Читать книгу Ein einziger Tag - Kjersti Scheen - Страница 5
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ОглавлениеSkogens Grundschule lag am Hang wie ein Schloss. Die Schule war ziemlich alt; ein Jahr vor Martins Einschulung war hundertjähriges Jubiläum gefeiert worden. Seine Mutter und Tante Cathrine waren auch schon auf dieser Schule gewesen. Früher, wenn er mit seinem Vater oder seiner Mutter zur Straßenbahnhaltestelle gegangen war, war ihm der Schulhof immer so verlockend vorgekommen. Nachmittags nach Schulschluss spielten die größeren Kinder dort Ball oder fuhren Achten auf ihren Rädern, immer einen Fuß am Boden.
Am Ende hatte er es kaum erwarten können, endlich in die Schule zu kommen. Endlich größer zu werden. Freunde zu haben.
In der Straße, in der er wohnte, gab es niemanden in seinem Alter. Ihr Haus war der einzige Neubau in einer Straße, wo sonst nur herrschaftliche Villen in großen Gärten standen, in denen alte Leute ohne Kinder lebten.
Sein Vetter Fredrik hatte damals noch in Bodø gewohnt, weil der Onkel in einem Ausbildungslager bei Bodin gearbeitet hatte. Sie waren erst im Sommer vor der Einschulung nach Åsen gezogen. Und obwohl sie weiter unten am Hang wohnten, war Fredrik auf die gleiche Schule gekommen wie Martin.
»Ist das nicht toll?«, hatte seine Mutter gesagt.
Doch, das hatte Martin auch gedacht, obwohl er Fredrik kaum kannte.
Fredrik mit seinen fast acht Jahren hätte eigentlich schon längst in der Schule sein müssen, aber seine Eltern hatten mit seiner Einschulung gewartet, damit er nicht schon nach dem ersten Jahr die Schule wechseln musste.
So hatte seine Mutter es ihm jedenfalls erklärt.
Und dann standen sie also endlich auf dem großen Schulhof, nachdem alle Schüler aufgerufen worden waren. Fredrik und Martin waren in dieselbe Klasse gekommen und standen mit zwei Jungen zusammen, mit denen Fredrik sich bereits angefreundet hatte, obwohl das der erste Tag war. Martins Mutter und Tante Cathrine hatten ein wenig abseits gestanden und sich mit der Klassenlehrerin unterhalten, als Fredrik plötzlich sagte: »Guckt euch mal den Ranzen von Martin Mausemann an! Der hat genau die gleiche Farbe wie Hundescheiße!«
Die beiden anderen Jungen sahen Martin an und prusteten los. Der eine, Nils, konnte sich gar nicht wieder beruhigen: »Die gleiche Farbe wie Hundescheiße! Die gleiche Farbe wie Hundescheiße!«
Zuerst hatte Martin noch regungslos dagestanden, aber dann war er losgerannt. Zu seiner Mutter. Aber er hatte nichts gesagt.
Er hatte sich den Ranzen selbst ausgesucht und im Laden hatte das dunkle Orange total erwachsen und klasse ausgesehen. Und Martin Mausemann wurde er immer von seinem Vater genannt, wenn sie es sich gemütlich machten. Aber bei Fredrik klang das wie ein Schimpfname.
Er erzählte seiner Mutter nichts davon.
Als sie endlich zu Hause waren, konnte er sich nicht mehr beherrschen und heulte los. Seiner Mutter sagte er, dass er Magenkneifen hätte.
Er wollte ein großer Junge sein. Er wollte nicht petzen. Und als sein Vater fragte, wie der erste Schultag gewesen wäre, antwortete seine Mutter: »Ganz toll, nicht wahr, Martin?« Und er hatte gelächelt. Die ganze Zeit gelächelt. Und sich vor dem nächsten Tag gefürchtet.
Und daran hatte sich seitdem nichts geändert.
Acht Jahre lang.
Es war nicht immer gleich schlimm gewesen. Die fünfte und sechste Klasse hatte er in verhältnismäßig guter Erinnerung. Fredrik war in der Zeit völlig vom Sport absorbiert gewesen. Im Sommer segelte er und im Winter schleppte Tante Cathrine ihn mit auf die Skipisten. Martin war in dieser Zeit häufig mit einem ruhigen und netten Jungen aus der Klasse zusammen gewesen, der Lasse hieß. Sie hatten sich alle möglichen verrückten Sachen ausgedacht. Zum Beispiel das mit dem Kassettenrekorder, mit dem sie Radiosendung gespielt hatten. Lasse spielte mit Begeisterung Reporter; sobald sie unter sich waren, redete er nur noch mit seiner Reporterstimme. In der Schule war er eher zurückhaltend, genau wie Martin. Und wenn Fredrik oder die anderen kamen, machte er sich eiligst aus dem Staub. Seine Freundschaft hatte ihre Grenzen.
Irgendwie konnte Martin ihn sogar verstehen. Er war zwar enttäuscht, aber er fand sich damit ab. Er wusste schließlich am besten, wie es war, sie auf sich zukommen zu sehen und genau zu wissen, was als Nächstes passieren würde. Wenn er gekonnt hätte, wäre er auch abgehauen. Aber er konnte nicht. Und normalerweise hatten sie es auf ihn und nicht auf Lasse abgesehen.
Als sie in die Siebte kamen, war Lasse plötzlich nicht mehr da. Zwei Monate später war Bille in ihre Klasse gekommen, worauf sich Martins Situation schlagartig verschlimmerte. Bille machte Martin noch mehr Angst als Fredrik: Auf der einen Seite war Bille ein wenig wie Martin, aber gleichzeitig um Längen schlimmer als Fredrik, wenn es ums Ärgern und Quälen ging.
Bille war ein blasser, introvertierter Typ und roch immer etwas streng, ein Geruch, den Martin nicht genau definieren konnte. Säuerlich. Abstoßend. Martin versuchte Bille aus dem Weg zu gehen, was nicht immer einfach war. Bille hängte sich an ihn ran, fragte, ob sie nach der Schule was unternehmen würden, wollte wissen, was Martin las, wie viel seine Joggingschuhe gekostet hatten, und so weiter.
Martin traute Bille nicht über den Weg, hätte ihm am liebsten nicht geantwortet, aber irgendetwas musste er schließlich sagen. Bille hing an ihm wie eine Klette und kam oft mit zu ihm nach Hause. Und Martin, der hungrig war und was essen wollte, blieb nichts anderes übrig, als Bille auch etwas anzubieten. Martin sah seiner Mutter an, dass sie Bille nicht sonderlich mochte. Aber sie war immer nett zu ihm, so wie sie zu jedem nett war.
Und aus eben diesem Grund schien Bille Martin zu hassen: Weil er eine nette Mutter hatte.
Wenn Martins Mutter mal wieder besonders freundlich zu Bille gewesen war, war Bille hinterher jedes Mal besonders fies zu Martin.
Gleichzeitig scharwenzelte er um Fredrik herum und tat so, als ob er Martin überhaupt nicht kennen würde, als ob er nie bei ihm zu Hause gewesen wäre. Er wurde Fredriks Schatten und tat alles, was Fredrik von ihm verlangte.
Bille schien noch mehr Angst vor Fredrik zu haben als Martin.
»Jetzt ist es bald zwölf«, sagte Susanne. »Was sollen wir denn bloß machen?«
»Verdammt noch mal«, schnaubte Fredrik verächtlich. »Was ist denn so schlimm daran, ein bisschen zu spät nach Hause zu kommen?«
»Ein bisschen zu spät? Nennst du das ein bisschen zu spät, wenn wir gestern Abend zu Hause sein sollten und es jetzt kurz nach zwölf am nächsten Tag ist?«
Susanne schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht und funkelte ihn wütend an.
»Ach, Weiber!«
Fredrik schaute übers Wasser und zog eine Augenbraue hoch. Martin kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut: von Fredriks Vater.
Vibeke war noch mal unter Deck gegangen und kam gerade wieder nach oben. »Habt ihr eigentlich kein Funkgerät? Ich dachte, jedes ordentliche Boot hätte eins?«
»Wir nehmen es im Herbst immer mit an Land«, sagte Fredrik unwirsch. »Und ich hab’s euch doch schon gesagt, verdammt noch mal, wir haben in diesem Jahr noch keine richtige Tour gemacht, weil mein Alter keine Zeit hatte! Das Boot ist noch nicht so lange auf dem Wasser, wann rafft ihr das endlich?«
Susanne setzte sich auf die Bank und legte die Ellbogen hinter sich auf die Reling. Da saß sie nun, mit sonnenverbrannten Schultern und Oberschenkeln, in einem engen Baumwollpulli und Shorts. Sie lehnte den Oberkörper zurück und starrte mürrisch und erschöpft vor sich hin. Martins Blick wurde magisch von ihren großen Brüsten angezogen, die sie aufreizend nach vorne streckte.
Er konnte ihre Nippel erkennen, oder wie die Dinger hießen.
Er wandte den Blick schnell ab, bevor die anderen sich über ihn hermachten, weil er sich für Susannes Brüste interessierte. Obwohl es ja stimmte. Eigentlich. Dabei war Vibeke die Hübschere von beiden. Oder jedenfalls diejenige, mit der die meisten zusammen sein wollten.
Vibeke mit den kurzen schwarzen Haaren und der frechen Klappe, die im totalen Kontrast zu ihrem püppchenhaften Gesicht stand. Vibeke mit der Villa in Åsen. Ihre Eltern waren reich. Nicht nur wohlhabend, sondern stinkreich. Susanne war ... die Stillere von beiden? Martin war sich nicht sicher. Sie stand meist in Vibekes Schatten, fiel nicht weiter auf. Bis sie plötzlich zuschlug. Oder so wie in diesem Augenblick mürrisch vor sich hinstarrte und den Oberkörper nach hinten bog, sodass ihre Brüste sich deutlich unter ihrem Pulli abzeichneten.
Was Fredrik anscheinend auch nicht entgangen war, weil er sagte: »Na, da werden wir wohl noch ein zweites Mal übernachten müssen! Aber dann lässt du dich doch hoffentlich überreden, mit auf dem Boot zu schlafen, oder?«
Sie würdigte ihn keines Blickes.
Vibeke beugte sich vor. »Hör auf zu labern, Fredrik! Ich will nach Hause! Und wenn ich schwimmen muss!«
In dem Augenblick wurden sie von einem Geräusch abgelenkt und drehten allesamt die Köpfe in die Richtung, aus der es kam; ein abgehacktes, stotterndes Motorenbrummen. Sie konnten nicht gleich erkennen, woher es rührte, weil das Focksegel die Sicht versperrte, aber kurz darauf entdeckten sie in einiger Entfernung einen alten Kahn, der direkt auf sie zuhielt.
Fredrik stellte sich hin und fuchtelte wild mit den Armen.
»Hallo!«, rief er.
Der Mann in dem alten Kahn legte das Steuer um und trat gegen einen Kasten vor seinen Füßen, worauf der Motor einen Gang runterschaltete. Er hielt sich mit seiner breiten Hand an der Reling des Segelbootes fest.
»Na, habt ihr eine Motorpanne?«
Wie sich rausstellte, hatte er sie von seinem Steg aus beobachtet.
»Hab gedacht, ich geb euch noch ’ne Stunde, wenn ihr dann immer noch nicht gestartet und aus der Bruthitze raus seid, dann stimmt was nicht mit dem Motor!«
Er grinste. Er war schätzungsweise Anfang dreißig, sein nackter Oberkörper war braun gebrannt. Er trug ein Goldkettchen um den Hals und ausgewaschene Jeans. Fredrik sagte knapp: »Stimmt. Irgendwas ist mit dem Motor nicht in Ordnung.«
»Soll ich mal ’n Blick drauf werfen?«, fragte der Mann, während seine strahlend blauen Augen die sechs auf dem Boot neugierig abcheckten. Fredrik zuckte die Achseln. Martin sah auf einen Blick, dass ihm diese Situation absolut gegen den Strich ging. Der Mann wartete die Antwort gar nicht erst ab, warf eine Leine über die Reling und sprang direkt hinterher. Bevor er unter Deck verschwand, legte er mit einem kurzen Handgriff die Leine seines immer noch leise vor sich hintuckernden Kahns um eine Klampe.
Keiner sagte etwas, bis Susanne die Stille durchbrach. »Na super!« Sie lachte laut los.
Vibeke sah sie an und fiel in ihr Lachen ein. »Gerettet«, sagte sie.
Nils hangelte sich die schmale Treppe nach unten, um ihren Retter aus der Nähe zu betrachten. Bille rutschte nervös hin und her, den Blick starr auf Fredrik gerichtet.
Fredrik hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ins Leere. Schließlich sagte er mit übertrieben arroganter Stimme: »Sieh einer an. Die Eingeborenen machen sich nützlich.« Er lachte los.
Und Bille lachte mit.
Martin holte tief Luft. Der mit dem Kahn würde den Fehler bestimmt finden. Er sah aus, als ob er Ahnung von so was hätte.
Aber als der Braungebrannte kurz darauf aus der Kajüte hochkam und sich die ölverschmierten Hände an einem Stück Papier abgewischt hatte, sagte er: »Nichts zu machen. Das Ding muss in die Werkstatt. Ich könnte euch bis zum Ufer abschleppen. Von da aus müsstet ihr dann allerdings mit dem Bus weiterfahren.«
Er setzte sich neben Susanne und sah sie der Reihe nach an, zog ein Päckchen Tabak aus der Tasche und drehte sich eine. »Na?«, sagte er, als er die Zigarette anzündete. »Wo kommt ihr her?«
»Oslo«, sagte Fredrik mürrisch.
»Das hab ich mir schon gedacht«, sagte der Mann. »Ich wollte wissen, wo euer Anlegeplatz ist?«
»Frognerkilen«, sagte Fredrik.
»Ah ja«, sagte der Mann und nahm einen tiefen Lungenzug, hustete und spuckte in einem hohen Bogen ins Wasser. »Wie gesagt, bis zum Ufer könnte ich euch abschleppen. Übrigens, ich heiße Sigge. Sigge Stiansen.«
Er machte eine übertriebene Verbeugung, lehnte sich an die Reling und blies Rauch aus. Er schien sich pudelwohl zu fühlen, war völlig entspannt, hatte alles unter Kontrolle; ein rascher Seitenblick auf Susanne, ein rascher Seitenblick auf Vibeke.
Da Fredrik keine Anstalten machte, etwas zu sagen, ergriff Nils das Wort. »Also, wir ... Ich heiße Nils. Das hier ist Fredrik, dem gehört das Boot. Das ist Bille, und die beiden Mädchen heißen Vibeke und Susanne.«
»Und wer bist du?«, fragte Sigge und sah Martin an, der ein kaum hörbares »Martin« murmelte.
»Na dann«, sagte Sigge. »Habt ihr denn wenigstens ordentlich Johannis gefeiert?«
»Ja, schon«, sagte Nils. »Aber dann hatten wir die Motorpanne.«
»Die könnte ja auch vorgetäuscht gewesen sein!«
Sigge lachte heiser, wobei er die Mädchen ansah. Fredrik verzog den Mund. »Also gut. Wenn du uns abschleppen willst, lass es uns am besten gleich erledigen.«
Sigge Stiansen warf ihm einen kurzen Blick zu, nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnipste die Kippe ins Wasser. »Dann wollen wir mal«, sagte er gelangweilt. »Wir machen das Boot am besten an meiner Boje fest, dann könnt ihr mit zu mir kommen. Ich wohne nämlich gleich da oben am Hang. Falls ihr zu Hause anrufen wollt oder so. Unter der Woche fahren die Busse stündlich, an Feiertagen sieht’s wahrscheinlich etwas schlechter aus. Aber das lässt sich rauskriegen, ich hab einen Fahrplan zu Hause.«
Er legte die Hand auf die Reling und schwang sich elegant in seinen kleinen Kahn. Martin folgte ihm mit dem Blick. Erwachsen sein schien nicht das Schlechteste zu sein. Sigge ließ sich von Fredriks überlegener und mürrischer Fratze nicht aus der Ruhe bringen. Fredrik war ihm scheißegal. Beneidenswert.