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GAYLE
ОглавлениеBaeye und ich waren seit unserer Geburt unzertrennlich. Unsere Onkel und Tanten hatten stets die Geschichte von unserem ersten Tag auf Erden erzählt und auch wenn sie diese wohl mit jedem Mal ein wenig mehr dramatisiert hatten, waren mein Zwillingsbruder und ich stets willige Zuhörer gewesen. Angeblich waren unsere Nabelschnüre ineinander verheddert gewesen und nur dank der Tatsache, dass Baeye und ich im Abstand von zwei Minuten aus unserer Mutter rausgeschossen waren, hatten wir die Geburt überhaupt überlebt. Ich habe keine Ahnung ob dies stimmt, aber seit diesem Tage an kann ich mich nicht erinnern, dass wir jemals für vierundzwanzig Stunden voneinander getrennt gewesen wären. Wozu auch, wo wir identische Interessen hatten und außerdem gemeinsam die besten Kämpfer in den Featherglades waren? Keine Krähe konnte uns das Wasser reichen und bisher hatten es auch kein Mensch und kein Gargoyle, der uns über den Weg gestolpert war, ernsthaft geschafft, uns zu ärgern.
Das einzige Thema, bei dem wir uns nie einigen konnten, waren die Frauen. So auch an besagtem Abend, als wir gemeinsam in der Taverne saßen und uns einen Schlummertrunk gönnten. Die Sonne war gerade erst untergegangen, aber als Soldaten begannen die Tage früh und endeten deswegen auch kurz nach Sonnenuntergang. Es war unser letzter Abend in den Featherglades und eine gewisse Nervosität vor dem kommenden Tag ließ sich bei mir und auch bei meinem großmäuligen Bruder nicht leugnen.
“Ich denke nicht, dass außer uns irgend eine Krähe von dieser Mission zurückkehren wird”, erklärte er soeben zu meinem Erstaunen.
“Seit wann bist du so pessimistisch?”, wollte ich verwundert wissen und nippte an meinem Met. Während Baeye schon das zweite Glas geordert hatte, trank ich langsam, denn ich würde schon nach diesem Glas nicht mehr sicheren Schrittes nach Hause gehen.
Doch Baeye war normalerweise nicht der Typ, der nach zwei bis drei Gläsern wirklich anders wurde oder ebenso trübselig wie viele Soldaten sonst.
“Ich bin nicht pessimistisch, sondern eher größenwahnsinnig”, klärte er mich auf und am Glitzern seiner Augen erkannte ich, dass er doch nicht mehr ganz so nüchtern war, wie ich zuerst geglaubt hatte. Dennoch wurde ich nicht schlau aus ihm, oder vielleicht auch gerade deswegen.
“Diese Reise - das ist ein reines Himmelfahrtskommando. Realistisch wäre zu sagen, dass keiner von uns zurückkehrt. Zwei, das ist schon eine richtig gute, sehr optimistisch geschätzte Quote”, Nun sah ich sie. Die Angst in seinen Augen. Wie hatte ich sie übersehen können? Mein tapferer und lauter Bruder Baeye fürchtete sich vor dem, was am nächsten Tag auf uns wartete. Erstaunen machte sich in mir breit, dann Entsetzen.
Was war erst mit mir, wenn er sich bereits so fürchtete? Was sollte mit mir passieren, wenn er schon nicht mehr richtig ans Überleben glaubte?
“Ich bin gespannt, wohin das Los uns schicken wird”, murmelte ich, nachdem ich zu lange geschwiegen hatte. Auch mir lag der kommende Tag schwer auf dem Magen und ich hoffte, wenn der Boden meines Glases erreicht war, auch sicher tief schlafen zu können.
Am kommenden Morgen, bei Sonnenaufgang würden wir uns alle in der Kaserne einfinden müssen. Der Tag der Aussendung stand bevor und das bedeutete, dass wir in kleinen Gruppen von bis fünf Mann in irgendein Gebiet von Ivoryvale gesandt werden würden. Entscheiden mit wem und wohin würde ein Los. Nicht allzu prickelnd, wenn man bedachte, an wie vielen verschiedenen Plätzen inzwischen gekämpft wurde. Ich befürchtete jedoch, dass das Los ebenfalls schon im Voraus wusste, wer für welchen Einsatz geeignet war und so standen die Chancen für Baeye und mich nicht unbedingt gut, galten wir doch als die besten Speerkämpfer der Einheit.
“Gayle?” Ich schreckte hoch, nachdem ich minutenlang nur mein Glas in der Hand gedreht hatte. Bestimmt war mein Met längst warm und ungenießbar. Ich lockerte mein Wams und hob den Kopf.
“Was?”, wollte ich verwirrt von meinem Zwillingsbruder wissen.
“Siehst du die Kleine da hinten?”, Er deutete unauffällig mit dem Kinn in eine düstere Ecke der Bar. Die ‘Kleine’, die er anvisiert hatte, konnte ebenso gut zwanzig Jahre alt sein, wie sie auch vierzig davon auf dem Buckel haben konnte.
“Das Einzige, was ich von ihr sehe, sind die Beine”. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen.
“Nun, Beine sind gut. Beine können ein Anfang sein”, Baeye war wesentlich optimistischer als ich. Ich zuckte mit den Schultern. Das Glas, welches das Objekt der Begierde vor sich stehen hatte, war ziemlich groß und bereits ziemlich leer. Die Chance, dass mein Bruder auf willigem Terrain wilderte, stand also nicht mal schlecht.
“Ich denke, ich werde eher schlafen gehen. Alleine. Ohne Beine”, erklärte ich und als Baeye mich mit hochgezogener Augenbraue musterte, grinste ich ihm zu.
“Auf meinen eigenen Beinen!“ Nun lachte er und ich lachte zurück. Egal wo uns das Leben, oder das Los morgen, hinführen würde - ich hatte meinen Bruder und er hatte mich. Was gab es Wichtigeres? Für ihn offensichtlich Beine, denn kaum hatten wir uns mit einem Handschlag verabschiedet, erhob er sich um in die dunkle Ecke zu seiner ‘Kleinen’ hinüber zu schlendern und dabei möglichst lässig auszusehen. Zu dumm nur, dass seinem Schritt inzwischen der Met ebenfalls anzusehen war. Ich suchte lächelnd einige Münzen aus meiner Tasche und schnürte mein Wams am Hals wieder zu. Draußen erwarteten mich kalter Wind und dunkle Straßen.