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Sigge Stiansen hatte richtig vermutet: An Feiertagen fuhren kaum Busse in Richtung Stadt.

Drei Stunden bis zum nächsten.

Die Mädchen riefen zu Hause an. Martin rief zu Hause an. Nach einigem Hin und Her rief Nils ebenfalls zu Hause an. Bille sagte, dass er nirgendwo anrufen müsse, weil bei ihm alle mit der Dänemarkfähre unterwegs seien und eh nicht vor Abend zurück wären. Fredrik rief nicht zu Hause an. Als Nils ihn deswegen ansprach, erntete er einen wütenden Blick. »Das hat keine Eile«, sagte er nur.

Sigge Stiansen erkundigte sich, ob sie was gegessen hätten. Sie sahen sich an.

»Ananas«, sagte Vibeke. »Eine Dose. So gegen elf Uhr.«

»Und Chips und Bier«, sagte Nils. »Aber das war gestern Abend.«

»Meine Güte«, sagte Sigge Stiansen. »Gut, dass ich Brot im Eisfach hab.«

Er ging in die Küche und steckte gleich darauf wieder den Kopf zur Tür herein. »Kann mir vielleicht jemand helfen? Wie wär’s mit dir?«, sagte er und nickte Susanne zu, die sonnenverbrannt auf der vorderen Kante eines altmodischen Sessels mit zerschlissenem Wollbezug saß und mit der Hitze kämpfte. Sie erhob sich langsam und ging zu Sigge in die Küche.

Die anderen gingen auf die kleine Terrasse raus.

Sigge Stiansen hatte ihnen erzählt, dass er die Hütte vor ein paar Jahren ausgebaut hatte. Er hatte sie winterfest gemacht und ans Stromnetz angeschlossen. Der Terrassenboden war mit einer dünnen Metallschicht überzogen, an der man sich die Fußsohlen versengte, wenn man barfuß darüberlief. Die einzige erträgliche Stelle war eine alte Binsenmatte.

Nils sah sich suchend um und entdeckte einen ausgebleichten Sonnenschirm. Als er ihn aufspannte, rieselten vertrocknete Fliegen und Mücken auf ihn herunter. Er schüttelte sich angeekelt.

Danach schleppten sie mit lautem Geschepper ein paar klapprige Liegestühle über den Metallboden um sich in den Schatten des Sonnenschirms zu setzen. Vibekes Blick wanderte immer wieder zur Küchentür, die im Halbdunkel des Wohnzimmers kaum zu sehen war.

Martin und Fredrik ging es nicht anders.

Nils und Bille machten es sich bequem und legten die Füße auf das Geländer. Sahen auf den diesigen, spiegelblanken Fjord hinaus. Im Hintergrund lagen die blau schimmernden Hügel von Nesodden, vor Fagerstrand ankerten ein paar Boote. Fredrik konnte nicht still sitzen und lief rastlos zwischen Wohnzimmer und Terrasse hin und her, sah abwechselnd auf die Uhr und zum Boot, das an der Boje vertäut war, griff nach einem Fernglas auf der Fensterbank, stellte es scharf, schaute übers Wasser, legte es wieder auf die Fensterbank zurück, wobei er die Küchentür immer im Auge behielt.

Martin hatte keine Lust, in die Hitze rauszugehen. Er war auf dem verschlissenen Sofa sitzen geblieben und der grobe, senfgelbe Wollbezug kratzte an der Unterseite seiner Oberschenkel. Fredrik hatte bestimmt Schiss seinem Vater zu beichten, dass der Motor im Eimer war. Vielleicht hatte er ja wirklich nicht um Erlaubnis gefragt, ob er mit dem Boot rausfahren durfte. Immerhin wussten Martins Eltern jetzt, wo sie waren, falls Tante Cathrine also mit seiner Mutter telefonierte ...

Fredrik hatte ein zerlesenes Taschenbuch aus dem Regal gezogen.

»Sieh dir das mal an«, flüsterte er und zeigte Martin den Einband, auf dem eine schwarzhaarige Frau mit üppiger Oberweite zu sehen war, die in den Armen eines Mannes lag, der wie Morgan Kane aussah. Der Mann hatte ihr ein Messer an den Hals gelegt, aber die Frau lächelte, als ob sie es völlig in Ordnung fände, dass ihr gerade jemand die Kehle durchschneiden wollte.

»Guck mal, was der für Bücher liest!«

Das muss Fredrik gerade sagen, dachte Martin. Was hat er denn erwartet? Dostojewski? Fredrik las auch ausschließlich Comics.

Aber Martin sagte nichts. Zuckte nur mit den Schultern. Sicherheitshalber.

Vibeke steckte den Kopf zur Terrassentür herein. »Gibt’s bald was zu essen, oder was treiben die da drinnen?«

Fredrik drehte sich ruckartig zu ihr um.

»Guck nicht so«, sagte sie. »Ich mach doch nur Spaß.«

Aus der Küche drangen jetzt leise Geräusche zu ihnen heraus, die nach Essensvorbereitung klangen. Schubladen, die aufgezogen und wieder zugeschoben wurden, scheppernde Schranktüren, Wasser, das in einen Kessel lief. Martin merkte, dass er Hunger hatte. Großen Hunger.

Jetzt brutzelte es dort drinnen und gleich darauf zog der verführerische Duft gebratenen Specks durch den Raum bis auf die Terrasse hinaus.

»Mann«, sagte Nils laut. »Ich hab vielleicht einen Kohldampf!«

Sie waren mit dem Essen fertig. Martin hatte die erste Scheibe Brot gierig heruntergeschlungen, als plötzlich nichts mehr ging. Die Übelkeit vom Morgen war mit einem Schlag wieder da. Er starrte auf seinen Teller, auf dem das flüssige Eigelb sich mit den Schinkenstreifen vermischte. Vielleicht hatte er ja doch eine Gehirnerschütterung. Er schob die Gabel über den Teller und tat so, als ob er genauso eifrig wie die anderen mit dem Essen beschäftigt wäre. Er wollte sich ihre blöden Kommentare ersparen.

Obwohl es wahrscheinlich sowieso niemanden interessierte.

Bille und Nils schmatzten, Vibeke schmierte Butter auf ihre Brotscheibe, Fredrik hatte das halbe Ei auf die Gabel gespießt und war gerade dabei, es in den Mund zu schieben, wobei er den Gastgeber nicht aus den Augen ließ. Der hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und sah Susanne an. Ungeniert. Was Vibeke sehr wohl registrierte, genau wie Fredrik. Susanne saß mit roten Wangen am Tisch und schnitt ihr Ei in kleine Stückchen, bevor sie etwas davon aß. Susanne.

In gewisser Weise hatte Martin vor Susanne fast genauso viel Angst wie vor Fredrik. Sie war zwar nicht so schlagfertig wie Vibeke, aber irgendwie gefährlicher. Tief in ihr drin brannte ein Feuer, an dem man sich gewaltig die Finger verbrennen konnte, wenn man nicht aufpasste. Erst lockte sie einen und dann schlug sie zu. Nicht physisch, aber so war es fast noch schlimmer. Früher war Martin ihr so weit wie möglich aus dem Weg gegangen.

Sie war mitten in der Achten in die Klasse gekommen. Sie sprach Dialekt, womit man an der Schule in Åsen gleich unten durch war. Aber komischerweise hatte sich niemand deswegen über sie lustig gemacht. Nicht einmal Fredrik. Manchmal kam es Martin fast so vor, als ob Fredrik sich von ihr verunsichert fühlte.

Jetzt saß sie da, Schweißperlen auf der Oberlippe, das weißblonde Haar über den sonnenverbrannten Wangen, und verdrehte einem alten Knacker mit selbst gedrehten Zigaretten und breiten Schultern den Kopf.

Es war zum Lachen.

Aber Martin konnte nicht sehen, dass einer von ihnen lachte. Ihm selbst war auch eher zum Heulen zu Mute. Er schluckte. Er war ziemlich sicher, dass er Fredriks Blick richtig deutete: Fredrik war eifersüchtig. Verdammt eifersüchtig. Zuerst hatte er sich mit der Motorpanne zum Idioten gemacht, und nun saß auch noch Susanne da, streckte ihre Brüste vor und hatte dieses klitzekleine Lächeln in den strahlend blauen Augen. Wahrscheinlich war sie sich nur allzu bewusst, was sich da anbahnte. Sie streckte sich nach dem Brotkorb aus, sodass ihre Haare Sigges Arm streiften, sie leckte die Finger ab und fuhr sich mit der rosa Zungenspitze über die Lippen. Und als Sigge seinen braun gebrannten Arm auf ihrer Rückenlehne ablegte, lehnte sie sich zurück. Martin spürte ein Ziehen im Zwerchfell und konnte sich lebhaft vorstellen, was Sigge jetzt fühlte: Susannes weiches Haar und darunter ihre sonnenheiße Haut.

Martin war das letzte bisschen Appetit vergangen. Er legte die Gabel beiseite.

Fredrik sah auf seine Armbanduhr.

»Scheiße, und wir hocken hier am Arsch der Welt! Du hast nicht zufällig ein Auto?«

»Doch«, sagte Sigge und drückte die selbst gedrehte Zigarette in einem randvollen Aschenbecher aus. »Aber das leihe ich dir sicher nicht, Bürschchen.«

Bürschchen.

Als ob Fredrik ein Hosenscheißer wäre. Was er unbestritten war. Auf alle Fälle würde es noch ein paar Jährchen dauern, bis er seinen Lappen in der Tasche hatte.

Fredrik räusperte sich.

»Könntest du uns nicht vielleicht fahren?«

»Ganz sicher nicht«, sagte Sigge. »Bei der Hitze. Nein, ihr müsst schon den Bus nehmen. Ihr könnt aber auch gern hier bleiben und heute Abend den Bus nehmen. Bis dahin steht die Sonne auch etwas tiefer und es ist nicht mehr ganz so warm. Wir können ja auf den Steg umziehen, um zu schwimmen, und dort unseren Nachtisch essen. Ich hab Eis im Kühlfach.«

Vibeke und Susanne sahen sich an. »Die bringen mich um«, sagte Vibeke. »Meine Alten.«

»Wir können doch noch mal anrufen«, meinte Susanne.

»Und sagen, dass vor heute Abend kein Bus fährt. Dass wir falsch geguckt hätten.«

»Ich weiß nicht«, sagte Vibeke gedehnt und suchte Fredriks Blick.

»Nix da«, sagte Fredrik. »Und was soll mit dem Boot passieren?«

»Da wird wohl morgen jemand vorbeikommen müssen um es abzuschleppen«, sagte Sigge. »Keine Bange, das liegt hier sicher.«

Fredrik sah aus, als ob er nachdachte.

Nein!, schrie es in Martin. Nein!

Es wurde gefährlich, die Sache geriet aus dem Ruder. Der gestrige Abend war noch nicht ausgestanden und jetzt war noch etwas Neues hinzugekommen.

Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als Susanne plötzlich aufstand und sagte: »Okay, ich rufe an. Wir bleiben.«

Fredrik streckte den Arm nach der Butter aus und stieß dabei gegen Martins Teller, sodass der ganze Mist auf Martins Beinen landete.

»Oje«, sagte Fredrik knapp.

Martin sah an sich runter. Das Eigelb lief langsam über seine braun gebrannten Oberschenkel. Er hob den Kopf und begegnete Fredriks Blick. Schwarz und hasserfüllt. Fredrik fühlte sich ausgebootet und musste seinen Frust an irgendjemandem auslassen.

Sie riefen wieder der Reihe nach an. Als Martin dran war, war nur Hanne im Haus. Seine Eltern waren im Garten.

»Ich komme mit dem Abendbus. Vorher fährt keiner. Wir sind so lange bei einem Typen, der uns was zu essen gemacht hat. Sag ihnen das. Tschüss!«

Er ging langsam zurück ins Wohnzimmer.

Sigge hatte eine Packung Erdbeereis aus dem Eisfach geholt und suchte nach Teelöffeln. Susanne spülte die Teller unterm Wasserhahn ab. Sie wischte die Hände an ihrer Shorts trocken und warf das Haar über die Schulter. Nahm die Plastiktüte mit Papptellern, die Sigge ihr reichte.

Wie machten Mädchen das?

Dass plötzlich völlig klar war, zu wem sie gehörten?

Es sah aus, als ob sie und Sigge schon monatelang ein Paar wären, obwohl sie doch nur ein paar Spiegeleier zusammen gebraten hatten. Martin verstand das nicht. Aber neben seiner Katastrophenstimmung konnte er sich der Schadenfreude darüber, dass Fredrik endlich mal eins aufs Dach bekam, nicht erwehren: erst die Sache mit dem Boot und jetzt das hier.

Als sie den schmalen Pfad zum Steg runtergingen, dachte Martin, dass er doch eigentlich mit dem Nachmittagsbus nach Hause fahren könnte. Er bräuchte nur seine Tasche zu nehmen und zu gehen. Sich in die flimmrige Hitze rauszubegeben. Die Bushaltestelle zu suchen und zu warten. Sich aus dem Staub zu machen, bevor es zu spät war.

Er bräuchte nur zu gehen.

Aber so einfach war das nicht und er hatte nicht die Kraft zu überlegen, warum es so war. Er fühlte sich wie eine Marionette, die an lauter Schnüren hing, die Fredrik in der Hand hielt. Fredrik und manchmal auch Nils oder Bille. Und Susanne. Eigentlich alle. Es war, als ob er die Fähigkeit verloren hätte, sich aus eigener Kraft zu bewegen und in Sicherheit zu bringen.

Es entlockte ihm noch nicht einmal einen Seufzer, er ging widerspruchslos hinter den anderen her, einen Pfad entlang, der voller Fichtenzapfen und knorriger Baumwurzeln war. Es duftete nach trockenem Waldboden und Meerwasser. Susanne und Vibeke waren am Steg angekommen und lachten und schrien, während sie ihre Taschen nach dem Badezeug durchwühlten. Sigge Stiansen hatte sich schnell aus seiner Jeans gepellt und stand breitbeinig und braun gebrannt in einer hellblauen Badehose am Ende des Stegs.

Die drei Jungen zogen umständlich ihre Badehosen an und fühlten sich neben Sigge ganz bleich und schmächtig, als sie so im Schatten des windschiefen Bootshauses standen, dessen Farbe überall abblätterte.

»Verdammt, jetzt seht euch den mal an«, sagte Nils. »Was hat der denn in der Hose?«

Fredrik sah kurz hoch und widmete sich gleich darauf wieder dem sorgfältigen Zusammenlegen seiner langen Bermudashorts. »Hat wahrscheinlich seine Socken da reingesteckt«, sagte er. Im nächsten Moment schrie er: »Wer ist Erster!«, und machte seinen berühmten flachen Kopfsprung in das türkisgrüne Wasser (es gab viele Algen in diesem Sommer). Vibeke, die auf dem Steg saß und mit den Beinen baumelte, folgte ihm mit dem Blick.

Susanne stand in ihrem rosa Mini-Bikini da. Plötzlich zog sie das Oberteil aus. Das hatte sie noch nie getan. Ihre Brüste mit den dunkelrosa Brustwarzen ragten weißer als der Rest nach vorn.

Fredrik tauchte aus dem Wasser auf, schüttelte die Haare aus den Augen und hustete.

Alle sahen zu, als Sigge Stiansen zu Susanne ging und ihr die Hand auf den Rücken legte.

»Na komm, du willst doch bestimmt auch baden, oder nicht?«

Sie drehte den Kopf so schnell zur Seite, dass ihr Haar wippte.

»Aber klar doch.«

Martin legte den Kopf auf die Knie.

Hinter seiner Stirn dröhnte und hämmerte es.

Ein einziger Tag

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