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Kapitel 1

Drei Wochen zuvor

Das Wasser ist so heiß, dass es schmerzt.

Meine Haut brennt, ist gerötet von der Hitze, auch wenn ich sie im dichten Rauch des Wasserdampfes kaum sehen kann. Zitternd verharre ich unter der Dusche und spüre noch immer, wie der kalte Schweiß aus meinen Poren strömt. Erschöpft lehne ich mich gegen die Wand und sehe zu, wie das Wasser in den gluckernden Ausguss verschwindet.

Eine Stunde ist vergangen, noch immer ist es tiefe Nacht, doch die Hitze der letzten Tage lässt sich nicht aus dem alten Bauernhaus vertreiben, sodass an Schlaf nicht zu denken ist. Ich öffne den Schrank, greife nach Hosen, Shirts, einem Kleid, packe sie in die Tasche, nehme den Kulturbeutel aus dem Bad, mein Handy und eine Jacke, die ich mir um die Hüfte binde. Tagelang hatte ich nicht mehr richtig geschlafen und wenn die Erschöpfung endlich meine Augen geschlossen hatte, riss sie mich nur in Träume, die mich immer tiefer in ihren Bann zogen und wie eine Geisel nicht mehr freiließen. Bilder, Gerüche, Stimmen bohren sich in meinen Kopf. Ich hatte mich entschieden, auch wenn die Hitze meine Gedanken durcheinander bringt, war ich mir nun sicher. 364 Tage waren vergangen. Dieses Jahr spielt keine Rolle mehr, nur dieser Morgen, der Augenblick in dem ich beschließe diesen Teil meines Lebens ein Ende zu setzen.

Schweren Herzens lege ich den Zettel auf mein Bett.

Noch immer kann ich mich genau an alles erinnern, das geriffelte Papier zwischen meinen Fingern, der Blick auf die geschwungene Schrift und die unterdrückte Angst, dass ich einen Fehler beging.

Es ist ein Abschiedsbrief, ein Lebewohl an mein altes Leben, an alles, was ich nie wieder sein will.

Ein allerletztes Mal öffne ich das Briefpapier und überfliege die Zeilen nur um sicher zu sein, dass ich wirklich das Richtige tue.

Erinnerungen.

Sie können alles sein.

Gut und schlecht. Berauschend und beängstigend.

Sie können dir ein Lächeln auf die Lippen zaubern und sie können dich zerstören. Manche vergisst man und andere brennen sich für immer in deinem Gedächtnis ein, doch alle Erinnerungen haben eins gemeinsam, man muss sich ihnen stellen. Man muss beenden, was man begonnen hat. Ich muss es beenden.

Es tut mir Leid, dass ihr so davon erfahrt, dass ich gegangen bin. Ein Jahr lang bin ich vor meiner Vergangenheit geflohen, habe mir selber vorgemacht, dass ich damit umgehen kann, dass ich es verarbeitet habe, doch ich habe mich nur selbst belogen und spüre, wie sie mich einholt. Ich brauche endlich Antworten und nur dort kann ich sie bekommen.

In Liebe, Freja.

Zu viel war in den letzten Wochen passiert, um hier bleiben zu können.

Mit einem Ruck greife ich nach meiner Tasche und sehe dem Mädchen im Spiegel ein letztes Mal entgegen. Sie sieht so anders aus, als ich sie in Erinnerung habe. Die einst glatten, goldblonden Haare waren dunkelbraunen Wellen gewichen und die glücklich wirkenden grünen Augen hatten ihr Strahlen verloren. Glasig blicken sie mir entgegen. Dieses Mädchen, was mich fassungslos ansieht, ist eine Fremde. Sie hat die selben Narben und Sommersprossen wie ich, doch es fällt mir schwer zu verstehen, dass es noch immer mein Gesicht ist, was mir dort entgegenblickt. Es ist das einer Anderen, gehört zu einem anderen Leben, welches ich einst geführt, aber schon so lange nichts mehr mit mir zu tun hatte. Sie zeigt das Mädchen, zu welchen ich geworden wäre, wenn dieser eine Moment nicht existiert hätte, wenn mein Leben nicht aus den Fugen geraten wäre. Ich ertrage den Anblick nicht und wende mich vom Spiegel ab.

Noch immer liegt das alte Farmhaus in einer bedrückenden, fast unheimlichen Stille. Es ist erst früher Morgen und meine Eltern waren bis spät in der Nacht beim Dorffest gewesen. Erst in ein paar Stunden würden Sie aufstehen und sich fragen, wo ich sei.

Erschrocken blicke ich auf die Uhr. Ich habe nicht mehr viel Zeit und ich kann es mir nicht erlauben, hier zu stehen und zu befürchten, dass mein Verschwinden entdeckt wird, bevor ich im Zug sitze. Ich höre das gleichmäßige Schnarchen meines Vaters durch die geschlossene Schlafzimmertür, während ich noch immer in meiner Bewegung verharre.

Wird dies ein Abschied für immer sein oder nur eine Reise, die mir endlich die Antworten geben wird, die ich unbedingt brauche und hier niemals bekommen werde?

Mein Herz schlägt schnell, versetzt mich in Unruhe und schließlich verlasse ich, ohne mich noch einmal umzudrehen, mein Zimmer. Mit leisen, bedächtigen Schritten, schleiche ich den Flur entlang und die Treppe hinunter, immer darauf achtend, nicht die knarrenden Dielenbretter zu betreten. Als wäre es ein Spiel, springe ich leichtfüßig die Treppenstufen hinab, horche bei jedem Auftreten, ob sich jemand im Haus rührt, doch noch ist alles ruhig. Dieses Haus, dieser Ort, würde niemals ein Zuhause für mich sein. Es fühlt sich fremd an, kalt und trostlos, auch wenn der Sommer das Dorf in einem blühendes Paradies und die Sonne es in tausend schillernde Farben getaucht hatte. Der Umzug sollte ein völliger Neubeginn werden, doch wirklich hatte ich meine Heimat nie verlassen, war hier nie Willkommen gewesen. Es würde kein schmerzlicher Abschied sein, denn es gibt nichts, was mich hier hält.

Im Gehen schlüpfe ich in die durchgelaufenen, schwarzen Stoffschuhe. Immer noch auf Zehenspitzen schließe ich die Tür hinter mir und gehe einige Schritte den gepflasterten Weg hinab. Der Morgen ist gerade erst angebrochen und nur das leise Summen der Straßenlaternen durchbricht die Stille. Gerade als ich das Gartentor erreiche, höre ich das feine Wispern hinter mir.

»Freja?«

Ich lasse die Reisetasche zu Boden sinken und drehe mich um. Ihre grazile Figur erblickend, die sich im Schein der Morgendämmerung durch die Lücke der Tür presst, gehe ich auf sie zu. Ihre Augen sehen müde aus, wie von einer zu kurzen Nacht, doch bei Weitem nicht so kraftlos, wie meine es das ganze Jahr gewesen

waren. Keine Leere spiegelt sich in ihnen, nicht die tiefsitzende Traurigkeit, die in meinen Knochen steckt.

Ich kann etwas Anderes in ihnen lesen, etwas was mich schlucken lässt. Es ist ihre Angst und gleichzeitig dieses ungebrochene Vertrauen, was sie in mich setzt. Sie bleibt ruhig im Türrahmen stehen, während ich einige Schritte zurück gehe und meine Hand auf ihre Schulter lege.

»Mach dir keine Sorgen, Kleines!«

Ich versuche ein Lächeln und spüre selbst, wie es misslingt. Zu lange war es aus meinem Gesicht verschwunden.

»Tue ich nicht. Pass einfach auf dich auf! Du weißt, was ich meine!«

»Das tue ich doch immer. Außerdem es ist nur eine Woche. Der letzte Sommer, in dem wir zusammen sein werden. Ich bin bald wieder da, Frieda!«

»Du kannst nichts Ungeschehen machen. Freja! Das Leben geht weiter. Es geht immer weiter. Du solltest dich nicht so quälen! Es war nicht eure Schuld!«

»Ja, das weiß ich, doch es ändert nichts an dem, was geschehen ist! Ich brauche Antworten und ich habe schon viel zu lange gewartet, endlich die richtigen Fragen zu stellen!«

»Wirst du wiederkommen?«, flüstert sie, doch es ist nicht mehr ihre kindliche Neugier, die eine Antwort erwartet, sondern viel mehr ihre Furcht mich endgültig zu verlieren.

»Natürlich! Es ist nur eine Reise.«

Skeptisch sieht sie mich an, und ich kann ihr nicht verdenken, dass sie mir keinen Glauben schenken will, denn ich weiß selbst nicht, ob ich mir nicht selbst nur etwas vormache. Ich nehme sie liebevoll in den Arm und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Ich muss los. Der Zug wartet nicht auf mich. Ich hab dich lieb, Schwesterherz.«

Ich bin schon auf dem Sprung, als sie mich noch einmal an sich drückt und mich mit ihrer ganzen Kraft umarmt. Sie zieht mich an sich, so fest sie nur kann, in der Hoffnung, mich bei sich behalten zu können, doch sie weiß, dass es an der Zeit ist, mich gehen zu lassen. Schweigend verlasse ich das Grundstück und blicke ein letztes Mal zurück. Sie winkt mir voller Zuversicht und im selben Moment weiß ich, dass ich das Richtige tue. Ich muss mich den Schatten der Vergangenheit stellen.

Es ist nicht weit bis zum Bahnhof, insoweit man den verlassenen Bahnsteig überhaupt als Bahnhof bezeichnen kann. Eine einsame Landstraße führt von unserem neuen Haus direkt an der dänischen Grenze, zu der einzigen Verbindung aus diesem Kaff heraus. Wir wohnen am Rand des Dorfes, abgeschottet durch kilometerweite Felder. Manchmal wenn ich im Sommer am Straßenrand saß und dem leisen Heulen des Windes gelauscht habe, schien dieser Ort wie das Ende der Welt. Die Stille und die wenigen Einwohner, die einen überall beobachten, weil man die Neue ist und nicht wie der Rest der Familie schon längst dazu gehört und sich auch nichts daraus macht, doch vor allem die Einsamkeit war wohl das Schlimmste in dieser Zeit für mich. Alles um einen herum scheint langsam zu ergrauen bis man irgendwann nicht mehr weiß, ob man noch wirklich lebt oder nur noch atmet. Es fühlt sich an, als würde man langsam verblassen ohne das es jemand bemerkt, würde wie in Zeitlupe den letzten Atemzug aushauchen, während um einen herum die Welt einfach weiterläuft, sich unablässig dreht. Die fremden Gesichter zischen vorbei, die Zeit vergeht, doch keiner kann einen wirklich sehen, erkennt wer man ist, denn für sie bin ich nur ein Schatten. Meine trockenen Finger streifen den Mais am Wegesrand, während die ersten Lichtstrahlen des Morgens die Sonnenblumen zu meiner Linken in einem hellen Gelb erstrahlen lassen. Die Wolken sind in einem hellen Rot gefärbt, als würden sie in Flammen stehen und während ich die Straße hinunter laufe, dem Himmel entgegenblicke, erinnere ich mich an ihn, doch diese Zeit scheint so weit weg, wie in einem anderen Leben – als wäre ich damals jemand ganz anderes gewesen. Unsere Begegnungen formen unser sein zu dem, was wir sind, doch wer bin ich, nachdem unsere Freundschaft gescheitert war und er und ich nur eine verschwommene Erinnerung sind.

Es war der erste richtig warme Sommertag im letzten Jahr gewesen, an dem wir zusammen einfach nur in die unendliche Weite gestarrt hatten und die Wolken genauso aussahen wie heute. Wir beide auf der Eisenbahnbrücke, versteckt direkt neben einem kleinen Waldstück, die Beine über den Rand gestreckt und nur die Stille um uns herum. Es war unser Ort gewesen, der Zufluchtsort, den nur wir beide kannten. Wir mussten uns nichts sagen. Es reichte in den Himmel zu schauen, in diese Mischung aus tiefem Orange und hellem Rot. Kein Wort zwischen uns war notwendig um zu wissen, was wir dachten.

Ob er sie wohl auch in diesem Moment sieht und an damals denkt?

Mit hastigen Schritten laufe ich nun die Landstraße hinab und erreiche den Zug gerade noch rechtzeitig, als sich die Türen auch schon hinter mir schließen und er losfährt. Einen Viererplatz am Fenster suchend, schiebe ich die Reisetasche unter den Sitz und lehne mich zurück.

»Ein letzter Blick auf dieses Leben«, flüstere ich leise, während ich aus dem Fenster sehe.

Am Anfang war dieser Ort die Hölle. Es ist manchmal so, als wäre man begraben worden. Man spürt einfach nichts mehr. Die Leere ist das, was mir am meisten Angst gemacht hat, doch irgendwann spürt man selbst das nicht mehr. Irgendwann ist es so ruhig in einem drin, dass man manchmal nicht mehr weiß, ob man überhaupt noch da ist oder man sich in der Leere verloren hat. Ob es besser gewesen wäre in Hamburg zu bleiben, kann ich nicht beantworten und der Gedanke nach einem Jahr wieder zurück zu sein, hinterlässt ein flaues Gefühl. Eine Reise mit meinen engsten Freunden wie wir es jedes Jahr gemacht hatten, bis sich alles veränderte, bis Lia nicht mehr zurückgekehrt war. Ich kann von dieser Woche nichts erwarten und tue es auch nicht, zumindest sage ich mir das immer wieder. Zu viel unausgesprochenes liegt zwischen uns und immer wieder denke ich an diesen letzten Moment, als ich fortging und ihn zurückließ.

Die Fahrt verläuft ruhig und gibt mir einen Moment Zeit um nachzudenken.

Der letzte Sommer. Du kannst nichts ungeschehen machen.

Ich höre Frieda immer wieder dieselben Worte sagen und auch wenn ich weiß, dass es stimmt, so hoffe ich, wie ein kleines Kind auf die riesige Wunde ein Pflaster kleben zu können, damit sie endlich verheilt. Noch immer sitzt der Schmerz so tief, dass ich denke, dass er bei der kleinsten Bewegung wie ein tobender Vulkan hervorbrechen könnte.

Vier Stunden Fahrt würden vor mir liegen.

Genug Zeit, um nachzudenken.

Genug Zeit, um mich darauf vorzubereiten, was mich erwarten würde.

Genug Zeit, um mir auszureden, mir zu viele Hoffnungen zu machen.

Während durch meine Kopfhörer das erste Lied erklingt, blicke ich sehnsüchtig nach draußen. Hinaus auf die Felder, vorbei an den Bauernhäusern und den kleinen Seen, die den Weg säumen. Es hätte eine wunderschöne Heimat sein können, doch gegen mein Herz kann selbst die malerische Landschaft nichts ausrichten. Es ist Zeit um nach Hause zurück zu kehren.

***

Es ist noch immer dunkel, als das schwarze Cabrio in einer einsamen Seitenstraße parkt. Er schaltet das Licht aus und schließlich den Motor, sodass er beinahe unsichtbar in der tiefen Schwärze der Nacht verharrt.

Was tat er bloß hier?

Wie hatte es überhaupt so weit kommen können?

Zu welcher Bestie war er geworden, dass er es zuließ?

Die Gedanken schwirren in seinem Kopf, brummen in seinen Ohren und die warme, sternenklare Nacht bringt Erinnerungen an einen Sommer zurück, den er um alles in der Welt nur vergessen wollte. Stundenlang war er durch die Gegend gefahren, immer weiter aus der Stadt hinaus, als könnte er so den Lauf der Dinge stoppen, die Kugel, die er ins Rollen gebracht hatte, noch irgendwie aufhalten, doch er weiß selbst, wie naiv seine Gedanken sind. Er hatte es so gewollt, hatte alles geplant und nun gab es keinen Ausweg mehr. Erschöpft und müde von der langen Nacht legt er seinen Kopf auf das Lenkrad und schließt die Augen. David ist aufgekratzt, unruhig, wie ein Panther in einem viel zu kleinen Käfig. Einzig und allein der Wunsch und die Vorfreude, sie in ein paar Stunden endlich wiederzusehen, bringen ihn dazu nicht durchzudrehen. Er könnte es gleich hier beenden, wenn es nur um ihn ginge, doch das tut es nicht. Diese Reise, diese eine Woche, würde alles verändern und auch wenn er nicht weiß, was sie bringen würde, ist er sich doch sicher, dass sie kein gutes Ende nehmen würde – zumindest nicht für ihn.

Hektisch öffnet er sein Handschuhfach, greift nach der Waffe und im dämmrigen Schein der Straßenlaterne, betrachtet er sie. Sie ist schwer und fühlt sich unheimlich kalt an, doch das Bewusstsein sie zu besitzen, zu wissen, dass er die Macht hat, die ganze Sache beenden zu können, wenn es sein müsste, beruhigt ihn. Ganz allein er hat es nun noch in der Hand. Seine Gedanken werden wieder klarer und schnell, bevor ihn jemand damit sehen würde, steckt er sie zurück.

Mit wachsamen Augen blickt er hinauf in Richtung Hauptstraße, bis zu dem einzigen beleuchteten Gebäude und hinein in das scheinbar vereinsamte Foyer. Noch einmal hatte er hierher kommen müssen. Er musste sich sicher sein, dass dieser eine Grund, all seine zukünftigen Taten rechtfertigte. Immer wieder sagt er sich, dass es richtig ist, dass es nur diese eine Möglichkeit gibt, dass es seine letzte Chance wäre, doch das schleichende Gefühl der Schuld, welches sich immer tiefer in seinen Magen gräbt, lässt sich nicht verleugnen. Auch wenn die Angst seinen Puls zum Rasen bringt, ist da doch noch etwas Anderes, wodurch sein Blut vor Aufregung fast kocht.

Sie ist es.

Freja Lieking.

Die eine.

Das Mädchen, dass seit er denken konnte, seine beste Freundin gewesen war, seine engste Vertraute und… .

Nein, mehr war zwischen ihnen nie gewesen!

Er vermisst sie, ihre gemeinsamen Momente, ihre besonnene Art, ihre Ruhe, die sich von einer auf die andere Sekunde in Verrücktheit verwandeln konnte und ihn jedes Mal fast um den Verstand brachte. Er vermisst einfach alles an ihr, er kann gar nicht sagen, was am meisten. Sie fehlt ihm, in jeder Sekunde, in jedem Augenblick, in dem er lacht und sich wünscht, sie wäre da und würde mit ihm lachen. Dieses magische Lachen, welches er manchmal nachts noch hören konnte, wenn es ganz still war. Sie war das eine Mädchen, auf das es ankam. Was hätte er nur dafür getan, wie einst mit ihr die ganze Nacht auf dem Dach zu sitzen und zu wissen, sie wäre für immer für ihn da.

»Wir bleiben doch für immer zusammen, oder?«, hatte sie ihn gefragt, als sie beide noch Kinder gewesen waren.

»Ich werde dich nie allein lassen. Niemals!«

Damals schien dieses Versprechen ewig zu gelten, doch sie hatte es gebrochen und wahrscheinlich konnte sie sich noch nicht einmal mehr daran erinnern, dass sie diesen Bund einst geschlossen hatten. Ihr Umzug hatte ihn tief getroffen und noch immer schmerzt ihn der Verlust seiner besten Freundin, bei jedem Gedanken an sie.

Wie kannst du sie in diese Gefahr bringen, wenn dir doch so viel an ihr liegt?

Welcher Freund würde das tun?

Mach dir nichts vor! Du bist nur noch ein egoistischer Kerl, geplagt von Selbstzweifeln und Sehnsucht.

Die Gewissensbisse graben sich immer tiefer in ihn hinein, rütteln an seinem Vorhaben, doch David müsste sich im entscheidenden Moment für einen von ihnen entscheiden.

Er oder sie?

Sie oder er?

Für beide würde er sich ohne jeden Zweifel opfern, doch würde dieses Opfer auch beide retten können oder müsste er sich im entscheidenen Moment eingestehen, welche Liebe größer war?

Im Rückspiegel kann er die tiefen Sorgenfalten in seinem Gesicht erkennen.

Du hast keine andere Wahl, David.

Du musst es tun.

Die Stimme flüstert es ihm leise in sein Ohr, doch auch wenn sie verstummt, weiß er, dass er es nun nicht mehr beenden kann. Er zieht den Zündschlüssel ab und während er sich in den Sitz zurücklehnt und die Nacht um sich herum betrachtet, fühlt er, wie sie seinem Leben die Schwere nimmt. Er fühlt sich sicherer, wenn die Dunkelheit die Stadt mit dieser eigenartigen, gespannten Stille überzieht. Sie lässt ihn nachdenklich werden und die Angst, die ihm am Tag immer wieder einholt, scheint in der Dunkelheit zu ertrinken, zu verschwinden zwischen all den kleinen Gassen und verwinkelten Häusern. Für ein paar Stunden ist er nur er selbst und alles verliert ein wenig an Bedeutung in dieser anderen Welt, von der die Menschen, die jetzt noch alle friedlich in ihren Betten liegen, nichts ahnen. Die Stunden vergehen und schließlich bricht der Morgen an. Die Sonne schiebt sich hinter den Häusern hervor und die ersten Autos bevölkern die Hauptstraße. Im Minutentakt fährt ein Krankenwagen mit tönenden Sirenen an ihm vorbei und die ersten Besucher betreten das Foyer des Krankenhauses. Der Lärm des Tages, die Hektik und die Schwere kehren zurück. Sich aus seiner Lethargie schälend, über das müde Gesicht reibend und durch die dunklen Haare fahrend, öffnet er die Tür, steigt aus und betritt kurze Zeit später die klimatisierte Eingangshalle.

Einen Moment lang hält er inne. Die Kälte lässt ihn einen Atemzug aussetzen und er spürt, wie er zu frösteln beginnt. Die Klimaanlage schien den Sommer gänzlich zu vertreiben, als wäre dies eine andere Welt, ein Ort fern der Realität, wo die Zeit anders läuft und alles, was dort draußen noch wichtig war keine Rolle mehr spielt. Er hatte die Hitze der letzten Wochen nicht mehr wirklich wahrgenommen. Sein ganzer Körper, alles in ihm fühlt sich dumpf an, war abgestumpft, sodass die plötzliche Kälte ihn erschreckt. Sie holt ihn für einen Augenblick in die grausame Wirklichkeit zurück. Er schüttelt die aufkeimenden Sorgen ab, läuft durch die Eingangshalle und nickt dem Pförtner zu, der ihm beim Vorbeigehen begrüßt. Jeden Tag kommt David hier vorbei, läuft durch die Halle in Richtung der Treppenhäuser, drei Stockwerke nach oben, durch die Glastür auf die Station und bis zum Ende des Ganges.

Jeden Tag sah er den Pförtner, dieselben Ärzte und Schwestern, sah wie andere Patienten das Krankenhaus verließen, neue eingeliefert und wieder entlassen wurden, doch er, er war noch immer hier.

Beinahe mechanisch geht er den Weg nach oben, doch als die Glastür sich öffnet und er die Station betritt, ändert sich alles.

Der Schock peitscht ihm plötzlich wie eine kräftige Ohrfeige ins Gesicht und betäubt alle Sinne. Das Ärzteteam rennt eilig auf das letzte Zimmer zu und die hysterische Stimme der Assistenzärztin schallt schrill über den Flur.

»Den Defibrillator, schnell!«

Das kann nicht sein. Nicht jetzt. Nicht er.

David beginnt zu loszulaufen, wird schneller, als er erneut die kräftige Stimme der Ärztin hört.

»Alle weg!«

Er rennt weiter, hört den Defibrillator und den auf das Bett aufschlagenden Körper. Endlich erreicht er das Zimmer, bleibt geschockt im Türrahmen stehen, sieht seinen schlaffen Körper des kleinen Jungen, seine geschlossenen Augen, die bei jedem weiteren Stromstoß zucken. Ein zweites Mal sackt sein Körper mit einem dumpfen Geräusch zurück auf die Matratze. Fassungslos betrachtet er den leblosen Körper, den Monitor, der noch immer keinen Herzschlag anzeigt, stürmt in Panik in das Zimmer hinein, auch wenn er weiß, dass er in diesem Moment nichts für ihn tun kann. Zwei kräftige Arme ziehen ihn zurück, doch er kann seinen Blick nicht abwenden. Bleich liegt er auf dem zerknautschten Laken, während die Ärztin ihre Hände auf seinen nackten Brustkorb drückt.

»Wir werden alles tun, was wir können, aber sie müssen raus gehen. Bitte warten sie!«

Die Worte erreichen ihn nicht, nur noch ein dumpfes Rauschen kreist in seinem Kopf. Der Oberarzt zieht ihn weg, hinaus auf den Gang und zu einem Stuhl. Zusammengesunken bleibt er sitzen und mit einem Mal ist er

wie betäubt, spürt nichts mehr. Seine Sinne, seine Nerven scheinen wie gelähmt, sodass er selbst den tiefen

Schmerz nicht mehr spürt.

»Es muss jetzt sehr schwer sein für sie, aber sein Zustand hat sich zusehends verschlechtert. Es ist nicht abzusehen, ob er noch einmal aus dem Koma erwachen wird, wenn er die Nacht überhaupt übersteht. Wir hatten schon einmal darüber gesprochen, dass es an der Zeit wäre, seinem Leiden ein Ende zu setzen.«

David sieht ihn ausdruckslos an. Wie durch einen dichten Schleier betrachtet er das sorgenvolle Gesicht des Arztes. Als wäre er in einem schrecklichen Albtraum gefangen, aus dem es kein Entrinnen gibt, hüllt er ihn ein, verwirrend, verschwommen undundurchdringlich.

Seinem Leiden ein Ende setzen.

Ihn aufgeben.

Die Worte schallen noch nach, schwirren um ihn herum, als sich plötzlich die Tür des Nebenzimmers öffnet und die Assistenzärztin mit einem erschöpften Gesichtsausdruck heraus kommt.

»Wir haben alles getan, doch es kam zu einem Herzstillstand und es ist nicht sicher, wie lange sein Körper noch gegen die Krankheit ankämpfen kann. Es tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten für sie habe!«

Ohne auf ihre Worte zu reagieren, lässt er sie stehen und läuft bereits in das Zimmer, auf den kleinen Jungen zu. Sein Bruder wirkt kraftlos, schwach, doch irgendwie auch seltsam losgelöst von alledem, aber David ist noch nicht bereit sich auch von ihm zu lösen.

David spürt den Brief in seiner verschwitzten, kalten Hand, den er die ganze Zeit über krampfartig festgehalten hatte. Heute hatte er ihm von seinem Traum erzählen wollen, von dem Traum, dessen Erfüllung in immer weitere Ferne rückte. Er rückt näher an das Bett, betrachtet seine blasse Haut, die dünnen Ärmchen, die hervorstehenden Knochen. Die Krankheit brachte ihn schleichend um, nahm ihn Stück für Stück seines Körpers, nahm ihm alles, was er einst gewesen war.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll, Jonas. Du kannst nicht auf geben, denn ich werde niemals aufgeben. Du bist alles, was ich habe, meine Familie. Ich werde dich hier rausholen, dass verspreche ich dir. Du musst nur noch ein bisschen durchhalten. Nur noch ein bisschen, dann wird alles wieder gut werden. Tust du das für mich? Bitte, du musst kämpfen!«

Hoffend, dass Jonas ihn von irgendwo hören kann, nimmt er seine kleine Hand in seine.

»Weißt du, Freja kommt heute zurück«, flüstert er leise.

»Ich würde dir gerne noch so viel erzählen, Jonas, und eines Tages wirst du verstehen, warum ich das tue. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Denk immer daran, wir sind Brüder!«

Seine Stimme wird gefährlich brüchig und er kann die aufkeimenden Tränen spüren. Mit einem kräftigen Atemzug schluckt er sie hinunter. Ein letztes Mal drückt er seine Hand, legt den Brief auf seinen Nachttisch und bevor die Tränen ihn überwältigen, verlässt er das Zimmer und beginnt loszulaufen. Die beiden Ärzte drehen sich geschockt um, rufen seinen Namen, wollen ihn aufhalten, doch hier in diesem Gebäude, in diesem Augenblick fühlt es sich an, als würden die Wände ihn zerdrücken. Er bekommt keine Luft, spürt wie seine Lunge sich zusammenpresst und das Gefühl des Erstickens ihn fast ohnmächtig werden lässt. Die wenigen Minuten bei seinem Bruder hatten ihn beinahe zerrissen. Mit Sicherheit zu wissen, dass dies ihr letzter gemeinsamer Augenblick wäre, hatte ihn fast um den Verstand gebracht.

Endlich hat er die Tür zur Station erreicht, wirft sich gegen sie, stürmt hinaus, zurück zu den Treppenhäusern. Er läuft nun schneller, rennt die Treppen hinunter, durch das Foyer und hinaus zu seinem Auto. Die Leute auf der Straße drehen sich zu ihm um, tuscheln, fragen sich, was mit ihm los ist, welche Schreckensnachricht ihn wohl ereilt hatte und hoffen für einen kurzen Moment, dass sein Leben wieder in Ordnung kommen und dass er die Hoffnung nicht aufgeben würde, doch er ist nur ein Teil ihrer Geschichte und schon läuft das Leben wieder weiter. Sie vergessen ihn und er vergisst sie.

Er spürt sein schlagendes Herz, seinen keuchenden Atem, seine angespannten Muskeln, während er rennt, doch es reicht nicht, er braucht das Adrenalin. Er braucht es sofort. Ohne sich anzuschnallen und auf die nachfolgen Autos zu achten, fährt er an, rast mit quietschenden Reifen und unter dem Hupen der anderen Autos die Hauptstraße hinunter. Seine Finger sind in das Leder des Lenkrads gepresst und die Knöchel treten weiß hervor. Er achtet nicht auf die Ampeln, hört nicht das Schimpfen der Fahrer, die gerade noch bremsen können, sieht nicht ihre erschrockenen Gesichter, die sich in ein wütendes Rot verfärben, während er die Innenstadt verlässt.

Nur noch die Augen auf den Asphalt vor sich geheftet und die Autos in Schlangenlinien, ohne einen Blick zu seinen Seiten, überholend, verschwimmt die Welt vor ihm. Er rast die Alleen entlang, immer schneller und schneller. Die Nadel des Tachos springt nach oben, während er das Pedal durchdrückt und in den fünften Gang schaltet. Er kann die Kraft des Wagens spüren, das Tempo und endlich auch das Adrenalin, welches durch seine Venen strömt. Der Wind fegt über das Cabrio, presst ihn tiefer in den Sitz und beinahe befreit atmet er aus. Die Geschwindigkeit lässt ihn spüren, dass er lebt und er noch nicht Tod ist, denn genauso fühlt er sich, wie lebendig begraben.

***

»Noch zwei Monate, sieben Tage und zwölf Stunden.«

Die Akten sind abgearbeitet, die Berichte geschrieben und das Telefon steht still. Seine Kollegin Schlosser und er sitzen sich mit den Skatkarten gegenüber.

»Sind sie froh darüber oder werden Sie es vermissen?«

Sie schaut ihn mit ihrem warmen Lächeln hinter ihren Karten an.

»Ich weiß es nicht, ich kann es mir noch nicht wirklich vorstellen. Sehr viel ruhiger kann es jedoch kaum werden!«

Er lacht mit seiner dunkeln, rauchigen Stimme und es ist noch nicht einmal übertrieben. Seit Wochen ist nichts passiert, abgesehen von einem Ehestreit, einer Lärmbelästigung, bei dem fünfzigsten Geburtstag des Ortsvorstehers, und dem Diebstahl von mehreren Rosen, wobei sich der Nachbarshund als Räuber des Gewächses herausgestellt hatte. Alles in allem war es also nicht gelogen, wenn er davon ausging, dass die baldige Rente sein Leben nicht grundlegend verändern würde.

»Nicht, dass ich will, dass etwas passiert, Gott bewahre, aber es ist wirklich ziemlich ruhig geworden –erschreckend ruhig!«

Im selben Moment klopfen die beiden Polizisten auf ihren Holzschreibtisch vor sich, um das Unheil nicht noch zu beschwören.

»Aber es ist an der Zeit für mich! Ich mache, das hier schon viel zu lange!«

Seit fast fünfzig Jahren waren die Polizeiwache und die Insel auf der er groß geworden war, sein Revier gewesen. Er würde auch seinen Lebensabend noch hier verbringen und nicht, wie damals sein Vorgänger, von der Abenteuerlust in die Ferne getrieben werden. Er würde mit seiner Frau die Abende auf der Terrasse mit einem Glas Wein verbringen, ohne daran denken zu müssen, dass ihn das nächste Klingeln des Telefons wieder zur Arbeit rufen würde. Er würde in Ruhe seine Zeitung lesen und vielleicht sogar den Dachboden ausbauen, der einst das Atelier für seine Frau hatte werden sollen, für das er jedoch nie die Zeit gefunden hatte. Es gibt genug Ideen, die er gerne verwirklichen würde, doch je älter er wurde, desto schneller rann ihm die Zeit durch die faltigen Finger. Kommissar Voeller hatte vor jeden Augenblick zu genießen, so lange es ging.

»Sie werden dann auf meine Insel aufpassen, denn ich will eine ruhige Rente haben! Schließlich habe ich Ihnen alles beigebracht, was ich kann und sie wollen mich ja wohl nicht enttäuschen, Schlosser?«

»Nein, Chef!«, hört er seine Kollegin rufen, die im selben Moment mit einem Gewinnerlächeln die Karten auf den Tisch vor sich legt und auf die Uhr an ihrem Handgelenk schaut.

»Ich glaube sie können Feierabend machen. Hier passiert wohl heute wirklich nichts mehr!«

Auch er legt nun die Karten ab und zusammen mit den anderen, steckt er sie in die braune, zerfledderte Lederhülle und zurück in die Schreibtischschublade.

»Sie haben wohl Recht. Ich werde mich auf den Weg machen. Falls wiedererwartend, doch noch ein neuer Fall die Ruhe stört, rufen Sie mich zu Hause an!«

Helena Schlosser, seine junge Kollegin, nickt und lehnt sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und beginnt in einem Buch zu blättern, bis sie endlich die gewünschte Seite gefunden hat. Der Krimi, den sie zu lesen beginnt, als er die Wache verlässt, wäre wohl der einzige Fall, den sie in der nächsten Zeit lösen würde.

Sommerrausch

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