Читать книгу Ein einziger Tag - Kjersti Scheen - Страница 3
ОглавлениеErschlug die Augen auf.
Über ihm flimmerte es hell. Im ersten Moment wusste er nicht, wo er war, aber dann fiel es ihm wieder ein. Er fuhr sich vorsichtig mit dem Finger über den Mund. Die Oberlippe war leicht geschwollen und im Mundwinkel klebte Schorf.
Jede Bewegung tat weh. Er lag unbequem und hatte völlig steife Knochen; sah um sich. Er war zwischen ein paar Haselsträuchern gelandet. Unter ihm eine Schicht aus verdorrtem Vorjahreslaub und alten Nussschalen, über ihm riesige Baumkronen, deren Äste sich mit unbewegten Blättern vor dem hellen Himmel ausbreiteten. Außer einer Möwe, die weit oben ihre Kreise zog und spitze Schreie ausstieß, die klangen, als ob Eisen über Eisen quietschte, bewegte sich nichts. Er befühlte erneut seinen Mund und fuhr mit den Fingern durchs Haar, bis er das Loch am Hinterkopf fand. Die Stelle war extrem empfindlich. Eine Gehirnerschütterung hatte er wohl nicht, obwohl er heute Nacht, als er sich hier verkrochen hatte, fast sicher gewesen war. Ein flaues Gefühl in der Magengegend, angeschlagen und benommen, hatte er mit geschlossenen Augen dagelegen und gedacht, in den großen Schlaf hinüberzugleiten und nie wieder daraus zu erwachen.
Der Gedanke war nicht einmal unangenehm gewesen.
Er hatte ihn nicht zum ersten Mal gedacht, aber es war das erste Mal, dass er sich wohl dabei gefühlt hatte. Endlich Schluss, hatte er gedacht. Endlich frei.
Danach hatte er einen Filmriss gehabt. Aber ganz offensichtlich hatte er nur einfach tief geschlafen. Ihm war nicht mehr schwindelig, höchstens noch ein bisschen übel. Und unendlich müde war er. Er spürte jeden Knochen im Leib, als er sich auf die Seite wälzte und die Jacke, mit der er sich zugedeckt hatte, auf den Boden rutschte.
Über ihm schrie die Möwe. Wie aus dem Nichts kam Wind auf und fuhr raschelnd durch die Blätter der hohen Baumkronen. Er hob den Arm und sah auf seine Uhr: Halb fünf, fast Morgen. Ihm fiel wieder ein, dass heute Johannis war. Sie hatten gestern Abend ein Lagerfeuer gemacht. Seine Kleider stanken immer noch nach Rauch. Im nächsten Moment entdeckte er die Brandlöcher in seinem Jackenärmel. Er stemmte sich vorsichtig auf den Ellbogen hoch und fragte sich gerade, wo die anderen wohl abgeblieben waren, als er die Mädchen entdeckte. Sie lagen nur wenige Meter von ihm entfernt, dicht nebeneinander, und schienen tief und fest zu schlafen. Die Jungen waren nirgends zu sehen, wahrscheinlich hatten sie auf dem Boot übernachtet.
Inzwischen zogen dort oben immer mehr Möwen ihre Kreise, die Schreie wurden immer schriller. Der Himmel war milchig und leuchtete wie von innen heraus. Die Sonne war schon vor einiger Zeit aufgegangen, aber die Bucht lag noch im Schatten.
Die Äste schwankten und bogen sich in dem stärker werdenden Wind und erst jetzt hörte er unterhalb des Dickichts den Wellenschlag. Wenn sie sich beeilen würden ins Boot zu kommen und so schnell wie möglich ablegten, hätten sie eine Chance, es bei gutem Wind bis nach Hause zu schaffen. Er war wahrlich kein Fachmann, was Segeln anging, aber selbst er wusste, dass es etwas gab, das sich Seebrise nannte. Eine Seebrise kam morgens auf, flaute danach für ein paar Stunden ab, um am späteren Nachmittag noch einmal aufzufrischen.
Aber er dachte überhaupt nicht daran, die anderen zu wecken.
Sie hatten ihn in der letzten Nacht fast erschlagen. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass sie es tun würden. Er legte den Arm über die Augen, als die Übelkeit erneut in ihm aufwallte.