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Sie saßen auf der hintersten Bank im Bus und fuhren am Schloss vorbei. Henny hatte das Kinn hinter den Jackenkragen geschoben und suchte nach einem triftigen Grund, um nach Hause fahren zu können. Hausaufgaben? Keine Chance, Lotte wusste, dass sie die meisten schon gemacht hatte.

Kopfschmerzen? Würde Lotte ihr nicht abnehmen.

»Wir hätten lieber die Straßenbahn nehmen sollen«, sagte Lasse. »Die fährt oben rum. Dann hätten wir uns den steilen Hang zum Haus hoch sparen können.«

»Noch können wir umsteigen«, sagte Lotte und sprang eilig auf, um die Halteschnur zu ziehen. Der Bus hielt an und Lotte rief: »Los, da kommt grad eine!«

Als sie in die Straßenbahn einstiegen, war Emil so dicht hinter Henny, dass sie seinen Atem an ihrer Wange spürte. Für einen kurzen Augenblick vergaß sie völlig, dass sie eigentlich nach Hause wollte, und lachte aufgeregt.

Lotte hatte sich einen Platz gesucht. Sie schwenkte die Plastiktüte mit ihren neuen Schuhen hin und her und unterhielt sich mit Lasse. Als die Straßenbahn quietschend durch Skillebekk ruckelte, saßen sie hintereinander, Lasse und Lotte vorn, dahinter Emil und Henny. Henny legte die Stirn an die Scheibe und tat, als ob sie nach draußen schauen würde.

Sie war auf einmal schrecklich verlegen.

Emil und sie saßen da, als ob sie ein Pärchen wären.

Lotte erzählte ohne Punkt und Komma. Als hätte sie nie etwas anderes getan, als mit Lasse Straßenbahn zu fahren. Lotte ging es gut, Lotte warf den Kopf in den Nacken und blies einen Kaugummiballon, während Henny sich über sich selbst ärgerte, weil sie so bescheuert war. Stumm und idiotisch und kindisch! Sie drehte sich gereizt zur Seite. Emil sah sie verdutzt an.

»Ist was?«

»Na ja«, antwortet Henny unentschlossen. »Es ist nur ...«

»Was?«, hakte Emil nach.

»Wir sollten nicht zu dem Haus gehen!«, sagte Henny, weil sie das Gefühl hatte, irgendwas sagen zu müssen.

»Warum denn nicht?«, fragte Emil und sah sie neugierig an. »Weil ... das nicht erlaubt ist«, sagte Henny und fummelte an ihren Haaren herum. »Das ist ... Vielleicht stören wir ja jemanden!«

Mein Gott, was faselte sie da für einen Schwachsinn, spätestens jetzt musste er sie doch für völlig bescheuert halten. Sie zog so kräftig an den Haaren, dass sie sich fast von der Kopfhaut lösten, ihr schossen Tränen in die Augen, nicht, weil sie unglücklich war, sondern weil es an der Schläfe immer besonders weh tat. Sie drehte sich schnell wieder zum Fenster.

»Wen sollte das stören?«

Er lehnte sich zu ihr hinüber.

»Vielleicht wohnt da ja jemand, der nicht gesehen werden möchte«, antwortete Henny und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.

Dass sie aber auch nie die Klappe halten konnte!

Bloß weil sie nicht so locker wie Lotte war und drauflosquatschen konnte, hockte sie da und ... weihte Emil in ihre Tagträume ein!

Deine Flunkerei wird dir früher oder später noch mal Probleme bereiten!, pflegte ihre Großmutter zu sagen, worauf ihre Mutter jedes Mal antwortete: Sie flunkert nicht, sie hat nur eine blühende Phantasie. Jetzt war sie dabei, sich mit ihrer blühenden Phantasie Probleme einzuhandeln, und zwar eher früher als später, weil sie nicht wusste, wie man sich verhalten sollte, wenn man mit ein paar Jungen Straßenbahn fährt.

Lotte drehte sich nach hinten um. »Bei der nächsten Haltestelle steigen wir aus!«

Letzte Gelegenheit, dachte Henny. Letzte Gelegenheit, sich abzuseilen.

Aber sie stand mit den anderen auf, und nachdem sie ausgestiegen war und die Straßenbahn in der Dunkelheit verschwinden sah, folgte sie den anderen.

Das Haus lag am Ende einer schmalen Stichstraße. Im Dunkeln war es nur als schwarze Silhouette am Abendhimmel zu erkennen, der vom entfernten Großstadtlicht braunviolett gefärbt wurde.

Sie stapften schweigend durch gefrorenen Kies. Als sie eine gelb gestrichene Toreinfahrt passierten, nickte Lasse. Dort hatten die beiden sich das Rad angesehen.

Am Ende der Straße blieben sie stehen.

Lasse knöpfte seine Jacke am Hals auf und zog den Reißverschluss runter. Holte tief Luft. Emil fuhr sich wieder über die Haarstoppeln und warf Henny, die an einer Haarsträhne zupfte und wegsah, einen flüchtigen Blick zu. Lotte stieß sie in die Seite. »Ist doch witzig, Henny!«, flüsterte sie leise und eindringlich.

Henny hatte kalte Füße und der Hamburger lag ihr wie ein Stein im Magen.

Emil strich sich wieder über die Haare, ohne Henny aus den Augen zu lassen, und Henny befürchtete, dass er sie verraten und den anderen erzählen könnte, was sie in der Straßenbahn zu ihm gesagt hatte. Henny ging zu dem großen zerbeulten Briefkasten, der an dem fast schon eingefallenen Zaun hing, und klappte den Deckel auf.

»Mal sehen, ob Post gekommen ist«, sagte sie laut.

Und siehe da.

Jede Menge Reklame, vom Schnee und Regen völlig aufgeweicht und zusammengeklebt.

Lotte wusste ganz genau, dass Henny das nicht wollte!

Lotte wollte sich doch bloß vor den Jungs wichtig machen!

Aber Henny würde es ihr schon zeigen!

Henny knallte den Deckel wieder zu und schob die Hände in die Jackentaschen. Sie warf Lotte einen Blick zu, den diese angriffslustig erwiderte.

Da ging Henny los.

Durch das schiefe schmiedeeiserne Tor auf den Vorplatz. Sie wartete nicht auf die anderen, erst vor der breiten Treppe drehte sie sich um. Sie waren ein Stück hinter ihr, Lotte vorweg, dann die beiden Jungs. Emil legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Spitzen der kahlen Bäume hoch, die das Haus rechts und links einrahmten.

»Ganz schön riesig«, sagte er.

»Das sind Pappeln«, sagte Henny.

Es raschelte leise in den Zweigen, ein melancholisches Rauschen, das nur schwach das Geräusch der Autos auf der Fernstraße übertönte.

Henny hatte einen Entschluss gefasst — sie wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. Rein ins Haus, um zu zeigen, dass sie kein Feigling war, und dann so schnell wie möglich wieder raus und nach Hause fahren. Sie sah Lotte kurz an, bevor sie die vier Steinstufen zur Eingangstür hochging. Das Fenster über der Tür hatte die Form einer halben Zitronenscheibe, es sah bestimmt gemütlich aus, wenn dahinter Licht brannte. Jetzt war alles dunkel. Sie legte die Hand um den Türknauf und rüttelte daran.

Die Tür ging nicht auf.

Eine Welle der Erleichterung durchströmte sie.

Lotte sagte: »Natürlich ist die abgeschlossen! Probieren wir auf der Rückseite, ob es eine Verandatür oder so was gibt. Wir könnten doch auch durch ein Fenster einsteigen, das Haus ist schließlich nicht mehr bewohnt.«

Henny blieb stehen, während die anderen drei hinter der Hausecke verschwanden.

Schließlich ging sie auch langsam die Treppe nach unten und folgte ihnen.

Da schien schon vor ihnen jemand durchs Fenster eingestiegen zu sein. Es hing lose in den Angeln, eine Scheibe fehlte. Sie mussten nur noch auf die wackelige Gartenbank steigen, die an der Hauswand stand, und reinklettern.

Was aber so einfach auch wieder nicht war, weil es ein altes Haus mit einer hohen Grundmauer war und das Erdgeschoss sehr hoch lag. Sie hätten es fast nicht geschafft, sich hochzuziehen. Henny schürfte sich das Handgelenk an dem rauen Fensterrahmen auf, bevor sie drinnen auf den Boden plumpste, auf braunes, gewelltes Linoleum, übersät mit vertrockneten Blättern, die von draußen hereingeweht waren.

Henny richtete sich auf und sah sich um.

Sie waren in so einer Art Wintergarten oder Glasveranda gelandet: Auf drei Seiten Fenster und eine Tür, die ins Freie führte, aber abgeschlossen war. Hinter einem alten Divan und einem grün gestrichenen Eisentisch, der leicht gekippt stand und auf dem lauter vergilbte Zeitungen verstreut lagen, ging es in den nächsten Raum, das Wohnzimmer.

Sie traten nacheinander ein.

Keiner sagte etwas, sie schauten sich nur aufmerksam um, Henny fühlte, wie ihr Herz unter der Jacke hämmerte.

An der Decke hing ein Lüster, ein Wagenrad mit schief aufgesteckten Lampenschirmen. Lasse probierte den Wandschalter aus, aber es tat sich nichts. Ansonsten stand dort nur noch ein einsamer Ohrensessel mit abgewetztem, verschossenem Bezug aus blaugrauem Stoff. Henny sah sich um. Das von draußen hereinfallende Licht tauchte den Boden und die Wände in einen gelblichen Schimmer.

Auf der vergilbten Tapete zeichneten sich helle Vierecke ab. An diesen Stellen hatten wohl einmal Bilder gehangen.

Das war alles.

Henny schob die Hände in die Jackentaschen. Es war kalt, fast noch kälter als draußen. Sie folgte Lotte mit ihrem Blick, als die mit Lasse im Schlepptau durch die nächste Tür verschwand.

Emil stellte sich neben sie.

»Findest du es nicht gut, dass wir hierher gekommen sind?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Was meintest du mit dem, was du in der Straßenbahn gesagt hast?«

»Gar nichts«, sagte sie. »Das war nur Spaß.«

Irgendwo ertönte Lottes Lachen, laut und hohl.

»Na, komm schon, sehen wir uns ein bisschen um«, sagte Emil.

Henny nickte.

Sie gingen durch die Tür und kamen in eine Art Eingangshalle, von der eine breite Treppe mit Treppengeländer in einem Bogen ins obere Stockwerk führte. Die Tapete hing in Streifen von den Wänden. Von der Decke bröckelte der Putz. Es roch erdig und faulig, dunkel war es obendrein, dunkler als in dem Wohnzimmer. Henny fröstelte trotz warmer Jacke.

»Gehen wir hoch?«, fragte Emil.

Roselill

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