Читать книгу Roselill - Kjersti Scheen - Страница 6
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ОглавлениеIm oberen Stockwerk gab es eine Reihe Zimmer.
Henny und Emil betraten eins, von dem aus eine Doppeltür auf einen Minibalkon führte, auf den sie sich aber nicht trauten, denn der Bretterboden des Balkons sah morsch und lebensgefährlich aus.
An der einen Wand stand ein kleines Sofa mit geschwungener Rückenlehne, aus dem die Polsterfüllung quoll. Ansonsten gab es nur noch ein Bettgestell mit einer Matratze, das ganz in die Ecke geschoben war. Die kaputten Federn beulten den gestreiften Bezug aus.
Emil ließ sich auf die Matratze fallen.
»Komm her!«
Henny schluckte.
Es war die gleiche Situation wie in der Straßenbahn: Entweder sie ging jetzt oder sie ließ alles Weitere auf sich zukommen.
Dasselbe Licht, das unten durchs Fenster gefallen war, warf auch hier seine Schatten. Henny stellte sich vor die Balkontür und sah nach draußen, um Zeit zu gewinnen. Das Licht kam von den Autoscheinwerfern, die von der Straße unten bis hier hoch leuchteten, stellte sie fest. Ganz weit unten konnte sie die Bestumbucht sehen. Die Boote lagen bewegungslos im Eis. Die Straße selbst war nicht zu erkennen, nur dichtes, blattloses Gestrüpp und hohe Bäume.
»Guck mal! Ein Hund!«
Emil warf Schattenbilder an die Wand, er legte die Hände übereinander und spreizte die Finger so, dass es aussah, als ob der Hund die Schnauze auf- und zumachte.
»Quatsch, das ist doch kein Hund, das ist ein Schaf«, sagte Henny und ließ sich auf die Matratze plumpsen, worauf die Federn schrill quietschten. »So macht man einen Hund.«
Sie hob die Hand, streckte den Daumen hoch und spreizte die Finger zwischen Mittel- und Ringfinger. Sie musste lachen. Ihr Schattenbild sah aus wie eine wütende Gans.
Emils Kopf zeichnete sich als blaulila Schattenprofil auf der Wand ab. Er sah ihre Gans an und klimperte mit seinen langen Wimpern, sein Schatten zwinkerte ebenfalls.
»Dreh dich um«, sagte er. »Zeig dich auch im Profil.«
Sie wandte ihm das Gesicht zu.
Jedes Mal, wenn sie versuchten, ihre eigenen Schattenrisse anzusehen, verschwammen sie. Sie schielten so stark zur Seite, wie sie nur konnten, wobei sich ihre Nasenspitzen immer näher aufeinander zubewegten. Als sie sich fast berührten, zuckte Henny zurück, weil sie Lotte und Lasse auf der Treppe hörte. Sie drehte sich um und sah zur Tür.
»Was treibt ihr denn hier?«
Lottes Tonfall war schnippisch.
»Wir machen Schattenbilder«, sagte Emil und legte wie selbstverständlich seinen Arm um Hennys Schulter. Henny rückte etwas näher an ihn heran, Lotte sollte ja nicht glauben, dass Henny hier oben hockte und Angst hatte. Sie schob sich in Emils Armbeuge und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Ihr Atem ging schneller und sie musste schlucken, so etwas hatte sie noch nie gemacht.
Lotte verzog das Gesicht.
Sie wäre wahrscheinlich gern die Erste gewesen, dachte Henny gehässig. Lotte hasste es, nicht die Erste zu sein.
»Komm, setzen wir uns auch hin«, sagte Lasse. Lotte schien einen Moment zu zögern und Henny wurde prompt nervös. Das wäre mal wieder typisch, jetzt, nachdem Henny sich von Lotte hatte breitschlagen lassen, weil Lotte unbedingt vor den Jungs großtun wollte, dass sie ausgerechnet jetzt nach Hause wollte, nur weil Henny ...
Sie schluckte noch einmal.
»Okay«, sagte Lotte und setzte sich auf das kleine Sofa. Sah sich um. »Wer hier wohl früher gewohnt hat?«, fragte sie.
»Hast du nicht gesagt, du wüsstest das?«, flüsterte Emil in Hennys Ohr. Sie schüttelte ganz leicht den Kopf. Lotte schien nicht mitbekommen zu haben, über was sie geredet hatten, trotzdem sah sie misstrauisch zu ihnen hinüber. Henny erwiderte ihren Blick, versuchte, Lotte die stumme Mitteilung zu schicken, nichts von Roselill zu erwähnen, als Lasse sich nach hinten lehnte und sagte: »Die Kaiserinnenwitwe von ... von Moldora. Oder, noch besser, ein paar Rockstars! Ein englischer Rockstar namens ... Barry Bla ... bla ...«
»Barry Blabla«, sagte Lotte. »Nachdem er ein paar hundert Millionen mit seinen Platten verdient hatte, kehrte er nach Norwegen zurück, weil er geborener Norweger war!«
Sie hatte die Füße aufs Sofa hochgezogen und lachte laut. »Eigentlich hieß er nämlich Bjarne ... Bla ... blubb ...«
»Bjarne Blutberg«, fiel Lasse ein.
Lotte legte das Kinn auf die Knie. »Äh, wie ekelig!«
Aber dann musste sie doch wieder lachen.
Henny lag in Emils Armbeuge, sie atmeten im gleichen Takt, was sie ganz schläfrig machte, gleichzeitig kribbelte es auf eine ganz spezielle Weise im Bauch, wie wenn sie und Lotte sich früher auf dem Weg von der Schule nach Hause Geschichten ausgedacht hatten.
Gruselgeschichten.
Vor allem sie selbst, musste Henny zugeben. Ihr war völlig schleierhaft, warum ausgerechnet ihr, die sie so ein Angsthase war, die schauerlichsten Geschichten einfielen.
Lotte, die eigentlich viel draufgängerischer war als sie, dachte sich nie was aus. Dafür war Henny zuständig.
Lotte hockte auf dem Sofa und lachte über alles, was Lasse sagte, während sie selbst mit einem Jungen, den sie überhaupt nicht kannte, halb auf dem Bett lag.
Hennys Gedanken gerieten ins Stocken.
Emils Gesicht war ganz nah an ihrem.
Sie rang nach Luft, spürte den heftigen Drang, ihren Kopf zu ihm zu drehen, traute sich aber nicht, da tat er es, er fuhr mit seinem Mund über ihre Schläfe, ihr Herz galoppierte davon, sie schloss die Augen und legte ihren Kopf nach hinten. Er roch so gut, nach Haut und ein bisschen nach Rucksack und Anorak, nach frischer Luft, und dann war da noch so ein ganz leichter, süßlicher Duft, wahrscheinlich ein Deo. Plötzlich war sein Mund auf ihrem, tastend und vorsichtig, in ihren Ohren rauschte es, zuerst noch ganz unsicher, dann schob sich seine Zungenspitze zwischen ihre Lippen, sie wagte sich mit der eigenen vor und stieß mit seiner zusammen.
Es war wie ein Blitzschlag!
Im ganzen Körper, ein süßer Blitz von der Zungenspitze bis in den Bauchnabel, fast wäre ihr ein leiser Seufzer entwischt, als Lottes laute Stimme plötzlich die Stille durchschnitt.
»Was macht ihr da!«
Sie rückten voneinander weg.
Henny sah Lotte trotzig an, als Lasse plötzlich »Pssst!« zischte.
Sie sahen ihn alle drei gleichzeitig an, er hatte das Gesicht zur Tür gewandt.
»Ich glaub, da kommt jemand«, flüsterte er.
Lotte, die ihren Kaugummi mit den Fingern lang gezogen hatte, schob ihn hastig zurück in den Mund. Sie streckte die Beine und stellte die Füße auf den Boden. »Was ist?«, flüsterte sie. »Hast du was gehört?«
Lasse nickte.
Emil sah ihn an. »Das kam bestimmt von draußen, von der Straße ...«
»Pssst!«, zischte Lasse ihn an. »Hör doch selbst!«
Sie horchten.
Henny hörte nur das Rauschen in ihren Ohren.
Lotte wollte gerade etwas sagen, als es deutlich zu hören war: Schritte.
Da unten war jemand, das war ganz eindeutig das Klappern von Absätzen, das hallende Geräusch von Schritten in einem leeren Raum.
Es war einen Moment still, dann knarrte eine Tür.
Dieser Jemand befand sich jetzt in der Eingangshalle.
Henny spürte, wie sich ihre Haare im Nacken aufstellten. Wenn jetzt gleich Schritte auf der Treppe zu hören wären ... und so war es, sie hörten es knarren, Stufe für Stufe, da kam jemand nach oben. Die vier starrten sich an, bleich in dem von draußen hereinfallenden Lichtschein. Draußen auf dem dunklen Gang näherten sich langsam Schritte.
Wie gelähmt starrten sie zur Tür.
Henny wusste nicht, was sie erwartet hatte, einen Geist, einen Landstreicher, einen Mörder mit einem über dem Kopf erhobenen Messer, jedenfalls nicht den Anblick, der sich ihnen jetzt bot: eine alte Frau mit einem langen Mantel und einem Hut auf dem Kopf.
Sie blieb im Türrahmen stehen und schaute sie an. In dem fahlen Licht sah ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem schmalen Mund ausdruckslos und maskenhaft aus.
Lotte wollte gerade aufstehen, als die Frau auf dem Absatz kehrtmachte und auf demselben Weg verschwand, den sie gekommen war.
Die vier starrten sich an.
Keiner von ihnen bekam ein Wort heraus.
Sie hörten die Frau die Treppe runtergehen, aber erst, als der dumpfe Knall der schlagenden Haustür ertönte, waren sie in der Lage, sich zu rühren. Lotte rannte durchs Zimmer auf den Gang und schaute aus dem Fenster.
»Sie geht!«, rief sie laut. »Sie ist auf dem Weg zum Eingangstor!«
Alle vier redeten vor Erleichterung laut durcheinander und lachten.
»Mamma mia, hab ich einen Schreck gekriegt!«
»Hast du sie gesehen!«
»Stand einfach da!«
»Ich wär fast gestorben!«
»Wer war das?«
Ja, wer war die Frau?
Sie waren wieder nach unten in den Wintergarten gegangen und schauten nach draußen. Durch das offene Fenster kam kalte Abendluft herein und der Geruch von Abgasen und Winter.
»Vielleicht hat sie ja früher mal hier gewohnt«, schlug Lotte vor.
»Oder sie passt auf das Haus auf«, sagte Henny, »eine Nachbarin oder so.«
»Eine Maklerin«, sagte Lasse, dessen Mutter Maklerin war. »Vielleicht will sie das Haus verkaufen und wollte es sich vorher mal ansehen.«
Sie wechselten kurze Blicke.
»Komisch, dass sie gar nichts gesagt hat«, sagte Emil nachdenklich.
Die anderen schwiegen.
Es war wirklich eigenartig, dass sie nichts gesagt hatte.
»Meine Mutter hätte uns ganz schön die Leviten gelesen, wenn sie uns hier erwischt hätte«, sagte Lasse.
»Ich will hier raus«, sagte Henny. »Ich will raus, jetzt sofort!«
Plötzlich brach Panik aus, sie stürzten Hals über Kopf aus dem Fenster, auf die Bank, von da aus auf den verdorrten Winterrasen, rappelten sich auf und rannten auf die kleine Gartenpforte in der Mauer zu. Sie hielten erst an, als sie die Straße erreicht hatten.
»Verdammt«, keuchte Emil.
»Ja!«, antworteten die drei anderen. Sie schauten über die zugefrorene Bestumbucht und nichts in der Welt hätte sie in diesem Moment zurück in das leere Haus oben am Hang gebracht.
Lasse kniete sich hin und band seinen Schnürsenkel zu, der aufgegangen war, als sie den steilen Hang hinuntergerannt waren, teils über Treppen, teils auf einem schmalen, glitschigen Trampelpfad, der im Zickzack von den Häusern oben bis zur Straße hinunter führte.
»Vielleicht war es ein Geist«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. Er grinste unsicher.
»Nein!«, schrien Lotte und Henny im Chor.
In dem Augenblick kam der Bus. Emil streckte den Arm aus, worauf der Bus mit einem lauten Ächzen vor ihnen hielt. Sie drängelten in das helle und warme Innere und ließen sich auf die Sitze fallen.
»Da geh ich nie wieder hin«, sagte Henny. Sie legte den Kopf nach hinten und schloss die Augen. Der fast leere Bus war auf dem Weg nach Lysaker.
Emil saß neben ihr. Er legte seine Hand auf ihre, halbwegs verdeckt von ihren Jacken.
Henny machte die Augen wieder auf und ließ den Winterabend draußen an sich vorbeisegeln.
Hatte sie jetzt einen Freund?