Читать книгу Tödliche Mutterliebe - Kirsten Sawatzki - Страница 5
Prolog
ОглавлениеDer Junge stand da und wusste nicht wohin mit seinen Händen.
Seine Pflegemutter hatte ihn extra gebadet und ihm neue Kleider angezogen. „Deine Mama soll sehen, was du für ein hübscher Junge bist“, sagte sie, während sie ihm liebevoll die widerspenstigen Haare mit der Hand glatt strich und sich verstohlen eine Träne wegwischte. Doch der Junge hatte die Tränen in den Augen von Regina Braun längst gesehen. Er schlang seine dünnen Ärmchen um ihren Hals und schluchzte: „Ich will aber nicht! Du bist doch meine Mami!“
Regina Braun musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um den kleinen Jungen von sich zu schieben. Als er nach dem Tod seines Vaters vor über einem Jahr zu ihnen gekommen war, war er total schüchtern und verstört gewesen. Ihre Freundin Claudia, die beim Jugendamt arbeitete, hatte am späten Abend angerufen. „Ich habe hier einen kleinen Jungen, dessen Vater vor einigen Stunden bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Unsere anderen Kurzzeitpflegeplätze sind alle belegt und ich will dem Jungen nicht auch noch das Kinderheim zumuten. Kannst du ihn für ein paar Tage bei dir aufnehmen, bis wir seine Mutter gefunden haben?“
Eine Stunde später stand Claudia vor der Tür. Auf dem Arm trug sie einen etwa sechs Jahre alten schlafenden Jungen. Regina Braun hatte auf der Couch schon ein Bett für das Kind gerichtet. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, legte sie den Kleinen in die Kissen. Sie betrachtete nachdenklich den kleinen, mageren Körper. Dann gab sie ihm einen sanften Kuss auf die Stirn.
„Der Kinderhort hat uns angerufen, nachdem der alleinerziehende Vater ihn nicht abgeholt hatte. Wir haben dann herausgefunden, dass sein Vater auf dem Weg nach Hause in einen LKW gerast ist“, hatte die Freundin berichtet.
Heute küsste sie diese Stirn wieder. Aus dem schmalen, verschüchterten Jungen war ein kleiner Mann geworden. Vor einigen Wochen hatten sie seinen achten Geburtstag gefeiert. Am Tag darauf war die Nachricht gekommen, dass man seine Mutter ausfindig gemacht hatte. Regina Braun brach es fast das Herz, denn ihre ganze Familie hatte sich an das neue Familienmitglied gewöhnt und sie ganz besonders. Sie hatte den Eindruck, dass ihre beiden Töchter ihn wie einen Bruder behandelten, und ihr Mann hatte in ihm den lang ersehnten Sohn gefunden. Aber das Jugendamt hatte anders entschieden. Gleich würden sie seine Mutter treffen. Eine Mutter, die ihren Sohn nach der Geburt bei seinem Vater gelassen hatte und mit einem anderen Typen durchgebrannt war. Das Jugendamt hatte über ein Jahr gebraucht, um sie zu finden, da sie ständig den Wohnort gewechselt hatte.
Seine Mutter kam in die Räume des Jugendamtes hereinspaziert, als gehörte der Laden ihr. Regina Braun sah sie durch die Glastür kommen und merkte, wie der kleine Junge auf ihrem Schoß zu zittern anfing.
„Alles wird gut“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Das ist deine Mami.“ Im Stillen dachte sie: „Oh Gott, was ist denn das für eine schreckliche Person!“ Es war selten, dass ihr jemand schon im ersten Moment so unsympathisch war.
Die Frau, die sich als seine Mutter vorstellte, trug ein pinkfarbenes Shirt mit Schulterpolstern, die sie um einiges breiter wirken ließen, einen Minirock mit Leopardenprint und dazu hohe Stiefel. An ihren Ohren baumelten lange rosa Plastikohrringe. Um ihr schlecht blondiertes Haar, das zu einer wirren Mähne toupiert war, hatte sie ein pinkfarbenes Band geschlungen. Es sollte wohl den herausgewachsenen Haaransatz verdecken. Für die bodenständige und eher biedere Regina Braun war diese Person alles andere als eine liebevolle Mama.
Hilfesuchend sah sie ihre Freundin Claudia an, diese aber ignorierte ihre Blicke und begrüßte die Frau. „Frau Woodford, schön, dass Sie es geschafft haben.“
„Ja, ja“, sagte die Frau mit einer unangenehm hohen Stimme. „Wo muss ich unterschreiben und wo sind die Schlüssel zu meinem Haus?“ Sie sah ihren Sohn nicht einmal an und Regina Braun kam der verstörende Gedanke, dass das Interesse der Frau gar nicht dem Jungen galt, sondern vielmehr dem Haus und dem Vermögen, das er geerbt hatte.