Читать книгу Ring der Welten 1 - Klaus D. Koepp - Страница 4

1. Der 23. Sektor

Оглавление

Es nieselte seit Tagen schwarze, schmierige Fäden vom Himmel. Nebelschwaden hatten sich zwischen den Stahlskeletten der Hochhausgiganten festgesetzt. Ein Schleier aus Dunst und Nässe lag über der Stadt. Die Elemente der Natur nagten an den Resten der Zivilisation. Überall tropfte es und in den Trümmerschluchten faulte der Müll oder was davon noch übrig war. Flechten, Baumfarne und kleine Orchideen drängten aus dem Dunkel der Steine und überwucherten die bizarren Ruinenfelder. Efeu kroch über bemooste Betonträger. Ansammlungen von Nesselsträuchern, Ginster und seltenen Pflanzenmutationen verwandelten brachliegende Areale in biotope Verwucherungen. Die Natur hatte begonnen, verwesende Territorien zurückzuerobern in diesem heißen Jahr 2168 der alten Zeitrechnung.

Wie aus einer eiternden Wunde ergoss sich das faulig gelbe Abwasser der Unterweltkanäle über das aufgerissene Straßenpflaster. Rattenrudel flüchteten sich auf die Gehsteige, um über die Kadaver der letzten Nacht herzufallen. Ausgebrannte Fahrzeugwracks standen als verwachsene und verwurzelte Reliefs am Straßenrand und rotteten vor sich hin. Die Ödnis der Straße, dem Verfall preisgegeben.

Einige schiefe Hütten lehnten sich unter einem abgebrochenen Teil der Hochstraße aneinander an. Zwei schattenhafte Wesen hatten in diesen Ghetto-Verschlägen Unterschlupf gefunden. Die Körper der beiden Gestalten steckten mitsamt ihren Köpfen in Kleidungsstücken aus kompliziert miteinander verknüpften Lederresten. Ihre Gesichtsmasken, als Teil ihrer Kopfbedeckung, ließen sie wie vermenschlichte Reptilien erscheinen. Brust- und Rückenteile wurden von elegant verknoteten Riemenstücken zusammengehalten. Die Handschuhe verschmolzen mit den Ärmeln und reichten bis unter die Schulterblätter. Sie trugen Schaftstiefel, die bis zu den Knien von einer grauen Schlammschicht bedeckt waren. Durch die überdimensionalen elektronischen Halbkugelgläser ihrer Schutzbrillen behielten die beiden die Umgebung im Auge und warteten im Dunst der Straße auf kommende Ereignisse.

Immer wenn Arthur Ed Lassalle die Augenlider schloss, zitterten ganz leicht seine Brauen. Spuren eines Ausschlags wurden sichtbar. Erst vor wenigen Stunden hatte das Blut in seinem Körper zu „kochen“ begonnen. Winzige Adern waren geplatzt und die blutenden Gerinnsel hatten sich über Teile seines Körpers ausgebreitet. Das fortgeschrittene Stadium des Ausschlags und der Zustand seines Leibes bestätigten ihm, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Aber er biss die Zähne zusammen und versuchte sich nichts anmerken zu lassen.

Naila Elisar, die zweite Person unter den Brückenverschlägen, ahnte nichts von Artur Lassalles akutem Todeskampf. Sie registrierte zwar Lassalles schlechte Verfassung, um dann aber gleich wieder ihre Aufmerksamkeit dem fernen Horizont der Hauptstraße zuzuwenden. Natürlich war ihr bekannt, dass die GNS-Erreger, diese Pest des 23. Sektors, überall Opfer forderten. Aber es gab keine Aussicht auf Heilung dieser Seuche.

In der Ferne, irgendwo in den Kontrollzonen des Zwischensektors, löste sich jetzt ein Zug tosender Maschinen aus dem Dunst der Sperrbollwerke. Arthur Lassalle zählte an die zwanzig dieser gepanzerten Kolosse, die Saurocks genannt wurden, und die sich nun gemächlich, wie stählerne Saurier, über den Schutt der Straße wälzten und sich dem verfallenen Zentrum dieses verwilderten Stadtteils näherten.

Diese kriechenden Festungen befanden sich in erbärmlichem Zustand. Die Stahlplatten der vollständig gepanzerten Räder verbanden nur noch wenige Verankerungen und jede Erschütterung ließ sie erzittern. Die meisten Gefechtstürme der Stahlgiganten hatte der Rost zerfressen. Durch die elektronische Kommandozentrale rauschte der Wind. Die Fahrzeuge hatten längst ihre Aufgabe in den Zeiten der großen Aufstände erfüllt. Jetzt präsentierten sie sich als schrottreife Monstren, die niemand mehr zu fürchten brauchte. Die Ungetüme bogen schwerfällig in den Lexus Boulevard ein und bildeten auf der Corus Plaza eine geschlossene Formation. Aus der Luft wurde der Zug von zwei fast lautlos

dahinschwebenden unbemannten Kampfdrohnen begleitet, den „Blackdevils“, wie sie von den Sektorianern respektvoll genannt wurden. Arthur Lassalle warf Naila Elisar einen kurzen Blick zu und beide zogen sich in das Dunkel der Hütte zurück.

Die beiden erlebten diesen Aufmarsch als vertrautes Ritual. Lassalle überprüfte mit zittrigen Händen nochmals seine Ausrüstung. Die Distanzwaffen, Schockgranaten und Nebelwerfer befanden sich alle an den richtigen Stellen am Körper, um im Ernstfall griffbereit zu sein. Elisar prüfte routinemäßig ihre Sonden und schloss das Metallgitter unter ihrem Schutzanzug. Auf der Corus Plaza hatten inzwischen die Wächter der Saurocks in ihren martialischen Kampfanzügen und den eindrucksvollen Paradewaffen im Anschlag ein Karree gebildet. Auf Befehl des Kommandanten wurden die Schotts heruntergelassen und eine Horde von verwahrlosten Gestalten taumelte über die Rampen der Fahrzeuge. Misslungene Kreaturen aus den Laborkammern von Scientropoli. Menschliche Mutationen mit abnormen Auswüchsen, verdrahtete Primaten mit verformten Schädeln und zitternden oder vollständig amputierten Gliedmaßen, aschfahle, doppelköpfige Chimären mit zu Fratzen erstarrten Gesichtern unter kahlen Schädeln und toten Augen. Ungeheuerliche Laboriten, animalische Flügelwesen, verkrüppelte Zwerge, unvollkommene Menschentiere, eine wilde, schreiende Horde der verrücktesten Geschöpfe. Sie alle drängten sich um den leeren Marmorsockel eines verschwundenen Helden, mürrisch beäugt von den übellaunigen Wächtern der Saurocks.

Der Regen hatte etwas nachgelassen. In den Trümmern, Löchern, Spalten und Kellern ringsumher wurde es lebendig. Im Dschungel hinter der Corus Plaza, der früher einmal so etwas wie ein Vergnügungspark gewesen war, füllte sich das Dickicht mit aufmerksamen Beobachtern. Die Neuankömmlinge auf der Plaza wußten nicht, wo sie sich befanden und dennoch spürten sie die Nähe der unbekannten Meute. Das Lauern, Flüstern und Kriechen wirkte auf eine besondere Art bedrohlich. Das Gesindel des 23. Sektors zeigte sich immer dann, wenn es galt, Beute zu machen. Sie hatten erbärmlichen Hunger und dieser Hunger machte sie zu Tieren, die um ihr Überleben kämpften. Für Sekunden entstand eine unwirkliche Stille auf der Plaza. Einige Straßenzüge entfernt stürzte donnernd, wie ein böses Omen, eine der letzten ausgebrannten Häuserfassaden in sich zusammen.

Die Laboriten begannen auch sogleich die Umgebung des Platzes zu erkunden. Vergeblich versuchten die über ihnen schwebenden Drohnen mit ihren starken Scheinwerfern die Masse in Schach zu halten. Der Kommandant des Zuges sah seine Aufgabe aber bald als erfüllt an und drängte seine Leute zum Aufbruch. Nachdem die Wächter sich wieder in ihre düsteren Schrotthaufen verkrochen hatten, verschwanden die Kolosse auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren. Die Blackdevils drehten ab und überließen die Horde ihrem Schicksal.

Die Neuankömmlinge sahen sich nun einer unbekannten Gefahr ausgesetzt und drängten sich wieder instinktiv aneinander. Sie reagierten wie scheue Tiere in einem fremden Revier, in dem sie ihre Gegner, die Rangordnung und die ungeschriebenen Gesetze des Geheges, nicht kannten. Dann brach aus dem Trümmerdickicht ein ohrenbetäubendes Geschrei los.

Nun zeigte sich, gerade noch rechtzeitig, ein weiterer Trupp auf der Plaza. Als abgerissene, langhaarige Gestalten in schmutzigen Kampfanzügen, mit automatischen Maschinenbigs, Laserwaffen und archaischen Highspeed-Armbrüsten bewaffnet, krochen die schrulligen Aktivisten der TASP 21 aus den Unterweltarealen hervor. Die Gesichtsmasken mit den abgedunkelten Gläsern schützten ihre lichtscheuen Augen vor ungewohnter Helligkeit. In einer langen Reihe umstellten sie demonstrativ das Lager der Laboriten, um die militanten Horden der Straßenkinder von Mord und Totschlag abzuhalten. Die TASP 21 versuchte im Auftrag des Regionalkommandos von Newark zumindest in Teilen des 23. Sektors eine scheinbare Ordnung aufrecht zu erhalten. Die TASP-Truppen wurden von den kriegerischen Kinderhorden verhöhnt, weil sie ihr Gewaltpotential nie ganz ausspielten. Sie töteten die grausamsten Kinder nur im äußersten Notfall und das wurde ihnen hier im Niemandsland der lebenden Untoten als Schwäche ausgelegt.

TASP 21 hieß ein mehrteiliges, monumentales Endzeitepos, das während der Kulturschock-Ära auf allen maßgeblichen I Net Plattformen zu sehen war. In diesem Storyuniversum kämpften einige aufrechte Bürgerrebellen um die letzten demokratischen Errungenschaften einer ansonsten verwahrlosten Zivilisation. Um diese Serie entstand damals eine fanatische Fangemeinde, die sich mit den Figuren, Techniken und Lebensinhalten der Serie identifizierte. Nachdem TASP 21 über Jahre hinweg in allen Medien seiner Zeit präsent gewesen war, vertraten Psychologen und Medienanalytiker die Ansicht, dass sich die Sehnsüchte einer ganzen Epoche in dieser Serie spiegelten. Die Schöpfer der Serie wurden mit der Zeit von den Fans verklärt und zu mythischen Figuren, die Schauspieler zu ikonisierten Helden und Vorbildern für einen Lebensstil und ein Lebensgefühl, das den Leuten Heimat und Sicherheit versprach in einer ansonsten gefährdeten Welt. Die neuen visuellen Medien-Systeme der „Giga-Medjas“ erlaubten es bald darauf, mit allen Sinnen in diese künstliche Welt einzutauchen. Die heutige TASP 21 versuchte diesen Lebensstil zu konservieren und lebte weiterhin von und mit den einstigen Ideen, Apparaturen und Ritualen der Serie. Die nachgebauten Szenarien aus TASP 21 dienten ihnen mit ihren weit verzweigten Ober- und Untergrundbereichen als mediale Festung.

Naila Elisar und Arthur Lassalle hatten die Vorbereitungen für ihren Einsatz abgeschlossen. Sie fühlten sich als Teil der Operation der TASP und hatten die Aufgabe, die seltenen Neuro-Implantierungen der Laboriten zu dokumentieren und „Prachtexemplare“dieser transhumanistischen Wesen auszusortieren. Die beiden gehörten aber zur ParaCybernetik-Abteilung und damit zum größten von Menschen geschaffenen Überlebensnetzwerk im Untergrund des 23. Sektors, das sich Subworld nannte.

Die ParaCybernetik-Abt. von Subworld war dabei, ungewöhnliche Vorgänge und Entwicklungen in den Hauptsektoren der mächtigen, weltumspannenden Großmacht der Vereinigten Central Staaten und ihrer Forschungsmetropole Scientropoli zu beobachten, um die Sicherheitslage von Subworld noch besser beurteilen zu können. Wichtiges Anschauungsmaterial dazu lieferten die verschiedenen Restimplantate der Versuchsmenschen, die hier im isolierten 23. Sektor entsorgt wurden, nachdem sie ihre Aufgabe in den Labors von Scientropoli erfüllt hatten.

Elisar eilte in Richtung Corus Plaza voran, gefolgt von Lassalle. Die beiden kreuzten das Spalier der TASP und drangen in die aufgescheuchte Laboritengruppe ein. Ihre Reptilienanzüge lösten einige Unruhe unter den invaliden Gestalten aus. Die meisten dieser Kreaturen hatten in ihrer bisherigen erbärmlichen Existenz nie das Tageslicht gesehen. Viele konnten nicht sprechen, waren blind oder taub. Aber fast alle Menschenwesen der Labors besaßen die Standardimplantate, mit denen bestimmte Reize, Reaktionen und Impulse der Nervenzellen, oder was sonst von Interesse war, gemessen werden konnten.

Lassalle und Elisar begannen, die Körper der Versuchsmenschen mit ihren Sonden abzutasten und Bestandteile der Schädel mit lichtstarken Fotonern optisch zu dokumentieren. Ihnen begegneten neugierige, lebendige Augen, aber auch feindselig lauernde Blicke. Indem sie mit ruhigen Worten auf die Masse einredeten, hofften sie, die Unruhe unter den Laboriten einzudämmen. Jemand versuchte Naila Elisar in den Arm zu beißen, andere Laboriten brachen plötzlich in irres Lachen aus. Lassalle wurde bespuckt, angeschrien, angekotzt. Wieder andere Menschenwesen ergaben sich apathisch in ihr Schicksal und nickten nur stumm vor sich hin. Naila Elisar untersuchte eine ungewöhnliche Sippe. Alle sechs Kinder sahen auf den ersten Blick vollkommen gleich aus und bewegten im Takt ihre Köpfe und Körper wie in einer perfekten Choreografie. Ein haariger, zahnloser Greis hatte Lassalles Beine umfangen und ließ nicht mehr los. Er verteidigte seine Beute mit allen Mitteln. Lassalle befreite sich mit seinem Shocker. Der kleine Greis schrie fürchterlich. Der rund dreihundertköpfige Laboriten-Haufen reagierte sofort mit wildem Geheul. Plötzlich war ein Gemeinschaftsgefühl unter ihnen entstanden. Lassalle zog allen Zorn auf sich und er bereute seine Maßnahme im selben Augenblick. Das gesamte Volk brüllte los, hunderte Arme reckten sich nach ihm, hunderte Körper wollten sich auf ihn stürzen. Elisar wurde niedergerungen und stürzte in den Schlamm.

Das war das Signal zum Eingreifen für die TASP 21. Sie knüppelten wahrlos auf die armseligen Geschöpfe ein. Ein Jammern und Heulen setzte ein. Blutüberströmte Gesichter verzerrten sich vor Schmerz, Körper wälzten sich im Schlamm. Der Haufen der Laboriten rückte noch enger zusammen und erst als die TASP noch einige Warnschüsse abgegeben hatte und sich eine von Elisar versprühte narkotisierende Wolke über der Menge ausgebreitet hatte, beruhigte sich die Lage wieder.

Tasp-Ikone Jonny Skoops nutzte wie immer die Gelegenheit für einen seiner unverzichtbaren Auftritte. Er stieg auf den leeren Sockel des Denkmals, breitete die Arme aus und versuchte mit einer Serie von abscheulichen Flüchen und aberwitzigen Grimassen die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu lenken. Er liebte diese Art der Selbstinszenierung. Eine gewisse theatralische Begabung konnte man ihm dabei nicht absprechen.

„Maul halten, ihr Idioten! ... Schweigt still! ... Nun hört endlich auf mit der Schnatterei, verdammt noch mal!“ Scoops machte eine Pause, baute sich zu voller Größe auf, rückte sein verbogenes Monokel zurecht und zeigte eindrucksvoll seine letzten beiden Zähne.

„Tja, meine geliebten Kreaturen, das ersehnte Paradies ist euch erspart geblieben. Ihr seit hier im letzten toten Winkel dieser gierigen, verfluchten Welt angekommen. Schaut euch um, wir existieren nicht mehr in den offiziellen Netzen des INet. Die Mächtigen haben uns entmündigt. Euch gibt es nicht, mich gibt es nicht. Seit dieser verdammte Sektor, dieser kleine, verworfene Kontinent, versiegelt wurde, sind wir ein großer schwarzer Fleck in allen Kartografien und Verzeichnissen. Wir sind ein Geschwür, das es nicht geben darf und das verborgen bleiben muss in den Annalen der Herrschenden. Das Masterplankalendarium hat uns zu Aussätzigen gemacht. Wir sind getilgt worden aus dem Bewusstsein der Lebenden, bevor wir es selbst gemerkt haben und wir dürfen hier krepieren wie die letzten Dreckskerle!“

Scoops brüllte, keuchte, schnappte nach Luft. Die Atemschutzmaske auf seiner Brust baumelte wild herum. Er klopfte seine Uniform mit den vielen Beuteln und Taschen nach einem unbekannten Gegenstand ab, hustete wie ein Tier und reckte schließlich seine Hände, wie nach einem letzten Halt suchend, in den Himmel.

„Aber es gibt etwas, das uns trotzdem am Leben hält. Eine Idee, eine einsame Hoffnung, die uns nicht loslässt ... Ich will euch deshalb eine Geschichte erzählen. Es mag unglaublich klingen, aber es verkehrten einmal vor langer Zeit Fahrzeuge hier unter uns im Untergrund. Das ganze Labyrinth unter meinen Füßen ist einst aus Abwasserkanälen, Luftschächten und Transportwegen entstanden. Eine Welt unter der Erde. Als irgendwann die Versorgungsnetze aufgegeben wurden, entstanden daraus Zufluchtsstätten für die vielen Lahmen und Ausgestoßenen, die nirgends mehr geduldet wurden, so wie ihr. Das ist sehr, sehr lange her. Dann folgten, nach den Perioden der Wirtschaftskrisen, Glaubenskämpfe, Naturkatastrophen und Hungersnöte, die großen Säuberungsaktionen und die Schächte füllten sich weiter mit Menschen, Material und Ideen. Es entstanden neue Vorratslager, Gänge, Stockwerke und Labyrinthe. Man verwandelte Bunker in Kühlhäuser, machte aus Kanälen Kraftwerke. Die Typen buddelten damals wie die Verrückten. Oberirdisch geriet alles aus den Fugen. Die Situation wurde politisch und sozial unerträglich. Wer oben in Schwierigkeiten geriet, tauchte ab. Im Untergrund existierten einige soziale Netze durch ein strenges Ordnungssystem weiter. Das Leben in der oberen und der unteren Welt bekam durch die Errichtung der Sektoren einen Riss. Es dauerte eine Generation, aber über diesen geringen Zeitraum hinweg gab es schon einen kulturellen Bruch in den Verbindungen von oben nach unten. Unterschiedliche Gesellschaften und Wertesysteme bildeten sich heraus. Wir erfuhren durch das INet, dass es Kontakte zu außerirdischen Intelligenzen gegeben hatte und von den Erfolgen des Mars-Projektes. Wir schöpften neue Hoffnung, dass es bald wieder zu einer Initiative kommen könnte, die uns aus unserem elenden Untergrunddasein erlösen würde. Aber dann wurden die Sperrbollwerke um den 23. Sektor herum errichtet und wir blieben das, was wir waren, die Ausgeschlossenen. Und heute? Heute setzen die Vereinigten Central Staaten alles daran, neuen Lebensraum auf dem Mars zu schaffen, während sie gleichzeitig die alte Erde in eine Müllhalde verwandeln.“

Jonny Scoops ließ sich immer mehr von seinen wütenden Worten mitreißen. Er fantasierte sich in eine andere Welt hinein. Obwohl die wenigsten Laboriten begriffen, was Scoops da von sich gab, spürten sie doch seine Energie und seine Ernsthaftigkeit. Er ließ sich Zeit, machte Pausen, um die Spannung zu steigern, rang unter der Anspannung jeder Gesichtsfalte nach den passenden Worten und versuchte mit entschlossenem Blick und enormer Stimmgewalt die Ausgestoßenen neugierig zu machen und zu begeistern.

„Wir sind nicht die naiven Spinner, wie man vielleicht vermuten könnte. Wir wussten immer über fast alles Bescheid, was da draußen vor sich ging. Das INet machte die Welt für uns lebendig. Es ist überall präsent, als Droge, Illusionsmaschine und als Paradies der Lügen und Eitelkeiten. Ein Zirkus der Zerstreuung und Verschwendung, wie wir es nennen. Aber es gab immer Zweifel über den wahren Zustand der Welt da draußen. Wir rekonstruierten die alten Speichermedien und dieses Puzzle ergab schließlich ein völlig anderes Bild der Wirklichkeit als es uns das INet widerspiegelte. Wir wissen, dass wir für lange Zeit verdammt sind zu Entbehrungen, Elend und Tod. Aber wir wissen auch, dass die Erreger nicht alle Sektoren befallen haben, dass es ein ganz außergewöhnlich reiches Leben gibt, das wir nie kennengelernt haben und nie kennen lernen werden. Wir aber bleiben immer nur die verabscheuungswürdigen Narren.“

Jetzt veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Scoops schien für einen Moment zu lächeln. Seine Stimme klang weich, leise und einschmeichelnd. Wie ein entrückter Prophet aus fernen Gestaden ließ er das Volk an seinen Weisheiten teilhaben.

„Die Tasp-Chroniken und ihre unsterblichen Figuren sind für uns Heimat geworden ... Wie der große Mime John Merlin mit seinen Gesichtszügen spielen konnte, wenn er über eine Idee philosophierte, das macht ihm so schnell keiner nach. Und was für ausgefeilte Methoden Wolf O`Brian und Susan Everett anwandten, um auch in den brenzligsten Augenblicken die Situation unter Kontrolle zu bekommen, dass ist unübertroffen. Diese Menschen, das waren wir selbst. Mit ihrem Modell eines CyberCreators haben sie etwas in uns wachgerufen, das unserem erbärmlichen Dasein einen Sinn verleiht. Wir haben uns gefragt, warum es nicht möglich sein sollte, diesen CyberCreator mit seinen ungeahnten Möglichkeiten Wirklichkeit werden zu lassen. Wenn es uns gelingt, unsere kleine Welt im Strom der Zeit neu zu konzipieren, dann werden wir den verlogenen Kosmos da draußen in ungeahnte Dimensionen stürzen. Kreativität und Fantasie auszuleben wird dann für alle Menschen kein Traum mehr sein. Deshalb haben wir begonnen dieses Ding zu entwerfen, um uns mit unseren Visionen in einer veränderten Welt zurückzumelden. Das ist meine ... nein, das ist unsere Hoffnung. Wir danken der TASP 21, wir glauben an den CyberCreator und die Macht seiner Möglichkeiten!“

Nach seinen heiseren letzten Worten fiel Jonny Scoops in einen Trancezustand. Seine Stimme schien erschöpft zu sein. Die Tasp-Rebellen reckten begeistert ihre Waffen in die Höhe und wiederholten gröhlend im Chor immer wieder die letzten Worte ihres Chefs.

Elisar hatte inzwischen unter einer Schädeldecke einen Supervisor Typ B aufgespürt. Ein seltenes Exemplar, wie sie verwundert feststellte. Dieses Implantat enthielt organische Verbindungen, die mit Nanosonden gesteuert wurden. Über die Funktionsweisen war bisher wenig bekannt. Aber noch immer schien die Frage ungeklärt zu sein, welchen Einfluss das menschliche Gehirn auf seine Umwelt ausübt. Ein Grund, dieses Implantat in der ParaCybernetik Abt. näher zu untersuchen.

Lassalle kämpfte mit sich und mit zwei hyperaktiven Omron-Züchtungen. Ihre Körper waren mit transplantierten künstlichen Nervenbahnen übersät, bei denen man an den zentralen Punkten winzige Steuerungsimplantate erkennen konnte. Lassalle interessierte sich für den Informationsaustausch der Impulszellen zum Gehirn. Die beiden Omrons verhielten sich sehr aggressiv, so dass Lassalle ihnen eine Injektion verpassen musste, die sie unmittelbar in einen Lethargiezustand versetzte. Elisar und Lassalle separierten die beiden für weitere Untersuchungen in den Laborabteilungen.

Nach seinem Auftritt kam Jonny Scoops auf sie zu und begrüßte sie, indem er mit seinem Schädel nervös hin und her wippte, wie es so seine Art war.

„Bist du immer noch von der Idee besessen, aus den Schaltkreisen dieser kleinen Biester die Absichten der Trion-Lab´s von Pfafner-Organon zu ergründen, Arthur?“

Ihm bereitete es sichtlich Vergnügen, der ParaCybernetik-Abt. ihre Machtlosigkeit vorzuhalten angesichts des Ausmaßes an menschlichem Elend, mit dem man hier konfrontiert wurde. Obwohl Jonny Scoops an neuen Erkenntnissen und vermeintlich tiefschürfenden Einsichten interessiert war, die ihre Lage hier betraf und die Arthur Lassalle immer bereitwillig von sich gab, so nahm er doch nicht alles ernst, was man ihm auftischte.

„In diesen kleinen Dingern steckt hundertmal mehr menschliche Logik verbunden mit Bosheit und Irrsinn als in deinem schrägen Hirn jemals Platz hätte, Jonny“, antwortete Lassalle.

Scoops grinste, was durch seine ausgeprägte Gesichtsnarbe noch verstärkt wurde. Auch Lassalle zwang sich zu einem halbwegs natürlichen Lächeln. Er beherrschte sich, obwohl ihm ganz anders zumute war. Jonny Scoops, dem Lassalles elender Zustand nicht verborgen geblieben war, behielt ihn aufmerksam im Auge.

„Aber das ist nicht das Problem“, fuhr Lassalle fort. „Dir ist ja nicht entgangen, dass der Zustand der Welt, so wie wir sie heute vorfinden, bis in die kleinste Zelle hinein einen Zustand erreicht hat, der uns mit Schrecken erfüllen sollte.“

„Ich hab mir dieses Stück Dreckserde nicht ausgesucht“, bekannte Jonny Scoops.

„Täusche dich nicht, Jonny. Auch jenseits dieses Sektors ist die Zivilisation gescheitert. Wir haben ein Selbstzerstörungspotential erreicht, das in allen Bereichen außer Kontrolle geraten ist. Irgendwo in unseren genetischen Verbindungen hat dieses Scheitern begonnen. Das zu ergründen und zu verstehen ist unsere verdammte Pflicht, bevor es endgültig zu spät ist“, philosophierte Lassalle und vertauschte seine gespielte Gelassenheit mit einer ehrlichen ernsten Miene. Scoops zeigte sich unbeeindruckt.

„Ich gönne dir ja deine ruhelosen Nächte, in denen du die Welt vor sich selbst zu retten versuchst, aber an der Tatsache, dass man uns hier krepieren lässt wie Ungeziefer, kommst du nicht vorbei, Arthur. Es ist zu spät für deine elitären Weltdeutungen. Wir sind hier nur die Reste der toten Tiere auf dem Gala-Büffet des gierigen, alles verschlingenden Masterplankalendariums. Wann uns das Ende ereilt, weiß niemand. Aber der Tag wird kommen, das ist gewiss“, provozierte Scoops und setzte sich dabei geschickt in Szene, aber Lassalle ließ sich von seinen Gedanken nicht abbringen.

„Hör mir ein einziges Mal zu, Jonny. Weißt du, wer du bist und woher du kommst und was deine Bestimmung ist? Du weißt es nicht? Jetzt, da wir vermuten können, dass wir nicht die einzigen intelligenten Lebewesen im Universum sind und uns unsere Vergangenheit eingeholt hat, stellt sich doch die Frage: Sind wir authentisch oder sind wir nur Produkte einer Versuchsanordnung?“

Jonny Scoops lachte und schaute an sich herab.

„Ich, eine Versuchsanordnung? Na gut, Arthur, ich gebe zu, das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wir gehen als Menschen vor die Hunde, weil wir den Glauben an eine funktionierende Gemeinschaft verloren haben. Das ist meiner Meinung nach der Grund, warum diese Zivilisation scheitern wird“, behauptete Jonny Scoops.

„Das ist nur ein Symptom von vielen. Wir betrachten uns nicht mehr als eine Menschheit, das ist schon richtig. Die einzelnen Interessen sind zu unübersichtlich geworden. Aus diesem Grund habe ich euch geholfen, dem CyberCreator eine erste informelle Basis zu verschaffen. Aber damit beginnt erst die eigentliche Aufgabe: der zerfallenden Zivilisation die Idee eines Neuanfangs abzuringen. Das wird in Zeiten der Eskalation immer schwieriger.“

„Du machst dich kaputt, Artur. Letztendlich werden wir uns doch alle in unser Schicksal ergeben müssen . . .“

Ein Kämpfer der TASP trat auf Jonny Scoops zu und wies auf eine Anzahl von Menschenwesen hin, die aus der Gruppe der Laboriten ausgesondert worden war.

„Dieses Gesindel da behauptet, du hättest ihnen aus der Seele gesprochen, Jonny. Sie sind bereit, dir zu folgen.“

„Fabelhaft, wer hätte das gedacht? Es gibt also doch noch genügend Dummköpfe mit Grips, die an irgendetwas glauben wollen. Ich war der Menschheit noch nie so eng verbunden wie heute. Es hat sich mal wieder bestätigt, wir sind alle eine große Familie ...Wir sehen uns in der Hölle, Arthur.“

Jonny Scoops hatte genug mit seiner Figur und seiner Rolle kokettiert. Er machte vor den beiden eine ausladend theatralische Verbeugung und wandte sich dann seinem Trupp zu.

„Habt ihr diese verlauste Bande auch genau untersucht ? Das sind zu viele. Wir können doch nicht jeden Hohlkopf aufnehmen und durchfüttern. Was soll ich mit diesen Glatzköpfen da anfangen? Das Material aus den Labors wird auch immer minderwertiger....“

Scoops schaute ungeduldig einigen Laboriten hinter die Ohren.

„Von mir aus, packt sie zusammen, ich bin ja kein Unmensch“, knurrte er schließlich.

Lassalle und Elisar, die bisher stumm geblieben war, tauschten lästerliche Blicke aus.

Es hatte wieder zu regnen begonnen. In den dunklen Ecken der Gegend rotteten sich die Straßenkinder zu unübersichtlichen Haufen zusammen. Quälender Hunger und die Sucht nach Spish machten sie zu tollwütigen, kleinen Bestien.

Naila Elisar und Arthur Lassalle packten ihre zwei Geschöpfe mit den außergewöhnlichen Implantaten und eilten durch das Brackwasser der Straße auf ein altes Portal zu, das sich vor den Resten einer verfallenen Kathedrale auftat. Gerade noch rechtzeitig, denn die mächtige Masse der hungernden Meute drängte immer verwegener auf die von Laboriten besetzte Corus Plaza. Einige von ihnen bezahlten das mit dem Leben. Die TASP schoß rücksichtslos in die Menge, um ihren Rückzug abzusichern.

Vor einem Feuer, hinter einem Fahrzeugwrack, nagte ein kleines, unansehnliches Etwas an einer verkohlten Ratte. In dieser trostlosen Gegend war eine Begegnung mit orientierungslos umherirrenden Laborwesen nichts Ungewöhnliches. Sie verkrochen sich ängstlich in irgendwelche düsteren Schlupfwinkel, überlebten aber oft nur wenige Tage. Diesem da am Straßenrand fielen auf der rechten Seite des Kopfes rotgelockte Strähnen ins Gesicht. Die andere kahle Seite des Schädels glänzte frisch. Als er Elisar und Lassalle auf sich zukommen sah, verwandelte sich sein Gesicht in eine grinsende Fratze. Lassalle hatte die ungewöhnliche Kopfform des Wesens bemerkt. Ihm fiel auf, dass die ganze linke Schädelhälfte aus einem einzigen kunstvoll gearbeiteten Implantat zu bestehen schien. Es war durchaus möglich, dass es sich hierbei um eine seltene Spezialanfertigung handelte, um künstliches und organisches Material zu verschmelzen, erklärte er Elisar. Lassalle war elektrisiert. Er riss sich die komplette Schutzhülle vom Kopf und starrte den Kleinen an, als wenn er eine neue Spezies entdeckt hätte. Er kniete vor ihm nieder und strich fast zärtlich über das elfenbeinschimmernde Implantat. Beide Gehirnteile schienen unsichtbar miteinander verwachsen zu sein. Lassalle zog seine Mundwinkel unter der schorfbedeckten Haut zu einem schmerzhaften Lächeln auseinander. Dem Kleinen gefiel das. Seine lustigen Augen verfolgten aufmerksam jede Geste des merkwürdigen Fremden.

„Was meinst du Elisar, haben wir hier das lange vermutete R.U.D. 413 Implantat vor uns? Es könnte sich um ein Implantat der bisher unbestätigten dritten Generation handeln, das Bewußtsein aus chemischen und neuronalen Verbindungen erzeugt haben soll, was nie funktionieren wird. Die Prothese zieht sich fast bis zum Ansatz der Wirbelsäule hinunter. Sie haben den Kleinen in der OP quasi auseinander genommen und neu zusammengesetzt. Ich weiß noch aus eigener Erfahrung, wie man diese verängstigten, zitternden Geschöpfe in den Labs mit Drogen vollgepumpt hat, damit sie ihre Schmerzen ertragen konnten. Ihre Schreie machten mich wahnsinnig. Die überlebenden Techno-Krüppel finden sich dann vielleicht auf dem Mars wieder, um dort bei Überlebensexperimenten verbraucht zu werden“, erklärte Arthur Lassalle.

Mit barbarischem Geschrei fielen in diesem Augenblick hunderte verwilderter Straßenkinder über den Resthaufen der hilflosen Laboriten her. Die TASP 21 hatte sich zurückgezogen und den ausgehungerten Sprösslingen das Feld überlassen. Von überall her vernahm man jetzt Todesschreie und bald mischte sich das Blut der Armseligen mit dem Schlamm der Abwasserkanäle. Niemand versuchte das Morden aufzuhalten. In dieser entzivilisierten Wildnis konnte nur überleben, wer seine animalischen Instinkte sicher beherrschte und gleichzeitig seine humanen Wurzeln erfolgreich unterdrücken konnte. Elisar hielt ihre Waffe griffbereit und versuchte ihre beiden Geschöpfe zu beruhigen, bei denen sich das Grauen in ihren Gesichtszügen spiegelte.

„Ich stelle mir die Frage: Warum finden wir in diesem Sektor ein so hochwertiges Implantat, das mit der Erzeugung von Bewußtsein in Verbindung steht? Sind die Kontrollen der Trion-Labs von Pfafner-Organon nachlässig geworden, was ich mir eigentlich nicht vorstellen kann? Oder steckt dahinter vielleicht eine Absicht, die uns bisher verborgen geblieben ist?“, fragte sich Lassalle und berührte inbrünstig die Oberfläche des Implantats. Seine Finger zitterten leicht. Trotz seiner scheinbaren Gelassenheit bildeten sich Schweißtropfen auf seiner Stirn. Er war so in dieses Wunderwerk vertieft, dass er alles um sich herum vergessen zu haben schien.

„Wir wissen wenig über die neue Generation dieser Gedächtnisimplantate. Unsere Informationen stammen aus unzuverlässigen Quellen. Vor einigen Jahren war es noch möglich, implantierte, neuronale Impulse und menschliche Gefühlsregungen zu unterscheiden. Aber was sind diese Wesen heute? Was bist du für ein Ding, Kleiner, bist du ein Klon, ein Cyborg, ein Android?“

„Wenn es wirklich ein R.U.D. 413 sein sollte, dann könnte es vielleicht ein Sprachzentrum besitzen“, bemerkte Elisar.

„Er wird eher selten die Möglichkeit gehabt haben, mit Menschen Konversation zu treiben“, behauptete Lassalle.

Er ließ seinen Zeigefinger vor den Augen des Laboriten hin und her tanzen. Die Pupillen zeigten normale Reflexe an. Die Sensoren seiner Testsonde wiesen auf ein hochkomplexes System aus Impulszellen, Neuronenclustern und organisch vernetzten Biochips hin. Es gab aber keinen Hinweis auf die Ursprünge dieses Geschöpfes. Er hatte eine lebende Baustelle vor sich, das war gewiss. Lassalle schaute sich beide Hände und Arme an, fühlte die Blutbahnen, prüfte die Nervenimpulse. Er brachte ihn dazu, seinen Mund zu öffnen, schaute in seinen Hals, begutachtete Zunge, Speichel und Zähne. Das Wesen selbst betrachtete die ganze Prozedur als ein Spiel, denn es lachte plötzlich los, ja, es explodierte vor Lachen. Sein ganzer Körper schüttelte sich, als ob sich ein Sack voller Flöhe in ihm austoben würde. Dabei hatte es die Augen geschlossen und den Kopf zum Himmel gereckt, wie ein einfältiger Narr bei seinen routinemäßigen Heiterkeitsübungen. Lassalle klatschte dicht vor seinem Gesicht in die Hände, was schlagartig das Lachen unterbrach. Mit großen Augen starrte es Lassalle an und wartete auf weitere unterhaltsame Anregungen.

„Wir werden es Rudin nennen“, sagte Lassalle.

Von seiner Brust zog Lassalle eine transparente Acryl-Tafel hervor, in der ein vergilbter, alter Zeitungsausschnitt eingeschlossen war. Der Titel des Artikels war noch gut lesbar. Die Tafel hielt er Rudin vor die Nase. Rudin wich mit seinem Kopf ein wenig zurück, bemerkte Einzelheiten und schaute Lassalle an, als ob er die Regeln dieses Spiels zu begreifen versuchte. Die Strukturen, die er auf dem Schriftstück sah, schienen ihm nicht allzu viel zu sagen. Er grinste. Sein Gesicht verschob sich zu einer affenartigen Fratze. Er riss sein Maul auf, um es im selben Moment wieder zusammenzupressen und Speichel abzusondern. Es kam ein leichtes Zischen und Säuseln über seine Lippen. Krampfhaft versuchte er, sein aufgedunsenes Maul in die richtige Form zu pressen, um damit verschiedene Laute aneinander reihen zu können. Es ergoss sich ein Schwall von röchelndem, gerotztem Gequake aus seinem offenen Mundwerk. Nichts davon glich menschlichen Lauten, schon gar nicht organisiert gesprochenen Sätzen. Er lachte noch unverschämter. Lassalle zeigte ihm mit übertriebener Mimik, wie man seine Gesichtsmuskeln zu organisieren habe. Er tanzte mit der Zunge über seine Lippen und zeigte seine Zähne. Rudin machte mit viel Geplärre und überzogenen Gesichtsverzerrungen alles nach. Er berührte mit seinen schmutzigen Fingern die Buchstaben auf der Tafel, als plötzlich die Idee von einem Wort aus ihm hervorbrach: „Laa ...nd“ sagte Rudin und „Err ...de“, fast so klar und deutlich, als ob irgend jemand einen Schalter in seinem Hirn umgelegt hätte.

„Land der roten Erde, das ist richtig“, wiederholte Lassalle und schaute zu Elisar hinüber.

„Ich habe so etwas noch nie erlebt. Eine ungewöhnliche Leistung für einen Jung-Laboriten“, sagte sie erstaunt, schüttelte den Kopf und war dennoch überrascht, dass sie mit ihrer Vermutung Recht behalten hatte.

„Wir sollten ihn vorsichtshalber isolieren“, sagte Lassalle, „vielleicht ist es kein Zufall, dass wir ihn hier gefunden haben. Rudin enthält womöglich ein Programm zur Erkennung von Mustern und einen primitiven Scyler. Wenn wir Glück haben, finden wir ein vollwertiges genetisches Gerüst für Sprachinstinkte.“

„Dann können wir auch eine vollständige Syntax, einen Vokabularspeicher und Grundkenntnisse in Semantik bei ihm annehmen“, fügte Elisar Lassalles Vermutungen hinzu.

Lassalle litt. Er versuchte einen plötzlichen Schatten aus seinem Gesichtsfeld zu vertreiben, dabei spürte er einen leichten Druck in seinem Kopf. Im selben Augenblick verlor er das Gleichgewicht. Er wollte sich aufrichten, aber die ohnehin schon unwirkliche Gegend um ihn herum verschwamm geisterhaft vor seinen Augen und Arthur Lassalle fiel in ein unvollendetes, fassungsloses Nichts. Die Mächte der Finsternis zwangen ihn etwas zu sehen, was lieber im Verborgenen hätte bleiben sollen. Es gelang ihm nicht, diese Trugbilder des Schreckens zu missachten, die jetzt auf ihn einzustürmen begannen. Bilder aus seiner lieblosen Vergangenheit, die schon ewig an seinen Wurzeln zerrten und die ihm seinen letzten Lebensmut zu rauben versuchten.

Nackt und blutverschmiert an einer Nabelschnur hängend geriet er in eine Welt, die aus den Fugen geraten war. Seine Erzeuger bekam er selten zu Gesicht, sie blieben lebenslang Fremde für ihn. Oft wechselndes Personal schleppte ihn von Ort zu Ort. Vor dem alltäglichen Chaos und der Gewalt auf den Straßen versuchte man ihn so gut es ging fernzuhalten, aber genau dieses anarchische Treiben machte ihn neugierig. Wenn er schrie, wurde er mit nutzlosem Luxus vertröstet. Apparate überschütteten ihn mit Bildern, Superhelden erklärten ihm die Welt. Tagelang tobte er durch leere Hotelzimmer. Früh lernte er, dass man diese Welt zerstören muss, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Die Strafen ertrug er stoisch. Mit fünf Jahren steckte man ihn in ein Eliteinternat. Disziplin wurde hier mit subtilen Maßnahmen erzwungen. Er freundete sich mit den Laborratten der Schule an und brachte ihnen bei, sich seinem Willen zu unterwerfen. Als ein Mitschüler tödlich verunglückte, plante er in den weitverzweigten Kellern des Schulgebäudes eine geheime Kältekammer einzurichten, um den Schädel des Freundes zu konservieren und eines Tages mit modernen Methoden wiederzubeleben. Die Sache flog auf. Aber er gab nicht auf, diese Welt zu verstehen. Abseits seines Universitätsstudiums konstruierte er autonom agierende Rasenmäherschwärme als mobile Überwachungseinheiten und machte damit den halbstaatlichen Überwachungsapparat auf sich aufmerksam. In einer Phase der inneren Unsicherheit ließ er sich vom übermächtigen Sicherheitsdienst anwerben und ging privat eine unglückliche Beziehung mit seiner Studienkollegin Janine ein, die ihm eine Tochter gebar. Als Verschlüsselungsexperte, Codeknacker mit Pensionsanspruch und Familienmitglied im Routinestress wurde er noch unglücklicher. Diese Konstellation seines Lebens war zum Scheitern verurteilt. Über die Transhumanisten kam er in Kontakt mit der Machtelite der Vereinigten Zentral Staaten, die ein aufgerüstetes Menschenprogramm für eine optimierte Gesellschaft planten. Als einer ihrer Humaningenieure wurde er in die geheime Untersuchungskommission für außerterrestrische Fundstücke berufen. Nun kam er der Macht ein großes Stück näher. Der Ring änderte alles.

Nur langsam fand Arthur Lassalle wieder zu sich. Schweißgebadet keuchte er vor sich hin. Seinen Schädel spürte er als überdimensionalen Fremdkörper. Das mikroskopisch kleine Ring-Implantat in der Hypothalamus-Region seines Hirns versuchte immer noch einen großen Spalt für die „Götter“ zu öffnen, aber sein ausgeprägtes Ego befand sich ohnehin bereits in Auflösung und besänftigte damit einen inneren Zwiespalt, der ihm bisher beständig Kopfschmerzen bereitet hatte. Der Ring machte, so erschien es ihm, die außerhalb seines Hirns existierenden Realitäten kompatibel mit seiner Art des Denkens und verschaffte ihm eine Ahnung von der Wirklichkeit da Draußen, die aber garnicht mit seiner inneren Haltung zu den Dingen in Übereinstimmung gebracht werden konnte. Deshalb überbrückte Lassalle seine Denkmuster und Entscheidungsabläufe oft nur halbherzig mit dem Ring, aber oft auch gegen ihn. Vorsorglich ergänzte der Ring dann seine Träume, machte ihm seine Gefühle bewusst oder versuchte ihn in übersteigerte Euphorie zu versetzen und in ihm einen Übermenschen hervorzurufen, dem alles gelingen kann und der keinen natürlichen Grenzen mehr unterworfen ist. Wenn es ihm zu viel wurde, versuchte er abzuschalten, dann machte auch der Ring meistens seinen Frieden mit ihm. Ob er im Laufe der Jahre gelernt hatte, den Ring zu beherrschen oder der Ring ihn, musste ungeklärt bleiben. Er war überzeugt, seinen persönlichen Erfahrungen mehr zu vertrauen, als diesem Zwangsmodul in seinem Kopf.

Als ehrgeiziger junger Mann mit ausgezeichneten Referenzen war Arthur Lassalle im Jahre 2137 endlich in die Informations- und Wissenschaftselite von Scientropoli aufgestiegen. Scientropoli, dieses markante architektonische Symbol einer gigantischen Wissenschaftsmetropole, bestehend aus drei 2000 Meter hohen Turmstädten, die mit einem automatischen Verkehrssystem in den Zwischenstreben miteinander verbunden waren, war gleichzeitig Traum und Alptraum eines jeden Wissenschaftlers jener Zeit. Diese Stadt der drei Türme war eines der wichtigsten Legitimierungszentren des Masterplankalendariums. Hier zu arbeiten bedeutete höchste Anerkennung.

Die Jahre nach 2160 waren geprägt von einem gewaltigen Umbruch auf der gesamten Erde. Die lethargischen Jahre waren, nach endlosen Konflikten, endlich überwunden und die Menschheit versuchte die Ideen des Masterplankalendariums weltweit umzusetzen, um zu retten was noch zu retten war. Der geistige Vater dieses Programms, der berühmt berüchtigte Informationsadministrator der Vereinigten Central Staaten, Helmar Krassov, war im Jahr 2159 überraschend gestorben. Seine Persönlichkeit prägte diese Epoche. Krassov lehrte eine neue Sicht auf die Welt des Geistes, war aber auch für die wachsenden autoritären Strukturen und für das weltumspannende Propagandanetz verantwortlich, mit dem die Ideale des Masterplankalendariums pausenlos in die Hirne der Menschen gedonnert wurden und das in einem Staatenverbund, der immer noch stolz auf seine demokratischen Traditionen war.

Diesen Karrieresprung hatte Arthur Lassalle vor allem seinem Mentor, dem Genetiker, Neo-Alchimisten und einflussreichen Daanier Collin Athnan zu verdanken gehabt, der ihn nicht ganz freiwillig auf die Ideale des Masterplankalendariums eingeschworen hatte. Mit seinem Aufstieg als Privilegierter war die Implantierung eines obligatorischen sog. „Sorglos-Splitters“ verbunden gewesen, eine Bio-Sonde mit ungeahnten Möglichkeiten der Optimierung geistiger Fähigkeiten. Lassalle erinnerte sich noch sehr genau an diesen denkwürdigen Tag in seinem Leben. In einem festlichen Akt wurde ihm unter örtlicher Betäubung und im Beisein seiner Kollegen die Schädeldecke geöffnet. Die Positionierung des Implantats konnte er am Bildschirm verfolgen. Er sah, wie der Sender des Nanochips die Verbindungen zum zentralen Nervensystem aufbaute. Der Datenspeicher seiner „Liveline“ wuchs sekundenschnell zu voller Leistung heran. Sein Emotionalogramm füllte sofort danach den Bildschirm. Die Zellbäder begannen eine Verbindung zu den Synapsen aufzubauen. Ein Meer von Gedanken und angenehmen Gefühlen überschwemmte seine Gehirnfunktionen. Jeder andere hätte wahrscheinlich die euphorische Gedankenfülle nicht nur akzeptiert, sondern sie als immer währenden Glückszustand sehnlichst begrüßt. Lassalle aber konnte seine Hilflosigkeit und Verletzbarkeit nicht gänzlich ablegen. Als schließlich die Modulergänzungen als gelbe Pyramiden den Bildschirm füllten, gab es Beifall aus der Runde seiner Freunde und Kollegen. Die Prägung seines neuen Lebens war nun unumkehrbar in Gang gesetzt worden. Unter den Klängen von Beethovens 9. Symphonie wurde er in den dunkelblau erleuchteten Sakralraum geschoben, um für eine unbestimmte Zeit seine neu geordneten Gedanken und Gefühle kennen zu lernen und zu akzeptieren. Nun gehörte er dazu und dieser außergewöhnliche Ring, deren Bedeutung man ihm verschwiegen hatte, begann mit der forcierten Evolutionierung seiner Persönlichkeit.

Ring der Welten 1

Подняться наверх