Читать книгу Die Sau im Porzellanladen - Klaus Bartels - Страница 13
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Atmosphäre
Die acht Himmelssphären der „alten Astronomie“, die sieben Planetensphären von Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn und die sie umschließende Fixsternsphäre, waren der Antike als „Sphären“ wohlvertraut. Doch von einer atmosphaíra wissen die altgriechischen Wörterbücher nichts zu vermelden. Da mochte der Himmel noch so blau sein – die irdische Luftregion unter dem Mond, wo die vier Winde in die Kreuz und Quere wehen und statt Sphärenklängen nichts als Sturmgeheul und Donnerschlag ertönt, schien den alten Astronomen des hehren „Sphären“-Titels wohl nicht wert.
Die „Atmosphäre“ ist ein Retortenwort, im Sprachlabor der frühen Neuzeit aus altem Griechisch synthetisiert. Die sphaíra, eigentlich „Ball, Kugel“, ist im 6. Gesang der „Odyssee“ mit einem fröhlichen Ballwurf der Königstochter Nausikaa ins Licht der Wortgeschichte eingetreten. Später bezeichnete das Wort die ineinandergefügten Kugelschalen, in denen die griechische Astronomie Planeten und Fixsterne umlaufen ließ, und schließlich auch den zuinnerst ruhenden Erd-„Ball“. Im lockeren Sinne eines engeren oder weiteren „Bereiches“ sprechen wir neuerdings von einer persönlichen Intim- und Privatsphäre oder von politischen Einfluss- und Interessensphären.
Anders als die sphaíra ist der atmós, auch weiblich atmé oder atmís, im Griechischen kein geläufiges Wort gewesen. Um 700 v. Chr., in Hesiods Göttermythen, bezeichnet zunächst die atmé einen „gottgesandten Gluthauch“ über der vom Blitz des Zeus getroffenen „brennenden, schmelzenden Erde“. Im 5. Jahrhundert v. Chr., in der Aischyleischen „Orestie“, spricht die Seherin Kassandra von dem atmós, dem „Modergeruch“, der ihr aus dem Palasttor von Mykene „gleichwie aus einem Grab“ entgegenschlägt; in der gleichen „Orestie“ spricht später der Schatten der von Orest erschlagenen Klytaimestra von dem atmós, dem „hindörrenden Gluthauch“, der dem Mund der alle Blutschuld rächenden Eumeniden entströmt.
Sengender Gluthauch, feuchtkalter Moder und wieder dörrender Gluthauch: Was uns aus dieser Jahrtausende tiefen Lexikonspalte nasskalt und glutheiß in die Nase steigt, kann einem schier den Atem verschlagen. Dieser lebensfeindliche atmós ist denn auch nicht mit unserem „Atem“ und unserem „Atmen“ verwandt; die Atmosphäre ist, aller verlockenden Bezüglichkeit zum Trotz, nicht unsere „Atemsphäre“. In der Folge und in Prosa bezeichnet das griechische Wort, bei Aristoteles meist atmís, dann auch allerlei harmlosere feuchte Dämpfe und Dünste, zumal den Wasserdampf, den die Sonne von der Erde aufzieht, einmal auch arabisches Räucherwerk.
In der frühen Neuzeit war mit der Ptolemäischen Astronomie der sieben Planetensphären auch die Aristotelische Physik der fünf Elemente dahingefallen, und mit ihr die Schranke zwischen den ewiggleich kreisenden ätherischen Himmelssphären und der wolkigen, windigen, dunstigen, staubigen Luftregion unter dem Mond. Nun stand nichts mehr im Wege, diesen irdisch-trüben atmós mit jener himmlisch-reinen sphaíra zu einer den Erdball rings umhüllenden „Atmosphäre“ zu verkuppeln, und wie in der Antike die ätherischen Planetensphären, so fügen sich nun neue atmosphärische Sphären wie die Troposphäre, die Stratosphäre und die Ionosphäre ineinander. Seit jüngstem bezeichnet diese vergleichsweise junge „Atmosphäre“ auch zwischenmenschliche Schön- und Schlechtwetterlagen: Wie von einem besseren oder schlechteren Arbeits- oder Gesprächs-„Klima“ sprechen wir im gleichen Sinne von einer besseren oder schlechteren Arbeits- oder Gesprächs-„Atmosphäre“.
„Jedem Worte klingt“, so schnarren die Greifen in Goethes klassischer Walpurgisnacht, „der Ursprung nach, wo es sich her bedingt.“ Die Wörteralchemisten des 17. Jahrhunderts hatten gewiss mehr Aristoteles als Hesiod und Aischylos gelesen. Aber lassen wir heute die „Atmosphäre“ von ihrer Geschichte erzählen, so scheint diese aus Abermillionen von Auspuffrohren und Fabrikschornsteinen kohlendioxid- und wer-weiß-womit-noch-geschwängerte Atmosphäre uns ominös an jenen sengenden alten „Gluthauch“ über einer „brennenden, schmelzenden Erde“ zu gemahnen. Es fehlt derzeit ja auch nicht an neuen Kassandren, die in unserer Atmosphäre, etymologisch durchaus stimmig, den „hindörrenden Gluthauch“ einer fatalen Klimakatastrophe heraufziehen sehen.