Читать книгу Tödliche Mutterliebe - Kirsten Sawatzki - Страница 8
Kapitel 3
ОглавлениеLaura wachte auf, als ihr Handy klingelte. Mit halb geöffneten Augen schielte sie zum Wecker. In ein paar Minuten hätte sie ohnehin aufstehen müssen. Sie langte auf den Nachttisch und tastete nach dem Telefon.
„Braun“, meldete sie sich müde und schlecht gelaunt. Wer um diese Zeit anrief, sollte einen guten Grund haben.
„Es war wieder unser Freund“, erklärte Ackermann eine halbe Stunde später, als Laura am Tatort im Heidelberger Stadtteil Kirchheim eintraf. Er kam ihr im Treppenhaus entgegen, um ihr Überzieher und Handschuhe zu reichen. Überrascht sah er sie an. „Na, wohl ´ne kurze Nacht gehabt“, sagte er grinsend.
„Ja, ganz toll. Meine Mutter hatte gestern Geburtstag!“
„Oh, das hört sich an, als hättest du richtig viel Spaß gehabt!“ Sein Grinsen wurde noch breiter.
„Keine Fragen, bitte!“
Sie hatte nur schnell geduscht und das Erstbeste, was ihr in die Finger kam, angezogen. Nun stellte sie fest, dass ihre Bluse einen Fleck hatte und genauso zerknittert aussah wie sie selbst. Sie hatte schlecht geschlafen und die Geburtstagsfeier ihrer Mutter steckte ihr immer noch in den Knochen. Ihr Schädel dröhnte, denn Onkel Phillip hatte ständig ihr Weinglas aufgefüllt und gemeint, dass eine Polizistin, die nicht im Dienst wäre, durchaus mal einen heben sollte. Dabei mochte Laura gar keinen Wein. Ein anständiges Bier wäre ihr lieber gewesen. Ihre Tante hatte zum hundertsten Mal gefragt, wann sie denn endlich heiraten und Kinder in die Welt setzten würde. Und wie jedes Mal hatte sie sich anhören müssen, dass ihre Tante ja schließlich ihren Teil zur Gesellschaft beigetragen hätte. Immerhin hätte sie vier Kinder großgezogen, aus denen etwas geworden sei.
Laura war geblieben, bis alle gegangen waren, um ihrer Mutter beim Abwaschen und Aufräumen zu helfen. Zu allem Übel hatte ihre Mutter zu weinen angefangen. Wie so oft an Festtagen. Alle Jahre wieder wurde ihre Mutter an ihrem Geburtstag sentimental, weil sie sich daran erinnerte, dass es das letzte Fest war, welches sie zusammen mit ihrem Pflegesohn David gefeiert hatten. Als Laura zehn Jahre alt gewesen war, war sie eines Morgens aus ihrem Zimmer gekommen und hatte auf der Couch einen kleinen Jungen schlafen gesehen. Für Lauras Familie war dies nichts Besonderes, da ihre Mutter ständig jemanden bei sich aufnahm. Das konnte auch schon mal eine herrenlose Katze, ein kleiner Igel oder ein aus dem Nest gefallenes Vogelbaby sein. Regina Braun hatte ein großes Herz für Bedürftige, sie engagierte sich für die Armen und kochte jeden Donnerstag in der Mannheimer Armenküche für Obdachlose. Hin und wieder schliefen auch mal für ein paar Tage irgendwelche Kinder bei ihnen. Meistens nur für zwei oder drei Wochen, bis das Jugendamt eine Pflegefamilie für diese Kinder fand. Laura machte sich zuerst gar nicht die Mühe, sich an den Jungen zu gewöhnen, da er sowieso nicht lange bleiben würde. Nur dass dieses Mal ihr Besuch über ein Jahr blieb, bis er einen Tag nach dem Geburtstag ihrer Mutter zurück zu seiner leiblichen Mutter gebracht wurde. Für Laura war das nicht weiter schlimm. Es würde sicherlich nicht lange dauern, bis das nächste Kind bei ihnen untergebracht werden würde. Schließlich waren ihre Eltern beim Jugendamt als Kurzzeitpflegeeltern registriert. Aber ihre Mutter hatte sich so an den Jungen gewöhnt, dass sie sehr unter der Trennung gelitten und deshalb nie wieder ein Kind aufgenommen hatte. Laura erinnerte sich daran, dass sie öfter mal von der Schule nach Hause gekommen war und ihre Mutter weinend am Küchentisch fand. Laura war zu dieser Zeit in der Pubertät gewesen und hatte ihre Mutter ohnehin merkwürdig gefunden. Dass sie einem Kind nachtrauerte, welches nicht ihr eigenes war, hatte sie einfach nicht verstanden. Ganz im Gegenteil. Die Trauer ihrer Mutter hatte in Laura immer ein Gefühl von Eifersucht und Wut ausgelöst. Als Jugendliche hatte sie sich oft gefragt, ob ihre Mutter auch so getrauert hätte, wenn sie von zu Hause weggelaufen wäre.
Gestern Abend hatte sie dann ihre Mutter so lange in die Arme genommen und getröstet, bis diese sich einigermaßen wieder beruhigt hatte. Laura war erst gegangen, als ihre Mutter ihr versichert hatte, sie könnte bedenkenlos gehen. Um kurz nach zwei war Laura todmüde ins Bett gefallen. Folglich sah sie nun alles andere als frisch aus.
„Wo ist sie?“, fragte sie, während sie die Überzieher über ihre Schuhe streifte. Ackermann nahm einen tiefen Atemzug. „Die Treppe hoch, dann rechts.“
Zögernd und mit pochendem Herzen trat Laura über die Türschwelle. Es war ihr klar, dass sie mit dem Schlimmsten rechnen musste. Ackermann hatte gesagt, dass sie es wieder mit dem Mörder zu tun hatten, der die Frauenleiche in der Hildebrandschen Mühle präsentiert hatte. Wenn sie daran dachte, was er mit dem ersten Opfer alles angestellt hatte, war ihr klar, dass er auch dieses Mal nicht einfach nur getötet hatte.
Auf den ersten Blick wirkte die Wohnung ganz normal. Als Laura sie betrat, sah sie nichts, was auf ein Verbrechen hindeutete. Nichts, dessen Anblick sie erschreckte. Sie stand in einem langen Flur mit Türen zu beiden Seiten. An einer Wand hing ein langer schwarzer Ledermantel an einer Garderobe. Daneben befand sich ein deckenhoher Spiegel. Auf der anderen Seite stand eine Kommode mit einem großen Kerzenständer, an dem alle Kerzen heruntergebrannt waren. Das Wachs hatte eine erkaltete Pfütze auf dem Läufer hinterlassen. Durch die geöffnete Tür auf der linken Seite blickte sie in einen in Rot und Schwarz gehaltenen Raum. Sie blieb kurz stehen. Mitten in dem abgedunkelten Zimmer erkannte sie einen schwarzen Stuhl, der sie an den bei ihrem Gynäkologen erinnerte. Auch hier war alles in Ordnung, kein Blut, keine Leiche. Sie ging weiter den Flur entlang und kam an einer kleinen modernen Küche vorbei, die offensichtlich nicht benutzt worden war. Nichts wies darauf hin, dass hier jemand gekocht hatte. „Wenn meine Küche auch mal so ordentlich aussehen würde!“, dachte sie. Aus einem anderen Zimmer hörte sie Stimmen. Sie ging darauf zu.
Als sie den Raum betrat, stockte ihr der Atem. Ihr Herz machte einen Aussetzer und ihr Puls raste. Als sie den Flur der Wohnung betreten hatte, hatte sie sich vorgenommen, mit allem zu rechnen. Sie wusste, dass das, was sie zu sehen bekäme, schockierend sein würde, und sie wusste, dass etwas Schreckliches mit dem Opfer passiert sein musste. Sie hatte es in den Augen von Ackermann gesehen.
Aber was ihr Blick einfing, übertraf alle ihre Befürchtungen.
Der Raum, in dem sie sich nun befand, hatte ebenfalls eine schwarz lackierte Decke sowie einen schwarzglänzenden Boden. Die Wände waren dunkelrot gestrichen und mit Ketten und Kerzenhaltern dekoriert. Gleich am Eingang stand ein Metallbett mit einer schwarzen Latexmatratze, an dessen Pfosten Ketten mit Handschellen baumelten. Die Einrichtung war es nicht, die Laura so schockierte, es war die Frau an dem Andreaskreuz, auf die sie starrte. Sie war nackt. Ihr Kopf ruhte auf ihrer blutüberströmten Brust. Die langen, blutverklebten blonden Haare hingen über ihrem Gesicht, sodass Laura es nicht erkennen konnte. Sie sah ihre blasse Haut und im schrillen Kontrast dazu das rote Blut, das über ihren Körper geflossen war. Sie sah aus, als hätte jemand einen Eimer roter Wandfarbe über ihr Dekolleté geschüttet. Laura vermutete, dass man auch ihr die Kehle durchgeschnitten hatte. Sie spürte ihren eigenen Pulsschlag, wie ihr eigenes Blut durch ihre Halsschlagader floss.
„Grundgütiger! So viel Blut!“ Sie überlegte, über wie viel Liter Blut so ein schlanker Frauenkörper verfügt, denn zu ihren Füßen hatte sich ein riesiger See aus Blut gebildet, dessen Ränder bereits angetrocknet waren. Daneben entdeckte sie einen Fußabdruck. Sie vermutete einen Männerschuh, vielleicht Größe 43 oder 44. Langsam, fast zögernd ging sie näher heran und achtete darauf, nicht auf den Schuhabdruck oder gar in das Blut zu treten. Ihr Blick wanderte zu den Armen. Sie sah ein wildes Muster aus verschieden dicken, roten Striemen. Einige davon hatten die Haut so tief aufgerissen, dass sie geblutet hatten. Ihr Blick wanderte zu den Handgelenken, wo grobe Stricke tiefe Wunden in ihre Haut geschnitten hatten. Dann sah sie auf die blutigen Hände. Sie rang nach Luft, zwang sich aber, die ebenfalls gefesselten Füße der Frau anzusehen.
Die Frau vor ihr war mit großen Zimmermannsnägeln an das Kreuz genagelt worden. Auf ihrem rechten Oberschenkel, der wie der linke auch mit Striemen übersät war, sah sie, dass der Mörder auch ihr die Zahl Dreizehn eingeritzt hatte. Die Zahlen waren tief in ihr Fleisch eingeschnitten und hatten blutverkrustete Wundränder, die das Schneidewerkzeug hinterlassen hatte. „Mein Gott, welches Monster hat dir das angetan?“, entfuhr es ihr. Hinter ihr räusperte sich Ackermann: „Der Typ, der sie gefunden hat, behauptet, sie sei nicht die Mieterin.“
Als sie sich zu ihm umdrehen wollte, merkte sie, wie sich ihre Kopfschmerzen verstärkten, sie wandte deshalb langsam den Kopf und sah ihn verwundert an.
„Wer hat sie gefunden?“
„Der Vermieter. Er hat mir erklärt, dass dies eine sogenannte Black Flat ist, die man online mieten kann. Er sagte, eine gewisse Anna Koch hätte die Wohnung für ein Wochenende gebucht. Stell dir vor“, er hob die Augenbrauen, „die haben sogar eine eigene Internetseite mit Onlinekalender und so. Hier können Leute ihren sogenannten Fetisch ausleben und so richtig die Sau rauslassen. Wenn du mich fragst, haben die doch alle einen an der Waffel. Schau dir mal die anderen Zimmer an. Hier gibt es sogar einen Käfig und eine Streckbank. Und die Minibar enthält selbstverständlich nicht nur Erdnüsse und Whisky. Man kann die Bude stunden- oder tageweise mieten. Wenn man das Super-Spezial-Wochenende bucht, bekommt man sogar den Kühlschrank vollgemacht. Wenn diese Leute keine Lust mehr auf ihre abartigen Spiele haben“, er hob die Hände und deutete mit seinen Zeige- und Ringfingern Gänsefüßchen an, „können sie sich im angrenzenden Spießer-Wohnzimmer auf die Couch hauen, fernsehen und sich ´ne Pizza bringen lassen. Oder gar im Whirlpool entspannen. Die Wohnung ist ein echter Renner. Um neun Uhr erwartet der Vermieter die nächsten Gäste. Deshalb kam er auch heute Morgen um kurz vor sechs, um die Bude zu reinigen. Er ist fast aus den Latschen gekippt, als er das Opfer gefunden hat.“
„Wo ist er jetzt?“
„Er bewohnt die Dachwohnung. Ich habe ihm gesagt, dass er sich bereithalten soll. Er wollte versuchen, das Pärchen zu erreichen und ihnen mitteilen, dass das wohl nichts wird mit der Wohnung. Ich habe mir von ihm die Adresse von Anna Koch geben lassen und die Zentrale hat eine Streife zu ihrer Wohnung geschickt. Ich bin gespannt, ob sie die Dame antreffen und was diese zu berichten hat.“ Laura massierte sich die schmerzenden Schläfen. Sie wünschte, sie hätte ein Aspirin genommen. Jetzt erst nahm sie die vielen Kollegen in ihren Tyvek-Anzügen bei der Tatortarbeit richtig wahr. Die ganze Zeit hatte sie sich nur auf das Opfer konzentriert, hatte versucht, jedes Detail zu registrieren.
„Wie weit sind die Jungs von der Spurensicherung?“
„Soweit ich weiß, warten die noch auf die Rechtsmedizin.
Dr. Salonis sollte gleich eintreffen, ich habe sie direkt nach dir angerufen.“
„So ist’s recht.“ Schließlich war sie die leitende Ermittlerin. Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als Dr. Salonis auch schon über die Türschwelle trat. Sie betrat den Raum wie Aphrodite persönlich und Laura betrachtete sie mit einem Anflug von Neid. „Wie kann man am frühen Morgen schon so verdammt gut aussehen?“, schoss es ihr durch den Kopf. Ackermann zog merklich den Bauch ein und streckte die Brust heraus, was ihm das Aussehen von einem aufgeplusterten Hahn gab. Sie sah ihn abschätzig an, aber er tat so, als bemerkte er es nicht. Die Gerichtsmedizinerin begrüßte Laura und Ackermann höflich. Als sie näher kam, konnte Laura ihr dezentes Parfüm wahrnehmen, und den Geräuschen nach, die Ackermann beim Einatmen machte, roch er es auch. Dr. Salonis betrachtete das Opfer stumm. Laura konnte nicht erkennen, ob die Medizinerin geschockt war oder ob der Anblick dieser geschändeten und getöteten Frau sie kalt ließ. Die Pathologin stellte ihre Tasche ab und zog ein paar Latexhandschuhe heraus, die sie sorgfältig über ihre schlanken Hände zog. „Wann wurde sie gefunden?“
Laura öffnete gerade den Mund, um zu antworten, als ein Kollege in die Tür trat und rief: „Es gibt noch eine Leiche!“
Laura wirbelte herum und lief, gefolgt von Ackermann, dem Beamten der Spurensicherung im Tyvek-Anzug entgegen. „Was meinst du?“
„Zwei Zimmer weiter ist so eine Art Falltür im Boden. Darin liegt eine Frau.“
Sie folgten ihm. Das angrenzende Zimmer war wie die anderen Räume auch in Schwarz und Rot gehalten. An einer Wand stand der Metallkäfig, von dem Ackermann erzählt hatte, auf der anderen Seite des Raumes ein Gerät, das, wie Laura vermutete, ein Strafbock war. So ziemlich in der Mitte des Raumes stand eine Falltür offen.
„Mensch“, stöhnte Ackermann, während er sich mit der flachen Hand an die Stirn schlug, „da bin vorhin drüber gelaufen!“ Laura ging in die Hocke. In einer etwa zwei Meter langen Grube lag eine Frau.
Breite Lederriemen waren fest um ihren nackten Körper gezurrt. Ein Riemen war um ihre Schultern gebunden und hatte ihren Busen nach unten gequetscht, ein weiterer fesselte sie kurz über den Ellenbogengelenken, sodass ihre Arme fest an ihren Körper gepresst wurden. Der Nächste fixierte ihre Handgelenke an ihrer Hüfte. Ober- und Unterschenkel waren auch auf diese Weise zusammengebunden. Auf ihrem rechten Oberschenkel sah sie die beiden eingeritzten Zahlen. Ackermann sagte: „Die sieht ja aus wie Liz Taylor.“ Auch Laura war aufgefallen, dass diese Frau aussah, als käme sie aus einem anderen Jahrzehnt. Das Make-up auf ihrer makellosen blassen Haut und der knallrote Lippenstift, der die bläuliche Verfärbung ihrer blutleeren Lippen überdeckte, waren nahezu perfekt aufgetragen. Wären da nicht die kleinen, gräulichen Rinnsale gewesen, die von ihren Augen zu den Schläfen verliefen. Ein Zeichen dafür, dass sie geweint haben musste. Ansonsten wirkte sie wie jemand, der sich kürzlich sorgfältig geschminkt hatte. Ebenso sorgfältig frisiert war ihr schwarzes Haar, das in weichen Wellen ihr Gesicht zu umrahmen schien, vermutlich waren Unmengen von Haarspray der Grund dafür, dass die Frisur im Stil der Vierziger immer noch hielt. Sie sah fast aus, als würde sie schlafen. Auf ihrem Bauch lag der Lolli, den sie auch bei den anderen Frauen gefunden hatten. Ackermann meinte: „Ob das Anna Koch ist?“
„Ja, ich glaube wir sollten mal die Streife fragen, ob sie diese Anna angetroffen haben. Außerdem sollten wir den Vermieter noch einmal befragen“, antwortete Laura leise. Fünf Minuten später standen sie vor der Haustür des Vermieters. Der Mann, der ihnen die Tür geöffnet hatte, war in den Dreißigern. Sein welliges dunkelblondes Haar fiel ihm über die breiten Schultern. Um den Hals trug er eine Lederschnur mit einem Anhänger, der aussah wie ein Keltenknoten. Mit seinem Bart und dem Gewand, das er trug, wirkte er wie jemand aus dem Mittelalter. Ackermann stellt Laura vor. „Herr Grimm, das ist Hauptkommissarin Braun, dürfen wir eintreten?“ Er machte einen Schritt zurück. „Ja klar, am besten hier links in die Küche.“
Er ging den Flur entlang in Richtung Küche. Laura betrachtete im Vorbeigehen die Fotos an der Wand. Sie zeigten Menschen in mittelalterlichen Gewändern. Laura erkannte Grimm, der auf fast jedem Bild zusammen mit einer Frau mit sehr langem blondem Haar abgelichtet war. Über einer Truhe im mittelalterlichen Stil hingen Dolche und Äxte. Laura erinnerte sich an ihre Freundin Yvonne, die einmal in solch einem Gewand bei ihr geklingelt hatte, um sie abzuholen. Laura hatte sie ausgelacht, wie sie so dagestanden hatte in ihrem mittelalterlichen Kleid und mit der Haube auf dem Kopf. „Ich dachte wir gehen auf ein Burgfest und nicht zum Fasching“, hatte sie damals gerufen. Aber Yvonne hatte nur lächelnd geantwortet: „Los, steig ein, du wirst dich noch wundern.“ Auf der Burg Oberstein angekommen, hatte Laura feststellen müssen, dass fast alle Leute gewandet herumgelaufen waren. In Jeans und T-Shirt war sie geradezu aufgefallen. Sie waren in der Küche angekommen.
„Wollen Sie sich setzen?“, Grimm zeigte auf einen Tisch mit zwei Bänken aus massivem Kiefernholz. Laura schaute sich in der Küche um. Sie fühlte sich in eine andere Zeit versetzt. Sie nahmen auf den Holzbänken Platz. Grimm lehnte sich an die Arbeitsplatte der Küchenzeile. Er war blass. Auf der Arbeitsplatte stand neben einer Flasche Absinth ein halb leeres Glas, daneben ein Aschenbecher, in dem einige Stummel lagen. Zigarettenrauch hing in der Luft und Laura wünschte sich, er würde ein Fenster öffnen. Sie räusperte sich und sah ihn direkt an, wobei sie blind in ihrer Handtasche nach etwas zum Schreiben kramte.
„Herr Grimm, erzählen Sie uns bitte noch einmal genau, was sie wissen. Wer hat die Wohnung gemietet? Wie funktioniert das mit Ihren Gästen?“
Es dauerte einen Moment, ehe er antwortete. Dann sagte er leise:
„Meine Frau und ich sind Anhänger von BDSM und hatten uns ein entsprechendes Zimmer eingerichtet. Meine Mutter wohnte in der Wohnung unter uns. Als sie vor drei Jahren starb, hinterließ sie mir das Haus. Zur gleichen Zeit wurde ich arbeitslos, dadurch hatte ich plötzlich mehr Zeit, als mit lieb war. Mir kam die Idee, aus der Wohnung meiner Mutter eine SM-Wohnung zu machen. Der Laden im Erdgeschoss gehört auch uns. Hier habe ich einen Sexshop mit Versandhandel eingerichtet. Außerdem Räumlichkeiten für Workshops. So habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht und war gleichzeitig nicht mehr arbeitslos. Wir nutzen diese Wohnung auch, wenn sie nicht vermietet ist. Da in unserer Region solche Spielwiesen nicht an jeder Ecke zu finden sind, ist unsere Black Flat fast immer ausgebucht.“ Er machte eine kurze Pause. „Wir haben eine Internetseite eingerichtet, über die die meisten Leute die Wohnung buchen. Aber auch Kunden aus dem Laden oder von den Workshops buchen direkt bei mir. Die Wohnung wird ausschließlich privaten Nutzern angeboten. Ausnahmen sind Fotografen. Man kann die Wohnung stundenweise oder auch für mehrere Tage mieten.“ Er holte tief Luft und lief zum Küchenfenster, um es zu öffnen. Laura atmete dankbar die kühle Morgenluft ein. „Wollen sie vielleicht einen Kaffee?“ Ackermann nickte. Auch Laura war froh über das Angebot. Grimm schob nacheinander zwei Tassen unter den Auslass eines Kaffeevollautomaten. Aromatischer Kaffeeduft stieg Laura in die Nase. Dankbar nahmen beide die Tassen entgegen. Grimm fuhr fort: „Frau Koch hat die Wohnung vor drei Tagen online für den Abend gebucht und auch gleich im Voraus bezahlt.“ Er schluckte und seine Stimme begann zu zittern. „Sie kam gestern Abend wie vereinbart gegen halb sieben in den Laden, um den Schlüssel zu holen. Sie sagte, dass sie noch auf eine Freundin warten würde, und bat mich, das Hoftor die Nacht über offenzulassen, damit sie jederzeit gehen könnte. Den Schlüssel sollte sie in die Metallschüssel im Flur legen und die Abschlusstür einfach zuziehen. Als ich heute Morgen kam, um die Wohnung für die nächsten Gäste herzurichten, fand ich diese Frau.“ Er atmete geräuschvoll aus.
„Haben Sie gestern Abend etwas gehört oder bemerkt?“ fragte Laura. „Ein Fahrzeug auf dem Parkplatz oder jemanden, der durchs Treppenhaus ging?“
Grimm schüttelte langsam den Kopf. „Nein, gar nichts. Außerdem waren meine Frau und ich gestern Abend im Kino. Wir sind erst kurz vor Mitternacht nach Hause gekommen. Auf dem Parkplatz stand nur der Honda von Frau Koch, der ja immer noch da steht. Außerdem muss ich erwähnen, dass die Wohnung gut isoliert ist.“ Er seufzte. „Selbst wenn ich Schreie gehört hätte, hätte ich mir nichts dabei gedacht, da Lust und Schmerz ja manchmal doch nah beieinander liegen.“
„Wie sieht Anna Koch aus?“, wollte Ackermann wissen. Grimm nahm einen Schluck von seinem Kaffee, ehe er antwortete: „Wie Dita von Teese. Sehr hübsch. Dunkle Haare. Kleidung im Stil der vierziger Jahre.“
„Ist Ihnen an ihr etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“, fragte Ackermann, während er einen weiteren Schluck Kaffee trank. Grimm überlegte: „Wir haben alle unsere Fetische und verurteilen einander nicht. Aber an ihr war alles normal. Sie hatte einen großen Rollkoffer dabei, was auch normal ist, da alle ihre Toys selbst mitbringen müssen. Was fehlt oder benötigt wird, kann im Laden gekauft werden.“
„Sie kam mit einem ganzen Koffer voll Sexspielzeug an?“, fragte Ackermann, und Laura merkte, dass er versuchte, nicht allzu überrascht zu klingen.
„Das ist nichts Ungewöhnliches, viele haben ja auch noch Kostüme dabei und ...“
Das Klingeln der Türglocke unterbrach ihn. Automatisch machte er eine Bewegung in Richtung Tür. Mit Blick auf seine Armbanduhr sagte er: „Das werden wohl die Gäste sein, die sich für neun Uhr angemeldet hatten. Ich habe versucht, sie zu erreichen, aber unter der Handynummer, die sie angegeben haben, waren sie nicht erreichbar. Ich sollte ihnen öffnen und sagen, dass sie heute leider nicht bleiben können.“
„Ja“, sagte Laura und stand auf, „wir werden Sie begleiten.“