah, dass es sich ausschließlich um Frauen handelte. Außerdem schien es, als favorisiere der Sänger einen bestimmten Typ: Die vertretenen Haarfarben reichten von aschblond über weizenfarbig bis hin zur Schattierung dunklen Honigs, und Danielas kurvige Figur war ganz offenbar ein Paradebeispiel für des Sängers Vorlieben. Frauke erkannte wenig überrascht das Mädchen wieder, das sie anfangs mit ihrer Freundin verwechselt hatte.
Sie fand es fast unheimlich zu sehen, wie der Raum sich mit blonden Sexbomben füllte, und kam sich in all dem Glanz und Strahlen vor wie eine kleine schwarze Fliege in einem Honigtopf. Sie sank auf einen der Stühle und wünschte sich weit, weit fort.
Das Gekicher und Getuschel wurde zu Kreischen, als schließlich durch eine Tür am hinteren Ende des Raums der Sänger eintrat. Stühle wurden nach hinten gestoßen, als die Mädchen aufsprangen, um Gabriel zu begrüßen. Er umarmte wahllos und küsste Wangen und lächelte sich durch all die Komplimente über sein wundervolles Konzert. In seinem Kielwasser betrat ein zweiter Mann den Raum, bei dessen Anblick Frauke fast lachen musste, weil er so deplaziert wirkte. Hinter dem charismatischen, schlanken Sänger sah er klein, vierschrötig und unscheinbar aus, doch die Mädchen begrüßten ihn ebenfalls, wenn auch etwas verhaltener als Gabriel.
Als Daniela endlich wieder neben ihr saß, flüsterte Frauke ihr zu: „Wer ist der andere Typ?“ Daniela flüsterte zurück: „Das ist Paul, Gabriels bester Freund. Die beiden kennen sich seit den Schultagen, und er ist immer dabei. Toll, nicht wahr?“
Frauke betrachtete Paul eingehend und dachte, dass es sicher schön war, dass die beiden sich so lange kannten und mochten – allerdings war ihr Paul nicht ein bisschen sympathischer als der Sänger; gegenteilig fehlte ihm auch noch die Anziehungskraft, die von seinem berühmten Freund ausging.
Gabriel sorgte mit einer Handbewegung dafür, dass mehrere Sektflaschen geöffnet und die Mädchen damit versorgt wurden, während er selbst sich Gin bringen ließ und Paul, wie es schien, Whisky. Dann hob Gabriel die Hand, und das Geschnatter verstummte.
„Wie ihr sicherlich mitbekommen habt, ist eine gute Freundin von uns gestorben. Vanessa Beerkamp ist ermordet worden, und die Polizei untersucht ihren Tod. Hoffen wir, dass sie das Schwein baldmöglichst kriegen.“ Er hob sein Glas. „Auf Vanessa!“
Ein gutes Dutzend schlanker Mädchenhände reckte Sektgläser in die Luft. „Auf Vanessa!“, echote es vielstimmig.
„Wir werden dich vermissen“, sagte der Sänger leise, ehe er sich räusperte, aufschaute und sagte: „Aber jetzt zu etwas anderem.“ Das „andere“ entpuppte sich als Thema von solcher Oberflächlichkeit, dass Frauke ihre sympathische Regung, die sie während des Toastes auf das tote Mädchen gehabt hatte, sofort wieder bereute.
Sie hörte nur mit einem halben Ohr zu, wie Gabriel monologisierte, und betrachtete das seltsame Ensemble, in das sie hier geraten war. Jeder schien seine Aufgabe zu kennen und zu erfüllen: Gabriel war es, der sprach. Die Mädchen waren die, die zuhörten, lachten, ein Hohlkreuz machten und jede Menge Zähne zeigten, und der seltsame Jugendfreund saß mit wissendem Lächeln stumm neben seinem Kumpel und betrachtete nicht eben unauffällig die zahlreichen Dekolletes um sich herum.
Was um alles in der Welt fand Daniela bloß daran, hier zu sitzen? Verstohlen schaute sie die Freundin von der Seite an, doch deren Blicke hingen wie verzaubert an den Sängerlippen. Frauke ließ den Blick weiterwandern und traf direkt auf den aus den kleinen Augen Pauls, die nachdenklich auf sie gerichtet waren. Ein kleiner Schauder lief über ihren Rücken, und unwillkürlich blickte sie rasch wie der Rest der Mädchen zum Sänger hinüber und bemühte sich, ihm zuzuhören.
Offenbar erzählte er gerade von Dingen, die jemand anderer gesagt hatte, um dann zu erklären, warum diese Ansicht falsch und wie seine eigene Sicht der Dinge war. Widerstrebend musste sie ihm Eloquenz zugestehen, doch was er sagte, kam ihr zweidimensional und boshaft vor.
Mitten in diesen Gedankengängen hörte sie etwas, das sie aufmerken ließ.
„…und wir stritten darüber, ob man das so sagen kann oder nicht. Und dieser engstirnige Trottel bestand doch tatsächlich darauf, dass diese Frau böse sei. ‚Böse’, ich bitte euch, was für ein antiquierter Begriff. Den hat die Zivilisation doch längst ausgerottet. Es ist lächerlich, Menschen in gut und böse einzuteilen. Menschen sind entweder langweilig oder amüsant.“
Frauke neigte den Kopf und lauschte den letzten beiden Sätzen nach. „Oscar Wilde“, murmelte sie halblaut.
Gabriel zuckte zusammen und richtete sich auf. Er sah sie zum ersten Mal direkt an. Die anderen Mädchen stellten ihr Gekicher ein, als er sich zu Paul umdrehte. Sein kleinerer Freund beantwortete den Blick mit hochgezogenen Brauen, und Gabriel wandte sich wieder an Frauke und musterte sie eingehend.
„Das ist vollkommen korrekt. Und ich habe das Vergnügen mit…?“
„Frauke Kettler“, sagte Frauke und fühlte sich sehr unwohl, als sie alle Augen im Raum auf sich gerichtet sah. „Ich bin Danielas plus Eins“, fügte sie hinzu, als der Sänger sie weiter schweigend anblickte.
Sie spürte, wie Daniela neben ihr zusammen fuhr. Verdammt, dachte sie, jetzt verderbe ich ihr den Abend doch noch.
Gabriel jedoch schenkte Daniela ein Lächeln, das ihre Knie in Pudding verwandelte.
„Danny, Häschen, du bist doch immer für eine Überraschung gut.“
Frauke verschluckte sich vor Empörung beinahe, doch Daniela atmete erleichtert auf und strahlte Gabriel an.
Der blickte zurück dem Mädchen mit dem kurzen schwarzen Zopf.
„Soso, Frauke Kettler. Und was machst du so, wenn du nicht Oscar Wilde liest?“
Frauke schluckte und sagte leise: „Ich schreibe an meiner Doktorarbeit.“
Gabriels hob die linke Braue und fragte: „Wie bitte?“
Frauke antwortete mit erhobener Stimme: „Ich mach’ meinen Doktor.“
Gabriel verzog den Mund zu einem breiten Grinsen.
„Und ich dachte, ich hätte mich verhört. Tut mir Leid, dass ich nachfragen musste, Kleines, aber in diesen Kreisen hätte ich höchstens so etwas erwartet wie ‚Ich mach’s meinem Doktor’.“
Die Spannung im Raum löste sich, und Pauls Wiehern wurde von dem vielfacher perlenden Lachen der Mädchen übertönt.
Fassungslos schaute Frauke sich um. Verstand denn keine von ihnen, dass der wunderbare Gabriel sie gerade alle beleidigt hatte? Doch keine der anderen erwiderte ihren Blick, und als sie Gabriel wieder anschaute, spielte ein kleines Lächeln um seine Lippen. Mit seinem Ginglas deutete er ein winziges Prosit an.
Frauke senkte elend den Blick, griff nach ihrer Handtasche und murmelte der kichernden Daniela zu: „Ich fahre heim, viel Spaß noch.“
Dann wandte sie sich fluchtartig zur Tür. Aus den Augenwinkeln sah sie noch, wie Danielas Lachen kurz erstarb und sie unschlüssig wirkte: Sollte sie der Freundin folgen oder bleiben, jetzt, wo Gabriel sie direkt und vor allen anderen so freundlich angesprochen hatte?
Dann fiel die Tür hinter Frauke ins Schloss, und sie eilte nach draußen. Glücklicherweise bekam sie schnell ein Taxi. Sie ließ sich nach Hause bringen und wollte nur noch schlafen, doch die Empörung über diesen unmöglichen Menschen und die vage Angst, dass Daniela nun vielleicht wütend auf sie sei, hielten sie noch lange Zeit wach.
Fraukes Wecker klingelte so früh wie immer. Stöhnend rollte sie sich auf die Seite, drückte die Sleep-Taste und ließ den Kopf zurück ins Kissen fallen.
Nachdem sie am Vorabend endlich eingeschlafen war, hatten Träume sie heimgesucht von dem schrecklichen Moment, in dem alle sie angestarrt hatten, weil sie offenbar einen Fauxpas begangen hatte. In aller Deutlichkeit hatte sie immer wieder gespürt, wie Daniela neben ihr zusammenzuckte, als sie sie als diejenige bezeichnete, die sie mitgebracht hatte. Regelmäßig war sie dann aufgewacht und hatte sich in der felsenfesten Überzeugung herumgewälzt, dass Daniela sie jetzt hasste. Remarque hatte zumindest einmal Recht, hatte sie gedacht, die Nacht übertreibt. Doch auch das aus der Erfahrung geborene Wissen, dass am nächsten Tag alles nur halb so schlimm aussehen würde, hatte sie in den dunklen Momenten nicht beruhigen können. Und die Tatsache, dass sie noch immer davon überzeugt gewesen war, dass sie recht gehabt und dass der Sänger sich unglaublich daneben benommen hatte, hatte alles nur noch schlimmer gemacht: Selbst, wenn Daniela sich wieder mit ihr auseinandersetzte, würde sie ihr nicht beschwichtigend zustimmen können; zu sehr hatte der Mann sie aufgeregt.
Der Wecker klingelte erneut, und Frauke raffte sich auf, nicht ohne festzustellen, dass die paar Gläser Sekt ihr gehörig zugesetzt hatten. Sie schleppte sich ins Bad und stellte nach einem Blick in den Spiegel düster fest, dass sie so aussah, wie sie sich fühlte.
Während sie sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, dachte sie, dass das genau der Grund sei, warum sie nicht gern ausging. Man gerät in eine Runde, in der einem die Menschen fremd sind und man die Regeln nicht kennt, und schon benimmt man sich versehentlich daneben, und das führt zu Spannungen. Wenn sie gestern nicht mitgegangen wäre, dann müsste sie sich nicht irgendwann vor Daniela rechtfertigen, die sie in diesem Falle aber auch wirklich nicht ein bisschen verstehen konnte.
Als sie schließlich mit einem Frühstück an ihrem kleinen Tisch saß und ihre Bücher aufschlagen konnte, atmete sie insgeheim auf. Das Lernen würde den ganzen anderen Kram aus ihrem Kopf verdrängen. Doch als sie das erste Mal umblätterte, wurde ihr bewusst, dass sie sich kein Wort von dem eben Gelesenen gemerkt hatte. Ärgerlich begann sie von neuem, doch wurde ihre Konzentration von leisem Kopfschmerz und dem vage unwohlen Gefühl Danielas wegen vollkommen untergraben.
Frustriert schlug sie schließlich das Buch zu. Einen kurzen Moment lang war sie versucht, den Fernseher anzuschalten, doch hielt sie das hohle Morgenprogramm nicht ohne ablenkende Tätigkeit aus. Und nach Putzen war ihr nun wirklich nicht zumute; außerdem war das kleine Appartement wie meist sehr ordentlich.
Seufzend gestand sie sich ein, dass dieser Vormittag wohl nicht mehr zu retten sei, und so gestattete sie sich etwas, was nur in Notfällen vorkam: Sie holte sich einen schon vielfach gelesenen Roman von Tanja Kinkel aus dem Regal und legte sich mit der geliebten, vertrauten Lektüre wieder ins Bett. Schon als Kind hatte sie um die beruhigende Wirkung halb auswendig gelernter Bücher gewusst; damals war es „Ronja Räubertochter“ gewesen, das sie alle Sorgen hatte vergessen lassen. Heute nahm sie einmal mehr der Zauber der Lebensgeschichte von Alienor von Aquitanien gefangen; aller Unbill versank neben den Bildern, die ihr eigener Geist ihr malte. Und als Alienor an der Seite ihres ersten Gatten zum Kreuzzug aufbrach, schlief Frauke mit dem Buch in der Hand wieder ein.
Gegen elf erwachte sie weitaus erholter, als sie es am frühen Morgen gewesen war. Dankbar legte sie den Roman auf den Nachttisch und wickelte sich in ihren Bademantel, um sich einen Kaffee zu kochen. Sie füllte die Maschine und hatte sie gerade eingeschaltet, als ihr Blick an etwas hängen blieb, das sie zuvor nicht gesehen hatte.
Auf dem Boden vor der Tür lag ein Brief.
Warum hat man den denn nicht in den Briefkasten geworfen, dachte Frauke verwirrt, als sie sich danach bückte.
Mit hohen, steilen Buchstaben hatte jemand „Frauke Kettler“ auf den cremefarbenen Umschlag geschrieben, doch eine weitere Adresse, ein Absender oder eine Briefmarke fehlten.
Frauke nahm ein Messer und öffnete das mysteriöse Schriftstück sorgfältig. Sie zog ein einfach gefaltetes Blatt hervor – Briefpapier, wie sie erstaunt registrierte. Wer benutzte denn heute noch Briefpapier, außer dreizehnjährigen Fans dieser absurden Plüschmaus mit den großen Füßen?
Die Schrift im Brief war dieselbe wie auf dem Umschlag.
Liebe Frau Doktor,
wenn ich Dich gestern durch mein ungehöriges Benehmen brüskiert habe, möchte ich mich aufrichtig dafür entschuldigen. Ich bin es nicht gewohnt, mit ernsthaften Menschen zu verkehren, was aber nicht heißt, dass ich sie nicht bewundere. Da Du eine Freundin Danielas bist, wirst Du sicher verstehen, wie sehr ich die Kurzweil schätze, die sie und ihresgleichen einem Menschen bescheren können, der sonst zuviel mit seinen Gedanken allein ist.
Am nächsten Samstag werde ich in der Herbstlaube – einem kleinen Lokal, das mir sehr ans Herz gewachsen ist – für einige gute Freunde singen, und ich würde mich besonders freuen, wenn Du Deine Freundin wieder begleiten könntest.
In der Hoffnung (und dem Glauben), dass Du großherzig genug bist, um über meinen verpatzten ersten Eindruck hinwegsehen zu können, verbleibe ich
mit den besten Wünschen und vielerlei Entschuldigung
Arndt Gabriel
Frauke starrte fassungslos auf die Epistel in ihrer Hand. Was sollte das denn jetzt? Wie kam er auf die Idee, dass sie noch einmal zu einem seiner Konzerte gehen könnte? Der Abend war schrecklich und seine Manieren furchtbar gewesen. Und was sollten die Sätze über Daniela heißen? War das nett gemeint oder herablassend? Natürlich liebte sie Daniela für die, wie er es nannte, Kurzweil – aber spielte er nicht vielleicht auf eine andere Art von Kurzweil an?
Langsam legte sie den Brief auf den Tisch und setzte sich. In ihrem Kopf summte es wie in einem Bienenstock, und es dauerte tatsächlich ein paar Sekunden, bis sie einen Teil dieses Summens als den dezenten Klingelton ihres Handys erkannte.
Rasch griff sie danach und meldete sich. Die atemlose Stimme Danielas antwortete.
„Frauke, hey, stör ich dich?“
„Nein, nein, natürlich nicht! Was gibt es denn?“ Trotz aller Verwirrung spürte Frauke große Erleichterung darüber, dass die Freundin nicht wütend klang. Sie schien auf der Straße zu sein; Frauke konnte das rasche Stöckeln ihrer Absätze auf dem Bürgersteig und die vorbeirauschenden Autos hören.
„Du, pass auf, kann ich vorbeikommen? Ich bin grad unterwegs, und ich könnte in ein paar Minuten da sein – wegen gestern und so…“
Hatte sie Sinnesstörungen oder hatte Danielas Stimme beim Verklingen tatsächlich ein wenig schuldbewusst gewirkt?
Herzlich sagte Frauke: „Klar, komm vorbei. Ich setze am besten eine große Menge Kaffee auf, nehme ich an?“
Daniela stöhnte. „Kaffee klingt wunderbar. Okay, ich bin dann gleich da.“
Frauke trennte die Verbindung und sprang auf. Daniela war nicht wütend! Geschäftig füllte sie den Kaffee, den sie bereits gekocht hatte, in zwei Tassen und setzte die nächste Kanne auf. Als sie die Tassen zum Tisch trug, lag dort noch immer der Brief des Sängers. Rasch und irgendwie schuldbewusst steckte sie ihn in die tiefe Tasche ihres Frotteemorgenmantels.
Ehe sie Zeit bekam, sich etwas Ordentliches anzuziehen, klingelte es auf für Daniela sehr zaghafte Art.
Frauke öffnete die Tür, und Daniela schwankte herein. Die Mädchen blickten sich an und mussten beide kichern. Daniela trug dieselbe sexy Aufmachung wie am Vorabend, doch das sorgfältige Make-up hatte eine interessante Veränderung erfahren, und ihre Haare hingen ihr strähnig um die Schultern. Man konnte sehen, dass sie zumindest notdürftig die verschmierte Wimperntusche unter ihren Augen fortgewischt hatte, aber viel hatte das nicht geholfen.
Und sie sah sehr müde aus, wenn auch überdreht, als sie nun an Fraukes Morgenmantel zupfte. „Schick, wirklich, vor allem schicker als ich im Moment. Geht’s dir auch so fürchterlich?“
„Na, jetzt geht’s schon wieder. Heute Morgen war es um einiges schlimmer.“
Frauke wies mit einer Handbewegung auf den Kaffee, und Daniela stürzte sich regelrecht darauf.
„Heute Morgen? Seit wann bist du denn auf? Hast du etwa schon gelernt?“ Sie verzog das Gesicht. „Himmel, hast du vielleicht auch Wasser da?“
Frauke verkniff sich ein Grinsen und holte aus ihrer Küchenzeile neben dem Wasser auch Aspirin und eine Tüte Chips.
„Da, Katerfrühstück“, sagte sie, als sie alles vor ihrer Freundin auf den Tisch legte. „Gelernt hab ich tatsächlich noch nicht, es hat nicht geklappt. Gegenteilig hab ich mich mit einem Roman noch mal ins Bett gelegt und bin wieder eingeschlafen.“
Daniela schluckte eine Tablette, spülte mit gut einem halben Liter Wasser nach und schob sich eine Handvoll Chips in den Mund.
„Hmm, das war nötig. Puh.“
Sie wischte sich die krümeligen Finger an ihrem kurzen Rock ab, schüttelte vorsichtig den Kopf und blickte Frauke dann ernst an.
„Hör mal, ich wollte mich entschuldigen wegen gestern Abend. Ich hatte mich vielleicht ein bisschen verschätzt, du hattest so ungefähr gar keinen Spaß, nicht wahr? Und als du gegangen bist, hätte ich eigentlich mitkommen müssen. Aber – weißt du, auch, wenn es richtiger gewesen wäre und ich ein schlechtes Gewissen habe, bin ich doch froh, dass ich dort geblieben bin. Himmel, klingt das bescheuert…“
Sie drückte kurz ihr Gesicht in die Handflächen. Frauke wartete schweigend ab.
„Vermutlich hast du dir das schon gedacht, aber ich, hm, ich bin völlig verrückt nach ihm. Ich weiß, dass du das kaum verstehen kannst, dass du seinen Humor nicht lustig findest und ihn für einen schrecklichen Macho hältst und so, aber es ist nun mal so. Ich werde noch genug Zeit damit verbringen, dir zu versichern, dass er ganz anders ist als du denkst, jetzt, da ich dir davon erzählt habe, also lasse ich das für den Moment. Ich wollte dich bloß um Verzeihung bitten, weil ich mich gestern zum Dableiben entschieden habe. Kannst du das ein kleines bisschen verstehen?“
Frauke fühlte sich plötzlich federleicht.
„Klar, schon vergessen. Hat es sich denn zumindest gelohnt?“ Noch während sie fragte, schalt sie sich in Gedanken eine dumme Nuss; Daniela war wohl kaum mehr zu Hause gewesen. Und doch war sie überrascht von dem sinnlichen Strahlen, das plötzlich von der Freundin ausging.
„Ooooooh ja, das hat es.“ Trotz ihres beachtlichen Katers lächelte Daniela breit und räkelte sich in seliger Erinnerung auf dem Küchenstuhl. „Ich hab dir da was zu verdanken, glaube ich. Gabriel – hm, er legt sich nicht gern fest, wenn du so willst. Die meisten seiner Aftershow-Gäste kennen ihn sehr nah, und irgendwie ist nie ganz klar, wem er gerade zugeneigt ist.“
Frauke achtete sorgsam darauf, dass sich ihre Gefühle nicht in ihrem Gesicht abzeichneten, doch in ihrem Innern sprang die Frauenrechtlerin im Dreieck und machte Kleinholz aus der Einrichtung.
Daniela fuhr fort: „Du hast ihn gestern echt kurz aus dem Konzept gebracht; er war amüsiert und überrascht und fragte mich nach dir. Naja, und schließlich hat er den anderen zu verstehen gegeben, dass der Abend vorbei ist, und wir haben uns weiter unterhalten. Bei ihm. Und dann haben wir uns nicht mehr unterhalten. Und dann bin ich irgendwann vorhin aufgewacht und hab mich auf den Heimweg gemacht, beziehungsweise auf den Weg zu dir, um mich zu entschuldigen.“
Sie beugte sich nach vorn und sah Frauke beschwörend in die Augen.
„Er ist wirklich unglaublich, wenn man ihn ein bisschen näher kennt. Und es tut mir wirklich Leid wegen gestern, aber er übt eine solche Anziehungskraft auf mich aus…“
Frauke fiel ihr ins Wort: „Ist gut, wirklich. Ich hatte ja selbst Angst, dass du böse auf mich bist, weil ich dir den Abend verdorben habe. Jetzt bin ich froh, dass es nicht so ist, aber… sag mal, wie lange geht das denn schon so?“
„Ich hab mich das erste Mal nach einem Konzert im Mai mit ihm unterhalten, da hatte ich einen Platz in der ersten Reihe, und er hat mich schon beim Singen ein paar Mal angelacht. Naja, und wir haben uns ganz gut verstanden, das heißt, ich war völlig hingerissen und er fand mich wohl auch süß oder so, jedenfalls haben wir uns länger unterhalten, und dann war ich mit bei ihm. Ich wär auch nie auf den Gedanken gekommen, dass wir dann zusammen sind oder so, schließlich hat er die Riesenauswahl, aber ich denke, je häufiger wir beide uns treffen, desto größer ist die Chance, dass ihm aufgeht, dass er nichts Besseres findet als mich. Ich wäre wirklich perfekt für ihn, das kannst du mir glauben. Und gestern war er echt süß, hat viel ernster mit mir geredet als sonst, also machen wir Fortschritte. Ich meine, es ist ja schon witzig, wenn er nur erzählt, da ist ja jeder Satz eine Pointe, aber wenn er sich ernsthaft mit einem unterhält, ist er noch viel toller. Und ich glaub echt, dass ich das dir zu verdanken habe, weil du mich gestern sozusagen aus den anderen hervorgehoben hast. Ich hab ihm eine Menge von dir erzählt, und die Seite kannte er auch noch nicht an mir. Er wusste, glaube ich, bisher noch gar nicht, dass ich studiere. Und er hat plötzlich über Sachen geredet, die er sonst nie erwähnte, vielleicht, weil er immer dachte, ich weiß nichts darüber. Zum Beispiel hat er eine riesige Bibliothek, da drin wärst du richtig glücklich, glaube ich. Und gestern hat er auf einmal mit mir über Bücher gesprochen – naja, die meisten kannte ich nicht, aber ab und an konnte ich echt eine intelligente Bemerkung anbringen. Offen gestanden habe ich ein paar von deinen Aussagen wiedergegeben und so getan, als wär ich selbst drauf gekommen. Er hat mich plötzlich mit ganz anderen Augen betrachtet, wirklich!“
In Fraukes Tasche knisterte leise der Brief, als sie unruhig hin- und herrutschte.
„Wow“, sagte sie. „Und dann seid ihr irgendwann zusammen eingeschlafen und zusammen wieder aufgewacht?“
„Nein“, seufzte Daniela. „Das heißt, eingeschlafen schon, aufgewacht nicht. Er verträgt Alkohol wesentlich besser als ich, vor allem Gin, den er sehr oft trinkt, und er braucht nur ganz wenig Schlaf. Als ich in seinem wirklich phänomenalen Bett aufgewacht bin, war er schon auf den Beinen. Er ist so gut wie immer in seiner Bibliothek, in der auch sein riesiger Schreibtisch steht, da liest er und schreibt seine Texte und alles. Und da hab ich ihn dann auch gefunden, er hatte schon ein bisschen geschrieben und sagte, dass er sehr zufrieden ist und sich inspiriert fühlt.“ Bei der Erinnerung strahlte sie wieder. „Das macht mich zu einer Art Muse, nicht wahr?“
Der Brief knisterte nicht mehr: Jetzt hatte er plötzlich das Gewicht eines Backsteins.
„Was für ein uralter Job“, sagte Frauke. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Und, wann seht ihr euch wieder? Habt ihr etwas abgemacht?“
Plötzlich wichen Danielas Augen ihr wieder aus, und ihre Wangen röteten sich sanft. „Jjjjaa, schon. Hör mal, er hat gesagt, dass er am Samstag in seiner Stammkneipe ein Minikonzert für Freunde gibt, und er hat mich gebeten, dich mitzubringen. Er sagte, dass du ein sehr interessanter Mensch zu sein scheinst, und er bedauerte es, dass du so angewidert warst. Ich weiß, dass du ihn echt nicht ausstehen kannst und dass du bestimmt nicht möchtest, aber würdest du doch mitkommen? Bitte? Ich hab das Gefühl, du bringst mir Glück….“
Jetzt blickte sie sie wieder an, direkt und flehend.
Frauke wand sich.
„Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Ich meine, was, wenn ich wieder irgendwas sage, was ihm nicht passt? Irgendwann ist der Reiz des Neuen auch verflogen, und dann geht es ihm auf den Geist. Nicht, dass du dann meinetwegen in Ungnade fällst oder so.“
Daniela musterte sie mit zusammengezogenen Brauen.
„Du kannst ihn echt nicht ausstehen, oder? Und du fragst dich, warum ich mich so behandeln lasse. Warum ich wie so viele um ihn herumtanze. Du würdest so etwas nie machen, das weiß ich, dazu bist du viel zu vernünftig, aber ich bin echt hin und weg. Und es gibt ein paar Gründe, warum ich glaube, dass es sich lohnen wird. Er ist wirklich clever, und er ist absolut hinreißend, aber außerdem ist er auch einunddreißig, und langsam wird er ruhiger. Und glücklich ist er nicht, ich meine, der ganze Zynismus und so, das ist ja ganz lustig, wenn er erzählt, aber dahinter steckt doch etwas ganz anderes. Und ich glaube, ich könnte ihm helfen. Ich wäre ihm eine wirkliche Partnerin, weißt du. Und wenn er bereit ist, sich zu binden, will ich da sein. Gerade sind wir uns näher gekommen, und ich weiß, dass das noch weitergeht, denn ich bin ganz einfach die Richtige für ihn.“
Sie und ihresgleichen, sie und ihresgleichen echote es in Fraukes Kopf, und behutsam fragte sie: „Meinst du nicht, dass die anderen Mädchen genau dasselbe denken?“
Daniela lehnte sich zurück und blickte fast kühl.
„Dann irren sie sich. Und die Chance, dass er die Wahrheit erkennt, ist tatsächlich reell. Ich meine, klar sind da eine Menge andere Mädchen, aber unüberschaubar ist die Zahl auch nicht, er ist ja nicht Justin Timberlake oder so. Ich werde ihn schon überzeugen. Und du hast die anderen ja gesehen gestern. Kann eine von denen es etwa mit mir aufnehmen?“
Am Ende hatte ihre Stimme einen fast flehenden Tonfall an angenommen.
Frauke blickte in das blasse, müde Gesicht der Freundin, registrierte den Mascara-Krümel außen links neben dem Auge und spürte, wie eine große Zärtlichkeit in ihr aufstieg. Warm sagte sie: „Jedenfalls keine, die ich gesehen habe. Hoffen wir mal, dass der junge Mann meinen guten Geschmack teilt. Und wenn es tatsächlich hilft, dass ich dabei bin, dann komme ich mit. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich die ganze Zeit über nett zu ihm bin, denn er bringt mich echt auf die Palme.“
Danielas blaue Augen wurden feucht, und sie drückte dankbar Fraukes Hand.
„Oh, ich danke dir! Und du wirst sehen, dass es diesmal ein bisschen lustiger wird. Vor allem ist es diesmal eine geschlossene Gesellschaft und nicht ganz so voll, und möglicherweise läuft alles ein bisschen privater ab. Und sag ruhig alles, was du denkst.“
Täuschte sie sich, oder entdeckte Frauke bei den letzten Worten einen besorgten Schimmer in Danielas Augen? Sie tätschelte sanft die Hand, die auf ihrer lag, und sagte: „Keine Angst, ich werde mich schon halbwegs zu benehmen wissen. Möchtest du mehr Kaffee?“
Sie tranken noch eine halbe Stunde lang Kaffee, knabberten Chips und unterhielten sich, und schließlich sprach Frauke ein Thema an, das hinter den anderen, akuteren Geschehnissen in ihrem Unterbewusstsein gebrodelt hatte.
„Sag mal, diese Vanessa: Wie hat die ausgesehen?“
Daniela guckte überrascht. „Groß, blond, hübsch. Hat bei der Haarfarbe mit Strähnchen nachgeholfen, arbeitete ja auch in einem Schönheitssalon.“
„Also war sie ein ähnlicher Typ wie du vom Aussehen?“
Daniela wollte gerade empört einwenden, dass ihr Blond komplett echt war, aber dann ging ihr auf, was Frauke sagen wollte.
„Ich denke schon, wieso?“
Frauke wiegte nachdenklich den Kopf.
„Wenn die Polizei sich in dem Kreis um Gabriel umhört, dann ist da vermutlich irgendetwas dran. Wer weiß, vielleicht gibt es da ein schwarzes Schaf. Oder einem Menschen mit der Vorliebe für Mädchen wie dich ist aufgefallen, dass irgendwo in Gabriels Nähe ein Nest zu sein scheint… kannst du mir einen Gefallen tun und in nächster Zeit sehr gut auf dich aufpassen?“
Danela wollte diese Bedenken wegwischen, doch als sie sah, dass es ihrer Freundin wirklich Ernst war, versprach sie ihr, besonders vorsichtig zu sein.
Ihre Augen waren immer kleiner geworden, und sie gähnte wiederholt, bis sie schließlich aufstand und sich schwankend vor Müdigkeit verabschiedete.
Als die Tür hinter Daniela ins Schloss gefallen war, zog Frauke den Brief aus der Tasche und las ihn langsam noch einmal durch. Es war unnötig, sie hatte die Worte noch nicht vergessen – so wie sie die wenigsten einbmal gelesenen Worte wieder vergaß –, doch die Fragen hatten sich nur vervielfacht. Was wollte der Kerl nur?