Читать книгу Sommerrausch - Kimberly Althoff - Страница 4

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Prolog

Der Sommer war vergangen, verblasst wie eine alte, vergilbte Fotographie.

Mit entschlossenen Schritten laufe ich den Hügel hinauf, die kraftlosen, leeren Augen in die Ferne gerichtet. Ein kühler Wind empfängt mich, als ich die alte Eisenbahnbrücke erreiche und stumm hinab ins Dorf blicke.

Hektisch eilen die Menschen an den luxuriösen Läden vorbei. In den Händen vollgepackte Einkaufstaschen und in den Gesichtern, das einstudierte Lächeln, welches ihnen in den Schaufensterscheiben entgegenblickt. Sie sehen nur sich und den Schein ihrer glamourösen Welt, während sie durch die kleinen, verwinkelten Gassen spazieren.

Beinahe, ohne es zu merken, hatten sich die dünnen Kleidchen in Pullover verwandelt und die Hitze der letzten Wochen in trübe, regnerische Tage. Wie der Schatten einer fremden Zeit, liegt die Sommerbräune auf ihren makellosen, gelifteten Gesichtern und sehnsüchtig drehen sie sich der untergehenden Abendsonne zu, nur um noch ein letztes Mal die Wärme zu spüren. Sie genießen diesen kurzen Moment, wollen den heißen Tagen, dem Duft des Sommers und ihren schwerelosen Gedanken noch nicht Lebewohl sagen.

Als könnten sie die Zeit zum Stillstand bringen, sie dazu zwingen ihnen ein wenig mehr zu geben und dem Leben, das sie führen, seine Schwere zu nehmen.

Die Stadt, die einst mein zu Hause gewesen war, hatte sich verändert, hatte ihren Glanz verloren, war gealtert, grau geworden. Vielleicht war sie es auch immer gewesen, doch ich hatte es nicht sehen wollen. Die feinen Risse waren mir nie aufgefallen und ich kann in den Augen der Menschen sehen, dass sie ihren Glauben an den schönen Schein, nicht wie ich verloren hatten.

Nun stehe ich hier, sehe, wie alles um mich herum weiterläuft und nur ich mich nicht bewegen kann und spüre, wie ich langsam verglühe, wie ein fast verbranntes Streichholz, darauf wartend, dass ich vollends abgebrannt bin, ausgebrannt. Es fühlt sich an, als würde ich langsam sterben, in Zeitlupe den letzten Atemzug aushauchen, während die fremden Gesichter an mir vorbeiziehen, ohne mich zu beachten, denn ich gehöre längst nicht mehr dazu, bin nur noch ein Name, einer fast vergessenen Geschichte.

Fast könnte man glauben, dass dieser Sommer nie existiert hätte. Als hätten wir ihn nie erlebt, als wäre es nur ein Albtraum gewesen, aus dem ich endlich erwacht war und mich zurück in die Zeit gebracht hätte, in dem mein Leben fest in seinen Fugen lag. Damals, als ich einer dieser Menschen war, die dort in den Läden verschwinden, keine Sorgen haben, überhaupt noch nie mit dem Wort in Berührung gekommen waren.

Diese Welt, in der ich groß geworden war, in der ich meine Privilegien nie in Frage gestellt hatte, war wie eine Seifenblase zerplatzt. Ein feines Pling hatte mich aus der Bahn gerissen und die schimmernden Überreste, die ich auf meiner Haut spüre sind alles, was mir geblieben ist.

Die nackten Arme auf das Brückengeländer abstützend, sehe ich in die Ferne und beobachte die Züge, die ratternd unter der Brücke herfahren, um dann, wie ein Geist in der Dämmerung, zu verschwinden. Die Temperatur war in die Höhe geschossen, als wollte der Sommer endgültig seinen Abschied bekannt geben, als wollte er uns diesen letzten warmen Tag schenken und mich an das erinnern, was ich niemals vergessen könnte.

Der Abendwind streichelt sanft über meine Haut und treibt die Erinnerungen, wie eine brausende Welle, durch meinen Körper. Bilder von langen, heißen Nächten am Strand, berauschenden Partys, Küsse, die nie enden wollen, Tränen voller Schmerz und Angst. Süße Versprechen liegen in diesem Duft, Versprechen, die gebrochen worden waren.

Ich versuche die Bilder zur Seite zu schieben, den Schmerz zu unterdrücken und gehe einen weiteren Schritt nach vorne. Ruhig verharre ich an der Kante der Brücke und blicke nach unten. Ohne den Blick von den Schienen zu lösen, taste ich mit meinen Füßen nach der Kante.

Ein Stück weiter, ich müsste nur meinen Oberkörper über das Geländer beugen und schon würde ich über dem Abgrund schweben. Der Gedanke lässt meine Haut kribbeln und ich drücke mich näher gegen die Streben. Es ist diese Mischung aus Angst und Neugierde, die mich ergreift und mich fragen lässt, wie es wäre einfach zu fallen. Wie es sich anfühlt, den Halt zu verlieren, den Wind im Haar zu spüren mit der Gewissheit, dass es das Letzte ist, was ich wahrnehmen würde. Meine Hände vom Geländer lösend, spüre ich den Rand unter meinen Turnschuhen und wippe sanft hin und her, als würde ich so dem Schicksal die Macht überlassen. Ich spüre wie die Angst, kaum merklich, wie ein schleichendes Gift durch meinen Körper fließt, direkt in mein Herz und sich mit jedem weiteren Atemzug tiefer in meine Haut gräbt. Es ist nicht die Angst davor zu fallen oder zu sterben. Die Angst vor der Vergänglichkeit berührte mich schon lange nicht mehr. Ich habe Angst davor zu vergessen, Angst davor, noch mehr zu verlieren, Angst davor weiterzuleben. Zu leben, während ich weiß, dass ein einziger Moment alles entscheiden kann. Zu leben ohne etwas dagegen tun zu können – machtlos zu sein.

Mit einer Hand greife ich in meine Hosentasche und halte die abgegriffene Fotographie vor mich. Das Foto in meinen zitternden Fingern zeigt sechs Jugendliche, mit ihren perfekten, weißen Zähnen, strahlend, um der Nachwelt zu zeigen, dass das Leben es gut mit ihnen gemeint hatte. Wie arrogant und zugleich naiv waren wir nur gewesen? Es wirklich zu glauben, selbst noch, nachdem wir gewusst hatten, dass dieses Leben im Luxus nur Schein war, dass unsere Jugend vergänglich ist und unsere Herkunft nichts bedeutet, dass Partys und schnelle Autos irgendwann nur noch eine Erinnerung an alte Zeiten sein würden und wir selbst zu unseren größten Feinden wurden. Wir hatten unser Leben bis zum letzten Schluck ausgeschöpft, uns alles genommen, was wir hatten haben wollen und wir hatten es geliebt, diese Privilegien zu besitzen. Wir hatten uns unsterblich gefühlt. Wir hatten gedacht, nichts und niemand würde uns jemals stoppen und dieses Leben nie enden. Selbst als das Höllenfeuer sich unter uns entzündet hatte, hatten wir in den Flammen getanzt und nur die Wärme geschätzt. Es ist nicht so, dass ich dieses Leben bereue, denn dafür hatte ich es viel zu sehr genossen. Nein, auch ich hatte es geliebt, hatte mich an ihm festgeklammert und zu spät bemerkt, was aus uns geworden war.

Einen Moment lang schließe ich die Augen. Bilder flackern vor mir auf. Ich höre das vergnügte Lachen eines Mädchens, übertönt durch die Musik, die immer lauter zu werden scheint. Die kraftvolle, helle Stimme hüllt mich ein. Der Rhythmus bringt mein Herz noch hektischer zum Schlagen. Es ist ein Lied, vollgepackt mit Erinnerungen, die mich bei jedem Ton, wie bei einem Flashback einholen. Der Strand, der Sand zwischen den Zehen, der Alkohol auf unseren Lippen, das Salz in der Luft und die unglaubliche Freiheit. Das Gefühl, alles zu tun und zu lassen, was wir wollen, ohne auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden.

Wieder spüre ich seine Hände an meiner Taille, meine um seinen Nacken und rieche sein Parfum um mich herumschwirren. Wir sind im Rausch gefangen und wollen immer so weitermachen. Der Bass dröhnt und ich spüre das Blut durch meine Adern pumpen. Alles ist so viel intensiver, der Geruch, der Geschmack und jede meiner Nerven ist so überreizt, dass ich die Musik auf der Haut förmlich spüre. Ich könnte ewig so weiter tanzen, für immer ein Teil dieser Nacht sein, die so ganz und gar perfekt erscheint.

Völlig eingetaucht in diesen Moment an seiner Seite, öffne ich langsam die Augen und es fühlt sich an, als wäre dieser Sommer nur ein Traum gewesen, alle Empfindungen, die wir erlebt hatten nur ein Trugschluss, um uns zu täuschen. Als hätten sie uns vor der Wahrheit schützen wollen und den Abgründen, die sich hinter ihr maskiert hatten. Vielleicht aber, war es auch nur ein Spiel gewesen und das Leben hatte uns ausgenutzt, wie wir es einst getan hatten, aber ich weiß es besser. Dieser Sommer hatte mich gezeichnet, hatte tiefe Narben hinterlassen, mich zu einer Anderen gemacht, zu dem Mädchen, das auf der Eisenbahnbrücke steht und stumm in die Ferne schaut.

Welcher Ort wäre besser gewesen, als dieser hier, mit dem ich nur ihn verband, sein Vertrauen, seine Nähe, seinen Halt, den ich im mer noch so stark spüre, als stände er hinter mir – doch er ist nicht mehr da. Er würde nie mehr zurückkommen. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken.

Ich kann die Worte in meinem Kopf noch immer nicht begreifen. Wie zu oft gehörte Floskeln, berühren sie mich nicht, können mir das Ausmaß nicht verständlich machen.

Langsam lasse ich das Foto los und mit ihm meine Vergangenheit, sehe, wie es von der Brücke hinab auf die Bahngleise segelt und sich im Wind wie ein einsamer Kreisel dreht. Wie eine Ballerina, die ihren letzten Tanz tanzt. Ich blicke dem Bild hinterher, betrachte wie es mit unseren Gesichtern auf den Schienen liegen bleibt, die langsam zu vibrieren beginnen. Der Zug kommt. Sein Licht ist starr nach vorne gerichtet und genau in diesem Moment rast er unter meinen Füßen hindurch. Das Bild wird vom Fahrwind weggetragen, zerreißt wie unser Leben in tausend Teile. Unsere Welt war untergegangen und wir waren unter dem Schutt begraben worden.

Eine sanfte Hand fasst von hinten um meine Schulter und ich spüre seine Nähe, seine ungebrochene Stärke und seine Liebe. Sie kann den Schmerz nicht lindern, nicht im Geringsten, doch das ist es nicht, worauf es ankommt.

Wir sind die Einzigen, die noch da sind.

Die Einzigen, die es miterlebt hatten.

Die Einzigen, die verstehen können, was passiert ist.

Wir sind die Einzigen, die diesen Schmerz miteinander teilen.

Mit zitternden Fingern gibt er mir den dünnen Umschlag und sanft halte ich ihn in beiden Händen fest. Ich spüre das glatte Papier, fühle, wie es durch den Schweiß meiner Angst rutschig und feucht wird und erneut hadere ich den Umschlag zu öffnen. Schon so viele Male hatte ich ihn so vor mir gehalten und nie war es der richtige Augenblick, der richtige Ort gewesen. Still betrachte ich ihn, streiche über die Kanten und fahre mit dem Finger über die geschwungene Schrift. Es ist nur ein Wort, ein Name, doch er bedeutet so viel mehr.

Mein Herz beginnt zu pochen, schlägt hektisch in meiner Brust und raubt mit für einige Sekunden den Atem.

Lilienweiß.

Nur eine Person konnte ihn geschrieben haben und fast fühlt es sich so an, als wäre er ganz in der Nähe und würde sich darüber amüsieren, dass ich mit einem Mal so verunsichert bin. Ich lächle, ein scheues und trauriges Lächeln, doch ich hoffe, er kann es von irgendwo sehen, versteht, was in mir vorgeht und nimmt mir ein bisschen meines Schmerzes.

Ich blicke mich ein letztes Mal um, sehe wie die Sonne die Stadt in ein tiefes, leuchtendes Orange taucht und die rot gefärbten Wolken aussehen, als würden sie in Flammen stehen. Er wäre immer bei mir, immer ein Teil von mir und vielleicht ist es genau dieses Zeichen, der Anblick des Himmels, der mir die Zuversicht gibt, dass er mich niemals ganz verlassen würde, dass mir zeigt, dass ich nun bereit bin.

Während ich das Papier Zentimeter für Zentimeter aufreiße und die Schnipsel wie Blütenblätter in der Luft schwirren und vom Wind zerstreut zu Boden fallen, lasse ich den Sommer Revue passieren, erinnere mich daran, wie alles angefangen hatte.

Sommerrausch

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