Читать книгу Sommerrausch - Kimberly Althoff - Страница 6

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Kapitel 2

Leander pfeift, als er das nagelneue Auto von Aurelia sieht. Es ist ein silbernes Cabrio, welches sie erst vor wenigen Tagen zu ihrem 18.Geburtstag bekommen hatte und stolz allen präsentiert. Ich hasse es, wenn sie so damit prahlt, dass ihr in Amerika lebender Vater ihr alles kauft, wie viel es auch kosten mag. Er führt ein ziemlich gut laufendes IT–Unternehmen mit Sitz in New York, wo er aufgewachsen war und seit der Scheidung vor fünf Jahren wieder lebt. Lia war immer seine kleine Prinzessin gewesen, doch seit er weggezogen war, hatte sie sich stark verändert und ich kann es ihr noch nicht einmal verdenken. Wie mochte es sich anfühlen, wenn man plötzlich von dem eigenen Elternteil verlassen und lediglich mit kostspieligen Geschenken abgespeist wurde?

Trotzdem bin ich eifersüchtig und hasse ihre überhebliche Art, doch wir konnten froh sein, dass sie ein eigenes Auto hatte und wir das erste Mal alleine zu unserem jährlichen Kurztrip auf die Nordseeinsel Valkum aufbrechen konnten. Den Neid aus meinen Gedanken verscheuchend, geselle ich mich ein Stück näher zu den Anderen.

»Das wird der beste Sommer unseres Lebens!«

Aurelia lacht schallend und trinkt den ersten Schluck aus der Bierflasche, die sie aus dem Kofferraum genommen hat.

»Auf das Leben!«

Auch Tristan hält eine Flasche in der Hand und stößt mit seiner an ihre, sodass ein kurzes Klirren erklingt.

»Lasst uns trinken, auf die Freundschaft, die Liebe, doch vor allem auf den Spaß!«

Sie trinkt die Flasche mit einem Zug leer und lacht erneut, während sie schon die nächste Flasche öffnet.

Klirrend lässt sie den Deckel auf den Asphalt fallen und springt auf den Rücksitz. Ich blicke mich um, sehe in die Gesichter meiner besten Freunde und frage mich nicht zum ersten Mal, wann wir erwachsen geworden und uns so verändert hatten.

Wir sind schon seit Jahren eine Clique. Aurelia, die alle nur Lia nennen, Leander, der schüchterne Außenseiter, David, mein engster Vertrauter, Lana, meine beste Freundin und Tristan, Lias arroganter Stiefbruder. Aber niemand von uns kann leugnen, dass wir uns von Jahr zu Jahr fremder werden.

»Wenn wir heute Abend am Strand sein wollen, sollten wir echt langsam los!«, rufe ich und sehe, während die anderen bereits einsteigen, in Tristans Richtung.

Seine blauen, kühlen, ausdruckslosen Augen fixieren mich und ich spüre wie ein kalter Schauer meinen Rücken hinab läuft. Augenblicklich bekomme ich Gänsehaut trotz der Hitze, die über der Stadt liegt, und wende unsicher den Blick ab. Er hat sich noch immer nicht gerührt, steht regungslos neben dem Auto, den Blick auf mich gerichtet, doch als ich ihn noch einmal ansehe, lächelt er nur schüchtern und sein zweites Gesicht ist verschwunden, als hätte es nie existiert.

***

Erschrocken wache ich auf, schüttele die letzten Bilder des Traumes von mir ab. Es ist nur einer von vielen, die mich seit Tagen heimsuchen und kaum noch eine Nacht ruhig schlafen lassen.

Die Musik ist mittlerweile verstummt. Müde nehme ich die Kopfhörer aus meinen Ohren und blicke hinab auf den Handybildschirm. Drei Stunden waren bereits vergangen und schon bald würde ich Hamburg erreichen. Gerade als ich mein Handy zurück in meine Tasche stecke, schreckt mich ein lautes, dröhnendes Rufen aus meinem Dämmerzustand auf und schüttelt schlagartig die letzten Brocken des Schlafes ab.

Die Geräusche werden lauter, schallen durch das Abteil. Gegrölte, sexistische Witze dringen zu mir herüber. Erst kann ich die Gestalten nicht sehen, doch das brauche ich auch nicht, um mir zu wünschen mich tiefer in den Sitz vergraben zu können. Die Rufe und das kehlige Lachen werden immer aufdringlicher und während ich mich gegen den Sitz presse, sehe ich die drei Männer geradewegs auf mich zukommen. Mit stampfenden Schritten kommen sie näher, langsam und bedrohlich. Ein bedrückendes Gefühl erklimmt meinen Körper und presst meinen Brustkorb wie eine Ziehharmonika zusammen.

Die Geräusche und Schritte verstummen und mit einem scheuen Blick, sehe ich zu ihnen hinüber. Lässig an die Zugwand angelehnt, stehen sie im Mittelgang und starren mich an. Die stechenden Augen fixieren und begutachten mich wie Tiere auf der Suche nach ihrer wehrlosen Beute. Möglichst unbekümmert versuche ich den Blick abzuwenden, doch ich kann spüren, dass sie es nicht tun und mich noch immer gierig angaffen.

Mein wummerndes Herz wird immer lauter und schneller, scheint beinahe durch meine Haut zu schlagen, sodass ich Angst habe, sie könnten meine aufkeimende Furcht riechen. Nervös balle ich die Hände zu Fäusten, presse sie gegen das Innere meiner Jackentaschen, versuche mich zu beruhigen, doch stattdessen spüre ich den kalten Schweiß, der durch meine Poren dringt und meine Finger rutschig und feucht werden lässt.

Was sollte schon passieren?

Es ist heller Morgen und die Bahn hatte sich seit meiner Abreise mit Pendlern und Touristen gefüllt, also kein Grund sich Sorgen zu machen oder gar Angst zu haben. Es sind nur meine Nerven und die unerträgliche Hitze, die mich aufwühlen, mit mir spielen. Ein wenig erleichtert atme ich aus und riskiere vorsichtig einen erneuten Blick, doch im selben Moment bereue ich ihn, als einer der Männer mit einem schmierigen Lächeln im Gesicht langsam näher kommt.

»Hallo Süße!«

Ein schlaksiger Junge mit ausgebeulten Jeans und einem engen weißen T–Shirt lässt sich vor mir auf den Sitz fallen, während ich erschrocken hochfahre. Mich starr gegen den Sitz pressend blicke ich hinab.

»Und wie heißt du, Kleines?«

Noch immer sehe ich ihn nicht an.

»Es ist aber wirklich gar nicht nett, nicht zu antworten. Also ich heiße Mike. Sagst du mir jetzt, wie du heißt?«

Seine Stimme wird lauter, fordernder.

»Freja, ich heiße Freja«, bringe ich stotternd hervor.

»Na, wo geht denn die Reise hin, Freja?«

Seine Stimme ist genauso abstoßend wie sein Äußeres. Sie ist schleimig und doch krächzt er nach jedem Wort, sodass ich versuche noch weiter von ihm wegzurutschen.

»Nach Hause.«

Seine beiden Freunde sind in der Zwischenzeit ebenfalls dazu gekommen und stehen nun breitbeinig neben mir. Argwöhnisch blicken sie auf mich herab. Der wahrscheinlich ältere der beiden, ich würde ihn auf Mitte zwanzig schätzen, hat dunkle, kurz geschnittene Haare und wirkt stämmig während der Jüngste der drei auch der muskulöseste ist und seine blonden Haare streng nach hinten gegelt hat.

Alles ist so glasklar, so scharf, dass meine Nerven zum Zerreißen gespannt sind. Jedes Detail, die Muster der Sitze, die karge Landschaft vor dem verdreckten Fenster, der Geruch meines eigenen Schweißes, ihr schiefes, beängstigendes Grinsen, alles brennt sich in mein Gedächtnis ein.

Der Jüngste lässt sich neben mich fallen und das dominante, beißende Parfum schwirrt wie ein Insekt um mich herum und hüllt mich ein. Breitbeinig sitzt er nun neben mir, drängt mich weiter in die Ecke und schielt aufdringlich zu mir herüber.

»Und wo ist dein zu Hause?«, fragt Mike und beugt sich langsam zu mir nach vorne, ohne seine Argusaugen von mir zu lassen.

»Hamburg« , nuschele ich leise.

»Oh là là. Wir wollen nach Berlin. Keine Lust mitzukommen, Süße?«

»Danke, aber ich denke eher nicht!«

Ich erzwinge ein Lächeln, doch alle sehen, wie falsch es ist.

Der korpulentere, und mit seinen großen in den Augenhöhlen versunkenden braunen Augen, düster wirkende Mann, steht starr und stumm wie eine Mauer im Mittelgang und beobachtet das Ganze. Hilfesuchend sehe ich ihn an, hoffe dass er seine Freunde zurückpfeift, doch er blickt nur reglos durch mich hindurch.

»Also noch mal danke für das Angebot, aber ich wäre lieber etwas allein!«, sage ich zögerlich und sehe mich um, doch keiner der anderen Passagiere scheint die Bedrohung wahrzunehmen oder wahrnehmen zu wollen.

Die drei beginnen zu lachen und der Typ neben mir legt seinen Kopf schief, während er seine Pranke auf meinen Oberschenkel fallen lässt.

»Wie wär’s, wenn wir gemeinsam die Zeit totschlagen? Das wäre doch viel netter!«, sagt er mit einem grinsenden Blick auf mein Dekolleté.

Ich antworte nicht, sondern versuche seine Hand wegzuschieben, doch sein Griff um mein Bein verstärkt sich nur noch weiter, sodass es schmerzt.

»Lass mich los!«, beginne ich nun zu keifen, zu schreien und mit einem mal verwandelt sich die Furcht in Wut, wird von Sekunde zu Sekunde heftiger.

»Lass mich sofort los, sonst…«

Meine Stimme wird durch das plötzliche Aufpressen seiner Hand auf meinen Mund gestoppt, während er mich noch stärker in die Ecke des Sitzes presst ohne seine andere Hand von meinem Oberschenkel zu lösen. Die Wucht schlägt meinen Kopf ruckartig gegen die Lehne und erschrocken von der Kraft, erstarre ich mit einem mal, kann mich nicht mehr bewegen, nicht mehr wehren gegen meine übermächtigen Angreifer.

»Halt sofort die Klappe!«

Seine Stimme geht von Gebrüll zu einem einschüchternden Wispern über. Mein Herz schlägt nun so schnell und heftig, dass ich einige Augenblicke nur noch dieses Geräusch wahrnehme und alles andere ausblende. Es ist reine Panik, Angst, die einen fast ohnmächtig werden lässt. Es ist schwer zu beschreiben, denn gleichzeitig tut alles weh. Die Muskeln sind zum Zerreißen gespannt und trotzdem kann man sich nicht einen Zentimeter rühren. Alles ist verschwommen und gleichzeitig ist mein Kopf so klar, wie niemals zuvor.

Es ist das Adrenalin. Alles fühlt sich widersinnig an und obwohl so viele Gedanken durch meinen Kopf schießen, sind es doch allein die Reflexe, die mich noch zum Handeln antreiben.

»In Kürze erreichen wir Norderstedt. Umsteigemöglichkeiten nach Lübeck, Schwerin, Bremerhaven sowie zu den Regionalbahnen. Wir bedanken uns für ihre Reise und hoffen, dass sie bald wieder mit der Nordbahn unterwegs sein werden. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.«

Im selben Moment, als die Frauenstimme durch die Lautsprecher erklingt, lässt der Druck der Hand ein wenig nach und ich nutze die plötzliche Gelegenheit, um zu schreien.

»Hilfe. Jemand muss mir helfen!«

Ich versuche mich aus dem Griff zu befreien und schieße nach oben. Im selben Moment sehen mich einige der hereinströmenden Fahrgäste schockiert an. Ihre Augen sind geweitet, ihre Münder für den Bruchteil einer Sekunde weit aufgerissen. Meine Panik verwandelt sich für einen Augenblick in Hoffnung, doch aus dem kurzzeitigen Schock der Passagiere wird Verunsicherung und Verwirrung. Ich kann es in ihren Augen lesen, die sie im selben Moment von mir abwenden. Ohne auch nur etwas zu sagen, drehen sie sich von mir weg und laufen durch den Mittelgang in die entgegengesetzte Richtung. Beinahe unbekümmert überlassen sie mich meinem Schicksal. Ich gehe sie nichts an und sie wollen sich nicht nicht damit befassen, nicht selbst in die Situation geraten.

»Ich habe doch gesagt du sollst deine verdammte Fresse halten oder ist das so schwer zu kapieren?«

Er beugt sich nun über mich und eine klebrige Strähne blonder Haare hängt ihm ins Gesicht. Sein Parfum kriecht immer tiefer in meine Nase und sein verschwitzter Atem, der sich über mein Gesicht legt, lässt den Ekel in mir hochsteigen. Ich fühle mich genauso eingeschüchtert, wie sie es von mir erwarten, doch dieses Mädchen, was sich der Situation fügt, sich weg duckt, sich nicht wehrt, kann ich nicht mehr sein.

Mit einem gewaltigen Ruck stoße ich ihn zur Seite, schlage meinen Ellenbogen in seine Brust und die Hand gegen seinen Kopf, sodass er gegen die Seitenstange des Sitzes schlägt und mich überrascht loslässt. Ich schlage meine Hände gegen seinen Oberkörper, stemme mich gegen ihn, will endlich hier raus, hier weg, doch noch bevor ich den Mittelgang erreichen kann, trifft mich seine harte Hand mitten in meinem Gesicht. Etwas Warmes beginnt meine Nase hinab zulaufen. Eine rote Träne fließt meine Oberlippe hinab und berührt meine trockenen Lippen. Ich presse sie dicht aufeinander, doch trotzdem schmecke ich den metallischen Geschmack in meinem Mund. Gerade als ich mit meinem Handrücken über meinen Mund und mein brennendes Gesicht fahre, trifft mich mit noch gewaltigerer Kraft die zweite Ohrfeige. Die Wucht trifft meinen abgewandten Kopf und schleudert ihn gegen die Scheibe des Zuges. Ich höre nur den dumpfen Knall, spüre den stechenden Schmerz, der durch den Kopf, durch meinen ganzen Körper zieht.

Stöhnend atme ich aus, klammere mich am Rahmen des Fensters fest, versuche Halt zu finden, mich wieder nach oben zu ziehen, doch nur ein weiterer Schlag trifft meine Schläfe und mit einem Mal ist der Schmerz so tief, dass ich nichts Anderes mehr wahrnehmen kann. Ich sinke mit schmerzverzerrtem Gesicht nach unten, die Zugwand entlang und auf den dreckigen Boden. Sekundenlang schließe ich nur die Augen und schlinge meine Arme um meinen vor Schmerzen stechenden Kopf. Ich rühre mich nicht mehr, bleibe stumm liegen, spüre die Angst in jeder meiner Nervenfasern, den Schweiß auf meinem Gesicht und meinen hektischen Atem, der meine Arme trifft. Ein Tritt trifft meine Rippen und ich schreie unter den Schmerzen auf. Mein Körper bebt, krümmt sich. Ich höre mein Wimmern, flehe sie an aufzuhören, doch nur ein weiterer, kräftigerer Tritt in meinen Magen folgt und bringt mich zum Schweigen. Minutenlang bleibe ich dort liegen, bewegungslos, höre nur ihr Lachen, ihre Stimmen, die mich beschimpfen, mich verspotten.

Vorsichtig öffne ich meine Augenlider einen Spalt weit und erblicke den schattenhaften Umriss, der sich langsam zu mir hinunterbeugt und seine Hand ausstreckt. Die starren Finger graben sich in meinen Hals, pressen sich immer tiefer in meine Haut, doch ich kann mich nicht wehren.

»Du solltest dahin verschwinden, wo du her gekommen bist!«, flüstert er so leise, dass sein Atem, der mein Gesicht streift, beinahe seine Worte übertönt.

»Denk an meine Worte, sonst wird es nicht bei diesem einen Treffen bleiben!«

Damit steht er wieder auf und drückt sich an meinen Hals nach oben, sodass mir die Luft wegbleibt.

Keuchend greife ich um meinen Hals, spüre noch immer den Druck, während ich gierig nach Luft ringe.

»Wir verstehe uns doch, oder Süße?«

Ich nicke nur und bleibe reglos liegen.

Die Stimmen um mich herum werden wieder lauter, doch plötzlich verstummen sie, als hätte jemand einfach den Ton ausgeschaltet. Ich traue mich nicht, die Augen zu öffnen, habe zu große Angst, was mich erwartet, doch plötzlich durchbricht etwas die Stille. Es ist nicht mehr das Lachen der drei oder eine erneute Drohung, sondern eine feine, helle Mädchenstimme.

»Lasst sie sofort ihn Ruhe«, flüstert sie, doch ihre Stimme ist keineswegs brüchig, wirkt geradezu einschüchternd.

Beruhigend kreisen ihre Worte in meinem Kopf und langsam öffne ich meine Augen. Licht trifft sie. Eine Hand erscheint vor mir und unsicher versuche ich mich zu bewegen. Die dünnen, bleichen Finger, streichen über meine Haare, greifen behutsam nach meiner ausgestreckten Hand. Sie zieht mich ein Stück nach oben, ich hebe den Kopf und versuche mich aufzurichten.

Benommen durch die Schläge blicke ich sie unsicher an. Tiefdunkle, braune, fast schon schwarze Augen blicken mir starr entgegen. Ihr Gesicht hingegen ist so fein und blass, als wäre sie aus Porzellan. Noch immer betrachte ich sie wortlos, ihre grazile Figur, die dünnen Arme und Beine, die schlanke Taille. Sie ist jung, zu jung für die weisen, mutigen Augen, die mir entgegenblicken, ganz ohne Angst, voller Vertrauen.

»Komm, steh auf! Na mach schon!«

Ihre Hand zieht nun kräftiger an meiner. Unter Schmerzen versuche ich aufzustehen, die eine Hand in ihrer, die andere an meine Rippen gepresst, als mich der Korpulente, der noch kein Wort gesprochen hatte, zurückstößt, sodass ich auf einen der Sitze falle. Er baut sich vor dem Mädchen auf, immer wieder den Blick auf seine Freunde richtend. Sie weicht keinen Zentimeter zurück, blickt ihn beinahe herablassend an, als wäre er das Opfer in dieser Situation.

»Na Süße, willst du uns etwa auch Gesellschaft leisten?«

Es ist keine Frage.

Seine Aufforderung erlaubt keinen Widerspruch, doch noch immer sieht sie ihn starr an, durchbohrt ihn beinahe mit ihrem Blick ihn ohne ein einziges Blinzeln.

»Danke, aber nein. Mach mir den Weg frei, King Kong!«, sagt sie bestimmend.

Einen Moment scheinen alle drei verdutzt. Lachend steht Mike auf und sieht sie amüsiert an. Ihr provozierendes Verhalten konnte er sich schließlich nicht bieten lassen, vor allem nicht vor seinen Freunden. Mit einer groben Handbewegung stößt er sie zur Seite und erschrocken schreit sie auf, während sie ihren Sturz durch einen Griff um die Seitenstange abfängt. Rabiat greift er nach ihrem Oberarm.

»Blondie, lass mich sofort los oder du wirst es bitter bereuen. Und glaub mir, ich meine dass genauso wie ich es sage!«

Sie fixiert die beiden, die so dicht vor ihr stehen, dass sich ihr Atem trifft. Meine Angst gilt nun ganz ihr. Sie war das Risiko eingegangen, Zivilcourage zu zeigen und sich durch ihren Mut selbst in Gefahr zu bringen. Es war der größte Fehler, den sie hatte begehen könne, doch noch immer scheint sie sich dessen nicht bewusst zu sein. Doch als »Blondie« wie sie den jüngsten der drei genannt hatte, mit seiner Hand an ihre Taille greifen will und seine rauen, rabiaten Hände an ihrem T–Shirt ansetzten, treten zwei weitere Personen in mein Blickfeld. Sie sind bestimmt drei Köpfe größer als ich und jeder von ihnen ist so breit und muskulös wie die drei zusammen.

»Probleme, Tammy?«

Die Stimme des Ersten ist genauso wie ich sie mir vorgestellt habe. Grummelnd, ruhig, aber gefährlich gespannt.

»Nein Big Joe, die Herren wollten mir nur helfen, dass Mädchen von hier fortzubringen, nicht war, Gentlemen?«

Gespielt charmant lächelt sie die drei nacheinander an. Sie kann es sich leisten, so mit ihnen umzuspringen und sich über sie lustig zu machen. Wahrscheinlich würden die drei noch nicht einmal gegen einen der beiden Riesen ankommen, geschweige denn auch nur einen Versuch wagen. Irritiert blicken sie einander an, als auch der zweite näher kommt und mürrisch zu Mike hinab schaut. Er hat die gleichen braunen, fast kahl rasierten Haare, die schmale lange Nase und die ebenfalls hohe Stirn wie sein Freund. Einzig und allein ihre Augen, die in ein helles grün und ein tiefes braun getaucht sind, zeigen, dass ich keine Doppelbilder sehe, sondern meine Rettung. Mit einem bedrohlichen Blick der beiden öffnet sich wortlos die Wand aus schmierigen Andeutungen, verschwitzter Haut und einschüchternden Berührungen.

Sanft zieht das Mädchen mich zu sich, doch bevor ich meine Tasche greifen und den Mittelgang in Richtung

der Türen verlassen kann, höre ich Mikes unmissverständliche Stimme. Sie ist flüsternd und leise, doch laut genug, damit alle Beteiligten seine Worte verstehen.

»So einfach kommst du nicht davon, hörst du?! Wir sehen uns wieder, Süße!«

Er lacht spöttisch, doch niemand kann die unterschwellige Boshaftigkeit in seiner Stimme leugnen. Ich tue so, als hätte ich nichts gehört, als hätten mich die Worte nicht berührt, doch ich kann nicht abstreiten, dass die Erleichterung mich einerseits überwältigt und die Angst mich lähmt.

Die drei lassen sich auf die Plätze fallen und sehen uns argwöhnisch hinterher, ohne auch nur einmal den Blick abzuwenden.

Noch immer bin ich völlig durcheinander, zittere am ganzen Körper und bin unendlich froh darüber, dass das fremde Mädchen mich kurz in den Arm nimmt. Besorgt betrachtet sie mein Gesicht, doch vermutlich sieht es schlimmer aus, als es wirklich ist.

»Geh zum Arzt! Du solltest das der Polizei melden!«

Ihre Stimme hat ihre Energie nicht verloren und ist immer noch gleich schroff. Ihre Art passt nicht zu ihrer Erscheinung, sie ist zu fein, zu stolz, zu anmutig.

»Es geht schon. Es ist halb so schlimm.«

Ich winke nur ab und lächle unsicher. Ich kann die Schmerzen deutlich spüren, doch ich will sie ihr nicht zeigen, nicht wehleidig wirken, während sie doch so viel selbstsicherer erscheint, als wüsste

sie immer ganz genau, was sie zu tun hat. Die beiden Riesen stehen neben uns, reglos, ohne jede Mimik blicken sie hinaus in die Ferne. »In Kürze erreichen wir Hamburg«, ertönt die Lautsprecherdurchsage, während die Bahn bereits zu bremsen beginnt.

Hamburg.

Ich bin angekommen.

Ich bin zurück, in meiner Heimatstadt, dem einzigen Ort, den ich mein zu Hause nennen kann.

Ich bin in Sicherheit.

Der Zug kommt zum Stehen und die Türen öffnen sich.

»Pass einfach auf dich auf!«

Sie nickt mir zum Abschied zu und ich verlasse den Zug.

Es war ein Rat, den ich nicht zum ersten Mal höre und trotzdem nicht richtig wahrnehme. Die Türen schließen sich rasch hinter mir und kurz bevor der Zug wieder anfährt, drehe ich mich zu ihr um, artikuliere ein »Danke« ohne, dass ein Laut meine Lippen verlässt und ein Lächeln erwidert meinen stillen Gruß.

Es ist ein warmes Lächeln. Selten genutzt, ein stilles Strahlen, voller Mut und Entschlossenheit.

***

Sie strahlt, als sie die Hände nach vorne streckt und das makellose rot ihrer Nägel betrachtet.

Kerstin, die vor ihr sitzt, arbeitet konzentriert die letzten Feinheiten aus, bevor sie das UV–Licht über ihre Hände hält.

»Ich bin gleich wieder da«, sagt sie mit einem strahlenden Lächeln.

Damit schiebt sie ihren Stuhl ein Stück zur Seite und Lana bleibt alleine im Zimmer zurück.

Lana sieht an sich herunter, die dünnen Beine, die in einer hautengen Lederleggins stecken und die ihre grazile Körperform noch in Szene setzt, hat sie von sich gestreckt. Die durchsichtige weiße Trägerbluse zeigt ihren makellosen Körper, der so perfekt ist, wie jedes Model es sich nur wünschen könnte.

Es gibt keinen Grund nicht zu zeigen, was sie hat. Ein Piepen ertönt und sie zieht die frisch lackierten Nägel unter der Lampe hervor. Sie glänzen und haben keine einzige unschöne Stelle, die es zu bemängeln gäbe. Kerstin kommt wieder herein und begutachtet ebenfalls ihr Werk.

Seit Monaten kommt Lana nun schon hierher und lässt alle möglichen Behandlungen über sich ergehen.

Die Blicke danken es ihr. Zwar sind nicht alle neidisch auf ihr Aussehen und begehren sie dafür, denn es gibt auch genügend geschockte Blicke, die nur die Knochen sehen und ihre ausgemergelte Seite, doch schon lange stört sie sich nicht mehr daran. Letztendlich wünschen sie sich doch alle nur so zu sein wie sie, ihre Disziplin zu besitzen, ihre vermeintliche Stärke.

»Sehen wir uns am Mittwoch zur Massage?«

Die junge Frau, mit den fast goldgelben Augen, zieht Lanas Kreditkarte durch das kleine Gerät auf der Anrichte und hakt ihren Namen in der Auftragsliste ab.

»Nein, ich bin die Woche im Urlaub. Am Montag werde ich erst wieder vorbeikommen können.«

Lana sieht, wie sie ihren Namen für Montag einträgt.

Thiele, Lana.

Eigentlich heißt sie Elena, doch ihre Freunde hatten sie immer schon Lana genannt und der Name «Elena» erinnerte sie nur an ihr altes ich, an das schüchterne, zerbrochene Mädchen. Sie will nicht mehr Elena sein, die sich zwischen den Schönheiten ihrer Schule minderwertig und unsicher vorkommt. Sie will Lana sein, die sie anführt, will, dass ihr die Jungen und Männer hinterher sehen, wenn sie einen Platz verlässt, doch vor allem will sie bewundert werden.

Die Tür aufdrückend und in die Sonne hinaustretend, fährt sie sich stilsicher durch die Haare und schon ist sie sich der Aufmerksamkeit der vorbeilaufenden Passanten sicher, während sie in den roten Highheels durch die Stadt stolziert. Sie genießt das Gefühl, doch auch wenn es keiner hinter ihrer Maske sehen kann, ist sie nicht wirklich dieses allzu perfekt erscheinende Mädchen. Sie hat sich diese Rolle ausgedacht, der High–society Göre, und spielt sie fehlerfrei.

Die Narben, die das letzte Jahr bei ihr hinterlassen haben, kann keiner von ihnen sehen. Die Menschen um sie herum erblicken nur ihr schillerndes Leben, mit Markenklamotten, der Louis Vuitton Tasche an ihrem Arm und dem roten Kussmund, wohingegen ihr Innerstes in Scherben liegt, doch keiner scheint es zu bemerken oder sich auch nur dafür zu interessieren. Wie eine Wüste dehnt sich ihre innere Ruine in ihr aus. So sehr sie auch versucht perfekt auszusehen, es ändert nichts. Niemals könnte der Luxus ihre Leere füllen.

Ihre Eltern sind die meiste Zeit im Ausland und sie haben schon lange nicht mehr viel miteinander zu tun. Nicht genug, um sich ihnen zu öffnen. Sie denken, sie täten es für sie, würden ihr so eine bessere Zukunft schenken, doch in dieser Welt ist man gefangen. Es ist ein goldener Käfig, breite Streben schirmen sie glitzernd von der Welt da draußen ab. Erst viel zu spät hatte sie gemerkt, dass es das Gold nicht wert ist, sich dieser Unfreiheit hinzugeben.

Sie bewohnt das riesige Anwesen die meiste Zeit alleine, wenn nicht einer der Hausangestellten stumm seiner Arbeit folgt und sich nicht damit aufhält, auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln. Sie schleichen wie Geister durch die Etagen und den Garten und verschwinden am Abend, wie sie am Morgen gekommen sind. Sie selbst vergnügt sich im Pool, der Sauna oder beim Sport, immer mit ihren Gedanken alleine. Der Sport hatte sich letztendlich in eine Sucht verwandelt und ist das Einzige, was ihr geblieben war und sie dazu anhält, nicht zu versinken. Einen festen Freund gibt es nicht, denn sie wollen alle nur ihren Körper, aber nicht ihre verletzte Seele, die sie nachts schreiend mit Albträumen aufwachen lässt. Ihre einzige Freundin ist weg, lebt an der dänischen Grenze ihr neues Leben ohne sie, ohne eine Vergangenheit und ohne sich auch nur einmal bei ihr gemeldet zu haben. Sie war ihre Seelenverwandte gewesen, die Person, mit der sie alles hatte teilen können, auch wenn sie am Boden zerstört gewesen war, aber nun war sie weg und hatte sie allein zurückgelassen.

Lana will keine Zeit mehr an diese trüben Gedanken verlieren. Sie will ausbrechen, leben, so viel und schnell es geht. Sie will auf den größten, pompösesten Partys sein, im teuersten und schickstes Kleid auflaufen, nur um die Blicke zu spüren und begehrt zu werden. Sie will dünner sein, als die Anderen, brauner, will längere Haare haben, will den Sommer und seine Nächte auskosten, solange, bis es nicht mehr geht. Sie will nicht altern, will nicht vergehen, sie will sich einfach spüren, was immer sie auch dafür tun müsste. Sie dachte, es würde ewig so weitergehen, doch ohne Vorwarnung war sie aufgewacht und sah sich selbst in der Asche ihres eigenen Lebens tanzen und sie war es gewesen, die ihre Träume angezündet hatte. Dieses Luxusleben, um das sie so viele beneiden, ihr ach so perfektes Leben in Reichtum und Privilegien, langweilt sie mehr denn je. Die Gespräche auf den Banketten öden sie an und all die Dinge, die sie schon zu Hauf gesehen hat. Die Welt aus Marken, Schlafzimmern so groß wie anderer Leute Wohnungen, Geld, welches in dieser ganz eigenen Welt nichts bedeutet, außer Spaß, ist ihr zu wenig. Es zählt nicht mehr, und diese Einstellung bringt sie Stück für Stück an ihre Grenzen, bringt sie nahezu dazu, dem Leben alles hinzuhauchen.

Ihrem Körper sieht man es bereits an und die Kontrolle über ihn zu behalten, ist ihre einzige Macht, die ihr niemand nehmen kann, aber noch immer reicht ihr dieses Leben nicht. Es ist zu wenig, sie will mehr, viel mehr.

Umso erfrischender in ihrem allzu kargen Leben waren Davids Emails gewesen und sein Versuch, sie dazu zu überreden mit auf diese Reise zu kommen. Tristan, Leander und Freja würden auch da sein, hatte er ihr vor zwei Wochen geschrieben.

Was bildeten sie sich eigentlich ein?

Dachten sie tatsächlich, dass sie einfach alle wieder hier auftauchen könnten, so tun, als wäre nichts passiert?

Sie waren doch alle, wie vom Erdboden verschluckt gewesen und nun tauchen sie wieder auf, ein Jahr nach Lias Tod und dachten tatsächlich, es hätte sich nichts verändert.

Lia war gestorben und beinahe könnte man glauben, dass sie nie existiert hatte, nie gelebt hätte, niemals eine von Ihnen gewesen wäre. Sie hatte es erst für einen makabren Scherz gehalten, doch David meinte es ernst und dieses Schauspiel konnte sie sich schließlich nicht entgehen lassen. Sie würden schon noch alle früh genug spüren, welchen Fehler sie eingegangen waren.

Alte Geister sollte man ruhen lassen.

Sie läuft die Hauptstraße hinab, sieht lächelnd zu, wie die Männer vor ihr sie angaffen, vor Begierde stehen bleiben und sie herablassend an ihnen vorbei schlendert.

»Hübsches Ding!«, ruft einer von ihnen ihr nach und pfeift, als sie schon an ihnen vorbeigegangen ist.

Sie lacht leise, hält sich schüchtern die Hand vor den Mund, als sie einen Blick über die Schulter wirft.

Lana könnte jeden haben, sie bräuchte lediglich mit dem Finger zu schnipsen, doch es gibt keinen, den sie wirklich will.

Mittlerweile hat sie die kleine Seitenstraße erreicht und betritt die luxuriöse Boutique in einem der Hinterhöfe. Die Tür schwingt auf und ein melodisches, leises Läuten erklingt, als sie den Laden betritt.

»Oh Frau Thiele, schön sie zu sehen!«

Die Geschäftsinhaberin kommt in ihrem schwarzen Kostüm in den Vorraum und hält ihr freundlich die Hand entgegen.

»Guten Tag, Frau Schönherr! Ich wollte mich erkundigen, ob mein Kleid fertig ist.«

»Ja, unsere Schneiderin hat es uns heute morgen gebracht. Wollen sie es noch einmal anprobieren?«, fragt sie höflich, als sie den roten Stoff aus seiner Schutzhülle befreit und es zu den Umkleiden trägt.

»Haben sie vielen Dank. Ich weiß ja selbst, wie kurzfristig mein Wunsch war!«, flötet Lana in ihrer glockengleichen Stimme vor sich hin, während sie ihr folgt und hinter dem Vorhang verschwindet.

»Für Stammkunden wie Sie, ist das doch selbstverständlich!

Ich habe gehört ihre Mutter richtet in der nächsten Woche ein Bankett zur Eröffnung des neuen Krankenhausflügels aus?«

Lana rollt nur mit den Augen, als sie davon hört und natürlich hatte sie vorsichtshalber eine Einladung eingesteckt, denn sie wusste, wie sehr Frau Schönherr den Glanz dieser Bankette schätzt und diese Maßanfertigung auch für ihre Boutique keineswegs die Regel war. Eine Hand wusch die andere, das zumindest hatte Lana als erstes gelernt.

»Ja, es ist wirklich ein großartiges Projekt. Meine Mutter setzt sich immer so für die Gemeinschaft ein, es ist manchmal kaum zu fassen, wie warmherzig sie doch ist!«

Sie ist froh darüber, dass sie ihren genervten Gesichtsausdruck nicht sehen kann, während sie die einstudierten Sätze wie ein perfektes Gedicht aufsagt. Wie schön man Lügen doch verpacken kann, noch ein bisschen Glitzer drüber und schon wirkt ihre Mutter wie die perfekte Weltretterin.

Mit einem strahlenden Lächeln schreitet Lana schließlich aus der Umkleide und direkt auf den riesigen Spiegel zu.

Ein Traum aus dunkelroter Spitze ziert ihren schlanken Körper, legt sich eng an ihre Haut, um dann um ihre Hüften wie ein Reif aus tausenden Rosen zu enden.

»Es sieht unglaublich an Ihnen aus! Sie sind wirklich wunderschön!«

Zufrieden lächelt sie, dreht sich im Kreis, betrachtet ihren nackten Rücken, während sie die langen blonden Haare nach oben hält.

»Noch viel besser, als ich gedacht habe! Haben Sie vielen Dank!«

Noch immer sind ihre Augen an ihr Spiegelbild geheftet, an die Makellosigkeit ihres Körpers.

»Jeder wird sich nach Ihnen umdrehen, Frau Thiele. Sie werden allen den Kopf verdrehen!«

»Das sollen sie auch!«

Damit dreht Lana sich weg, streift die Highheels ab und zieht den Vorhang der Umkleide zu.

***

Als sich der Strom der Menschen öffnet, erblicke ich ihn das erste Mal. Ein Jahr und doch scheint er immer noch derselbe zu sein.

Dieselben verwuschelten braunen Haare, dieselben braunen Augen, dieselbe lässige Haltung, als wäre dieses Jahr nur ein kurzes Wochenende gewesen. Sein Strahlen, welches seine Grübchen in die Tiefe zieht und seine Augen fast wie Bernstein funkeln lässt, erlischt jedoch im selben Moment, als ich näher komme. Erschrocken betrachtet er mich, während ich mich zu einem schmerzhaften Lächeln zwinge und erneut den metallischen Geschmack in meinem Mund wahrnehme. Selbst als ich schon fast vor ihm stehe, sind seine Augen noch immer weit aufgerissen und sein Mund formuliert eine unverständliche Frage. Ich sage kein Wort, gehe einfach auf ihn zu, werde mit jedem Schritt schneller, löse mich aus der Menschenmasse und als ich ihn endlich erreiche, lasse ich die schwere Reisetasche zu Boden sinken und falle ihm in die Arme. Ich drücke ihn fest an mich, rieche sein Parfum, spüre seinen Herzschlag, seinen Körper an meinem.

Noch immer wirkt er verwundert und erst allmählich regt er sich, drückt seine Hände auf meinen Rücken und zieht mich damit noch ein Stück näher an ihn heran. Es ist ein warmes Gefühl, ein Gefühl voller Geborgenheit, als wäre ich wirklich angekommen, endlich zu Hause. Am liebsten würde ich ihn nie wieder loslassen und für immer hier stehen und ihn einfach nur festhalten. Wie sehr hatte er mir gefehlt.

»Freja, was um Gottes Willen ist passiert? Dein Gesicht! Du blutest! Du siehst echt schrecklich aus!«

Er streicht mit seinem Daumen über meine blutende Stirn und lachend, als wäre nie etwas passiert, ziehe ich seinen Arm nach unten.

»Danke, genau das wollte ich von dir nach einem Jahr hören. Ich habe dich auch vermisst, David!«

»So und jetzt ernsthaft! Freja, was ist passiert?«

»Es war nur ein kleiner Unfall! Nichts Nennenswertes, nichts weswegen du dir Sorgen machen müsstest!«

Ich lächle verlegen.

Dennoch kennt er mich gut genug, um zu wissen, dass nicht alles in Ordnung ist und als er das unaufhörliche Zittern meiner Finger bemerkt, als ich nach einem Paket Taschentücher und meiner Wasserflasche suche,

sieht er mich noch besorgter an als zuvor.

Stumm presse ich die Hand fester um die Flasche, sodass das Zittern verebbt und ich ihn erneut anlächle.

Er befeuchtet ein Tuch und streicht es mir sanft über die Stirn. Er bemüht sich redlich, meine Wunde kaum zu berühren, doch trotzdem schmerzt meine Stirn höllisch.

»Ich glaube dir zwar kein Wort, aber wir sollten wohl am besten erst einmal zu mir fahren!«

Noch immer kann er den fürsorglichen, besorgten Blick nicht von mir lassen und sanft stoße ich ihn in die Seite.

»Jetzt hör schon auf, mich so besorgt anzusehen! Es ist alles in Ordnung, David! Ehrlich!«

»Du bist noch immer eine ganz schlechte Lügnerin«, sagt er scherzhaft und greift grinsend nach meiner Tasche.

Wir laufen durch die Eingangshalle des Bahnhofes, vorbei an den dutzenden kleinen Geschäften zu unseren Seiten. Nur langsam kommen wir voran, schieben uns durch die Menschenmasse, die in Richtung Ausgang strömt.

Schreiende und quiekende Mädchen in der einen Ecke, sich ankläffende Hunde in der anderen und überall das laute Rufen der Reisenden, die uns nach vorne drängen. Alle sind hektisch, gestresst und mit dem Lärm und den Lautsprecherdurchsagen zusammen ist es eigentlich unerträglich, bringt meine Kopfschmerzen an ihre Grenzen, doch so viele Menschen habe ich seit Monaten nicht gesehen, nicht dieses Durcheinander genossen. Meine Reize sind überflutet, es macht mich wach, macht mich unruhig, doch wann hatte ich mich das letzte Mal so lebendig und gut gefühlt?

Nach einigen Minuten erreichen wir schließlich den Ausgang und kommen auf dem vollen Parkplatz direkt vor dem Hauptbahnhof an. Vor einem alten, schwarzen Cabrio mit Stoffdach bleiben wir stehen und David öffnet den kleinen Kofferraum.

»Deins?« Er nickt verlegen und schließt die Heckklappe.

»Mehr ist nicht drin«, sagt er leise und blickt unsicher zu Boden. Natürlich weiß ich, dass seit er mit seinem kleinen Bruder und seiner Adoptivmutter alleine lebte, nicht mehr so mit Geld um sich schmeißen konnte wie die Anderen in unserem Viertel, doch er sollte schließlich auch wissen, dass ich die Letzte bin, die sich für diesen falschen Luxus interessiert.

An dieser Stelle sollte man wohl erwähnen, dass unsere Clique allesamt in einer der nobelsten Gegenden der ganzen Stadt lebt. Eine erfolgsversprechende Zukunft steht uns in Aussicht, doch ich weiß, dass es David nicht einfach hat zwischen den Anderen, die nicht ihn sehen, sondern das alte Auto, die Sportschuhe aus der letzten Kollektion und die Armbanduhr, die nicht aus der Hand eines italienischen Designers stammt. Das Geld hier wird vererbt, wird multipliziert und weitergegeben, um die nachfolgenden Generationen noch reicher zu machen. Wir sind die neue Elite, die Generation, die in Zukunft noch pompöser leben wird.

Das zumindest wird uns immer wieder gesagt und so öfter man es hört, desto schneller glaubt man es, denn es gibt nichts, was uns vom Gegenteil überzeugen würde. Was man will, bekommt man und dabei kommt es nicht darauf an, welche Konsequenzen damit einhergehen.

Meine Eltern haben mich nie so erzogen, wollten nicht, dass ich wie die meisten zu einer reichen Göre werden würde, doch sie sind auch nicht hier aufgewachsen. Sie haben versucht, mich möglichst gut von dieser Welt abzuschirmen, in denen Marken mehr wert sind als Werte, doch sie können nicht verstehen, was dieses Leben aus einem macht, wenn man hier heranwächst. Ich kann das Leben genießen, ohne mir je Sorgen machen zu müssen, doch im Gegensatz zu den Anderen bin ich nicht mit einem solchen Argwohn und ihrer Arroganz groß geworden. Irgendwann möchte man dazu gehören, die Grenzen sprengen und der Welt zeigen, dass man hierher gehört, dass man eine von ihnen ist und sich selbst beweisen, zu was man alles bereit ist, nur um von den Anderen gesehen zu werden.

Was machte es da schon, wenn man die eine oder andere Regel übertrat, denn wer würde einen dafür zur Rechenschaft ziehen?

Ich hatte früh gelernt, dass diese abgeschottete Welt, nicht alles ist, dass es noch so viel mehr dort draußen gibt.

Doch auch wenn ich es weiß, zieht einen dieses Leben früher oder später in den Bann, denn irgendwann reicht das alles nicht mehr und man möchte mehr, viel mehr, bis man gar nicht mehr merkt, was wirklich wichtig und zu wem man geworden ist.

Das Glück steht auf unserer Seite, sagt mein Dad immer, doch man darf es nicht zu sehr strapazieren, sonst lässt es einen im Stich. Ich habe ihn einmal gefragt, ob es das gewesen war, was uns passiert ist. Hatten wir es ausgenutzt und die Quittung war ein Höllenfeuer gewesen? Damals hat er mich nur in den Arm genommen und sanft über die Haare gestrichen. Es muss Jahre her gewesen sein, dass wir uns so nah gewesen waren und als er mich wieder losgelassen hat, hatte sich sein Blick auf mich verändert.

»Du bist erwachsen geworden, ohne, dass ich es gemerkt habe. Was euch passiert ist, war weder Glück noch Pech. Es war etwas anderes. Es war etwas, was man nie erleben sollte und trotzdem ist es passiert. Für all das gibt es keine Worte, keine Ratschläge, wie du damit umzugehen hast, aber vor allem hättest du es nicht verhindern können. Du darfst dir keine Vorwürfe machen, hörst du! Keiner kann euch helfen, damit fertig zu werden und es wird euch für immer begleiten, doch du bist stark! Meine Kleine, du bist so schnell groß geworden und ich wünschte, ich hätte dich irgendwie davor beschützen können!«

Selbst heute, wo ich denke, dass ich es irgendwie verarbeitet habe, was man wahrscheinlich aber nie wirklich tut, denn irgendein Teil bleibt für immer verschwunden und zersplittert, denke ich, dass wir es irgendwie hätten verhindern können, wenn wir es damals nur verstanden hätten. Wenn wir einmal ehrlich gewesen wären, uns demaskiert hätten und gesehen, wer wir wirklich sind. Denn hinter dem Luxus, den Kleidern und Krawatten, dem Make–up und der Überheblichkeit sind wir doch nur Kinder, denen man die Kindheit viel zu früh genommen und die nie herausgefunden hatten, was Vertrauen ist und wer sie wirklich waren.

»Dann lass uns losfahren!«

David lässt den Kofferraumdeckel zufallen und wir steigen in den Wagen ein. Schweigend fährt er los.

Es gibt genug Unausgesprochenes zwischen uns. Niemand kann es leugnen, doch keiner von uns will den ersten Schritt machen und womöglich alte, kaum verheilte Wunden aufreißen.

Erschöpft blicke ich nach draußen, betrachte die Landschaft und sauge die Atmosphäre der Großstadt in mir auf. Schließlich verlassen wir das Getümmel der Innenstadt in Richtung Süden, passieren die Landstraßen und Alleen, als er es ist, der die Chance eines vertraulichen Gesprächs nur zwischen uns beiden wahrnimmt.

»Du hast dich verändert, Freja, nicht nur äußerlich.« Ich wende mich ihm zu, doch er sieht nicht mich an, sondern starrt konzen- triert auf die Straße vor uns, auch wenn weit und breit kein Auto in Sichtweite ist.

»Ich denke, nach dem letzten Sommer hat sich jeder von uns verändert. Du doch auch?! Keiner kann es einfach vergessen!«

»Du weißt, dass es nicht nur der Sommer ist, der uns verändert hat. Jeder von uns hat einen Teil von sich dort verloren, er ist mit ihr dort gestorben.«

Er schweigt, sieht mich ruhig an, als erhoffe er sich, etwas in meinen Augen lesen zu können. Ich halte seinem Blick stand, hätte ihm so viel zu sagen, doch nichts, keine Worte könnten erklären, wie ich mich wirklich fühle. Zu viel war passiert, zu viele unerwiderte Gefühle standen zwischen uns. Wir konnten nicht darüber sprechen, hatten viel zu lange gewartet. Schließlich wendet er sich wieder der Straße zu und der Moment der Nähe scheint vorbei.

»Nicht alle von uns können schließlich einfach so tun, als wäre nichts geschehen und weglaufen, umziehen und dann alle Verbindungen kappen!«

Ich kann deutlich den Vorwurf in seiner Stimme hören, den unterschwelligen Schmerz, dass ich ihn zurückgelassen, dass ich die Entscheidung getroffen hatte, alles aufzugeben, selbst ihn.

»Die Zeit in der wir wirklich Freunde waren, die einander kennen und die einander vertrauen ist schon lange vorbei, nicht erst seit einem Jahr. Du weißt, dass es zwischen uns etwas anderes ist. Ich habe Abstand gebraucht!«

»Das stimmt wohl, doch sind wir noch diejenigen, die wir vorgeben zu sein? Bist du noch das Mädchen von Nebenan oder nur noch jemand mit Erinnerungen an alte Zeiten und der Hoffnung, alles ungeschehen zu machen?«

Seine Stimme ist laut geworden und erschrocken rutsche ich ein Stück zur Seite.

»David, glaubst du, ich hätte auch nur einen Tag verbracht ohne an diesen Sommer zu denken?«, sage ich deutlich eingeschüchtert und füge leise hinzu: »Oder an dich?«

Als wolle er die Erinnerungen an damals endgültig abstreifen, fährt sich mit einer Hand über sein Gesicht.

»Freja, lass uns nicht mehr davon reden! Du hast deine Entscheidung damals getroffen. Das Leben geht weiter!«

Mir war klar gewesen, dass es nicht einfach ist, meine Entscheidung von damals zu erklären, geschweige denn sie zu rechtfertigen, aber was David betrifft, hatte ich gehofft, dass er es wenigstens versuchen würde. Seine Worte hatten mich getroffen, wie eine weitere Ohrfeige, nur dieses Mal direkt in mein Herz.

Er bedeutet mir so viel, dass es kaum zum Aushalten ist, die aufkeimende Wut in seinen Augen zu sehen, zu entdecken, wie verbittert er in Wirklichkeit ist. Ich kann nichts ungeschehen machen, muss mit den Entscheidungen, die ich getroffen habe, leben, doch würde ein Augenblick, eine einzige Entscheidung etwas zerstören, dass wir in Millionen von Augenblicken geschaffen hatten?

Als wir in meiner ehemaligen Straße ankommen, in der David seit jeher neben mir gewohnt hatte, trifft mich der erste Schock. Im vorderen Teil des Gartens hängt an einem Balken ein großes Holzschild mit der Aufschrift »zu verkaufen«.

Er hatte mir nichts davon gesagt.

»David?«, frage ich erschrocken, doch noch immer weicht er meinem Blick aus.

»Wie du siehst, hat sich in einem Jahr viel mehr geändert, als du gedacht hast. Nicht nur dein Leben ging in dieser Zeit weiter! Auch ich bin nicht mehr derselbe!«

Ich weiß nicht, was ich ihm gegenüber erwidern soll. Irgendwie war er mir am Bahnsteig wieder so nah, als hätte die Zeit hier still gestanden und nun tut sich diese riesige Kluft auf, auf die ich nicht vorbereitet gewesen war.

Als David den Wagen parkt, sehe ich Jenny schon die Tür öffnen und auf uns zukommen. Leichtfüßig spaziert sie über den Kiesweg in Richtung Straße. Während ich erschöpft ausatme, setze ich mein bezauberndstes Lächeln auf und öffne die Autotür.

Ihre Erscheinung ist so herzlich, wie eh und je und die Lachfalten, die ihre funkelnden Augen zieren, straffen sich, als sie mich erblickt und sich die kurzen blonden Haare aus dem Gesicht streicht.

»Freja, es ist so schön dich wiederzusehen! David und du habt euch bestimmt viel zu erzählen nach einem Jahr, nach so langer Zeit, aber komm erst mal herein. Du hast doch sicherlich Hunger. Ich hab dein Lieblingsessen gemacht. Du mochtest doch meine Lasagne mit extra Käse so gerne!«

Sie umarmt mich aufgeregt und greift nach meinem Arm, um mich den Weg entlang in das Innere des Hauses zu führen.

»Schatz, bringst du ihre Tasche nach oben?«, flötet sie vergnügt und zieht mich weiter hinter sich her.

David nuschelt nur etwas Unverständliches, während wir bereits im Haus verschwinden.

»Jenn, ich bin so froh hier zu sein. Und noch einmal vielen Dank, dass ich heute Nacht hier bleiben darf. Ich hoffe, ich mache keine Umstände.«

Jenny winkt lächelt ab und zieht mich eilig in die Küche, die genauso wie das ganze Haus mit dem herrlichen Duft genährt ist und mir das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt.

»Dave, kommst du gleich auch? Das Essen ist jeden Moment fertig.«

Ihre Freude hat ein Stück des Strahlens verloren, als David ihr müde und wie selbst von einer langen Reise zurückgekehrt, antwortet: »Ich habe keinen Hunger. Es ist besser, wenn ich mich ein bisschen hinlege. Ich habe ziemliche Kopfschmerzen.«

Bevor er mit meiner Tasche die Stufen nach oben schlurft, bleibt er kurz am Treppenabsatz stehen und sieht mich wortlos an. Seine Augen sind kalt, ausdruckslos, wie die eines völlig Fremden. Ich spüre mit einem Mal wieder dieses Stechen, doch nun ist es so tief, viel tiefer als je zuvor, dass ich noch nicht einmal weiß, wo genau es weh tut. Er wendet sich ohne ein weiteres Wort ab und verschwindet auf der Treppe, doch der Schmerz bleibt.

Während Jenny die beiden dampfenden Teller zum Tisch balanciert, fällt mir das erste Mal auf, wie jung sie wirkt. Die blonden, kurzen Haare schwingen gleichmäßig hin und her, während sie freudig durch die kleine Küche läuft.

Jedoch auch ihr scheint etwas die Sorgenfalten auf die Stirn getrieben zu haben, denn ich kann sie deutlich sehen, sie zieren, wie feine, dünne, kaum sichtbare Linien ihr Gesicht. Trotz ihres jungendlichen Aussehens, kann niemand die Reife und Nachdenklichkeit in ihren Augen leugnen, eine Stille verborgen hinter ihrem Lächeln.

»Dave meint das nicht so. Ich habe mir schon gedacht, dass es zwischen euch ziemlich angespannt sein wird, denn er kann nicht verstehen, dass es für dich die richtige Entscheidung war weg zu gehen, um mit dem Ganzen klar zu kommen. Er braucht nur etwas Zeit! Gib sie ihm!«

Aufmunternd sieht sie mich an und nickt mir lächelnd zu.

»Ich verstehe ihn manchmal nur einfach nicht. In der einen Minute scheint es so, als hätte er mich wirklich vermisst und wäre froh, dass ich wieder hier bin und dann ist er so abweisend, als wären wir niemals befreundet gewesen. Alle hatten mit Aurelias Tod zu kämpfen und er ist ja nicht gerade ihr bester Freund ge-wesen! Er weiß doch gar nicht, wie es mir nach der Sache ging und trotzdem urteilt er über meine

Entscheidung!«

Ich merke, wie ich lauter werde, zu laut.

»Entschuldigung, ich wollte nicht… .«

Jenny legt mir ihre zarten Finger auf meinen nackten Unterarm.

»Du hast ein gutes Herz. Ich weiß es und er weiß es auch. Er hat dir wahrscheinlich nicht viel erzählt, was hier passiert ist, wärrend du fort warst.«

Ich nicke nur, um sie nicht zu unterbrechen.

»Aurelias Tod und dein Umzug haben ihn viel mehr getroffen, als du dir vermutlich vorstellst, doch das ist nicht alles. Jonas. Er ist krank, sehr krank. Er liegt seit einiger Zeit bereits im Krankenhaus im Koma. Sie haben bereits vor einem Jahr die Leukämie entdeckt, doch es findet sich kein geeigneter Knochenmarkspender. Es war kurz vor eurer Reise. Nach Aurelias Tod und deinem Umzug hat er sich immer mehr zurückgezogen. Er versucht alles, sucht nach Sponsoren für eine neue experimentelle Therapie, die es in Amerika gibt, doch die Zeit wird knapp. David weiß es, doch er würde ihn nie aufgeben. Jonas ist für David seine einzige, wahre Familie, der wichtigste Mensch in seinem Leben und er würde alles tun, um ihm nur noch etwas Zeit zu verschaffen. Er hat es schwer und am liebsten würde er sich für ihn opfern, wenn er könnte. Aurelia und er waren nicht sehr gut befreundet, doch auch bei ihm hat es Spuren hinterlassen. Der Tod wird einem mit einem Mal so präsent und auch wenn er es niemals sagen würde, er hat wahnsinnige Angst noch mehr Menschen zu verlieren!«

Tränen stehen in ihren Augen und ihre Lippen beben vor Machtlosigkeit. Nicht eine Andeutung hatte David gemacht, mir nichts von Problemen erzählt.

»Das habe ich nicht gewusst! Es tut mir so Leid, Jenny! Hätte er doch bloß etwas gesagt! Ich wäre sofort gekommen!«

Ich muss schlucken.

Auch mir stehen nun die Tränen in den Augen.

»Liebes, du hast ein Herz aus Gold. Lass dir das von niemanden nehmen, hörst du? Du bist wirklich ein einzigartiger Mensch, doch so sehr ich es mir auch wünsche, uns könnte nur noch ein Wunder helfen!«

Ihr Blick trübt sich und erschöpft atmet sie aus.

»Aber Jenny, was ist mit der Therapie, von der du gesprochen hast?«

»Wir könnten sie uns niemals leisten, selbst wenn wir einen Kredit bekommen würden oder das Haus verkaufen. Es ist zu experimentell und noch viel zu neu, um nachzuweisen, dass diese Therapie ihm helfen wird. Bitte, lass uns über etwas anderes sprechen!«

Sie bricht ab und nimmt den ersten Bissen der Lasagne.

Der Rest des Mittags verläuft ruhig. Wir essen gemeinsam, spülen ab und unterhalten uns über belanglose Dinge. Es ist bereits Nachmittag, als ich hinauf in das Gästezimmer im ersten Stock gehe.

Erschöpft gehe ich hinüber zum Bad, ziehe die verschwitzte Kleidung aus und drehe das Wasser der Dusche auf.

Reglos verharre ich unter dem Strahl, spüre, wie das kühle Wasser angenehm über meine Haut prasselt. Ich kann deutlich den Bluterguss an meiner Seite sehen, spüre ihn bei jedem Atemzug, atme flacher um den Schmerz zu unterdrücken, doch es hilft kaum. Die Griffe um meinen Hals, mein Bein, die Tritte und Schläge sind noch immer allgegenwärtig, ich kann sie auf meiner Haut spüren wie Narben, sehe wieder die Typen, spüre die Angst, den Schweiß auf meiner Haut. Vorsichtig streiche ich über mein Gesicht, meinen Hals, versuche das Gefühl zu vergessen, nehme das Duschgel, reibe mich damit ein, immer und immer wieder, doch die Finger, die sich in meine Haut drückten, die Schuhspitzen die sich in meinen Magen bohrten, die Hände, die meine heißen Wangen trafen, lassen sich nicht wegwaschen.

Im Duschtuch öffne ich die Tür des Gästebades und stehe wieder im Zimmer. Während ich mich nun im Spiegel begutachte, die noch nassen Haare nach oben zu einem Zopf hochhalte, betrachte ich die abgeschürfte Haut und die Beule, die sich bläulich vom Rest der Stirn abhebt. Meine Haare wieder nach vorne fallen lassend, trockne ich meinen überhitzten Körper ab und ziehe mir frische Sachen an.

Mein Kopf dröhnt.

Kreisend drehen sich die Stimmen, Friedas besorgte Worte, die Drohungen von Mike, Davids Vorwürfe und Jennys fast verlorene Hoffnung. Stumm presse ich meine Hände gegen die Schläfen, spüre sofort den stechenden Schmerz, der durch mich hindurch fährt, doch für einen kurzen Augenblick erlischen die Stimmen.

Wie lange würde ich es noch durchhalten?

Wie lange könnte ich es ertragen?

Meine Tasche steht auf dem Bett. Ich öffne das Seitenfach und ziehe ich die kleine Pappschachtel hervor. Noch am Morgen war ich entschlossen gewesen, hatte diesen Neuanfang gewollt und nun schien alles so schwer, als könnte ich es niemals schaffen. Entschieden ziehe ich die Tablettenstreifen aus der Packung und laufe erneut ins Badezimmer. Gleichmäßig fließt das Wasser durch den Hahn in den Ausguss und mit ihm die kleinen, weißen Pillen. Sie rollen am Waschbeckenrand entlang, wie kreiselnde Murmeln. Ich sehe sie sprudelnd verschwinden und plätschernd flüsternd versinken sie im Abfluss.

Es ist ein Schnitt, ein tiefer, schmerzhafter Schnitt, doch ich muss mich endlich davon lösen. Kraftlos stütze ich mich am Becken ab und blicke mit leeren Augen meiner einzig verbliebenden Sicherheit hinterher. Es gibt nun kein zurück mehr.

Wie nach einem langen, lautem Gewitter klart der Himmel nun endlich wieder auf. Ich rieche noch den Duft des Regens, auch wenn er selbst bereits an mir vorbeigezogen ist und die wärmende Sonne auf mein fahles, blasses Gesicht fällt. Ein Neuanfang, wie ein Versprechen liegt er in der Luft, lässt mich glauben, dass dieses Leben erst noch beginnt, dass dieser Schnitt nicht so tief war, dass er mich umbringt, sondern nötig war, um frei zu sein.

Die Hitze des Tages liegt noch immer wie ein schwerer, metallener Schleier über der Stadt und macht mich zusehends schläfrig.

Erschöpft lege ich mich langsam auf dem Bett zurück und schließe die Augen. Es war zu viel passiert, für einen einzigen Tag.

***

Er war sich nun völlig sicher, etwas muss passieren.

Er muss eingreifen.

Er muss handeln.

Mit hochrotem Kopf steht er vor ihr. Sein wilder Blick, trifft ihre glasigen Augen.

»Entweder du unternimmst etwas oder ich werde es tun!«, schreit er ihr entgegen, während er unruhig im Zimmer auf und ab läuft. Die Tränen laufen ihre geröteten Wangen hinunter und er sieht, wie ihre Lippen vor Aufregung beben, ihre Augen um Vergebung flehen, doch es interessiert ihn nicht. Zu oft hatte er sie schon so gesehen.

»Ich werde Tim mitnehmen, wenn du ihn nicht verlässt!«

Ihr Schluchzen wird lauter und stammelnd versucht sie seine Wut zu beschwichtigen.

»Aber Leander, das kannst du nicht tun! Bitte, er ist doch mein Sohn!«

»Und ob ich das kann! Ich gebe dir eine Woche Zeit! Wenn du dann noch immer bei ihm bist oder der Mistkerl nur einmal die Hand gegen Tim erhebt, dann wirst du ihn nicht wiedersehen! Ich lasse nicht zu, dass ihm dasselbe passiert wie mir!«

Sein Blut pulsiert vor Wut und er spürt, wie seine Adern hervortreten, doch eigentlich ist es die Enttäuschung, die ihn fast ohnmächtig werden lässt. Wie konnte sie ihm nur so etwas antun, nachdem sie jahrelang zugesehen hatte, was er erst mit ihr und dann mit ihm gemacht hatte.

»Aber was ist mit mir? Was ist mit mir, Leander?«, fleht sie ihn nun an und fällt auf ihre nackten Knie.

Ihr Rock schiebt sich nach oben, wirft Falten, spannt um ihre bleichen Beine.

»Er liebt uns doch!«, schreit sie bitterlich und rutsch näher zu Leander. Er kann das Reiben der trockenen Haut auf dem Parkett hören, ihr lautes Schluchzen, den keuchenden Atem. Verächtlich tritt er einen Schritt zurück und blickt abfällig auf sie hinab. Ihr demütiger Blick trifft seinen, doch er bleibt stumm, will ihr Geschwätz, ihre Lügen nicht hören, kann sie nicht mehr länger ertragen und wutentbrannt rennt er hinaus.

Er hört noch ihr Wimmern, ihren erschöpften Körper, der durch ihr Schluchzen unruhig über den Boden zuckt.

Sie geht ihn nichts mehr an.

Sie war vor langer Zeit für ihn gestorben.

Mit seinem Rucksack über der Schulter läuft er die Straße hinab, versucht die brodelnde Wut zu besänftigen und sich zu beruhigen. Jemand hatte etwas unternehmen müssen und nur er, nach Jahren der Qual, war anscheinend im Stande, seine Augen nicht zu verschließen, zu tun, was getan werden musste. Viel zu lange hatte er geschwiegen, gehofft, jemand würde ihn retten, doch niemand war zu seinem Helden geworden.

Sofort schießen die Bilder durch seinen Kopf. Stöhnend bleibt er stehen und hält sich die Hände gegen die Schläfen.

Niemals würde er zulassen, dass Tim dasselbe miterleben müsste.

Seine Mutter hatte jahrelang weggesehen, nichts unternommen, nur die Tür hinter sich geschlossen, um nicht zu sehen, was in ihrer eigenen Familie geschah. Damals hatte er sich nicht wehren können, war zu klein, zu schwach, doch die Jahre waren vergangen und er zu einem Mann herangewachsen.

Noch immer war er schmächtig und wirkte nicht so, als könnte er sich gegen die Kraft seines alten Herrn zur Wehr setzten, doch auch er war gealtert und die Erkenntnis, dass sein Sohn kein Kind mehr war, welches stumm die Schläge ertrug, trieb ihn zu neuen Taten. Leander wollte nicht daran denken, an die Schrecksekunde, als er von der Schule nach Hause gekommen war und das blaue Auge seines Bruders gesehen hatte. Sein verängstigtes Gesicht, die rotgeweinten Augen, der Schock, der in seinen Knochen steckte, brauchte keine Erklärung, denn er selbst hatte einst so ausgesehen, auch wenn es scheinbar ewig her zu sein schien.

Leander hatte kein Ton gesagt, ihn nur angesehen und gewusst, dass es höchste Zeit war zu handeln. Er schon viel zu lange gewartet hatte. Es hätte niemals so weit kommen dürfen.

Sich schüttelnd, vertreibt er für einige Sekunden die Gedanken und beginnt schneller zu laufen.

Es ist bereits Mittag und die meisten Nachbarn sind unterwegs, sodass es ungewöhnlich ruhig in der sonst so viel befahrenen Straße ist. Als er die Anhöhe endlich erreicht, kann er bereits das prachtvolle Anwesen der Adams erkennen, umgeben von einem riesigen Parkgelände. Wie ein Schloss scheint es am Ende der Straße, der höchsten Stelle in diesem Ort, auf die Stadt hinab zu blicken. Leander biegt in einen kleinen Seitenweg ab, zu eng und zu bewachsen für den Verkehr, liegt er versteckt in einer Kurve. Nur wenige Häuser stehen

hier, abgeschirmt von der Außenwelt, hinter hohen Zäunen und dichtem Baumbestand.

Es sind die Prachtvillen Hamburgs, die teuersten Immobilien, mit der nobelsten Einrichtung und ausgewählten Klientel.

Exklusivität für wenige Auserwählte.

Hastig läuft er weiter, immer bergauf, bis er das Ende der Straße erreicht und vor dem Gartentor ankommt. Die Klingel läutet und ein leises Surren kündigt seinen Einlass an.

Bereits von Weitem kann er den kleinen Jungen auf der Schaukel erkennen und neben ihm Xander, der älteste Sohn der Familie Adam. »Leander!«

Als der Junge ihn entdeckt, springt er bereits von der Schaukel und beginnt loszulaufen, rennt, sodass die kleinen Beinchen in die Luft wirbeln, die Arme wild umher schwingen. Er läuft schneller, schmeißt sich geradezu auf ihn, während Leander ihn packt und unter dem Lachen des Kindes kopfüber über seine Schulter hängt.

»Na, hattest du Spaß mit Xander?«

Noch immer ist er am Lachen, während Leander sich mit ihm im Kreis dreht und ihn schließlich wieder nach unten setzt. Seine Wangen färben sich rot, leuchten mit den strahlenden Kinderaugen um die Wette und der besorgte Gesichtsausdruck auf Leanders Gesicht wird für einen Augenblick ebenfalls durch ein Lächeln verdeckt.

»Ja, wir haben verstecken gespielt und ich habe ihn immer ganz schnell gefunden. Dann haben wir zusammen Fussball gespielt und ich habe sogar Kuchen und Kakao bekommen.«

»Also das volle Bespaßungsprogramm. Na, dann scheint es ja ganz gut mit Xander gewesen zu sein!«

Sein kleiner Bruder grinst noch immer über das ganze Gesicht und beinahe kann man das blaue Auge nicht mehr erkennen, doch auch wenn es in ein paar Tagen Geschichte sein würde, wäre die Erinnerung für immer ein Teil von ihm, würde ihn nicht einfach loslassen und verblassen.

Leander greift nach seiner Hand und läuft auf Xander zu.

»Xander, können wir reden?«

Stumm nickt er Leander zu und kniet sich zu Leanders Bruder hinunter, der schon wieder auf der Schaukel sitzt.

»Tim, dass Puzzle im Wohnzimmer, möchtest du es auspacken und gucken, wie weit du ohne mich kommst?«

Ohne eine Antwort läuft der kleine Junge freudestrahlend los, rennt ins Haus hinein und zurück bleiben die beiden jungen Männer, die noch immer unschlüssig einander gegenüber stehen.

»Ich habe ihr eine Woche gegeben, sonst werde ich ihn mitnehmen. Ich kann uns auch so versorgen, ohne die Almosen dieses Schweins!«

Leander kann seinen Namen nicht aussprechen, bringt es nicht mehr über die Lippen, ihn seinen Vater zu nennen, nach allem, was er ihm und seiner Mutter angetan hatte und nun auch seinem fünfjährigen Bruder.

»Wenn du Hilfe brauchst, Leander, du weißt, du kannst auf mich zählen! Ich habe ein Auge auf ihn, während du weg bist und falls du Geld brauchen solltest… .«

»Du hast Angst!«, zischt Leander abwertend und hebt spöttisch die Augenbrauen.

»Angst? Wovor?«, lacht Xander höhnisch und schüttelt nur missbilligend den Kopf. Er ist einen Schritt auf ihn zugetreten, betrachtet ihn regungslos mit seinen kühlen, kristallblauen Augen, als hoffe er ihm dadurch zeigen zu können, dass niemand ihm jemals Angst machen könnte.

»Angst, dass dein kleines, schmutziges Geheimnis ans Licht kommen könnte, wenn wir uns in dieser Woche wiedersehen! Du hast Angst, dass ich mich verplappere! Gib es wenigstens zu! Du tust das hier auch nicht nur aus purer Großzügigkeit!«

Leander grinst, als der kühle Blick aus Xanders Gesicht verschwindet und nur die Unsicherheit in seinen Augen zurückbleibt. Die Maske war gefallen. Das weiß Leander ebenso wie Xander, auch wenn beide immer noch zwanghaft versuchen, dem anderen nicht die Genugtuung zu geben, die Lücke in ihrem Panzer entdeckt zu haben.

»Ich vertraue darauf, dass du vergisst, was du gesehen hast. Ich denke es wird ein leichtes für dich sein, darauf zu achten, dass ihr die Vergangenheit ruhen lasst, aber ich weiß auch, wie schwer dieses Leben im goldenen Käfig sein kann und was man alles dafür aufgibt. Dein Bruder ist noch jung, er muss nicht dasselbe

durchmachen wie du, nicht dasselbe, was viele vor dir schon erlebt haben. Er hat die Chance und wenn ich ihm helfen kann, ist mir das Lohn genug. Diese Welt ist nicht so schlimm, wie du denkst Leander, du musst nur wissen wie man das Spiel richtig spielt!«

»Wenn du das sagst Xander!«

Spöttisch blickt er ihn an, denn auch wenn er sich großzügig zeigt, er erhofft sich lediglich seinen eigenen Vorteil durch diesen Handel. Informationen waren das neue Gut, mächtiger als Geld und das wusste Xander genauso gut wie er.

»Ich denke, ich kann mich auf dich verlassen?«

Mittlerweile ist Xander von ihm zurückgetreten und beobachtet aufmerksam seine Reaktion.

»Eine Hand wäscht die andere, sagt man doch so schön, doch wie David es mir erzählt hat, soll Freja auch kommen und du weißt wie sie ist!«

Sichtlich erleichtert atmet Xander aus und grinst mit einem eigenwilligen Funkeln in seinen blassbauen Augen.

»Zerbrich dir mal nicht den Kopf, ich habe mich schon darum gekümmert!«

Plötzlich wird Leander hellhörig. Natürlich er wusste bei weitem mehr über Xander, als gut war, doch war dieses Wissen ihm wirklich so viel wert? Sein Ruf wäre vielleicht angeknackst, wenn die Öffentlichkeit davon erfahren würde und vermutlich würde sie Fragen stellen, doch nach wenigen Wochen hätte man es vergessen.

Wieso also, war er so angespannt?

Was steckte noch dahinter?

»Kann es sein, dass dahinter mehr steckt, als du zugibst? Dein Ruf kann dir kaum so viel wert sein?! Was ist damals wirklich passiert?«

Plötzlich tritt Xander nach vorne und greift nach Leanders Kragen. Er spürt den Stoff, der sich eng um seinen Hals zieht, doch er wagt nicht, sich zu rühren.

Langsam, als wollte er den Moment auskosten, ihm die Angst entgegen hauchen, beugt Xander seinen Kopf zu ihm hinüber und flüstert kaum hörbar: »Du bekommst dein Geld, doch wenn irgendjemand davon erfahren sollte, glaub mir, bin ich zu ganz anderen Dingen in Stande!«

Ruckartig schubst er ihn weg, stößt ihn von sich und Leander landet rücklings auf dem Boden.

»Ich hoffe, du hast verstanden, wie ernst es mir ist!«, ruft er drohend.

Noch immer ist Leander erschrocken, rührt sich nicht und nickt ihm nur zu.

»Gut. Ich muss noch weg. Von mir aus könnt ihr heute Nacht hier bleiben. Das Haus sollte groß genug sein, dass du mir aus dem Weg gehst!«

Damit dreht er sich um und läuft den Weg hinunter zur Straße.

Mühsam richtet Leander sich wieder auf, wischt sich den Sand von der Hose und bleibt noch einige Minuten fast regungslos stehen, bis er hinüber zum Haus geht.

Ein Versuch – ein Treffer.

Ja, er hatte ins Schwarze getroffen, anders kann man es gar nicht beschreiben, doch er weiß nicht, was ihn mehr beunruhigt, die Tatsache, dass Xanders Geheimnisse weit dunkler waren, als Leander angenommen hatte oder dass er nicht davor zurückschrecken würde, etwas gegen ihn zu unternehmen, um seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Kopfschüttelnd betritt er das Wohnzimmer, an dessen riesigen Tisch Tim sitzt und die Puzzleteile nach Innen– und Randteilen sortiert.

»Wo ist Xander?«, fragt er neugierig und unterbricht für einen Augenblick seine Arbeit, als Leander sich neben ihn auf den Stuhl setzt.

»Er muss noch etwas erledigen, aber er kommt gleich wieder!«

Tim hat sich schon wieder dem Puzzle zugewandt und auch Leander beginnt nun die Teile zu sortieren, als er erneut stoppt und ihn fragend ansieht.

»Bringt er jetzt die Blumen zu seiner Freundin?«

»Welcher Freundin?«, fragt Leander misstrauisch.

»Die auf dem Friedhof.«

***

»Sie werden jetzt nicht gehen! Haben sie mich gehört?!«, schreit der Direktor Tristan hinterher, als er endlich die Treppe erreicht und auf den jungen Mann im Eingangsbereich des Herrenhauses hinab blickt.

»Wenn sie durch diese Tür geheb, brauchen sie nicht wiederzukommen, da kann Ihnen dann auch ihr feiner Herr Vater nicht mehr helfen! Überlegen sie es sich gut! Dies ist ihre letzte Chance!«

Wutentbrannt steht er auf dem Treppenabsatz, der oberen Etage, brüllt ihm die vernichtenden Worte entgegen, während sein faltiges, mattes Gesicht sich dunkelrot verfärbt und die Augen mit stechenden Blick hervortreten.

Tristan hatte nicht auf ihn reagiert, war nur blindlings die Treppe hinuntergerannt, die Reisetasche über der Schulter und die Lederjacke in der Hand, doch während er nun die Klinke der Tür ergreift, überkommt ihn die Furcht und sein plötzlicher Übermut wird gestoppt.

Es geht um seine Zukunft.

Er hat sie im wahrsten Sinne des Wortes in der Hand.

Dieses Eliteinternat verspricht ihm jeden Job auf der Welt und ein Leben in Luxus und Reichtum. Ein Leben wie es sich jeder nur wünschen würde und was tat er?

Er trat dieses Leben mit Füßen, schmiss seine Privilegien über Bord, doch für was?

Zwanzig Jahre lang war er nichts Anderes gewohnt gewesen, als von allen Menschen nur herumkommandiert zu werden, sei es von seinem exzentrischen Vater, der ihn hierher verbannt hatte oder dem Direktor, dem der Zorn praktisch aus den Ohren qualmte.

Tristan hatte es so satt.

»Dann sage ich wohl eher nicht auf Wiedersehen, Monsieur. Ach, und achten sie auf ihren Blutdruck. Sich immer so aufzuregen tut ihnen wirklich nicht gut! Und es wäre wirklich grandios, wenn sie mir meine restlichen Sachen zeitnah nachschicken könnten!«

Noch einmal dreht er sich grinsend um und macht eine provozieren-de Verbeugung mit einer ausschweifenden Handbewegung, bevor er die Tür aufstößt und das Gebäude verlässt.

Es war unüberlegt, dass weiß er, doch er ist bereit die Konsequenzen zu tragen. Mit erhobenen Kopf und breitem Rücken läuft er hinüber zur Straße, an der bereits das bestellte Taxi auf ihn wartet. Nie hatte er sich so frei gefühlt, wie in diesem Moment, doch während er über den Platz läuft, weiß er auch, dass er von nun an auf sich allein gestellt ist.

Niemand würde nun noch eine schützende Hand über ihn halten.

Als der Fahrer ihn erblickt, steigt er aus und öffnet ihm bereits den Kofferraum für seine Tasche.

»Danke!«

Beide Männer steigen ein und erschöpft lässt sich Tristan auf den Sitz fallen.

»Wohin soll es gehen?«, fragt der Fahrer, während er den Motor heulend startet und ihn abwartend im Rückspiegel betrachtet.

»Hamburg.«

Hektisch beginnt er an seiner Krawatte zu zerren, die so eng um seinen Hals gelegen hatte, als wäre sie viel mehr eine Leine, die ihn in der vorgegeben Spur halten soll.

»Das ist aber ein ganz schönes Stück! Das wird ziemlich teuer!« Argwöhnisch dreht er sich nun zu dem Schüler um und betrachtet ihn von oben bis unten.

»Geld spielt keine Rolle!«, antwortet er gelassen und hält ihm seine Kreditkarte hin.

»Je weiter weg von hier, desto besser!«

Schließlich fahren sie los, immer weiter Richtung Norden.

Tristan hatte eigentlich nicht geplant zurückzukommen, selbst nachdem David ihn förmlich angefleht hatte auch zu erscheinen.

Was erhoffte er sich von dieser Reise?

Ein heiteres Zusammenkommen der alten Zeiten Willen?

Er musste ziemlich naiv sein, wenn er wirklich dachte, dass dieses Vorhaben ein gutes Ende nehmen würde, doch war er das nicht schon immer gewesen?

Dennoch konnte auch Tristan nicht leugnen, dass es ihn reizte, zu sehen, was aus ihnen geworden war und als hätte er geahnt, wie unberechenbar sein Verhalten an manchen Tagen war, hatte er die Tasche mit den wichtigsten Sachen bereits Tage zuvor gepackt und in seinem Schrank verstaut. Das Schuljahr hatte zu diesem Zeitpunkt bereits angefangen und auch wenn er unglücklich mit seinem Leben war, hätte es ihn schlechter treffen können.

Sein Vater hatte es irgendwie geschafft, ihn dort unterzubringen, auch wenn sein schlechter Ruf ihm bereits meilenweit vorauseilte und zudem finanzierte er ihm alles, ohne Fragen zu stellen. Mehr hatte er sich nicht wünschen können. Er konnte tun und lassen, was er wollte, solange er sich nicht in der Öffentlichkeit präsentierte und damit sein Vater der Presse den heiligen, fleißigen Schüler im Internat vorspielen konnte. Es gibt keinen Grund sich zu beklagen, abgesehen von der fehlenden Autonomie. Was genau ihn dazu bewogen hatte mitten im Unterricht und noch dazu während der Französischklausur aufzustehen, den Raum unter der schimpfenden Stimme der Lehrerin zu verlassen, seine Sachen zu holen und einfach von hier fortzugehen, wusste er noch immer nicht. Doch dieser rebellische Zug gefiel ihm. Dies war wahrscheinlich noch eine der besten Seiten an ihm.

Eine lange Fahrt lag vor ihm, bis er das Square Hotel erreichen würde, wo er für eine Nacht bleiben wollte und so beginnt er in seiner Jackentasche nach dem Tütchen zu suchen. Nur noch eine einzige Pille befindet sich in ihr und er hatte aufhören wollen es zu nehmen, doch er ist einfach noch nicht bereit. Die nächste Zeit würde schlimm genug werden und ein bisschen Ablenkung könnte ihm nicht schaden. Er wusste zu gut, dass überall die Schatten der Vergangenheit lauerten und dieser kaum zu ertragende Schmerz, der mit ihnen einherging, schien einfach nicht heilen zu wollen, sodass nur diese einsame Pille ihn jedes Mal aufs Neue das Ganze bestehen lässt. Sie war das Licht in seinem endlosen Tunnel. Ein Fenster, um wenigstens kurzzeitig nicht mehr in der völligen Dunkelheit zu stehen und zu hoffen, dass sein Martyrium irgendwann ein Ende nehmen würde.

Eigentlich hatte er keine Lust David, Leander, Lana oder Freja wiederzusehen, doch es interessiert ihn, was aus ihnen geworden war, und ob es ihnen vielleicht ähnlich ging wie ihm. Vielleicht würde es ihn milder stimmen, wenn er sehen würde, wie sie leiden, würde der Schmerz vielleicht ein wenig seiner Kraft verlieren.

Er denkt nicht noch einmal darüber nach, sondern schluckt die Pille, lässt das leere Tütchen in seiner Tasche verschwinden und wartet. Nach einer Weile starrt er nur noch regungslos aus dem Fenster, sieht mit an, wie alles verschwimmt. Die Euphorie packt ihn und stürzt ihn im selben Moment in ein tiefes Loch, nur um ihn mit all ihrer Kraft, wie in einer Achterbahn, wieder hinaufzuziehen, ihn umher zu schleudern, seine Sinne zu verwirren. Er genießt die kurzen Momente des Glücks, spürt wie all sein Schmerz verblasst, gedämpft wird, im Nebel verschwindet, als würde er von irgendjemanden beschützt werden.

So jemanden hatte es aber noch nie gegeben.

Das Farbenspiel der Welt wirkt wie in einem Kaleidoskop und er liebt dieses Bild, in der alles so sanft erscheint. Die Farben verschwimmen, drehen sich, kreisen ihn ein, bilden Formen, um gleich wieder zu verlaufen. Unruhig flackert er mit den Lidern, sieht, wie das Blau vor seinen Augen wie Regen hinab läuft und zu einer fast vergessenen Erinnerung wird.

Seine Mutter und sein Vater am Strand. Xander, vielleicht gerade einmal drei Jahre alt, läuft einige Meter vor ihnen und Tristan sieht seine Mutter glücklich lächeln. Die Sonne strahlt, spiegelt sich im Wasser, als es plötzlich zu regnen beginnt. Die Tropfen schlagen auf der Wasseroberfläche auf und er hört das leise Singen seiner Mutter. Sie lacht, genießt das Ge fühl des Regens auf ihrer Haut, dreht sich im Kreis, während sie tief einatmet. Dieser ganz besondere Duft, von Regen auf heißem Boden, liegt in der Luft. Er spürt sich lächeln, fühlt seit etlichen Zeit wieder so etwas wie Glück, ein warmes Gefühl der Geborgenheit, der Wärme.

Plötzlich bleibt sie stehen, sieht ihn direkt an, streckt ihre geöffneten Arme in seine Richtung, doch er weiß, dass es nicht real ist, sondern nur ein Trugschluss, eine Halluzination.

Während die Szenerie verschwimmt, das Blau sich in ein tiefes Rot verwandelt, bleibt doch ihr Lächeln. Es strahlt ihn an und plötzlich ist es verschwunden.

Er wird hektisch, wischt sich über das verschwitzte Gesicht, schlägt die Augen auf und zu, doch sie kommt nicht zurück. Die Erinnerung ist verschwunden, ebenso wie sie und wieder blieb er alleine zurück.

Er war immer alleine gewesen und letztendlich hatte es ihn gestärkt. Keinem schenkte er mehr Vertrauen als nötig und die Mädchen, mit denen er zusammen gewesen war, kamen und gingen, wie die Tage und Nächte. Keine hatte ihm mehr bedeutet, als der bloße Spaß und vielen war es ebenso ergangen. Sie waren Weggefährte und jede hatte ein anderes Schicksal erlebt, welches sie so weit gebracht hatte. Sie sprachen nie über ihre Vergangenheit, hatten Spaß, hielten den schönen Schein aufrecht, mehr als das waren ihre gemeinsamen Momente nie gewesen. Das Leben hatte auch ihn geformt, ihn durch die Mühlen des Erwachsenwerdens gepresst, auch wenn er es seinem berauschten Zustand leugnen konnte, doch die Geister in seinem Inneren gingen niemanden etwas an.

Vier Stunden später hält das Taxi vor dem Square, in dem er für diese Nacht vor hatte zu bleiben. Das Licht in der Eingangshalle ist so grell, dass er kaum die Augen aufbekommt. Er setzt seine Sonnenbrille auf, doch noch immer sind seine Augen irritiert und unaufhörlich öffnen und schließen sich seine müden Lider flackernd. Alles wirkt mit einem Mal so unwirklich und es fällt ihm zusehends schwerer, die Halluzinationen von der Realität zu unterscheiden. Der Rausch hat seine volle Wirkung entfacht und er muss schleunigst in sein Zimmer, um wieder klarer zu werden.

Das Hotel ist fast ausgebucht und nur mit Mühe und Not schafft er es die Papiere auszufüllen und irgendwie die Treppe nach oben zu kommen. Dankend hatte er abgelehnt, als die Aushilfe ihm angeboten hatte, ihn nach oben zu begleiten, denn selbst wenn sie nicht gesehen hatte wie high er gewesen war, wollte er sich nicht die Blöße geben und vor ihr die Stufen nach oben fallen, so schnell wie sich der Boden um ihn herum dreht und schwankt. Sein ganzer Körper ist in Aufruhr, ihm ist schlecht, doch trotzdem schüttet er pausenlos Glücksgefühle aus, sodass er, nachdem er endlich sein Zimmer erreicht, minutenlang nur auf dem dunkelroten Boden des Zimmers liegt und alles um sich herum betrachtet. Die Augen schließend, kann er das bunte Flackern sehen, die Hirngespinste, die in seinem Körper herumspuken. Er lässt sich von seiner Fantasie davon treiben, in andere Welten, verrückte Welten, in denen alles möglich erscheint. Es ist wahnsinnig und er würde gerne die Wirkung länger für sich beanspruchen, doch er fühlt bereits, wie sie verblasst und er keinen Nachschub mehr hat. Das Kribbeln auf seiner Haut lässt nach und lediglich ein taubes Gefühl bleibt zurück. Trotzdem bewegt er sich nicht und mit ausgebreiteten Armen liegt er dort, einsam und verlassen, gestrandet in einer Heimat, die ihn einst verstoßen hatte.

Die Stunden waren vergangen.

Der Abend bricht an und erschöpft zieht Tristan sich um. Mit einer zerschlissenen Jeans, einem weißen, dünnen Hemd und der Lederarmbanduhr um sein Handgelenk verlässt er das Square und schlendert noch immer etwas benommen durch die ihm altbekannten Straßen, bis er vor einem verschlungenen Tor zum Stehen kommt. Quietschend schiebt er es auf und geht zielstrebig durch die Reihen.

Aurelia Valerie Dearing

*17.08.1998

†1.September 2016

In Erinnerung an die geliebte

Tochter, Schwester und Freundin

Der Grabstein im hellen Marmor wirkt unpersönlich und kalt. Es war sein Vater gewesen, der ihn mit der kleinen Engelsfigur auf der oberen Ecke ausgesucht hatte. Mühsam kniet er sich hin, begutachtet das gepflegte Grab zwischen all den mit Moss bewachsenen Holzkreuzen. Ein frischer Strauß Blumen liegt vor seinen Füßen auf dem festgetretenen, glatten Erdboden.

Zwölf rote Rosen zu einer prächtigen Halbkugel gebunden.

In Memorieren – ist alles, was auf dem weißen Seidenband geschrieben steht.

Kein Name, nur diese rote Rosen.

Es ist ein tiefes Rot, ausgewogen, makellos und er beginnt sich zu fragen, von wem sie sein könnten. Wer würde einen solchen Strauß auf ihrem Grab ablegen? Traurig streicht er über die Blütenblätter. Schon ein Jahr war ohne sie vergangen. Heute war ihr Todestag, doch die meisten hatten sie wahrscheinlich schon fast vergessen. Das Leben war vergänglich und mit ihm die Erinnerungen, die langsam verblassten.

»Es ist schon ein Jahr her und noch immer kann ich es nicht begreifen.«

Er seufzt, wünscht sich, noch einmal mit ihr sprechen zu können, auch wenn es nur wäre, um sich von ihr zu verabschieden.

Noch lange bleibt er dort stehen, blickt auf ihren Namen und es zerreißt ihn innerlich. Vielleicht hatte es ihr nichts bedeutet, dass er sie bewundert hatte. Seit Jahren war sie die Erste gewesen, die hinter seine Fassade gesehen hatte und nicht vielen hatte er diesen Einblick je gestattet. Vermutlich war es sogar besser, wenn keiner sein wahres Gesicht kennt und die grausame Vergangenheit, die er mit sich herumträgt.

Jeder, der ihm je etwas bedeutet hatte, war ihm genommen worden und noch einmal könnte er sich diesen schwerwiegenden Fehler nicht erlauben. Ein weiteres Mal würde er den Schmerz nicht überleben.

Nach einer Stunde an ihrem Grab macht er sich auf den Weg zum Kalypso. Eigentlich will er nur ein wenig Abstand gewinnen, an der Bar sitzen und vor allem trinken, doch tatsächlich hofft er noch jemand anderes dort zu treffen. Jemanden, der ihm vielleicht helfen könnte, endlich Antworten zu finden.

Sommerrausch

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