Читать книгу Die Tränen der Waidami - Klara Chilla - Страница 6
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ОглавлениеDer Anker der Monsoon Treasure fiel klatschend in das türkisblaue Wasser und zerriss für einen flüchtigen Moment die spiegelglatte Oberfläche.
Bocca del Torres!
Jess machte einen tiefen Atemzug und blickte über den Strand der kleinen Bucht, die ihnen seit vielen Jahren als Zuflucht diente. Die Hütten säumten den Übergang zum Inneren der Insel und schienen auf ihre Bewohner zu warten.
Doch die Ruhe war trügerisch. Jess waren nicht die kleinen Boote entgangen, die an dem einfachen Steg lagen. Ein dumpfes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Ein weiteres Zeichen, dass Tamaka Recht behalten sollte. Die ersten Waidami waren hierher geflüchtet.
»Endlich wieder zu Hause!« Jintel trat mit einem breiten Grinsen neben seinen Captain. »Die Männer freuen sich auf ein paar Tage der Ruhe.«
»Wir haben Besuch«, entgegnete Jess knapp und verließ das Achterdeck, während Jintel ihm folgte.
»Ja, aber ist es nicht genau das, was du uns erzählt hast? Du hast doch nicht etwas anderes erwartet, oder? Captain?«
»Vielleicht hatte ich einfach gehofft, dass der Seher sich wenigstens in einer Sache irrt.«
Zwischen den Palmen und den dichten Büschen hinter den Hütten waren Bewegungen zu erkennen. Ihre Besucher verbargen sich also im Schutz des Dickichts. Jess öffnete sich für die Strömungen und traf auf die unterschiedlichsten Gefühle und Erwartungen. Zwischen Angst vor ihnen und der Hoffnung, dass sie hier ein sicheres Zuhause gefunden haben mochten, konnte er alles spüren.
Mit einem Seufzen wandte er sich an Jintel, der ebenfalls die Bewegungen entdeckt hatte.
»Nimm dir ein paar Männer und sorge für ordentliche Unterkünfte, Jintel. Aber die Leute erhalten ihren eigenen Bereich. Dieser Strand ist leider nicht sicher genug. Hast du einen Vorschlag?«
»Weiter südlich im Landesinneren befindet sich eine kleine Lichtung mit einem Frischwasservorkommen. Ich denke, das sollte für den Anfang ein guter Platz sein. Sie sind nicht sofort von See aus zu entdecken.«
Jess nickte nachdenklich. »Gut. Kümmere dich um alles Erforderliche. Und vor allem schärfe ihnen ein, dass sie an diesem Strand in nächster Zeit nichts zu suchen haben. Du bist mir für diese Menschen verantwortlich.«
»Aye, Captain.« Jintel räusperte sich und warf ihm einen langen Blick zu. Auch in ihm hatte sich die Unsicherheit vor dem Ungewissen eingenistet. Seine Strömung hatte den ruhigen und unerschütterlichen Fluss verloren. Es war bei Jintel nicht anders als bei den anderen Männern der Crew. Eine Frage lastete auf ihm, die er nicht länger zurückhalten konnte:
»Was erwartet uns, Jess? Hat Tamaka dazu etwas gesagt?«
»Die Waidami werden hierher kommen und mich holen, Jintel«, entgegnete er ruhig. »Das war alles, was in dem Schreiben stand. Aber ich fürchte, dass es nicht dabei bleiben wird. Du solltest dich mit den Männern ebenfalls ins Innere der Insel zurückziehen. Es ist besser, wenn ihr nicht mehr hier seid, wenn sie kommen.«
»Du erwartest allen Ernstes, dass wir dich hier alleine zurücklassen?«
»Ich erwarte, dass ihr meine Befehle befolgt.«
Jintel presste aufgebracht die Lippen zusammen. Sein Unterkiefer mahlte, als kaute er auf einem besonders zähen Stück Fleisch herum. Jess brauchte seine Strömungen nicht zu lesen, um zu wissen, was in ihm vorging: Es widerstrebte ihm, sich einfach zurückzuziehen.
»Die Waidami werden wissen, dass du die Treasure nicht alleine hierher gesegelt hast. Und ihnen sollte wohl kaum verborgen bleiben, dass einige aus ihrem Volk hier untergeschlüpft sind. Torek wird dies alles berücksichtigen, wenn ich diese kleine Schmeißfliege richtig einschätze.«
»Du redest beinahe wie Cale.«
»Wirfst du mich jetzt auch über Bord?«
Auch wenn Jintel ihn schwach angrinste, spürte Jess den Ernst hinter dieser Frage.
»Es würde wohl kaum etwas nützen.« Er schüttelte den Kopf und legte dem bulligen Mann kurz die Hand auf die Schulter. »Ich möchte euch aus der Sache raushalten. Torek ist ein unberechenbarer Wahnsinniger. Möglicherweise wird er euch töten lassen, nur um mich zu treffen. Dieses Risiko kann ich nicht eingehen.«
»Was stellst du dir also vor? Was sollen wir tun?«
»Am liebsten wäre mir, wenn ihr die Insel verlasst. Aber dann sind die flüchtigen Waidami hier alleine, und sie sind sicherlich nicht weniger gefährdet.« Jess warf einen langen Blick auf die Hütten. »Wenn ich Torek wäre, würde ich zuerst auf die Hütten feuern lassen. Sie sind ein hervorragendes Ziel, und das Zeichen, das er damit setzt, ist von See aus direkt für alle zu sehen, die diese Bucht ansteuern.« Tatsächlich war es wahrscheinlich gleich, wohin er seine Männer schicken würde. Torek wusste es längst. Wenn er ihnen wirklich etwas antun wollte, würde es für ihn ein Leichtes sein, sie aufzuspüren.
»Ihr zieht euch alle mit den Flüchtlingen zurück. Und kommt erst wieder herausgekrochen, wenn sie mit mir die Insel verlassen haben.«
Jintels Blick flackerte, dann senkte er die Augen. Seine Hände ballten sich langsam zu Fäusten, die schon so manchen Schlag ausgeführt hatten, doch jetzt nur hilflos an seinen Seiten herabhingen. »Ich werde mich in meine Kajüte zurückziehen. Du sorgst dafür, dass die Männer verschwinden.«
»Du willst es ihnen nicht selbst sagen?« Diesmal lag ein klarer Vorwurf in seiner Stimme, die Jess noch mehr an Cale erinnerte. Als hätten die beiden Männer eine geheime Absprache getroffen.
»Es gibt nichts mehr zu sagen.« Jess nickte ihm zu und drehte sich um. Während er auf das Schott zuging, sperrte er die Strömungen seiner Umgebung aus. Er wollte alleine sein und sich nicht von ihnen beeinträchtigen lassen. Sie auf diese Weise zu verlassen, fiel ihm schwerer, als er zugeben wollte.
Als er kurz darauf die Tür seiner Kajüte hinter sich schloss, stand er zunächst da und lauschte auf die Geräusche, die von Deck herunterdrangen. Jintel brüllte mit rauer Stimme seine Befehle, auf die seine Männer unverzüglich reagierten, als wären sie alle über eine unsichtbare Schnur miteinander verbunden. Eingespielt, wie sie waren, dauerte es nicht lange, bis sich Totenstille über die Treasure ausbreitete. Jetzt war er wirklich allein. Jess stand immer noch an der Tür und starrte in das Innere des Raums. McDermott hatte die Treasure nicht lange genug in seinem Besitz gehabt, um große Veränderungen vornehmen zu können. Die wenigen Sachen, die Jess von ihm gefunden hatte, hatte er noch am Abend der Schlacht über Bord werfen lassen. Dennoch war es seltsam zu wissen, dass McDermott hier seinen Platz eingenommen hatte. Der Raum war derselbe, doch trug er nicht mehr nur noch die Erinnerungen von ihm selbst in sich.
Ein Schmerz fraß sich durch die Tätowierung, als wollte auch diese ihn daran erinnern, dass die Verbindung zu seinem Schiff die Ursprünglichkeit verloren hatte. Jess fühlte mit der Hand über die Linien, die die Monsoon Treasure so lebendig auf seinem Körper verewigten. Die Tätowierung fühlte sich unter seiner Hand nicht anders an, als die erste. Dennoch wurde das Gefühl in ihm täglich stärker, dass trotzdem eine Veränderung geschehen war, ohne dass er zu sagen vermochte, was genau es war.
Der Pirat trat an seinen Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Nachdenklich betrachtete er den Inhalt. Der Dolch der Thethepel lag darin, unachtsam hineingeworfen, nachdem er seinen Dienst versehen hatte. Sicher ein weiterer Grund, warum sie kamen, um ihn zu holen. Bei der Geschwindigkeit, in der sie in letzter Zeit neue Schiffe bauten, brauchten sie den Dolch, um die neuen Kapitäne mit ihnen zu verbinden. Jess nahm den Dolch und besah ihn sich genau. Die nadelfeine Spitze hatte er nun schon mehrfach zu spüren bekommen. Bei genauem Hinsehen konnte er ein feines Loch in der Spitze ausmachen, durch das die Tränen der Thethepel flossen, um die Tätowierung zu färben. Der Stein, der den Griff krönte, war immer noch tiefrot und schien mit geheimnisvollem Leben erfüllt. Für einen Augenblick überlegte er, den Dolch ebenfalls über Bord zu werfen, da die Zerstörung nur in den Höhlen der Thethepel möglich war. Doch er war sich sicher, dass er damit nichts anderes erreichen würde, als Torek und Bairani unnötig zu erzürnen. Damit riskierte er möglicherweise eine unkontrollierte Racheaktion des Sehers, die seine Männer ausbaden mussten. Also legte er den Dolch zurück in die Schublade und schloss sie wieder.
Unschlüssig sah er durch den Raum. Ein Kribbeln kroch über seinen Rücken. Es gab nicht das Geringste, das er tun konnte.
*
Am nächsten Morgen lag Jess auf der Koje in seiner Kajüte und starrte in das Zwielicht, das den Raum erfüllte wie die Zweifel seinen Verstand. Nur langsam wich die Dunkelheit, als könnte sie sich nicht entscheiden, dem Tag wirklich schon den Platz zu überlassen.
Jess lag völlig ruhig. Ein Beobachter hätte nicht erkennen können, welcher Sturm in ihm tobte.
Was tat er hier, fragte er sich. Er lag wie ein Opferlamm da und wartete auf die Ankunft des Unvermeidlichen. Er opferte sich, nein, er opferte wesentlich mehr als nur sich selbst. Zum ersten Mal waren seine Atemzüge unkontrolliert und zitterten leicht.
Auf Tamakas Vision hin, opferte er sein Leben, seine Hoffnung auf ein anderes Leben. Er opferte seine Männer, und was ihm am schwersten fiel, er opferte seine Liebe.
Wieder machte er einen tiefen Atemzug, und ein Lächeln wanderte trotzig in seine Mundwinkel, als er an Lanea dachte. Sie musste so verletzt sein, weil er sie einfach zurückgelassen hatte - wieder einmal. Aber diese Verletzung würde heilen, und Lanea würde ihn vergessen.
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Die Ruhe war nun auch äußerlich zerstört, als er sich bei seinen finsteren Gedankengängen immer weiter verspannte und mit den Händen den hölzernen Rand seiner Koje umklammerte, als müsste er sich daran festhalten.
Er begab sich auf unbekanntes Terrain. Freiwillig lag er hier und wartete darauf, dass die Waidami kamen, um ihn zu holen. Was würde dann mit ihm geschehen? Tamaka hatte sich wie immer unklar ausgedrückt. Das Einzige, woran er in seiner Schriftrolle keinen Zweifel gelassen hatte, war, dass Jess erst wieder für Bairani segeln musste, um irgendwann jemanden zu treffen, der für den weiteren Verlauf äußerst wichtig war. Ohne diese Person würde es ihm nicht gelingen, Bairani zu töten. Sie allein würde im rechten Augenblick das Blatt zu ihrer allen Gunsten wenden.
Jess ballte die Fäuste und schnaubte wütend auf. Was immer das auch heißen mochte. Es blieb nur abzuwarten und zu hoffen, dass er tatsächlich so die Gelegenheit bekam, Bairani zu töten.
Langsam schloss er die Augen und konzentrierte sich auf seine Atemzüge. Das leichte Zittern, das dabei sein Innerstes berührte wie die schnellen Flügelschläge eines Kolibris, war die Unruhe der Monsoon Treasure, und Jess erschauerte.
Sie kommen, schrie es plötzlich in ihm, bevor die Treasure ihn einfach mit sich riss. Er war gedanklich vorbereitet, doch als er mit seinen Sinnen durch das langsam heller werdende Wasser der Bucht tauchte, um an ihrem Ende auf sechs Schiffsrümpfe zu stoßen, traf ihn der Anblick wie ein Fausthieb.
Sie waren bereits da!
Fünf der Schiffe schoben sich vor die Ausfahrt der Bucht und versperrten sie, während das größte der Schiffe in die Bucht hinein segelte.
Das Krachen von Kanonen riss ihn mit der Gewalt einer Explosion plötzlich zurück in die Wirklichkeit seiner Kajüte. Schweratmend setzte er sich, nur um sofort aufzuspringen. Es war so weit.
Von einem Moment auf den anderen überkam Jess eisige Ruhe. Das Warten, das so sehr an seinen Nerven gezerrt hatte, war vorbei. Es gab kein Zurück mehr, es war seine Entscheidung gewesen, sich den Anweisungen in der Schriftrolle zu beugen. Entschlossen rannte er aus seiner Kajüte. Als er das Deck betrat, empfing ihn bereits das erwartete Chaos.
Während ein riesiger Viermaster drohend neben der Monsoon Treasure lag und seine Breitseite auf sie gerichtet hielt, rannten zurückgebliebene Waidami schreiend zwischen den Hütten umher und verschwanden im Dschungel. Ihre panischen Strömungen überschlugen sich förmlich, verloren sich aber schnell und spurlos im Dickicht der Insel. Rauch schwelte an Land, und einige der Hütten lagen in Trümmern, wo die Kanonenkugeln ihren verheerenden Weg zwischen sie geschlagen hatten.
Überrascht fiel sein Blick auf die Beiboote, die mit seinen Männern zwischen Strand und Monsoon Treasure dümpelten. Die Männer widersetzten sich offen seinem Befehl. Jess runzelte unwillig die Stirn, doch er konnte sie verstehen. Es fiel ihnen schwer, tatenlos auf der Insel abzuwarten, was weiter geschehen würde. Doch trotzdem zögerten sie und starrten stattdessen unentschlossen zu ihm herüber.
Jess wandte sich dem Viermaster zu. An dem mächtigen Bug reckte sich eine schlanke Frauengestalt in die Höhe. Ihre Haare breiteten sich über das Holz aus und rankten sich in einer wilden roten Farbe bis hinauf an die Reling und vermittelten den Eindruck, das Schiff würde in Flammen stehen. ›Thethepel‹ stand in ebenfalls roten Buchstaben auf dem Bug geschrieben.
Es gab keinen Zweifel, sie hatten ein Schiff gebaut, das selbst die Kampfkraft der versenkten Darkness in den Schatten stellte.
Jess ließ seinen Blick weiter wandern, bis er an einer schmächtigen Gestalt in dem grauen Gewand eines Sehers hängenblieb.
Torek!
Ein selbstgefälliges Lächeln stand in dem jungen Gesicht, als er Jess‘ Blick begegnete. Leidenschaftslos betrachtete er den verhassten Seher. Er hatte gewusst, dass er dem Mörder Hongs wieder gegenüberstehen würde. Und er würde ihn dafür bezahlen lassen. Doch nicht heute und nicht hier. Jess atmete beherrscht ein und aus und verfolgte regungslos, wie Torek in ein wartendes Beiboot abenterte und sich zur Treasure rudern ließ.
Jess wartete. Er verschränkte die Arme vor der Brust, versuchte den schwelenden Hass darin zu unterdrücken und blickte zu der Fallreeppforte. Die groben Gesichtszüge eines Piraten tauchten auf, der zu oft in eine Schlägerei geraten war. Die breite Nase war ein unförmiger Klumpen, der das ganze Gesicht beherrschte und die Brutalität des Mannes offen zur Schau stellte. Geschickt enterte der Pirat auf und beobachtete ihn lauernd, während er die Muskete von seiner Schulter nahm und sie auf Jess richtete. Dieser konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen, blieb aber ansonsten weiterhin regungslos auf seinem Platz. Ein weiterer Pirat erschien, der dem Beispiel seines Kameraden folgte und die Muskete augenblicklich auf Jess richtete. Erst danach betrat Torek das Deck der Treasure.
Sorgfältig glättete er mit beiden Händen sein Gewand und sah sich provozierend langsam auf dem Schiff um. Nach einer geraumen Weile, in der keiner ein Wort sprach, setzte er sich in Bewegung. Jeder Schritt schien sorgfältig platziert. Seine Miene zeigte deutlich, dass er sich lange auf diesen Augenblick gefreut hatte und ihn tausendmal in Gedanken durchgespielt haben musste. Die Augen Toreks waren von einer unheimlichen Freude erfüllt, die sich mit dem Hohn und der Verachtung Jess gegenüber zu einem köstlichen Mahl für sein Selbstbewusstsein vereinigten. Während weitere Piraten das Schiff enterten, kam Torek auf ihn zu und blieb unmittelbar vor ihm stehen.
»Torek«, sagte Jess knapp.
»So sehen wir uns also schon wieder, Jess Morgan! – Ist es nicht interessant, dass wir uns erneut so unvermittelt gegenüberstehen, und es lächerlich einfach war, dich gefangen zu nehmen?« Toreks Lächeln vertiefte sich und zeigte deutlich das Fest, das sich in seinem Inneren abspielen musste. Mit einer übertriebenen Geste verschränkte er die Arme vor der mageren Brust. »Ich muss gestehen, dass ich nicht verstehen kann, warum der Name Morgan in der Karibik so gefürchtet sein soll.«
»Dann ist mir die Frage gestattet, warum Ihr immer solch einen großen Aufwand betreibt, um mich gefangen zu nehmen.« Jess deutete lächelnd auf die gefechtsbereiten Schiffe vor der Bucht und auf die Thethepel.
Torek presste wütend die Lippen aufeinander. Seine Arme fielen herab, und er trat, jede Vorsicht vergessend, noch näher an Jess heran.
»Vielleicht macht es einfach Spaß zu beobachten, wie du nach deinem Schiff weinst, wie ein kleines Kind nach seiner Mutter«, zischte er und funkelte ihn herausfordernd an.
»Was wollt Ihr?«
»Befiehl deine Männer an Bord.«
Jess folgte dem Blick Toreks zu den Booten, in denen die Männer immer noch warteten, dann blickte er wieder auf den Seher.
»Was, wenn ich es nicht tue?«
»Oh, da gibt es genau eine Möglichkeit.« Torek machte eine Pause, während er an Jess vorbeitrat und zur Reling ging, um sich in einer etwas ungelenken Geste darauf abzustützen. »Wir werden die Insel vom Meer aus in Beschuss nehmen und anschließend werden wir das, was davon noch übrig ist, in Brand setzen.« Erneut machte er eine Pause, in der er sich wieder Jess zuwandte, um ihn interessiert zu mustern. »Aber im Grunde habe ich kein Interesse daran, deine Männer zu töten. Wir bauen so viele Schiffe, dass wir jeden erfahrenen Seemann brauchen, den wir bekommen können. Wenn sie also freiwillig an Bord kommen, wird ihnen nichts geschehen. Sie werden lediglich in die Bilge gesperrt, bis wir Waidami erreichen. Dort werden sie auf unsere Schiffe verteilt.« Torek räusperte sich vernehmlich und seine Stimme nahm einen beinahe sanften Ton an, als er fortfuhr. »Und wir werden mit euch einfach davonsegeln und keinen der abtrünnigen Waidami jagen, die auf diese Insel geflohen sind.«
Jess nickte langsam. Er war nicht überrascht, dass Torek darüber Bescheid wusste. Nicht umsonst war er der Vertraute Bairanis geworden. So trat er neben den Seher und winkte seinen Männern. Jintel antwortete ihm, in dem er ebenfalls eine Hand hob. Gleich darauf wurden die Riemen ins Wasser getaucht, und sie ruderten in ihre Richtung.
Der junge Seher sagte nichts, sondern lächelte ununterbrochen sein selbstsicheres Lächeln, während er die Ruderer beobachtete. Als die Boote an der Treasure längsseits gingen, warf er Jess einen langen abschätzenden Blick zu und gab seinen Begleitern einen Wink.
»Legt ihn in Ketten«, sagte er und betonte jedes Wort mit der Freude eines Kindes, das gerade eine Belohnung erhalten hatte.
Ein Mann trat zwischen den anderen Piraten hervor. In seinen Händen hielt er schwere Hand- und Fußketten. Jess ließ die Arme langsam an seinen Seiten herabsinken. Er atmete ergeben ein, als sich die eisernen Fesseln um seine Gelenke schlossen. Hatte ihn die Schriftrolle schon gedanklich in Fesseln gelegt, so erhielt er jetzt den äußeren Beweis dafür, dass er seine Freiheit bereits verloren hatte, als er sich auf Tamakas Vision eingelassen hatte. Voll Unbehagen verfolgte er, wie seine Männer das Deck betraten und ebenfalls in Ketten gelegt wurden. Ihre Augen ruhten vertrauensvoll auf ihm. Genau dieses Vertrauen belud ihn bereits jetzt mit einer Schuld, die er niemals begleichen konnte. Sie würden auseinandergerissen und auf verschiedenen Schiffen verteilt werden. Jess hatte keinerlei Zweifel daran, dass sie dort den Anfeindungen der anderen Piraten ausgesetzt sein würden. Jeder wusste, dass sie zur Crew des Verräters gehörten, und würde sie das spüren lassen. Auch seine Männer wussten das, hatten es von Anfang an gewusst. Vielleicht würden die Brüder getrennt werden, das würde Rodrigeuz das Herz brechen, wenn er nicht auf seinen kleinen Bruder aufpassen konnte und ihm in dieser Zeit vielleicht etwas geschah. N’toka war inzwischen zu Kadmis Schatten geworden und würde es ebenso hassen, von ihm getrennt zu werden. McPherson hatte sowieso schon mit dem Holzbein zu kämpfen. Jess unterdrückte ein Seufzen und hasste in diesem Augenblick dieses blinde Vertrauen. Was, wenn Tamakas Vision nicht in Erfüllung gehen würde? Schließlich hatte er selbst immer wieder betont, dass eine Vision nur Möglichkeiten enthielt.
»Und wieder einmal bist du nicht in der Lage, deine Männer wirklich zu schützen. Ist das nicht beschämend?« Toreks Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, als hätte er sie gelesen. »Bevor deine Männer in die Bilge gesperrt werden, sollen sie noch sehen, wie ihr Captain sein Knie vor mir beugt.« Seine Augen huschten zu Jess‘ Männern und kehrten dann zu Jess zurück, um ihn hohnlächelnd von oben bis unten zu taxieren. »Knie dich vor mir nieder, Pirat«, befahl er.
Jess lachte laut auf.
»Ich werde nicht vor Euch knien!«, sagte er langsam und provokant.
Auf einen herrischen Wink Toreks hoben die beiden bewaffneten Piraten ihre Musketen und richteten die Läufe auf Jess Kopf.
»Ihr werdet mich wohl kaum erschießen, weil ich nicht vor Euch niederknie, Torek. Bairani will mich lebend, wozu wäre sonst der ganze Aufwand notwendig?« Diesmal lächelte Jess selbstgefällig und machte einen Schritt auf den Seher zu, in dessen Miene sofort Panik aufflackerte. »Ich werde mein Knie nicht freiwillig vor deinesgleichen beugen, Seher.«
Aus Toreks Gesicht wich alle Farbe. Wütend ballte er seine Fäuste, während er sich hastig umsah und sich davon überzeugte, wer Zeuge dieser Szene war. Als er sich wieder Jess zuwandte, konnte dieser darin lesen, dass er diese Demütigung so nicht hinnehmen würde. Jess erschauderte.
»Du wirst dein Knie vor mir beugen, Pirat! – Schon bald wirst du vor mir auf den Knien umherrutschen, wenn ich es will und du wirst noch ganz andere Dinge tun, einfach weil ich es will …!« Die Worte trafen Jess, als würde jedes von einem Messer geführt, das einen blutigen Schnitt hinterließ. Torek sprach genau das aus, wovor Jess sich am meisten fürchtete, und er wusste mit unheimlicher Sicherheit, dass der Seher Recht behalten würde …
*
Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als Jess endlich Schritte in der Dunkelheit vernahm. Er wusste nicht, wie lange er bereits in der Bilge der Thethepel war. Jegliches Zeitgefühl war ihm im Laufe der Stunden abhandengekommen, in denen er gegen den Schlaf angekämpft hatte. Die Thethepel war Stunde um Stunde dem Spiel der Wellen gefolgt, die stetig gegen ihren Rumpf stießen und Jess dabei leise zuwisperten. Das Lied der Wellen folgte einem gleichmäßigen Rhythmus, der die Müdigkeit verstärkte und den Schlaf unaufhaltsam näher lockte. Doch Jess hatte sich erfolgreich dagegen gewehrt, indem er die Ketten seiner Fußfesseln um seinen linken Oberschenkel geschlungen hatte. Jedes Mal, wenn der Schlaf ihn zu übermannen drohte, hatte er die eisernen Glieder so fest wie möglich zusammengezogen. Sein Bein war inzwischen von einem schmerzhaften Pochen erfüllt, aber nur so hatte er den Schlaf zurückhalten können. Der Gedanke, dass Torek ihn dabei bewusst beobachten würde, wie er seinen Dämonen gegenübertrat, war für Jess nicht zu ertragen. Er war sicher, dass Torek ihn nur aus diesem Grund auf die Thethepel gebracht hatte, und diesen Triumph konnte er ihm nicht gestatten. Es war demütigend genug gewesen, dass der junge Seher bemerkt hatte, welche Wirkung seine letzten Worte auf Jess gehabt hatten. Deutlich hatte ihm die Überraschung im Gesicht gestanden, als er Jess‘ Entsetzen bemerkt hatte, dann hatte er laut gelacht.
Die Schritte hatten inzwischen die Tür seines Gefängnisses erreicht und verharrten. Licht drang in schmalen Streifen durch die Ritzen der Tür und brannte in seinen Augen. Er hob eine Hand und schirmte damit sein Gesicht ab, während er wartete. Leise quietschend schwang die Tür auf, und der Pirat mit dem zerschlagenen Gesicht stand vor ihm.
»Los, steh auf. Du darfst aus deinem Rattenloch, Captain«, knurrte er ihn an.
Jess richtete sich auf. Sein Bein rebellierte mit einer Schmerzwelle, als er es mit seinem Gewicht belastete, doch er ignorierte den Schmerz. Langsam ging er durch die Tür. Der Pirat griff ihn bei der Schulter und stieß ihn auf den Niedergang zu.
»Geh voran, Mann.«
Jess antwortete nichts. Dennoch wunderte er sich, dass er aus der Bilge geholt wurde. Waren sie bereits an ihrem Ziel angelangt? Er hatte nicht bemerkt, dass sie irgendwo vor Anker gegangen waren, jedoch hatte er die Zeit auch eher in einem Dämmerzustand verbracht.
Überrascht betrat er das Deck. Sie hatten tatsächlich Waidami erreicht und lagen bereits vor Anker. Sie mussten länger unterwegs gewesen sein, als er gedacht hatte. Torek stand versonnen an der Reling und blickte auf, als wäre er von ihm angesprochen worden. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er sah verletzlich aus, ja beinahe verträumt. Doch als sein Blick auf Jess fiel, verschwand dieser Ausdruck. Stattdessen trat das verhasste Lächeln in sein Gesicht. Fragend hob er eine Augenbraue, als sein Blick an dem dunkelroten Fleck an Jess‘ linkem Hosenbein hängenblieb, aber er sagte nichts. Der junge Seher richtete seine Aufmerksamkeit wieder kurz auf den Strand, als müsste er sich von irgendetwas überzeugen, dann drehte er sich wieder zu Jess um und winkte dem Piraten, der ihn aus der Bilge geholt hatte, ihn näher zu führen.
»Dein neues Zuhause«, sagte er knapp und deutete auf die Insel in seinem Rücken. »Aber du kennst dich ja aus, schließlich bist du hier aufgewachsen, nicht wahr? Dein Ziehvater wartet auch bereits auf unseren Besuch.«
Jess bemerkte verwundert, dass Torek nicht ganz bei der Sache zu sein schien. Die Augen des Sehers huschten immer wieder an den Strand, und Jess fragte sich, was die Aufmerksamkeit Toreks so sehr zu fesseln vermochte. Leise klirrten seine Ketten, als er an die Reling trat und zum Strand blickte. Erstaunt sah er, dass Waidami sich verändert hatte. Sie lagen in der Hauptbucht der Insel vor Anker, in der die Piratenschiffe anlegten, wenn sie Bairani aufsuchten. Normalerweise war es den Piraten nicht gestattet, das Dorf zu betreten. Nur die Kapitäne durften auf einem Weg, der um das Dorf herumführte, zu den Höhlen des Obersten Sehers gehen. Doch heute wimmelte es von Piraten im Dorf. Dagegen waren nur wenige Waidami zu sehen, als ob sie sich in ihren Hütten versteckten.
Jess verengte seine Augen und versteifte sich unmerklich, als er plötzlich am Ende eines Bootsteges eine Gruppe Männer entdeckte, die mit Ketten aneinandergefesselt in einer Reihe hintereinander über den Strand marschierten. Angeführt wurde die kleine Gruppe von dem rothaarigen Dan, gefolgt von Sam, Kadmi und den anderen. Am Ende humpelte McPherson, der als Einziger nur Handfesseln trug. Jintels breites Gesicht hob sich und begegnete seinem Blick. Wieder konnte er das Vertrauen seines Profos darin erkennen und wieder entfachten sich Schuldgefühle in ihm. Wohin brachten sie die Männer? Torek hatte gesagt, dass sie lediglich auf die anderen Schiffe verteilt werden würden. Ein Seitenblick auf den Seher zeigte ihm, dass dieser seine Aufmerksamkeit bereits wieder auf etwas anderes gerichtet hatte. Jess folgte seinem Blick und traf auf eine junge Frau, die mit dem Rücken zu ihnen stand und sich gerade mit einer alten Frau unterhielt, die im Schatten einer Hütte saß. Plötzlich richtete sie sich auf und wandte ihr stolz geschnittenes Gesicht der Thethepel zu. Ihre Miene versteinerte, als sie Torek entdeckte, und Jess bemerkte, wie der Junge neben ihm fast gleichzeitig erstarrte. Jess pfiff leise durch die Zähne. Shamila! Dort unten stand die Tochter Bairanis, die für ihn wie eine kleine Schwester gewesen war, und strafte Torek mit einem Blick, für den es keine Beschreibung gab. Dann sah sie Jess an und von einem Augenblick auf den anderen wurden ihre Gesichtszüge weich. Sie schenkte ihm ein trauriges Lächeln und hob zum Zeichen, dass sie ihn erkannt hatte, eine Hand. Jess reagierte nicht. Er hätte ihr gerne gezeigt, dass er sie ebenfalls erkannt hatte, doch er spürte auch den Blick Toreks auf sich. Beiläufig sah er den Seher an. Wie er erwartet hatte, war dessen Gesicht eine Maske des Hasses. Es gab keinen Zweifel für ihn, dass dort unten die verwundbare Stelle Toreks stand.
*
Bairani saß in seiner Höhle und starrte blicklos auf das alte Pergament. Wie lange hatte er darauf gewartet, dass ihm die Vision den einen Piraten zeigte. Wie lange hatte er darauf gehofft, die uneingeschränkte Macht über die Karibik gewinnen zu können?
Tief atmete er ein, schloss kurz die Augen, um sich zu besinnen. Es war eine Ewigkeit her, dass er auf einen Weg gezwungen worden war, deren Windungen nicht immer leicht zu nehmen gewesen waren. Doch jetzt endlich saß er hier und wusste, dass Morgan wieder in seiner Gewalt war. Jess Morgan, der ihm den Sieg bringen würde ... oder den Untergang.
Bairani öffnete die Augen, strich beinahe liebevoll über das Pergament, bevor er es sorgfältig und behutsam zusammenrollte. Morgan würde sich ihm nicht entziehen können. Er würde gezwungen sein, sich ihm mit all seiner Kraft und Hingabe zu unterwerfen. Seine Schlagkraft und all sein Geschick gehörten jetzt wieder den Waidami. Die Spanier schrumpften darunter zusammen wie ein einzelner Tropfen Wasser, der unter der gleißenden Hitze der Sonne verging. Ein Lächeln stahl sich auf seine dünnen Lippen, während er sich erhob und zu der Truhe ging, die in einer hinter einem Vorhang verborgenen Nische stand. Das alte Holz antwortete mit einem Stöhnen, als er den Truhendeckel öffnete und den wertvollen Inhalt betrachtete. Bairani legte die Rolle zwischen die anderen und wollte gerade eine andere entnehmen, als ein Wächter eintrat.
»Oberster Seher«, sagte er und stand gerade und abwartend im Eingang, bis Bairani hervortrat. »Seher Torek wünscht Euch zu sprechen.«
»Lass ihn eintreten.« Bairani nickte dem Wächter zu und setzte sich wieder an den großen Tisch. Sein altes Herz, das schon so lange im stetigen Rhythmus schlug, beschleunigte sich und ließ eine ungewohnte Erregung durch seine Glieder fließen. Morgan war zum Greifen nah. Er bemühte sich, Torek unbeeindruckt zu betrachten, als dieser mit ehrfurchtsvoll geneigtem Kopf die Höhle betrat.
»Oberster Seher«, sagte Torek ehrerbietig und verneigte sich in seine Richtung.
»Torek!« Bairani schenkte dem jungen Seher ein spärliches Lächeln und deutete auf einen Stuhl an seinem Tisch. »Nimm Platz, mein Sohn, und berichte von deinem Erfolg.«
Toreks Miene veränderte sich. Unter die Ehrfurcht schob sich Stolz, und sein Blick begegnete ohne Umschweife den Augen Bairanis. Die Spur an Arroganz darin entging dem älteren Mann dabei nicht.
»Morgan und die Monsoon Treasure sind unser, Oberster Seher. Wie vorhergesehen haben wir ihn und seine Mannschaft auf Bocca del Torres ohne Probleme gefangen gesetzt.« Er setzte sich langsam und aufrecht zu Bairani, strich sorgfältig sein Gewand glatt und versuchte der nächsten Frage einen beiläufigen Tonfall zu geben: »Wann wollt Ihr mit der Zeremonie beginnen?«
Bairani war sich bewusst, dass der Junge ihn im Verdacht hatte, nicht mit offenen Karten zu spielen, weil er in den letzten Wochen auf Distanz gegangen war. Torek hatte sich schnell zu einem Seher entwickelt, dessen Fähigkeiten weit über alles hinausgingen, was auf Waidami jemals vorhanden gewesen war. In der Zeit, in der sie gemeinsam darauf gewartet hatten, dass Morgan wieder die Verbindung mit der Monsoon Treasure einging, war aus dem schüchternen Jungen ein selbstsicherer Seher geworden, der nur zu genau von seiner Einzigartigkeit wusste. In seinen Augen blitzte nicht nur die Arroganz der Jugend, sondern auch das Wissen, dass niemand an ihn heranreichen konnte. Bairani zweifelte inzwischen daran, dass es eine gute Idee gewesen war, den Jungen so schnell zu seiner rechten Hand zu machen. Vielleicht hatte er sich nur einen Konkurrenten an die Seite geholt und nicht die erhoffte Verstärkung. Doch seine eigenen Visionen waren zu schwach geworden, als dass sie noch großen Nutzen brachten. Und die anderen Seher zeigten immer öfters ihr Missfallen an seiner Vorgehensweise. Deshalb war er auf die Visionen und die Unterstützung Toreks angewiesen, wenn er die Waidami zu Größe führen wollte.
Nachdenklich betrachtete Bairani den schlaksigen jungen Mann, der immer noch auf eine Antwort von ihm wartete. Seine Hand glitt zu dem Amulett, das warm unter seinen Fingern pulsierte, sich in seine Handfläche schmiegte, als wäre Leben in ihm.
»Wir sollten keine unnötige Zeit verlieren«, entschied er und stand auf. »Lass mich jetzt unseren neuen Verbündeten begrüßen.«
*
Eine knappe Stunde später stand Jess in einer der Höhlen im Vulkan, die er bereits von den zahlreichen Besuchen bei Bairani kannte. Zwei Wächter standen schweigend mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihm und ließen ihn nicht aus den Augen. An der Zeichnung des Auges auf ihrer Stirn erkannte er, dass es sich um Männer handelte, die dem Obersten Seher bis in den Tod treu ergeben waren. Es waren fanatische Anhänger, die unter den Einwohnern Waidamis wegen ihrer Bedingungslosigkeit nicht besonders beliebt waren. Jess ließ seinen Blick durch die Höhle wandern, die schmucklos und kalt wirkte. Vor ihm befand sich ein kunstvoll verzierter Thron. Seine Armlehnen waren mit Gold belegt und seine hohe Rückenlehne endete in einer stilisierten Krone, geschmückt mit Diamanten und Saphiren. Der Thron hatte sich auf einem stark bewachten Schatzschiff befunden, das damals von Stout aufgebracht worden war. Er war ein Geschenk dieses Kriechers gewesen. Bairani hatte in seinem Größenwahn nicht widerstehen können und sich den Thron in diese Höhle stellen lassen. Jess zog verächtlich eine Augenbraue hoch und sah zum Eingang hinüber. Leise Schritte näherten sich, deren Klang durch den Gang hallte und einen Besucher ankündigten, lange bevor er selbst hereintreten würde. In Jess stieg die Anspannung, und er änderte ein wenig seine Position, um die schmerzenden Muskeln zu entlasten. Einer seiner Wächter versetzte ihm einen groben Stoß und zwang ihn so in die ursprüngliche Stellung zurück. Jess presste die Lippen aufeinander und atmete bewusst langsam. Die Schritte klangen jetzt näher, und er musste Ruhe bewahren.
Vier weitere Wachen erschienen, die alle das Zeichen des Auges auf ihrer Stirn trugen. Hinter ihnen trat der Oberste Seher ein. Bairani hielt seinen Kopf hoch erhoben und würdigte ihn keines Blickes. Er nahm mit andächtiger Haltung seinen Platz auf dem Thron ein und legte betont sorgsam seine Hände um die Armlehnen. Während er seine mitleidslosen Augen langsam auf Jess richtete, schritt Torek eilig herein und stellte sich mit einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck neben den Thron.
»Willkommen zu Hause, mein Sohn. Ich freue mich sehr darüber, dich endlich hier begrüßen zu dürfen«, sagte Bairani mit seiner unangenehmen Stimme, in der ein lauernder Unterton lag.
»Die Freude ist recht einseitig, fürchte ich.« Jess antwortete scheinbar gelassen. Bairani durfte seine Unruhe nicht bemerken.
»Das glaube ich gerne.« Bairani kicherte, und sein faltiges Gesicht legte sich in noch mehr Falten. »Es ist wirklich schade, dass du so denkst. Schließlich haben wir beide uns doch mal sehr nahe gestanden, wenn man bedenkt, dass du bei mir aufgewachsen bist. – Aber ich versichere dir, dass wir uns bald wieder sehr nahe sein werden.« Die langen Finger, die gerade noch die Lehne umklammert hatten, trommelten nun in einem bedrohlichen Rhythmus gegen das Holz, während der Oberste Seher ihn lange und ausgiebig musterte.
Unbehaglich verfolgte Jess, wie Bairani sich kurz zu Torek neigte und ihm leise etwas sagte. Torek lächelte zustimmend und der Oberste Seher griff bedächtig nach einem Amulett, das an einer Kette um seinen Hals hing. Das Amulett war aus rötlich schimmerndem Gold gefertigt und hatte die Form eines Vulkans. Auf seiner Mitte prangte das Auge der Thethepel, das einen roten Edelstein enthielt. Es musste eine Träne der Thethepel sein. Eine düstere Vorahnung streifte Jess. Es war der gleiche Stein, der sich auch am Griff des rituellen Dolches für die Verbindungen befand. Jess schluckte. Bairani umfasste das Amulett nun mit beiden Händen und fixierte ihn mit seinen leblosen Augen. Zuerst war es nur ein leichtes Ziehen, das Jess in seinem Herzen spürte. Doch dann ergoss sich glühende Hitze hinein und füllte es mit Schmerz. Jess stöhnte und bäumte sich auf. Sein Blick hing an dem Bairanis, als hielte dieser ihn fest. Anstrengung stand in dem Gesicht seines Peinigers und die offensichtliche Erregung, die ihm die Qualen von Jess bereitete.
Jess‘ Blick verschleierte sich, und er schloss die Augen. Die Hitze trat aus seinem Herzen und ergoss sich in seine Adern, bildete ein Netz, das ihn fesselte und sich langsam und unaufhaltsam in ihm zusammenzog. Der Schmerz war überall. Jess brach der Schweiß aus. Seine Muskeln verkrampften sich in dem vergeblichen Versuch, der Qual zu entkommen. Plötzlich änderte sich etwas. Das Netz lockerte sich ein wenig, und der Schmerz ließ nach. Doch gleichzeitig mischte sich etwas anderes in das Feuer, das permanent durch seine Adern rann. Jess konnte es nicht fassen, es schlängelte sich durch seinen Körper und griff nach seinem Verstand. Entsetzen packte ihn, als er darin Bairani erkannte, und drängte den Schmerz in den Hintergrund. Bairani war in seinem Kopf und wickelte sich um seinen Willen wie der Leib einer Schlange. Jess schrie wütend auf. Verzweifelt konzentrierte er sich und versuchte, seinen Willen vor dem Zugriff zu schützen. Er schüttelte den Kopf, als könnte er so Bairani hinauswerfen. Von einem Augenblick auf den anderen zog sich das Gefühl zurück. Jess taumelte und registrierte noch, dass Bairani bewusstlos auf dem Boden lag, bevor er selbst zusammenbrach.
*
Nachdenklich sah Torek den beiden Kriegern nach, die den bewusstlosen Jess hinausschleiften. Das war der dritte vergebliche Versuch Bairanis gewesen, den Willen des Piraten zu übernehmen. Schweratmend lag der Oberste Seher in seinem Thron. Zusammengesackt und bleich, der Kampf mit dem Willen Morgans verlangte seinem Körper mehr ab, als er zu geben in der Lage war. Torek verspürte Genugtuung bei dem Anblick. Bairani hatte ihm bereits vor Wochen berichtet, dass er in einer Schriftrolle das Geheimnis entdeckt hatte, wie man den Dolch der Thethepel manipulieren konnte. Wenn man den diesen mit den Tränen der Thethepel und dem Blut eines Sehers auflud, stellte man bei der zeremoniellen Tätowierung mehr als nur eine Verbindung zwischen Kapitän und Schiff her. Das Amulett war mit der gleichen Mixtur aufgeladen worden und ermöglichte seinem Träger den Zugriff auf den Willen des Kapitäns. Eine erfreuliche Waffe in den falschen Händen, wie Torek fand. Bairani war zu schwach, um diese Verbindung wirklich nutzen zu können. Morgan war längst an den Grenzen seiner körperlichen und geistigen Verfassung angelangt und trotzdem stemmte er sich erfolgreich gegen den Zugriff. Das Ganze konnte noch ewig so weiter gehen. Es sei denn, er überzeugte Bairani, ihm das Amulett zu überlassen. Dieser schien jedoch davon überzeugt zu sein, dass er ihn besser nicht an all seinen Plänen teilhaben ließ.
Ein Stöhnen kam über die schlaffen Lippen des älteren Sehers. Torek lächelte abfällig. Bairani hatte ihn unterschätzt. Mit seinem Misstrauen ihm gegenüber hatte er ihn nur wütend gemacht.
Langsam öffnete der Oberste Seher seine Augen und stützte sich auf den Armlehnen in die Höhe.
»Wie geht es Euch, Oberster Seher?«, fragte Torek und bemühte sich, seiner Stimme einen sorgenvollen Klang zu geben.
»Wo ist Morgan?«, entgegnete dieser und ignorierte damit die Frage.
»Die Krieger bringen ihn wieder in den Kerker.«
»Nein. Sie sollen ihn wieder hierher bringen. Ich war diesmal kurz davor, ihn zu überwältigen.« Bairani sah ihn finster an. »Ich werde einen weiteren Versuch machen.«
»Verzeiht, aber ich denke, Ihr seid bereits zu sehr erschöpft. Wenn Ihr jetzt zu viel wagt, erleidet Ihr womöglich körperlichen Schaden. Wir können es uns nicht leisten, Euch zu verlieren.«
Bairani lehnte seinen Kopf mit geschlossenen Augen an die Lehne in seinem Rücken, als müsste er die Worte überdenken.
»Morgan ist zu stark. Er nutzt die gleiche Zeit, die Ihr benötigt, um Euch zu erholen, um seine Kräfte zu sammeln. Glaubt mir, ich habe gesehen, dass es nur einen Weg gibt, ihn zu übermannen.«
Bairanis Augen öffneten sich wieder und blickten kalt auf Torek.
»Was hast du gesehen?«
Torek zögerte kurz, obwohl er wusste, dass Bairani seinen Köder geschluckt hatte. Er wusste, dass der ältere Mann nicht mehr so deutliche Visionen wie früher hatte. Mehr und mehr verließ er sich auf die Visionen, die er von Torek erhielt. Noch vor wenigen Monaten hätte er ihm nichts vorspielen können. Zu gut erinnerte er sich an den Versuch, ihn anzulügen, um einen der Schiffsbaumeister für beleidigendes Verhalten zu bestrafen. Damals hatte ihn Bairani mit Leichtigkeit durchschaut. Das war inzwischen anders geworden. Seine Zeit als Oberster Seher neigte sich dem Ende zu.
»Wir benötigen ein weiteres Amulett, um von zwei Seiten anzugreifen und seinen Willen zu brechen.«
Die blassen Augen musterten ihn ausgiebig, als suchten sie nach einem Hinweis auf Ehrlichkeit. Torek wusste, dass Bairani nicht bereit war, das Amulett aus der Hand zu geben. Es hätte sein Misstrauen nur gesteigert, wenn er dies vorgeschlagen hätte.
»Für Morgan benötigen wir einen Seher, der ihn begleitet und dafür sorgt, dass er auch tut, was wir von ihm wollen. Das könnt unmöglich Ihr selbst übernehmen. Waidami braucht Eure Führung hier.«
Die Worte tropften wie Gift in die Höhle und taten ihre Wirkung. Ein Beweis mehr, dass Bairani langsam zu alt wurde. Bedächtig glitt seine Hand an das Amulett und umfasste es, wie um sich versichern zu müssen, dass es noch an seinem Platz hing.
»Deine Vision trügt. Es ist nicht möglich, ein weiteres Amulett herzustellen«, sagte er gedehnt. »Dies ist nur möglich, solange die Verbindungszeremonie noch nicht durchgeführt ist.«
Torek zog bedauernd die Schultern zusammen und runzelte besorgt die Stirn. »Das bedeutet, dass Ihr Euch ständig in der Gegenwart Morgans aufhalten werdet. Ihr werdet sorgfältig darauf achten müssen, ihn stets unter Kontrolle zu halten. Der Pirat will nichts anderes als Euch tot sehen!«
Bairani zuckte unmerklich zusammen, doch Torek tat, als hätte er es nicht bemerkt. Der Oberste Seher fürchtete sich vor dem einen möglichen Ende der Vision, in der Morgan ihn unter dem steinernen Torbogen tötete. »Dann werde ich Morgan erneut rufen lassen, wenn Ihr einen weiteren Versuch wagen wollt?«
Bairani betrachtete ihn regungslos. »Nein«, sagte er langsam und setzte sich aufrecht in den Thron. »Behalte ihn ein paar Tage im Kerker, während ich mich erhole. Jede Nacht an Land wird ihn zusätzlich schwächen. Und dann werde ich seinen Widerstand überwinden, und er wird mir gehören!«
*
Jess lief der Schweiß in Strömen über den Rücken, als er drei Tage später wieder in der Höhle kniete. Er fürchtete nicht den Schmerz, aber er fürchtete sich vor dem Gefühl, wenn Bairani in seinen Kopf eindrang. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass er jemals solche Angst empfinden könnte. Aber der Gedanke daran, was Bairani alles tun konnte, wenn er erst sein Ziel erreichte und seinen Willen übernahm, löste in ihm diese hilflose Angst aus.
Vielleicht sollte er sich nicht mehr dagegen wehren. Es würde die Qualen erträglicher machen. Tatsächlich war es nur eine Frage der Zeit, bis er keine Kraft mehr besaß, um sich zu wehren. Jess zitterte vor Erschöpfung. Drei Kämpfe hatten sie bereits hinter sich, an deren Ende Bairani jedes Mal kurz vor seinem Ziel die Besinnung verloren hatte. Zwei Nächte hatte er an Land verbracht, in denen er kaum geschlafen hatte und die ihn zermürbt hatten. Er konnte nicht mehr. Seine Augen brannten vor Müdigkeit. Er konnte sie kaum noch offen halten.
Wie angenehm musste es sein, wenn er Bairani einfach gewähren ließ und er endlich wieder auf die Monsoon Treasure zurückkehren durfte. Schlaf, endlich wieder Schlaf ohne schlechte Träume.
Doch als Bairani an der Seite von Torek hereintrat, regte sich in ihm der Widerstand. Es ging nicht, er konnte nicht einfach aufgeben, solange noch ein winziges Fünkchen Kraft in ihm steckte.
Bairani ließ sich auf seinen Thron nieder. Sein Gesicht wirkte inzwischen ausgezehrt. Auch er trug die Kämpfe nicht ohne sichtbare Spuren aus.
Torek platzierte sich wie immer neben ihm. Er betrachtete Jess mit einem Lächeln, das ein Sieger trug. In Jess verhärtete sich die Vorahnung, dass er heute verlieren würde. Bairani würde ihn heute überwältigen. Übelkeit stieg in ihm auf, die schon lange in ihm gelauert hatte.
Die Prozedur der vergangenen Tage wiederholte sich in der immer gleichen, quälenden Abfolge. Die gleißende Hitze fraß sich mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit von seinem Herzen aus durch seinen Körper und legte ihr Netz aus. Jess war am Ende seiner Kräfte. Das unkontrollierte Zittern glich immer mehr einem heftigen Schüttelfrost. Jess hatte keinerlei Kontrolle mehr über seine Muskeln, als sich Bairani langsam und unaufhaltsam in ihn hinein schlängelte. Und trotzdem konnte er nicht einfach aufgeben. Verzweifelt wehrte er sich und versuchte, seinen Verstand vor dem verhassten Zugriff zu sperren, bis die Kräfte des Obersten Sehers wieder zu erlahmen begannen. Doch diesmal kam es nicht zu einem abrupten Ende. Ganz plötzlich zog sich Bairani völlig zurück. Jess wollte aufatmen, als der Oberste Seher sich erschöpft das Amulett über den Kopf streifte und Torek hinhielt. Der Junge zögerte nicht einen Augenblick. Als hätte er nie auf etwas anderes gewartet, nahm er das Schmuckstück, legte es um und griff noch im selben Moment nach Jess. Blitzartig stieß er mit frischer Kraft zu, nur um sich sofort wieder zurückzuziehen. Noch bevor Jess den Schock darüber überwunden hatte, griff Torek wieder an. Zum ersten Mal bröckelte die Mauer, die Jess aufgebaut hatte, und wurde dünner. Jeder neue Angriff von Torek trug unaufhaltsam eine weitere Schicht ab. Als der Seher die letzte Schicht durchstieß, zersplitterte der Wille von Jess Morgan wie Glas. Ein unerträglicher Schmerz explodierte in seinem Kopf und schien seine Augen zu zerreißen, gefolgt von einer schwarzen Welle, die auf ihn zuschoss und ihn verschlang.
*
Als Jess aufwachte, befand er sich wieder im Kerker. Angekettet an der Wand, versuchte er sich aufzurichten. Sein Kopf schmerzte, und er übergab sich in das faulige Stroh. Jess stöhnte. Das Zittern war vorüber, stattdessen fühlte er sich vollkommen leer. Alles, was geblieben war, war der bittere Geschmack Toreks in ihm.
»Endlich bist du wach. Ich hatte schon befürchtet, dein Herz hätte die Anstrengungen der letzten Tage nicht verkraftet.«
Jess kniff die Augen zusammen und suchte Torek, den er in einer Ecke des Kerkers auf einem Strohballen sitzend fand.
»Hast du schon einmal eine Marionette gesehen, Morgan?«, fragte er hämisch.
Jess schwieg. Die Demütigung saß in Gestalt dieses Jungen vor ihm und führte ihm die Ausweglosigkeit dieser ganzen verfahrenen Situation vor Augen. Auf was hatte er sich hier bloß eingelassen?
»Du darfst dich jetzt ein paar Tage erholen. Nachdem du einmal bezwungen wurdest, kannst du es nicht verhindern, dass ich dich wieder benutze. Wenn du wieder bei Kräften bist, werden wir üben. Zeigst du dich kooperativ, darfst du bald wieder auf dein heißgeliebtes Schiff.« Torek rutschte von dem Strohballen herunter und kam auf Jess zu. Mit gerümpfter Nase tat er, als müsste er den Gestank zur Seite wedeln. »Ich habe dir da ein Fläschchen hingestellt. Den Inhalt solltest du noch von Tamaka kennen. Es ermöglicht dir einen erholsamen Schlaf.« Er kicherte gutgelaunt und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb er stehen und klopfte zum Zeichen für den Wärter, ihn wieder hinauszulassen. Als die Tür aufschwang, schien Torek es sich noch einmal anders überlegt zu haben. Schwungvoll dreht er sich um und kam wieder auf ihn zu. Dicht beugte er sich zu ihm herunter, nicht ohne eine Hand vor Mund und Nase zu halten.
»Schon bald wirst du deinen ersten Auftrag erhalten, und ich werde dich begleiten. Ich bin davon überzeugt, dass wir unseren Spaß miteinander haben werden.«
*
Als es Bairani wenige Tage später gelang, durchzubrechen, war es auf einmal ganz leicht. Jess verlor zunächst die Orientierung und blinzelte in die Welt aus Schatten und Strömungen, die sich vor seinen Augen öffnete. Er sah sich im Raum um. Es war die gleiche Blickweise, die er im Kampf wählte, damit er alles um sich herum detailliert wahrnehmen konnte. Zu seinem Erstaunen konnte er vollkommen klar denken und nahm auf seltsame Weise die Welle des Triumphes wahr, die durch den Obersten Seher und Torek schoss. Einer der Wachen trat zu ihm und befreite ihn von seinen Ketten. Dem Mann war das Geschehen völlig gleichgültig. Er mochte bereits ganz andere Dinge in diesem Raum gesehen haben. Jess vermied es, sich die schmerzenden Handgelenke zu reiben. An den Stellen, an denen die Ketten seine Gelenke aufgescheuert hatten, war die Haut blutig und entzündet. Plötzlich musste er zu der Wache sehen. Der Mann hatte sich an die Höhlenwand zurückgezogen.
»Gleich, was geschieht, es wird nicht eingegriffen.« Toreks Stimme drang nur undeutlich zu ihm. Im gleichen Moment trieb ihn eine unsichtbare Kraft voran. Jess sprang auf den Mann zu, der immer noch die Ketten in seinen Händen hielt. Ehe dieser reagieren konnte, riss Jess ihm das Langmesser aus dem Gürtel und tötete ihn mit einem gezielten Stich ins Herz. Ein überraschter Aufschrei des zweiten Wächters erfüllte den Raum. Jess wirbelte herum und warf das Messer nach ihm. Der Mann war bereits tot, als sein Körper schlaff auf dem Boden aufschlug. Der Schaft des Messers ragte aus seiner Brust.
Jess war völlig verwirrt. Warum hatte er das getan? Unsicher stand er in der Höhle. Als er das begeisterte Klatschen von Bairani und Torek hörte, begriff er langsam.
Bairani!
Widerspruchslos ging er zum Thron des Obersten Sehers und kniete sich vor ihm nieder. Jess fühlte sich wie in einem Alptraum gefangen. Alles was er hier tat, war nicht er selbst, sondern Bairani in seinem Kopf, der ihn lenkte.
Auf einen Ruf Toreks erschienen neue Wachen, die ihn wieder in Ketten legten. Dann wich der Druck aus seinem Kopf, und sein Blick klärte sich. Jess wischte sich über die brennenden Augen und sah zu Bairani. Der Oberste Seher saß erschöpft auf seinem Stuhl und lächelte ihn wortlos an.
*
»Du darfst gehen.« Torek lächelte vergnügt. »Du darfst dich auf der Insel frei bewegen. Es gibt jetzt keinen Ort mehr für dich, an dem du unserem Ruf nicht mehr folgen wirst. Bei Sonnenuntergang treffen wir uns am Hafen.«
Jess starrte ihn gedemütigt an. Er war nicht mehr in der Lage zu antworten. Ihm fehlte selbst die Kraft, um noch aufstehen zu können. Seltsam losgelöst bemerkte er seine kniende Position. Torek hatte Recht behalten. Er war nun nichts weiter als eine Marionette, die blind an ihren Fäden den Befehlen von zwei Wahnsinnigen folgen würde. Was hatte er getan? Wie hatte er sich darauf einlassen können?
Kälte kroch in seine Glieder, die ihn wieder unbehaglich zittern ließ. Langsam und schwerfällig richtete er sich auf, bemüht, so aufrecht wie möglich zu gehen. Niemand sagte noch ein Wort, niemand hielt ihn auf, als er sich endlich umdrehte und die Halle mit kraftlosen Schritten verließ. Der Weg erschien ihm länger als die Male zuvor und dunkler. Als hätten sie ihm den Weg freigemacht, begegnete er keiner Menschenseele, bis er die Höhlen verließ und geblendet auf den Weg starrte, der ins Dorf und zur Bucht hinunter führte.
Wo sollte er hingehen? Jess blinzelte und wischte sich über die schmerzenden Augen, die das grelle Sonnenlicht nach den dunklen Tagen in den Höhlen kaum ertragen konnten. Er fühlte sich ausgebrannt und schmutzig, und das lag nicht allein daran, dass er seit Tagen kein Wasser mehr gesehen hatte.
Zur Treasure zurück und endlich schlafen? Ein sehnsüchtiges Ziehen antwortete ihm, als ob die Treasure selbst darauf brannte, endlich wieder seine Füße auf ihren Planken zu spüren. Zögernd setzte er sich in Bewegung. Im Moment gab es kein anderes Ziel.
Noch während er schwerfällig dem Weg durch den Dschungel folgte, überkamen ihn Zweifel. Was wollte er auf seinem Schiff? Er würde sich früh genug der neuen Mannschaft stellen. Jess blieb stehen und sah sich kurz um. Dann schlug er sich kurzerhand in den Dschungel und folgte einfach seinem Instinkt. Beinahe war es, als wäre er diesen Weg erst gestern gegangen. Wie von selbst lenkten seine Schritte ihn in eine Richtung, gingen den Berg hinab, bis er das leise Wispern von sanften Wellen hören konnte. Als er am Ende des Dickichts die letzten Pflanzen zerteilte und auf den Strand hinaustrat, war es, als wäre er wirklich erst gestern hier gewesen. Der Strand lag genauso da wie damals, als er das letzte Mal hier Tamaka getroffen hatte. Die Felsen, auf die er sich immer zurückgezogen hatte, bis der Seher gekommen war, standen unberührt von all den vergangenen Ereignissen da und würden hier auch immer noch so gleichgültig stehen, wenn es Jess Morgan schon lange nicht mehr gab. Selbst die Palmen standen noch dort, vielleicht durch die Last der Jahre ein wenig mehr dem Meer zugeneigt.
Jess atmete tief durch. Die Erinnerungen überwältigten ihn mit aller Macht und drängten sich ihm auf. Vielleicht lag es einfach daran, dass er sich heute genauso verloren und einsam fühlte wie in jenen Tagen. Wie dankbar war er Tamaka gewesen, der seine Wunden versorgt und dabei die Geschichten der Waidami erzählt hatte.
»Aber wieso hat die Göttin das alles zugelassen? Sie hatte Pa’uman doch zurück? Warum hat sie nicht dafür gesorgt, dass die Menschen keinen weiteren Kummer erleiden?«, hatte er gefragt, als er die Legende der Göttin Thethepel hörte. Der Seher hatte geheimnisvoll gelächelt, als er antwortete: »Weil sie blind vor Liebe war. Und diese Blindheit ist ihr letztendlich zum Verhängnis geworden. Thethepel und Pa’uman wurden für ihre Selbstsucht bestraft.« Auf seine weitere Frage, um welche Strafe es sich gehandelt habe, hatte er keine Antwort mehr erhalten. »Das wirst du früh genug erfahren«, war alles gewesen.
Jess war es beinahe so, als könnte er Tamakas Gegenwart spüren. Doch niemand außer ihm befand sich an diesem Strand. Wie damals ging er entschlossen zum Wasser. Er entledigte sich kurzerhand seines verschwitzten Hemdes. Achtlos ließ er es in den feinen Sand fallen und lief in die leichte Brandung. Jess holte tief Luft und tauchte. Knapp über dem weichen Sandboden glitt er hinaus, holte nur kurz an der Oberfläche Luft und tauchte erneut. Anschließend ließ er sich eine Weile treiben und starrte in den leicht bewölkten Himmel. Das Blau verlor langsam aber deutlich an Farbe. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und er zögerte die Begegnung mit der Monsoon Treasure und seiner neuen Mannschaft hinaus.
»Du versteckst dich«, mahnte ihn seine innere Stimme. Mit einem langen sehnsüchtigen Blick über das Meer schwamm er zurück an Land. Als er ans Ufer watete, spürte er es sofort. Er war nicht mehr allein. Eine leichte Strömung verbarg sich hinter dem großen Felsen, angespannt und ängstlich. Aufseufzend beschloss er, die Strömung zu ignorieren, da derjenige in seinem Versteck offenbar keine Gefahr darstellte. Mit einem letzten Blick auf das immer dunkler werdende Meer hob er sein Hemd vom Sand auf.
»Jess?«
Die Stimme hinterließ eine eiskalte Spur in ihm, obwohl sie oder vielleicht, weil sie so samtweich war. Überrascht sah er auf. Aus dem Schatten des Felsens löste sich eine Frau. Lange schwarze Haare fielen in üppigen Locken über die Schultern und umrahmten ein ebenmäßiges Gesicht mit großen tiefbraunen Augen, die ihn erwartungsvoll ansahen.
»Jess?«, wiederholte sie vorsichtig und trat langsam auf ihn zu.
Jess ließ seinen Blick über sie gleiten. Sie trug eines der inseltypischen langen Tücher, das hinter dem Hals zusammengebunden war und ihre gertenschlanke Figur umschmeichelte. Das leuchtende Rot mit den großen weißen Blüten darauf betonte ihre exotische Schönheit.
»Shamila«, entgegnete er endlich und lächelte sie an. Ihre Züge entspannten sich zusehends, und sie lächelte glücklich zurück.
»Es ist also wahr? Du kannst dich tatsächlich daran erinnern, was vor der Verbindung war?« Sie zögerte kurz und trat dann noch einen Schritt näher. »Du kannst dich auch an …«
»… dich erinnern. Ja!«, beendete er den Satz. Sie hatte eine atemberaubende Ausstrahlung, die für einen Moment die Last von seinen Schultern hob. Eine Leichtigkeit erfüllte ihn, die so gar nicht zu dem gerade Erlebten passen wollte. Trotzdem gab er sich dem hin, griff danach, als wäre es ein Stück Treibholz in stürmischer See. Er lächelte sie an und sagte:
»Sagen wir, ich kann mich an das kleine Mädchen erinnern, das seine dicken Arme immer so fest um meinen Hals geschlungen hat, als wollte es mich erwürgen.«
Shamilas Augen leuchteten in der Erinnerung daran auf. Ihre vollen Lippen öffneten sich zu einem leisen Lachen. Jeden Morgen hatte sie ihn so begrüßt. Ihre Arme hatten ihn umklammert, und dann hatte sie sich mit dem ganzen Gewicht eines unbeholfenen pummeligen Kindes an ihn gehängt, bis er sie lachend hochgehoben und auf seine Schultern gesetzt hatte.
»Allerdings hast du keine Ähnlichkeit mehr mit der lästigen kleinen Wanze von einst«, setzte er noch hinzu. Sie löste in ihm etwas aus, das er nicht erklären konnte. Ein warmes Gefühl sickerte in sein Innerstes. Dennoch schluckte er die Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Sie war wunderschön geworden.
Eine leichte Röte huschte über ihre Wangen, doch sie sah nicht beschämt weg, wie er es erwartet hatte. Plötzlich wurde er sich ihrer Strömungen bewusst. Eine Welle der Zuneigung ging von ihr aus, stark und impulsiv, begleitet von einem heftig trommelnden Herzschlag. Die Erkenntnis traf ihn, machte ihn für einen Atemzug lang sprachlos.
Shamila war verliebt in ihn. Unvermittelt hatte er Torek vor Augen, wie er am Tag ihrer Ankunft auf ihren Anblick reagiert hatte. Vor ihm stand die Frau, die Toreks Herz gewonnen hatte. Aber offenbar empfand sie nicht das Gleiche für ihn.
»Es ist schön, dass du wieder da bist, Jess«, sagte sie. Mitleid füllte ihre Augen, als sie weitersprach: »Auch, wenn die Umstände für dich wenig angenehm sein dürften.«
»Manchmal hat das Schicksal andere Pläne als man selbst«, antwortete er ausweichend, während sie ihn mit ihren warmen Augen durchdringend musterte.
Ihre Sehnsucht wuchs. Langsam schob sich ihr Körper näher, um ihn zu berühren.
»Torek liebt dich«, warf er ein, um sie aufzuhalten. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Er selbst fühlte sich von ihr angezogen. Erleichtert spürte er, wie sie erstarrte und verwundert einen Schritt zurück machte.
»Er ist ein grausamer Mann geworden.« Ihre Stimme klang verbittert. Nachdenklich sah sie von ihm fort aufs Meer hinaus. Auch ohne die Strömung zu lesen, spürte er, wie verletzt sie war. »Es gab eine Zeit, da habe ich auch etwas für ihn empfunden. Aber dann wurde er der Günstling meines Vaters. Er hat sich verändert. Aus dem liebenswerten Jungen ist ein sadistisches Monster geworden, das wohl kaum zu echter Liebe fähig sein kann. – Sieh nur, was er dir angetan hat.« Mit den letzten Worten überbrückte sie die Distanz zu Jess. Sie hob beide Hände und legte sie flach auf seine nackte Brust, direkt über der Tätowierung.
Jess stockte der Atem. Die Berührung war schlicht, aber so intensiv, dass sie seine mühsame Beherrschung wie einen dünnen Vorhang zu zerreißen drohte. Verlangen erfüllte ihn, ohne dass er bestimmen konnte, ob es seine eigene Empfindung war oder die ihre. Dennoch schob er sie sanft, aber bestimmt von sich. Sie hatte Gefühle für ihn, die er in dieser Art nur für eine Frau empfand. Sein Herz gehörte Lanea, alles andere entsprang einem körperlichen Verlangen, einer Suche nach Rettung für seine Seelenpein, nicht mehr. Entsetzt hob Shamila eine Hand vor den Mund, als ihr seine Ablehnung bewusst wurde, und starrte ihn aus großen Augen an. »Es … es tut mir leid. Ich hätte nicht …«
»Nein!« Jess nahm sanft ihre zitternde Hand in seine. »Es tut mir leid.«
Ein plötzliches Zupfen in seinem Bewusstsein erinnerte ihn daran, was sein eigentliches Ziel gewesen war. Torek wartete sicherlich schon ungeduldig im Hafen, um ihm seiner neuen Mannschaft zu präsentieren.
»Ich muss gehen«, flüsterte er und gab ihre Hand frei.
Er wandte sich um und ohne einen Blick zurück schlug er den Weg nach Süden ein. Mit weitausholenden Schritten steuerte er auf das Dorf und den Hafen zu. Überrascht bemerkte er, wie schnell er die ersten Masten sehen konnte. Der Strand lag näher am Dorf, als ihm bewusst gewesen war. Ein Wunder, dass damals niemand ihre heimlichen Treffen bemerkt hatte, oder täuschte er sich da? Die Fähigkeiten der Seher waren verwirrend und immer häufiger stellte er sich die Frage, was alles vielleicht von ihnen manipuliert wurde. Vielleicht waren auch die damaligen Treffen nicht unbemerkt geblieben, sondern ganz bewusst geduldet worden.
Ärgerlich wischte Jess die Erinnerungen zur Seite. Es brachte ihn nicht weiter, sich über die Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen. Was vor ihm lag, gab eindeutig mehr Grund zur Sorge.
Zielstrebig trat er zwischen die ersten Hütten. Nur wenige Dorfbewohner ließen sich sehen. Ein Kopf zog sich erschrocken zurück und schloss die Tür hinter sich, als er vorbeiging. Ein alter Mann saß mit einem kleinen Kind auf einer Bank im Schatten und zog es beschützend in seine Arme. Jess beachtete ihn nicht weiter, aber er erinnerte sich sehr gut daran, dass früher keiner der Piraten durch das Dorf hatte gehen dürfen. Jetzt wichen sie ihm erschrocken aus. Offensichtlich hatte sich hier Einiges geändert. Das erklärte auch, warum immer mehr Boote und kleine Segelschiffe mit Waidami auf Bocca del Torres Zuflucht gesucht hatten.
In der Bucht lag eine überwältigende Anzahl von Segelschiffen vor Anker. Jess blickte über die Schiffe und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Was hatte im Brief Tamakas gestanden? Die Übermacht der Waidami würde schon bald sehr groß sein? Daran hatte er jetzt keinen Zweifel mehr. In der Bucht lagen elf Segelschiffe, die hier noch nicht gewesen waren, als sie mit der Monsoon Treasure angekommen waren. Weiter draußen konnte er auch vereinzelte Masten ausmachen. Dann gab es noch die Werft und wer weiß wie viele Schiffe, die sich zurzeit auf Fahrt befanden. Jedes einzelne dieser Schiffe war mit Kanonendecks ausgestattet, die jeden spanischen Kapitän das Fürchten lehren konnten. Die Cacafuego war ein Fischerboot dagegen. Hoffentlich nahm Tirado das Schreiben Tamakas ernst und zögerte nicht, Hilfe aus Spanien zu erbitten. Sie würden diese dringend nötig haben.
»Beeindruckend, nicht wahr?«
Jess fuhr herum. An einer Fischerhütte lehnte Torek mit süffisantem Lächeln. »Und natürlich ist es nur ein kleiner Teil von unserer Flotte, die du hier siehst. Wir waren fleißig. Dein spanischer Gouverneur wird dem nichts mehr entgegenzusetzen haben. Vor allem jetzt nicht mehr, nachdem du wieder bei uns bist.«
»Wie konntet ihr so viele Schiffe in so kurzer Zeit bauen?«, fragte Jess, darum bemüht gleichgültig zu klingen.
»Wir haben eine weitere Werft gebaut, Tag und Nacht gearbeitet. Inzwischen gibt es auch den einen oder anderen Kapitän, der freiwillig zu uns gestoßen ist, um sich mit seinem Schiff verbinden zu lassen. Welcher Kapitän träumt nicht davon, eins zu werden mit seinem Schiff?« Torek stieß sich von der Hütte ab und trat dicht an Jess heran. Er hatte sämtliche Zurückhaltung verloren. Selbst die letzte Spur von Angst war aus seinen Augen verschwunden. Torek war sich seiner Macht über ihn absolut sicher. »Du hast schließlich auch alles daran gesetzt, um wieder mit der Monsoon Treasure verbunden zu werden, nicht wahr? Auch wenn der Preis dafür höher ist, als du dir hättest vorstellen können.«
»Wir werden sehen, wer den Preis dafür bezahlt«, entgegnete Jess knapp.
Torek lachte laut, dann zeigte er auf die Treasure. »Du wolltest sicher gerade auf dein Schiff hinübersetzen. Ich werde dich begleiten, deine neue Mannschaft wartet bereits ungeduldig darauf, ihren Captain kennen zu lernen.«
Jess ließ Torek einfach stehen und ging zum Bootssteg hinunter. Natürlich wollte sich dieser verdammte kleine Mistkerl das nicht entgehen lassen.
Noch während sie sich den dort liegenden Beibooten näherten, erhoben sich zwei Gestalten, die auf den Duchten gesessen haben mussten. Sie hatten die Sonne in ihrem Rücken, sodass Jess ihre Gesichter nicht sehen konnte. Beide Männer waren groß und breitschultrig. Als die grobschlächtigen Gesichter sich endlich aus dem Schatten bewegten, hatte Jess das undeutliche Gefühl, beiden schon einmal begegnet zu sein.
»Captain«, murmelten sie wie aus einem Mund. Während der eine ihm flüchtig zunickte, rührte sich der andere Mann kein Stück. Seine blassgrauen Augen ruhten abschätzig auf Jess.
»Wie sind eure Namen?«, fragte Jess und sparte sich jede Begrüßung, die ohnehin nicht erwartet wurde.
»Rees, Sir. Martin Rees«, sagte der, der genickt hatte. Eine wulstige Narbe zerteilte seine Unterlippe und zog sich von dort schräg über das Kinn. »Und das ist Gerard de Croix, ein Franzose.« Rees betonte es, als würde das alles erklären.
Gerard de Croix machte noch immer keine Anstalten, sich zu bewegen und reagierte erst, als Torek ihn anfuhr: »Rudert uns rüber zur Treasure, sofort!«
Der Mann zuckte mit den Schultern und hielt das Boot, während die Männer hineinstiegen. Dann löste er das Tau, und er und Rees begannen, in gleichmäßigen Schlägen über die Bucht zu rudern.
*
Torek genoss jeden einzelnen Ruderschlag, der ihn und Jess Morgan der Monsoon Treasure ein Stück näher brachte. Morgan saß mit steinerner Miene im Bug und sah über die Küste, als befänden sie sich auf einem Ausflug. Aber Torek ließ sich von dem gleichmütigen Äußeren des Piraten nicht täuschen. Zu lebhaft stand ihm noch der verletzte Gesichtsausdruck Morgans vor Augen, als Bairani und er ihn aus der Höhle entlassen hatten. Es war ein heftiger Schlag für seine Arroganz gewesen, als ihm bewusst wurde, dass sie mit ihm machen konnten, was sie wollten. Torek lachte leise auf in Erinnerung an den köstlichen Triumph, fühlte seinen Geschmack auf der Zunge wie einen vollmundigen Wein. Morgan bemerkte sein Vergnügen, schwieg aber weiterhin. Es war nur ein kurzer Blick gewesen, bevor er sich die Rudergasten besah. Sicher taxierte er sie, um festzustellen, mit wem er es zu tun hatte.
Jedenfalls waren sie geschickte Ruderer, die das Boot mit gekonnten Ruderschlägen längsseits an die Treasure brachten. Rees ergriff das Fallreep und sah dann abwartend zu Torek.
Gut! Ohne Zweifel wusste der Einfaltspinsel genau, wer das Kommando hatte. Und das musste auch Morgan spüren. Er würde ihm nicht den Vortritt lassen, der dem Kapitän eigentlich zustand. Für Morgan war es nur eine kleine weitere Qual. Der Seher warf ihm einen Blick zu. Sicher brannte der Pirat darauf, endlich wieder sein Schiff betreten zu können, nach all den Tagen an Land. Soweit Torek es beurteilen konnte, hatte Morgan sich geweigert, den Schlaftrunk zu sich zu nehmen, den er ihm gebracht hatte. Diese Sturheit, die er nebenbei erwartet hatte, hatte Morgan nicht weiter gebracht. Im Gegenteil. Torek war davon überzeugt, dass sie wesentlich länger gebraucht hätten, seinen Willen zu unterwerfen, wenn er ausgeruht gewesen wäre. Morgan hatte nicht die geringste Ahnung, wie schwer er es ihnen auch so schon bereits gemacht hatte.
Torek ergriff die Leiter und begann, daran hinaufzusteigen. Wie er diese Dinger hasste. Obgleich er inzwischen einige Übung mit dem Erklimmen dieser schwankenden Leitern hatte, fiel ihm dies immer noch schwer. Unbehaglich wurde ihm bewusst, was für eine lächerliche Gestalt er abgeben musste, während er ständig mit dem Gleichgewicht kämpfte, obwohl das Schiff nur leicht in der Brandung auf und ab dümpelte. Seine Laune sank mit jeder Sprosse, die ihn nach oben führte. Er brauchte dringend eine Aufmunterung.
Missgelaunt betrat Torek schließlich das Deck. Augenblicklich kam ein Mann auf ihn zu, seltsam gekrümmt, als trüge er eine unsichtbare Last, die seinen Rücken in grotesker Weise nach vorne beugte.
Noch bevor er etwas sagen konnte, trat Morgan hinter ihn.
»Alle Mann an Deck, Seemann«, befahl der Pirat mit einer Selbstverständlichkeit, die Torek ärgerte. Da war sie zurück, die Arroganz dieses Bastards. Morgans Hand glitt dabei wie zufällig über die Reling, aber Torek wusste, dass er den Zustand der Monsoon Treasure prüfen wollte.
Der Seemann sah Torek unsicher an, dann nickte er: »Aye, aye, Sir!«, und wiederholte den Befehl so laut, dass er bis in die hintersten Winkel des Schiffes dringen musste.
Als hätten sie nur darauf gewartet, versammelten sich die Männer an Deck. Torek suchte unter ihnen vergeblich nach einem Mann, den er fest unter ihnen erwartet hatte.
»Folgt mir auf das Achterdeck«, befahl Torek. Zu spät bemerkte er, dass Morgan bereits genau dorthin unterwegs war. Dieser verdammte Mistkerl! Übellaunig beeilte er sich, ihm zu folgen. Da der Pirat gelassen vor ihm herschritt, war es ein Leichtes ihn zu überholen. Noch bevor Morgan das Wort ergreifen konnte, stürzte Torek an die Balustrade des Achterdecks und räusperte sich lautstark. Alle Augen richteten sich gespannt auf ihn, doch noch immer konnte er nicht denjenigen ausmachen, den er suchte. Aufregung ergriff ihn.
»Männer!«, rief Torek gerade so laut, dass ihn alle Seeleute hören konnten. »Nachdem ihr ausreichend Gelegenheit hattet, euch mit eurem neuen Schiff bekannt zu machen, übergebe ich das Kommando Captain Jess Morgan, der unmittelbar meinem Befehl untersteht.« Torek verkniff sich ein vergnügliches Grinsen und machte eine übertriebene Verbeugung zu Jess hin, der inzwischen neben ihn getreten war und ihn eher belustigt als verärgert betrachtete.
»Ich denke, es erübrigt sich, mich vorzustellen. Jeder von euch hat von mir gehört, den ein oder anderen unter euch kenne ich bereits«, ergriff Jess das Wort, als sich plötzlich ein Schott öffnete und ein Mann das Deck betrat.
Torek unterdrückte nur mühsam den Impuls, sich schadenfroh die Hände zu reiben. Der Neuankömmling rieb sich mit einer Hand über den kahlen Kopf und gähnte unverhohlen, während er mit schweren Schritten auf das Achterdeck zusteuerte, als kümmerte es ihn nicht, die Ansprache seines neuen Captains zu unterbrechen.
»Darf ich dir deinen neuen Ersten Maat vorstellen?« Torek lächelte Jess an, der dem Mann entgegensah.
»McFee!«, sagte Morgan ruhig, doch die Kälte darin ließ selbst Torek leicht frösteln.
»Morgan« McFee stellte sich breitbeinig vor die beiden Männer, doch er schenkte Torek keinerlei Aufmerksamkeit, sondern sah nur Morgan an. Er gab sich nicht die geringste Mühe, den Hass zu verbergen, der in seinem Gesicht und seiner Stimme lag.
Ansatzlos schlug Morgan zu. Der Hieb traf McFee völlig unvorbereitet ins Gesicht und warf ihn rückwärts auf die Planken. Torek holte zischend Luft und starrte Morgan an, der sein Schwert gezogen hatte. Die Spitze zielte ruhig auf McFees Kehle. An Deck war es totenstill, niemand sagte ein Wort oder wagte sich zu rühren.
»Captain Morgan für dich, McFee!«, sagte der Pirat gedehnt. »Und wage es nie wieder, einem Befehl nicht augenblicklich nachzukommen.«
McFee richtete sich benommen auf. Sein vernarbtes Gesicht war eine einzige Maske aus Wut, Hass und Hilflosigkeit. Torek tanzte innerlich. Diese Demütigung war ein neues Glied an der langen Kette, die McFee Jess Morgan eines Tages um den Hals legen würde.
»Aye, Captain.« McFee spuckte die Worte voller Verachtung aus. Langsam erhob sich der muskulöse Mann. Seine Haltung war angespannt und einen flüchtigen Moment sah es so aus, als wollte er sich auf Jess Morgan stürzen. Doch die Spitze des Schwertes zeigte immer noch auf ihn, kein Zittern, nicht das geringste Anzeichen, dass Morgan nicht zustoßen würde, wenn sich ihm auch nur der geringste Grund bieten würde.
Torek grinste breit. Seine Laune stieg. Innerlich rieb er sich die Hände. Unter der dreiundzwanzigköpfigen Mannschaft befanden sich fünfzehn Männer der gesunkenen Darkness. Keiner dieser Männer würde auch nur dem kleinsten Befehl von Morgan folgen, wenn McFee ihn nicht billigte. Sie alle hassten Morgan und hatten noch nicht vergessen, dass er ihr Schiff versenkt und ihren Captain getötet hatte. Ein Zeichen von Bairani oder ihm genügte, und McFee würde die Hunde von der Leine lassen, die mit Freude ihre Beute zu einem langsamen Tod hetzen würden. Aber das musste noch warten, bedauerlicherweise. Die Vision war klar und deutlich. Gleich, welche Rolle der Pirat auch darin spielte, es gab keinen Zweifel, dass er bis zum glorreichen Sieg dabei sein musste.
Ruhig stand er also neben den beiden Männern auf dem Achterdeck, während Morgan seine Ansprache führte. Der Pirat war längst tot, er wusste es nur noch nicht.
*
Cristobal Tirado y Martinez stand im Hafen und schaute der Santa Esmeralda hinterher, auf der sich Lanea und Cale auf dem Weg zu einem neuen Leben befanden, - wenn es ihnen vergönnt sein sollte. Lanea war in den letzten Tagen unruhig und still gewesen. Ihre Gedanken mochten überall gewesen sein, aber sicher nicht bei der bevorstehenden Reise oder bei Cale Stewart, auch wenn dieser sich dies vielleicht wünschen mochte. Das Schiff setzte alle verfügbaren Segel und nahm schnell Fahrt auf. Es verschwand aus seinem Blickfeld, ohne dass er die beiden noch einmal gesehen hätte. Leise seufzte er auf. Die Opferbereitschaft von Jess Morgan forderte nicht nur von dem Piraten einen schrecklichen Preis, sondern auch von den Menschen, die ihm nahestanden. Hoffentlich war es das wert. Wieder seufzte er. Im Hafen lagen nur noch die Santa Ana und die Neptuno, die ebenfalls die letzten Vorbereitungen zum Auslaufen trafen. Langsam schritt er auf die beiden großen Segelschiffe zu, in die er all seine Hoffnung setzte. Sie waren stark bewaffnet, die Kapitäne alte Haudegen, die er seit Jahren erfolgreich gegen die Piraten der Karibik eingesetzt hatte.
Leise rumpelnd wurde Tirado von einer Kutsche überholt, die vor der Laufplanke der Neptuno anhielt. Der Wagenschlag öffnete sich und Capitan Mendez stieg heraus. Als er Tirado sah, tippte er kurz mit der Hand gegen seinen Hut und nickte ihm zu: »Señor Gouverneur.«
»Señor Capitan«, erwiderte Tirado den Gruß. »Mast- und Schotbruch und möge Gott Euch auf Eurem Weg begleiten.«
Mendez lächelte selbstsicher. Dabei legte sich sein wind- und wettergegerbtes Gesicht in unzählige Falten. »Macht Euch keine Gedanken, Señor Gouverneur. Die Santa Ana und die Neptuno sind gut gerüstet. Dieses vermaledeite Inselpack wird uns nicht aufhalten können, dessen bin ich mir sicher. Wir haben schon ganz andere Schlachten geschlagen.«
»Ich wünschte, es wäre so einfach. Einer von Euch muss nach Spanien durchkommen, koste es, was es wolle, Capitan. Von Eurem Erfolg hängt womöglich unser aller Leben ab.«
»Bei allem gebotenen Respekt, Señor Gouverneur. Aber Spanien ist eine Weltmacht. Noch sehe ich keine wirkliche Bedrohung durch die Waidami. Es handelt sich doch bisher eher um kleine Aufmüpfigkeiten von ein paar Wilden, nichts, was wir nicht selbst niederschlagen könnten.«
»Ihr habt Recht.« Tirado nickte. »Aber dies wird sich schon bald ändern, fürchte ich.« Abrupt verstummte er, als er den zweifelnden Blick von Mendez sah. Der Mann glaubte ihm nicht. Wie auch? Waren sie doch alle mit der Arroganz aufgewachsen, dass sich nichts und niemand gegen das mächtige Spanien zu stellen vermochte. Diese Arroganz würde ihnen jetzt zum Verhängnis werden. Niemand hier oder bei Hofe würde die bevorstehende Niederlage auch nur in Betracht ziehen, bis es zu spät war. Plötzlich wusste er mit untrüglichem Instinkt, dass, sollten die Santa Ana und die Neptuno das Unmögliche schaffen und Spanien erreichen, von dort keine Hilfe kommen würde. Der Hof würde ihn für seinen Hilferuf auslachen und jemanden senden, der ihn von seinem Posten ablösen würde. Waidami würde am Ende erfolgreich sein.
Hastig verabschiedete er sich und ging zurück zu seiner Kalesche, die auf der Pier stand, von der die Santa Esmeralda in See gestochen war. Er konnte das Geschehen nicht aufhalten, das musste er wohl endlich einsehen.
*
Am nächsten Morgen saß Jess in seiner Kajüte und aß das Frühstück, das Gerard gebracht hatte. Obwohl er wieder auf der Treasure war, hatte er schlecht geschlafen, weil er die Verbindung zu ihr abgeblockt hatte. Nach dem gestrigen Auftakt mit McFee wollte er alleine sein. Den Drang, den ehemaligen Ersten Maat seines Erzfeindes Stout sofort zu töten, vergrub er in der Leere, in der er all seine Empfindungen verbarg. Weder Hass noch Zweifel oder gar Furcht vor dem, was vor ihm lag, durften ihn von seinem Weg abbringen. McFee als Ersten Maat auf die Treasure zu bringen, war mehr als ein übler Scherz von Torek. Wenn er sich nicht irrte, waren ein Großteil seiner neuen Männer ehemalige Crew-Mitglieder der Darkness. McFee würde der heimliche Kommandant an Bord sein und keine Zeit ungenützt verstreichen lassen, um den Rest ebenfalls auf seine Seite zu ziehen. Doch der Zweck, den Torek damit verband, war ihm nicht klar. Unstimmigkeiten in einer Crew würden Toreks Ziele nur gefährden. Lustlos zerbröckelte er das Brot unter seinen Fingern und spielte mit den Krümeln, schob sie hin und her und zerdrückte sie impulsiv mit der flachen Hand. Frustriert schob er den Stuhl zurück und wollte schon aufstehen, als Schritte vor der Tür erklangen. Überrascht blieb er sitzen. Er war es nicht gewöhnt, Besucher nicht rechtzeitig zu bemerken. Das konnte nur eins bedeuten.
Die Tür wurde geöffnet, und Torek trat mit zynischem Lächeln ein.
»Morgan«, sagte er eine Spur zu freundlich. »Du hast gerade gefrühstückt, wie ich sehe. Das trifft sich gut, denn es wartet ein Auftrag auf uns.«
Jess zog fragend eine Augenbraue hoch. »Ein Auftrag welcher Art?«, fragte er.
Torek nickte und schlenderte durch den großzügigen Raum, dabei betrachtete er neugierig jede Einzelheit, umrundete den Kartentisch und setzte sich dann auf einen freien Stuhl. Wie selbstverständlich nahm er Jess‘ Becher und schenkte sich aus dem danebenstehenden Krug von dem leichten Wein ein. »Zwei Schiffe wollen von Cartagena kommend nach Spanien segeln. Wir müssen sie aufhalten.« Torek nahm einen Schluck und betrachtete ihn dabei über die Ränder des Gefäßes hinweg.
Kuriere, unterwegs mit einer Bitte um Verstärkung. Tirado hatte keine Zeit verloren, aber offensichtlich doch noch zu lange gezögert. Jess stand auf und beugte sich über die Karte, die eine Gesamtansicht der Karibik zeigte. »Wo befinden sie sich zurzeit?«
»Sie haben erst heute Morgen den Hafen verlassen und können folglich noch nicht weit sein.«
»Ihr wisst es also nicht genau? Sind Eure Visionen so unbestimmt?«
Torek schnaufte verärgert. »Wir wissen, welche Route sie einschlagen.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Karte. »Dort werden sie vorbeikommen.«
»Seid Ihr sicher?« Jess betrachtete den Punkt, der genau nördlich vor der Insel Carriacou lag. Viele kleinere Inseln, die eine Flucht ermöglichen oder, je nach Geschick des Gegners, vereiteln konnten. Doch die Route war geschickt gewählt, wenn man es nicht gerade mit einem Gegner zu tun hatte, der schon die Route kannte, bevor man diese selbst antrat. Vermutlich wollten sie Barbados anlaufen, bevor sie von dort die Atlantik-Überquerung starteten. Es würde mit einem Seher an Bord nicht schwer sein, sie dort zu stellen.
»Gut, stechen wir in See«, sagte er, sah von der Karte auf und traf auf Toreks Blick. Für einen Moment überlegte er, ob er noch etwas hinzufügen sollte, unterließ es aber. Er wandte sich um und ging einfach hinaus. Die leicht tapsenden Schritte von Torek folgten ihm eilig, bemüht seinen Schritten hinterherzukommen.
Gemeinsam betraten sie das Hauptdeck, auf dem schon emsige Betriebsamkeit herrschte. McFee scheuchte die Männer umher. Das Rasseln der Ankerkette überraschte ihn und auch die Männer, die bereits in die Wanten stiegen, um Segel zu setzen.
»Ich habe McFee bereits den Befehl erteilt, auszulaufen«, keuchte Torek neben ihm außer Atem. »Wir sollten keine Zeit verlieren.«
»Wenn Ihr das Kommando an Bord übernehmen wollt, Seher«, knurrte Jess grimmig, »dann frage ich mich, warum ich noch an Bord bin. Oder fürchtet Ihr, die Tätowierungszeremonie könnte zu schmerzhaft für Euch sein?«
Torek öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Jess ignorierte ihn.
»McFee!«, rief er. Die Spanier hatten ungefähr die gleiche Distanz nach Carriacou zu überbrücken wie die Monsoon Treasure. Wenn sie nicht rechtzeitig die Stelle erreichten, würden die beiden spanischen Schiffe möglicherweise den Atlantik erreichen.
Der Erste Maat drehte sich widerstrebend um und trat dann zu ihnen.
»Captain?«, knurrte er unfreundlich.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Spanier werden nach Barbados sicher getrennte Kurse setzen, um die Möglichkeit zu erhöhen, dass wenigstens einem Schiff unbehelligt die Überfahrt gelingt. Das müssen wir verhindern. Lass sämtliches Tuch setzen. Du stehst mir persönlich dafür ein, dass wir die entsprechende Position rechtzeitig erreichen.«
McFee blickte hastig auf den Seher, der zwischen ihnen viel zu klein und schmächtig wirkte.
»Aye, Sir! - Klar zum Segelsetzen, ihr verlausten Deckratten. Heiß auf Großsegel!« McFee wandte sich ab und brüllte augenblicklich neue Befehle über Deck.
Jess ging zum Achterdeck. Torek war ihm gefolgt wie ein Schatten. Das schmale Gesicht des Sehers wirkte leicht enttäuscht, dass es zu keinen Unstimmigkeiten gekommen war. Jess ignorierte ihn und beobachtete stattdessen das Auslaufmanöver. Eines musste er McFee lassen: Er verstand sein Handwerk und hatte die Leute im Griff, die sich beinahe überschlugen, seinen Befehlen nachzukommen. Schneller wären sie auch nicht mit seiner alten Crew ausgelaufen.
Unwillkürlich blickte er über die vor Anker liegenden Schiffe. Wo mochte seine Mannschaft wohl sein? Er hatte die letzten Tage jeden Gedanken an seine Männer, nein, seine Freunde verdrängt. Seinetwegen hatten sie sich hierher begeben und waren jetzt auf eine andere Art in Ketten gelegt. Sein Gewissen wog schwer. Jess hob die Hand und legte sie an den Mast. Augenblicklich sprang die Monsoon Treasure auf ihn über und packte ihn, zog sein Bewusstsein in ihre Umarmung. Vorsichtig glitt sie in den Rumpf hinab und von dort ins Meer. Dort verharrte sie für einen Augenblick schwerelos dümpelnd in der leichten Dünung der Bucht, bevor sie pfeilschnell auf den Rumpf eines anderen Schiffes zuschoss und sich an diesen schmiegte. Als würde eine Tür geöffnet, drangen sie in das alte Holz und wanderten durch das Schiff. Jess keuchte auf, als er unvermittelt auf die Strömungen von Kadmi, N’toka und Dan stieß. Sie waren ruhig und gleichmäßig. Es gab keine Anzeichen, dass sie verletzt waren. Erleichterung erfüllte ihn, aber die Sorge um die anderen blieb. Die Treasure zog sich mit ihm zurück ins Meer und steuerte das nächste Schiff an. Auch hier drangen sie in das Schiff ein und fanden die Strömungen von dem holzbeinigen McPherson, Jintel, Sam, Ian, Riccardo und Lorenzo. Auch sie schienen unversehrt.
Ansatzlos lief ein Zittern durch die Monsoon Treasure und riss ihn aus dem fremden Schiff. Sein Bewusstsein wurde zurückgeschleudert und förmlich auf das Deck der Monsoon Treasure katapultiert. Jess stöhnte auf und hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest, um nicht zu stürzen. Ein ziehender Schmerz fuhr durch seinen Körper und trennte die Verbindung. Nur langsam klärte sich sein Blick. Er schluckte schwer. Neben ihm stand Torek, beobachtete ihn interessiert und fragte lauernd:
»Stimmt etwas nicht?«
Jess bemerkte erstaunt, dass sie bereits die Bucht verließen. Ob die Entfernung zu den anderen Schiffen zu groß geworden war? Oder hatte Torek etwas damit zu tun, dass er so plötzlich aus der Treasure gerissen worden war? Wenn ja, würde er dies kaum zugeben. Jess‘ Muskeln zitterten, wie nach einer großen körperlichen Anstrengung. Der Seher durfte diese Reaktion nicht bemerken. Langsam löste er die Hände von der Reling und richtete sich wieder auf.
»Wollt Ihr von mir eine ehrliche Antwort, Seher?«, fragte er kühl. »Ihr seid an Bord, das stimmt nicht! Sollte sich für mich nur eine einzige Gelegenheit ergeben, dass Ihr über Bord geht, dann bei der Göttin, werde ich diese nutzen.«
»Du überschätzt dich.« Torek kniff verächtlich die Lippen aufeinander, aber sein Gesicht war eine Spur bleicher geworden. Mit der rechten Hand griff er nach dem Amulett und umklammerte es. »Und du vergisst, mit wem du redest.«
»Wie könnte ich das?«
Für einen Moment überlegte Jess, das Achterdeck zu verlassen und McFee das Kommando zu überlassen. Torek würde schon dafür sorgen, dass sie den richtigen Kurs einschlugen und die beiden Schiffe nicht verpassten. Aber diese Blöße wollte und durfte er sich nicht geben.
Also blieb er und begann, sich danach zu sehnen, endlich auf die gesuchten Spanier zu treffen, um sie mit all der Wut, die er für Torek empfand, auf den Grund des Meeres zu schicken.
*
Am späten Nachmittag des dritten Tages segelten sie von Norden kommend auf die Insel Petit St. Vincent zu. Aufgrund des günstigen Windes hatte Jess unterwegs beschlossen, den beiden Schiffen aus dieser Richtung entgegen zu segeln. Beide Ausgucke waren besetzt. Die Männer riefen in regelmäßigen Abständen ihre Berichte herab. Jess stand im Bug und starrte nach vorn. Inzwischen war Carriacou auf Sichtweite heran, aber noch waren keine Mastspitzen auszumachen.
»Sie müssen jeden Moment auftauchen.«
Langsam wandte sich Jess zu Torek um, der ihm den ganzen Tag wie ein Schatten gefolgt war. Er wirkte bleich. Mit großen Augen starrte er an Jess vorbei, als könnte er so die Schiffe schneller herbeilocken. Dabei spielte seine Hand unermüdlich mit dem Amulett.
»Ihr habt Angst!«, stellte Jess fest.
Die großen Augen richteten sich widerstrebend auf ihn. »Wo ist bei einem Gefecht der sicherste Platz auf einem Schiff?«
Jess musterte den dünnen Seher von Kopf bis Fuß und konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. »Es gibt während eines Gefechtes keinen sicheren Platz auf einem Schiff, Seher«, sagte er betont langsam und mit Genuss. »Vielleicht schaut Ihr einmal in Euren Visionen nach, wo Ihr Euch am besten verkriechen könnt.«
Toreks Miene verfinsterte sich zusehends. Er öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, als der Ruf des Ausgucks sie unterbrach: »Mastspitzen Backbord voraus!«
»Siehst du«, triumphierte der Seher und deutete nach vorne. Jess schwieg und zog stattdessen das Spektiv hervor. Um die Nordspitze Carriacous schoben sich gerade zwei Dreimaster, die die spanische Flagge gehisst hatten.
»Diese verdammten Spanier scheinen wirklich zu glauben, dass sie sich an uns vorbeischleichen können.« Torek lachte abfällig. »Sind sie stark bewaffnet?«
Jess betrachtete immer noch die Schiffe. Er hatte sie beide sofort erkannt. Es waren die Neptuno und die Santa Ana, die ihnen hoch am Wind entgegensegelten. Beide Schiffe waren bei der großen Schlacht gegen die Waidami dabei gewesen. Er selbst hatte das Kommando über die Neptuno gehabt. Es waren gute Männer an Bord. Wütend presste er die Lippen aufeinander.
»Sind sie stark bewaffnet, habe ich gefragt!« Toreks aufgeregte Stimme drang in sein Bewusstsein.
Nur zögernd ließ Jess das Spektiv sinken und schenkte dem Seher einen kalten Blick. »Es sind Schlachtschiffe, was erwartet Ihr?«
»Willst du denn nicht die Kanonen rausholen lassen?«
Jess wandte sich ab und steuerte das Achterdeck an. Es widerstrebte ihm zutiefst, diese Schiffe anzugreifen. Die Männer waren ihm während seiner Zeit an Bord zwar mit Vorsicht begegnet, aber ohne ihre Hilfe hätte er die Monsoon Treasure nicht zurückerobern können. Jetzt sollte er sie zum Dank dafür auf den Meeresboden schicken? Nachdenklich warf er einen Blick auf Torek, der ihm wie immer gefolgt war. Hass wallte in ihm auf. Dieser verdammte Mistkerl klammerte sich unablässig an das Amulett. Irgendwann musste er dieses Ding doch einmal loslassen. In seinem Gesicht spiegelte sich Nervosität. Offenbar war seine Angst vor dem Gefecht doch so groß, dass er noch nicht bemerkt hatte, in welchem Zwiespalt Jess sich befand. Gut so.
»Kurs halten! Alles auf Gefechtsstationen!«, rief Jess. »Die Stückpforten bleiben geschlossen.«
»Was? Wieso?« Torek sah ihn fassungslos an, während Bewegung in die Crew geriet. Schnell, aber ohne übertriebene Hast folgten sie dem Befehl.
»Weil es noch nicht der passende Augenblick ist«, entgegnete er knapp.
Vielleicht wussten die Spanier noch nichts davon, dass die Monsoon Treasure wieder für die Waidami segelte. Doch ein Blick durch das Spektiv belehrte ihn eines Besseren. Noch machten sie zwar nicht die geringsten Anzeichen sich für ein Gefecht vorzubereiten, aber Capitan Mendez beobachtete ihn ebenfalls durch ein Fernrohr. Ihm konnten die Vorbereitungen an Bord der Monsoon Treasure nicht verborgen bleiben, auch wenn die Stückpforten immer noch geschlossen blieben. Eisern hielten die beiden spanischen Schiffe weiterhin auf sie zu, ohne dass etwas geschah. Im Grunde hatten sie auch keine andere Möglichkeit als sich dem Gefecht zu stellen. Wenn er die Schiffe hier versenkte, würden die Überlebenden ohne Schwierigkeiten an Land schwimmen können. Es mussten nicht alle sterben.
»Auf meinen Befehl hin werden die Stückpforten geöffnet und gefeuert!«, rief Jess McFee zu.
»Aye, aye, Sir!«
Auf der Neptuno wurden die Kanonen ausgerannt, die Santa Ana folgte kurz darauf ihrem Beispiel. Damit zeigte sie ebenfalls ihre Gefechtsbereitschaft und fiel hinter die Neptuno ab. Beide Schiffe würden auf diese Weise leicht versetzt an der Backbordseite der Treasure vorbeilaufen und sie damit kurz hintereinander unter Beschuss nehmen können. Jess sah, wie die Männer an Deck neugierig zu ihnen herüber sahen. Für den Moment schienen sie noch unsicher zu sein, ob von der Monsoon Treasure tatsächlich Gefahr ausging. Die Neptuno würde jeden Moment parallel zur Treasure laufen und machte nicht den Anschein zuerst das Feuer eröffnen zu wollen. Jess wartete, während Torek neben ihm ungeduldig auf seinen Füßen hin und her trat.
»Mach schon, verdammter Pirat!«, zischte er. Es war der Augenblick, in dem Jess laut brüllte: »Volle Breitseite! FEUER FREI!«
Beinahe gleichzeitig flogen die Stückpforten hoch, und die Kanonen wurden ausgerannt. Das Deck erzitterte unter der Wucht der Schüsse. Einen Atemzug später schlugen die Kugeln mit unglaublicher Gewalt auf der Neptuno ein. Schreie erklangen, als der Besanmast unter lautem Bersten und Krachen auf das Deck stürzte und Männer unter Segel und Tauen begrub. Zwei große Löcher klafften in der Bordwand. Das Heck hatte auch einen Treffer abbekommen, der die gerade erst reparierte Ruderanlage beschädigt hatte. Capitan Mendez’ Befehle übertönten den Lärm, in dem Versuch dem Chaos Einhalt zu gebieten. Jedoch hatte die kurze Unsicherheit und das Zögern des Capitans zuvor wertvolle Zeit gekostet, wodurch die Kanonen der Neptuno erst verspätet das Feuer erwiderten und ihre Ladungen nutzlos hinter die Treasure in die See spuckten.
»Hart Backbord! Kanonen nachladen«, schrie Jess. Noch während von der Neptuno weiter hektische Befehle herüberschallten, schwenkte die Monsoon Treasure hinter dem breiten Heck des spanischen Dreimasters nach Backbord aus, um der Santa Ana ihre Steuerbordbreitseite zu präsentieren. Die Männer der Santa Ana schienen besser vorbereitet zu sein, als ihre Begleiter. Nacheinander leuchteten die Kanonenmündungen auf. Drei große Wassersäulen stiegen vor der Monsoon Treasure aus dem Wasser auf. Während zwei Kugeln über das Hauptdeck fegten, schlug eine weitere in einem der unteren Decks ein. Ein paar Männer schrien auf, andere versuchten, den Geschossen auszuweichen. Eine Kugel traf das Achterkastell. Holzsplitter flogen umher. Jess stöhnte unter den Schmerzen, die die Treffer verursachten, und hob schützend den Arm vor das Gesicht, während sich Torek mit einem lauten Aufschrei der Länge nach auf den Boden warf und seinen Kopf unter den Armen begrub.
»FEUER!«, rief Jess. Diesmal brüllten die Kanonen der Steuerbordseite auf und spuckten Tod und Verderben auf die Spanier hinüber. Zwei Schüsse schlugen vor dem Schiff ein. Der Rest traf und zerschlug das Schanzkleid. Männer wirbelten wie Puppen über das Deck. Eine Kugel traf den Fockmast, beschädigte ihn aber nur leicht.
Jess sah zur Neptuno hinüber. Die Ruderanlage schien doch schwerer beschädigt zu sein, als es den Anschein gehabt hatte. Das Schiff trieb hilflos auf das Ufer der kleinen Insel zu. Demnach schied es als weiterer Gegner aus, und er wandte sich wieder der Santa Ana zu, die angeluvt hatte und jetzt auf die Treasure zuhielt.
»Steuerbord!«, befahl Jess.
Langsam schwenkte die Treasure herum. Beide Schiffe segelten aufeinander zu.
»Breitseite klar machen zum Feuern! Zielt auf die Wasserlinie.«
Die Schiffe näherten sich schnell. Beinahe gleichzeitig brüllten die Kanonen auf und fegten wie tödliche Dämonen über das Wasser. Schreie erklangen, als die Kugeln der Santa Ana das Schanzkleid der Treasure durchbohrten und einige Männer getroffen wurden. Doch die Schüsse waren zu hoch gezielt und richteten keinen großen Schaden an. Die schlimmsten Verwüstungen kamen von den umherfliegenden Holzsplittern, die sich wie hinterhältig abgeschossene Pfeile auf den Weg nach Opfern machten und diese auch fanden. Auf der Santa Ana hingegen zerschlugen die gut gezielten Schüsse der Treasure den Rumpf dicht unterhalb der Wasserlinie. Wasser schoss durch die Lecks in das Innere und besiegelten das Schicksal des Schiffes. Jubelnd und grölend feierten Jess‘ Männer den Anblick der sterbenden Santa Ana, als sie langsam aus dem Ruder lief.
Die Neptuno war auf Grund gelaufen und die Santa Ana sank über Bug. Diese Schiffe würden keine Nachricht mehr nach Spanien bringen.
Hinter Jess rappelte sich Torek langsam auf.
»Ihr scheint einen sicheren Platz gefunden zu haben, Seher. Ihr seid unversehrt, wie ich sehe.«
Torek warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Was ist mit den Überlebenden?«, fragte er mit einem Blick auf einige Männer, die von der sinkenden Santa Ana auf die Insel zu schwammen.
»Was soll mit ihnen sein? Ziel war es zu verhindern, dass diese beiden Schiffe nach Spanien segeln. Ich denke, dieses Ziel ist erreicht.«
»Töte sie.«
»Ich töte keine wehrlosen Männer«, knurrte Jess abfällig.
»Oder tötest du sie nicht, weil du sie kennst?«
Jess warf ihm einen überraschten Blick zu. Torek lächelte triumphierend: »Meinst du, ich wüsste nicht, dass du auf diesem Schiff dort«, und damit deutete er auf die auf der Seite liegenden Neptuno, »gesegelt bist, als du dir dein Schiff zurückgeholt hast? Halte mich nicht für so einfältig, Morgan.«
»Ich sehe dennoch keinen Grund darin, wehrlose …«
Torek schnitt ihm mit einer Bewegung der Hand das Wort ab. Locker umfasste er das Amulett. Hitze schoss in Jess‘ Herz und ergoss sich von dort durch seinen Körper, fraß seinen Verstand und legte sich wie Eisenketten um seine Muskeln.
»McFee!«, brüllte er. Augenblicklich tauchte dieser vor ihnen auf. Sein Gesicht war blutverschmiert. Kurz streifte sein Blick Toreks Gestalt, bevor er sich an Jess wandte:
»Aye, Sir?«
»Lass Boote zu Wasser und gib Musketen aus. Tötet jeden Überlebenden, den ihr finden könnt.«
»Aye, aye, Sir!« McFee nickte und brüllte über Deck: »Beiboote klarmachen zum Abfieren! Wir machen Jagd auf die spanischen Ratten, Männer!« Johlende Zustimmung folgte.
Ein scharfer Schmerz durchfuhr Jess‘ Kopf und ließ eine seltsame Leere zurück. Er war wieder frei! Wie betäubt wandte er den Kopf nach achtern. Torek beobachtete ihn mit dem zufriedenen Gesichtsausdruck eines Siegers.
Schüsse erklangen neben ihm, die ihn wie aus einem tiefen Schlaf weckten. Jess löste sich von Toreks Anblick und sah auf die unglückseligen Spanier, die versuchten, sich an Land zu retten. Das erste Beiboot war gerade zu Wasser gelassen worden und hielt auf die Insel zu. Zwei Mann ruderten, während vier weitere mit ihren Musketen zielten und feuerten. Bei jedem Treffer schrien sie vor Freude auf, als wären sie auf einer Jagd und hätten gerade einen kapitalen Hirsch erlegt. Regungslos beobachtete er das mörderische Treiben. Als die ersten Schwimmer das scheinbar rettende Ufer erreichten, landete bereits eines der Boote. Die Männer zögerten nicht, sprangen an Land und zogen noch im Lauf die Schwerter.
Die Schiffbrüchigen hatten nicht die geringste Überlebenschance. Jess presste die Lippen fest aufeinander und wandte sich ab. Torek beobachtete hingegen weiterhin mit leuchtenden Augen das Geschehen, als folgte er einem amüsanten Schauspiel. Wie konnte ein so junger Mensch nur so grausam sein?
»Seid Ihr zufrieden, Seher? Gefällt Euch, was ihr seht?«, fragte er daher anzüglich.
»Durchaus!« Torek würdigte ihn nur eines kurzen Blickes, dann richtete er seine Augen wieder auf die Insel. »Du solltest nicht so verächtlich auf diese Männer und mich herabsehen, Morgan. Schließlich ist dies eine Vorgehensweise, die dir nur zu gut bekannt sein dürfte.«
»Das ist lange her.«
»Aber nicht vergessen!« Torek lächelte beinahe milde. »Ist es doch nur ein Beweis dessen, wozu du selbst in der Lage bist.«
Jess bedachte den Seher mit einem nachdenklichen Blick. Nicht vergessen! Nein, als ob jemals etwas vergessen werden konnte. Es war noch nicht so lange her, da hatte der alte McPherson beinahe die gleichen Worte an ihn gerichtet. Wahrscheinlich war es so. Taten reihten sich aneinander wie Perlen auf einer Schnur, und am Ende würde sich zeigen, welche Art der Perlen überwog. Im Moment schmiedete er an einem Schmuckstück, das zu tragen keine Auszeichnung war.
Am Strand war es ruhig geworden. Die Piraten hatten ihr blutiges Werk beendet und schoben die Beiboote wieder in das Wasser, um zurückzurudern. Torek ließ seine Augen herablassend über Jess wandern.
»Ich hätte nie gedacht, dass du so schnell aufgibst. Da ist nicht einmal der Ansatz eines Widerstandes in deinem Willen. Aber wahrscheinlich ist es das, was du tief in deinem Innern schon immer gewesen bist. Nichts weiter als ein Werkzeug, das nur von dem richtigen Mann geführt werden muss.«
»Und dieser Mann seid Ihr?« Jess verschränkte die Arme vor der Brust und sah abfällig auf den Seher herab. Doch dieser ließ sich durch den Größenunterschied nicht mehr beirren. Das gerade Geschehene hatte sein Selbstbewusstsein weiter gestärkt. »Was lässt Euch in dem Glauben, dass ausgerechnet ein Knabe der richtige Mann ist, um mich so zu lenken, dass am Ende der Kampf der Waidami so endet, wie es die Prophezeiung vorhersieht?«
»Wer sagt denn, dass ich das Ende anstrebe, das die Prophezeiung vorsieht?« Torek kicherte. Wie zufällig legte sich die Hand wieder an das Amulett und streichelte es beinahe sanft. »Vielleicht habe ich da ja ein ganz anderes Ende im Sinn.«
»Ihr wollt Bairani verraten?«
Torek riss in gespielter Verwunderung die Augen auf und schüttelte übertrieben den Kopf, doch das Lächeln um seine Lippen behielt er bei. »Nein, nein! Wie könnte ich den großen Bairani verraten, wenn ich ihm doch so viel verdanke. – Ich strebe nur danach, dass die Waidami ihren Sieg erhalten.«
»Ihr spielt ein gefährliches Spiel, Torek. Wenn man sich zu viele Fronten schafft, ist eine Seite irgendwann einmal ungeschützt.«
»Weise Worte, Morgan. Doch all deine Weisheit hilft dir im Moment nicht weiter. Und wenn du an den Punkt gelangst, an dem dir diese Weisheit endlich die Lösung verrät, wird es für dich zu spät sein. Denn des Rätsels Lösung ist dein Tod!« In einer plötzlichen heftigen Bewegung umklammerte er das Amulett so fest, dass deutlich die Knöchel seiner Hand hervor traten. Wütend presste der Seher die schmalen Lippen aufeinander.
»Ein guter Mann hat einmal gesagt, alle Visionen wären nur Möglichkeiten.«
»Du redest von Tamaka. Er war ein Trottel und kein guter Mann«, fuhr Torek auf. »Und er ist gestorben wie ein Trottel, in dem törichten Glauben, mit dem Diebstahl des Dolches das Schicksal zum Guten wenden zu können. Doch wäre er schlau gewesen, hätte er gewusst, dass wir diesen Diebstahl wollten; dass wir die neue Verbindung zwischen dir und deinem Schiff brauchten, und er hätte gewusst, dass der Dolch manipuliert war. Wäre er der Mann gewesen, von dem du sprichst, dann wäre das hier …«, und damit klopfte er gegen das Amulett, » … nicht möglich gewesen! Aber genug geplaudert, Pirat. Bring uns zurück nach Waidami. Dort wartet bereits eine andere Aufgabe auf dich. Ich werde mich eine Weile zurückziehen. Komm nicht auf die Idee, mich zu stören, wenn es nicht wirklich wichtig ist.« Damit wandte sich der Seher um und schritt hastig über Deck davon.
*
Wütend riss Torek das Schott auf, stolperte den Gang entlang und stürzte in seine Kajüte. Mit Wucht schlug er die Tür zu und setzte sich zitternd auf seine Koje.
Verdammt! Was war er nur für ein geschwätziger Idiot! Dass dieser Mistkerl ihn auch ständig mit seiner arroganten Art reizen musste. Hatte er ihm nicht gerade gezeigt, wie viel er noch selbst in der Hand hatte? Möglichkeiten, lächerlich! Und er hatte nichts Besseres zu tun, als mit seinem Wissen zu prahlen. Wenn Morgan genau zugehört hatte ...
Torek stand auf und ging zu dem kleinen Tisch hinüber. Ratlos sah er sich um. Der Raum war zu dunkel, zu eng, und er vermisste Waidami. Nur ein paar Tage auf See und er haderte mit dem Weg, den er eingeschlagen hatte. Vielleicht hätte er Bairani nicht davon überzeugen sollen, ihn auch in den Willen Morgans eingreifen zu lassen. Aber die Vorstellung war so verlockend gewesen, und wenn er ehrlich war, war es ein unvergleichlicher Genuss gewesen, diesen tödlichen Befehl zu geben.
Torek zog die Kette über seinen Kopf und legte sie vor sich auf den Tisch. Salz und Gischt hatten das Glas des kleinen Fensters beschmutzt, sodass nur schummriges Licht hindurchfiel. Dennoch funkelte der rote Stein, als befände sich Leben in seinem Inneren. Eine Kraft ging von ihm aus, die Torek fühlte, als könnte er sie in die Hand nehmen. Ob Bairani gewusst hatte, was er ihm damit ausgehändigt hatte? Hatte er ihm bewusst die Kontrolle über die Schlüsselfigur der Vision gegeben? Schließlich wusste der Oberste Seher, wie detailliert seine Visionen waren.
Torek seufzte und wischte sich über die müden Augen. Er sah so viel und wusste so viel, dass es ihn manchmal schlicht erschöpfte. Inzwischen brauchte er nicht einmal mehr in der Gegenwart eines Menschen sein, um gezielt Visionen über ihn hervorzurufen. Es reichte, wenn er der betroffenen Person einmal begegnet war. Niemals zuvor hatte ein Seher solche Fähigkeiten besessen, und dennoch brachte es ihn nicht überall an sein ersehntes Ziel. Sehnsüchtig dachte er an Shamila, rief sich den warmherzigen Ausdruck ihrer Augen in Erinnerung, der früher immer darin gewesen war. Der Ausdruck war verschwunden, seitdem er für ihren Vater arbeitete.
Mühsam unterdrückte er ein Gähnen. Er sollte besser ein wenig schlafen. Er griff nach der Kette und streifte sie wieder über den Kopf, dann wankte er zu der schmalen Koje und ließ sich hineinsinken. Für einen Moment lag er mit geöffneten Augen da und lauschte den Geräuschen an Bord. Es war relativ ruhig. Keine Schüsse fielen mehr. Sicher waren wieder alle Mann an Bord, und die Treasure nahm gehorsam Kurs auf Waidami. Torek lächelte. So schlecht war es gar nicht. Der erste Ausflug mit Morgan war ein Erfolg. In ein paar Tagen waren sie wieder zu Hause, und er würde wenigstens einen Blick auf Shamila werfen können. Die Versuchung wurde immer größer. Er hatte sich einst geschworen, niemals in ihre Visionen zu schauen, aber sein größter Wunsch war es, sie einst zu seiner Frau machen zu können.
Nur ein Blick!
Was konnte es schon schaden?
Er hatte es geschworen.
Aber nur sich selbst. Nichts war verwerflich an einem Blick.
Nur einen einzigen Blick auf ihre Augen werfen und dann würde er sofort wieder aus der Vision herausspringen.
Noch während der Wunsch in ihm immer größer wurde, schob sich bereits das Bild von Bairanis Tochter in seinen Kopf. Ihre dunklen Locken schimmerten blauschwarz. Mit ihren tiefbraunen Augen sah sie ihn direkt an. Ihr Blick traf geradewegs in sein Herz. Sie lächelte ihn an, wie sie ihn früher immer angelächelt hatte, wenn sie sich begegnet waren. Toreks Herz begann schneller zu schlagen. Er fühlte sich ertappt. Beschämende Hitze versengte seine Wangen, und er schlug die Augen nieder. Genau das hatte er nicht gewollt. Er wollte sie nicht heimlich betrachten wie ein Verrückter, der sich mit seinen Gefühlen nicht ans Licht wagte. Er wollte sie nicht ansehen, ohne dass sie die Möglichkeit hatte, auch ihn anzusehen. Bitterkeit überkam ihn, und er wischte die Vision fort. Für eine Weile lag er so da und spürte dem Nachhall der Vision hinterher. Scham und Sehnsucht paarten sich mit dem Wissen, dass Shamila nicht ihn so angelächelt haben konnte. Aber wer mochte derjenige gewesen sein?
Es ging ihn nichts an.
Es stand ihm nicht zu. Nicht bei ihr.
Der Verlust ihres Lächelns war der Preis für seinen Erfolg bei ihrem Vater. Möglicherweise war es nur gerecht.