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2. Arthur Lassalles Tod
Оглавление„Hallo, hörst du mich? Was ist los? Wach auf.“
Elisar hatte seinen Oberkörper aufgeschnürt und ihm einen Klaps auf die Wange gegeben. Den Injektor, mit dem sie ihn in die Realität zurückgeholt hatte, hielt sie noch in der Hand.
„Es geht schon“, sagte Lassalle leise, ohne selbst davon überzeugt zu sein. Die Horde der verdreckten Straßenkinder um sie herum nahm er jetzt ebenso wahr wie Rudins schmerzhaft gellendes Gelächter. Sie hatten sich in einem Halbkreis aufgebaut und suchten nach Spish, der Droge im 23. Sektor, die ihnen für wenige Stunden das himmlische Nirwana öffnen sollte. Ein etwa 14-jähriges Mädchen untersuchte Lassalles Distanzwaffe. Sie hatte rote, verfilzte Haare, Schlitzaugen und trug zahlreiche Gegenstände einer verschwundenen Jugendkultur wie Stammestrophäen an ihrem Körper. Ein zerfetztes T-Shirt, auf dem die Worte „The Big One“ gerade noch zu erkennen waren, bedeckte ihren Oberkörper. Schäbige, zusammengeflickte Knieschoner reichten ihr bis hinab zu den Schienbeinen und bunte Kopfhörerteile eines kaputten Multifunktionsplayers verstopften ihr Gehör. Um den Hals trug sie eine Schnur, an der die Figur des Gekreuzigten, winzige historische Speichermedien sowie verglaste Augäpfel zu erkennen waren. Die anderen Kinder trugen primitive Waffen wie Schleudern, Messer und Baseballschläger an ihrer zerschlissenen Kleidung. Alle Mitglieder der Bande waren durch Schmutzkrusten-Ausschlag im Gesicht vom GNS- Erreger gezeichnet. Miss „Big One“ erteilte Befehle an die anderen Kids mit Gesten und Lauten, die an eine Gebärdensprache erinnerten. Sie lachten, doch wenn sie sich bedroht fühlten, würden sie kalt und erbarmungslos zuschlagen. Töten, bevor man selbst getötet würde, hieß die Regel für ein kurzes unbarmherziges Überleben in dieser Wildnis.
Diese Kinderhorden, sicherlich auch gespeist aus den überzähligen Geburten Subworlds, hatten sich zu einer der großen Plagen des 23. Sektors entwickelt. Man traf sie fast überall. Kleine Gruppen, die sich ständig untereinander bekriegten und sich dabei brutal dezimierten, die niemals erwachsen wurden, weil sie irgendwann ja doch dem GNS-Syndrom zum Opfer fielen.
Das Mädchen zielte plötzlich mit Lassalles Distanzwaffe auf seinen Kopf. Sie schrie kurze Kommandos in die Runde und die Horde rückte näher heran. Elisar und Lassalle schauten sich an und waren sich einig, einer gewaltsamen Konfrontation mit den jungen Wilden aus dem Weg zu gehen. In unmittelbarer Nähe gab es einen versteckten Eingang zu einem der alten U-Bahnhöfe, den sie zum Abstieg in den Untergrund benutzen konnten.
Auf ein Zeichen aktivierten beide gleichzeitig ihre Nebelzylinder. Die kleinen Batterien sprengten sich heraus und berührten den Boden. Sofort wurden weitere Kapseln fontänenartig in die Umgebung abgesprengt. In wenigen Sekunden hüllte sich die Gegend in dichte Nebelschwaden, die auch der schwarze, heiße Nieselregen so schnell nicht vertreiben konnte.
Naila Elisar riss dem verdutzten Mädchen die Waffe aus der Hand und griff sich die beiden wie angewurzelt dastehenden Laboriten. Arthur Lassalle zerrte den überraschten Rudin hinter sich her, der gerade versuchte, sich mit den Kids anzufreunden. Die Horde der Straßenkinder taumelte und schrie durcheinander. Sie verstanden nicht sofort, was dieser plötzliche Nebel zu bedeuten hatte. Nur das Mädchen fand schnell die Orientierung zurück. Die Eile der Flüchtenden sagte ihr, dass ihnen da womöglich eine fette Beute entging.
Die Station war kaum noch als solche zu erkennen. Zwischen Wildwuchs, Zivilisationsmüll und verrottenden Fahrzeugwracks zeigten sich Ansätze von Stufen, die hinab führten. Die Gruppe musste sich einen Weg durchs Unterholz bahnen und morsches Gebälk beseitigen, um dem Rinnsal folgen zu können, das im Dunkel des Tunnels versickerte. Lassalle trieb die kleine Schar zur Eile an. Er hob und schob mit schmerzverzerrtem Gesicht alle Hindernisse beiseite, während Elisar ihnen mit ihrer Distanzwaffe den Rücken frei hielt. Etwa in der Mitte der Treppe versperrte ihnen das alte, verrottete Sperrgitter der U-Bahn-Station den Weg. Die Stahlstreben waren zwar für einen schmalen Durchgang aufgebogen worden, aber es dauerte eine Weile, bis sich alle durch das Loch hindurchgezwängt hatten. Lassalle schickte sich gerade an, das Hindernis zu durchqueren, als ihm unter der linken Schulter ein scharfer Gegenstand traf und die Haut zerfetzte. Er taumelte. Elisar feuerte auf die Schatten, die ihnen gefolgt waren und die Gestalten verkrochen sich flink in die Büsche.
Lassalle versuchte den Schmerz zu ignorieren, der seine linke Körperhälfte zu lähmen begann und trieb die Gruppe tiefer in das Dunkel der Station hinein. Hitzeschauer ließen bald darauf seinen Körper erzittern. Er schwitzte. Es kostete ihn immer mehr Kraft, die Schmerzen zu ignorieren. Fiebervisionen begannen ihn zu peinigen. Sich weiter zu quälen erschien ihm immer sinnloser zu sein. Die Kräfte, denen er sich zu widersetzen versuchte, wurden mächtiger denn je. Er kannte sich und wusste, wie gefährlich es war, sich in Selbstzweifeln zu ergehen, aber was war jetzt noch möglich? Er hatte wirklich alles getan, um einer neuen Zivilisation nach dem endgültigen Zusammenbruch der alten Ordnung einen hoffnungsvollen Neuanfang zu ermöglichen. Die Zeit war gekommen angesichts des nahen Todes den Ereignissen ihren Lauf zu lassen und zu hoffen, dass alles so geschieht, wie er es vorbereitet hatte.
Die Welt befand sich in einem aussichtslosen Zustand. Niemand, außer vielleicht der Administratorenrat der Ersten Ebene, kannte das gesamte Ausmass der weltweiten Ausbreitung intelligenter Nanostrukturen und ihrer komplexen Zellen. Niemand wusste genau, was die vielen aggressiven Tier- und Pflanzenmutationen zu bedeuten hatten, die gewachsene biologische Strukturen zerstörten. Und niemand zählte mehr die Toten, die an den neuen resistenzfördernden Anti-Viruserregern zugrunde gingen. Die Ungleichgewichte in der Natur, im ganz Kleinen ebenso wie im Großen potenzierten sich zusehens. Deutete sich da vielleicht schon ein mögliches Ende an? Dieses Ende würde einem Suizidversuch des menschlichen Geistes gleichkommen. Wir führen immer nur Krieg, Krieg gegen uns selbst. Und wir kämpfen wie besessen gegen unsere wertvollsten Lebensgrundlagen. Die Mächtigen auf diesem Planeten hatten jahrhundertelang alles getan, um die Massen gegeneinander aufzuhetzen und den Profit abzuschöpfen, um noch mehr Macht zu erlangen. Das Masterplankalendarium war nur noch der hilflose Versuch, ein Stück der Zukunft mit Lügen, Betrug und grenzenloser Gewalt für sich zu retten, nachdem alle anderen Maßnahmen gescheitert waren. Dieses Chaos würde irgendwann alles mit sich in den Abgrund reißen. Seine Mutlosigkeit verführte ihn dazu, den Zustand der Welt in den schwärzesten Farben zu sehen. Aber was machte das schon. Sein Schicksal war besiegelt. Sein Samen wird mit hoher Warscheinlichkeit neues Leben hervorbringen. Und die Kapsel, für die er sein Leben geopfert hatte, das Ursamenkorn der neuen Zivilisation, befand sich an ihrem vorbestimmten Platz, an dem es erblühen sollte, dafür hatte er gesorgt. Wenn die Überlebenden irgendwann in der Zukunft gelernt haben werden, die Zeichen des Mikrokosmos und des Makrokosmos mit seinen Werkzeugen richtig zu deuten, dann haben sie somit eine realistische Chance das Menschheitsprojekt auf eine höhere Stufe zu heben.
Als Elisars Flächenstrahler den Tunnel taghell erleuchtete, gelang es ihm, seine Hirngespinste für einige Augenblicke zu vergessen. Die Gruppe folgte einem langen Gang, der sie sanft hinab führte zu den einstigen Bahngleisen der Station. Links und rechts sah man mit Gerümpel und Unrat vollgestopfte tote Gänge. Aus verrosteten Gittern schoss Abwasser in die verschlammten Rinnsale. Es stank entsetzlich. Wasser tropfte von der Decke, floss aus den Wänden und bildete auf dem schlammigen Untergrund eine Lache. Sie stiegen weitere Stufen hinab, durchquerten eine große Halle mit tropfender Decke, verrußten Wänden und aufgerissenem Fußboden, bedeckt mit faulenden Tierkadavern. Auf einigen Wandflächen sah man Reste von Plakaten, die dazu aufforderten, Lebensmittelvorräte zu konservieren und nicht bei sich zu tragen. Dazu Hinweise auf die Kühlhausabteilung C 17. Die Rolltreppen, die vor vielen Jahrzehnten Fahrgäste zu den Bahnsteigen befördert hatten, waren noch, mit etwas Fantasie, als solche zu erkennen.
Rudin fing an zu murren und zerrte ungeduldig an Lassalles Arm. Mit dieser finsteren Welt hier unten wollte er nichts zu tun haben. Lassalle redete ihm gut zu, obwohl er selbst große Probleme hatte durchzuhalten. Die Wunde blutete stark. Blut und Schweiß verklebten Körper und Kleidung. Aus den Gängen schlug ihnen Rauch entgegen. Als Elisar unter ihnen an den Wänden der großen Halle flackernde Lichter bemerkte, löschte sie vorsichtshalber den Flächenstrahler. Vor ihnen lagen die Bahnsteige der alten Untergrundbahn, die vor gut hundertzwanzig Jahren ihren Betrieb eingestellt hatte. Hier unten war damals eine erste Verteidigungskolonie errichtet worden, von Menschen, die dem wachsenden Elend und dem Terror auf den Straßen der verfallenden Stadt entkommen wollten. Nach Hyperinflation, Wirtschaftskollaps und Jahren des Hungerns hatte die Zeit der großen Bürgerkriege begonnen. Mit ihnen verloren die Staaten des Kontinents endgültig ihre Transparenz und ihren inneren Zusammenhalt. Staatliche Institutionen verwandelten sich in kurzer Zeit in aggressive und ohnmächtig agierende Monster-Bürokratien, bevor sie sich aufzulösen begannen und völlig verschwanden. Mit dem Verlust ihrer Handlungsfähigkeit und Autorität verloren sie auch ihren Sinn. Multinationale Konzerne, die sich zu Staaten im Staate gewandelt hatten, übernahmen die Ordnungskräfte, um ihr Eigentum zu schützen. Mächtige Privatarmeen, die vorher die Produktions- und Verteilungsmonopole ihrer Besitzer gesichert hatten, zeigten nun ihre giftigen Zähne. Die zivilisierte Welt zerfiel in undurchsichtige Oligarchien, die ihre neu gewonnene Macht mit niemandem mehr teilen wollten und mit ihrem ganzen Apparat nach territorialer Expansion strebten.
In den armen Gegenden der Stadt begann der tägliche Terror und Gegenterror der notleidenden Massen um die letzten Ernährungsreserven, ein Krieg, der auf grausamste Art und Weise geführt wurde. Niemand durchschaute mehr die Zusammenhänge der weltanschaulichen Gruppierungen und nur wenige Menschen besaßen noch die Kraft, sich gegen das Chaos zur Wehr zu setzen. Die Lebensbedingungen der einfachen Leute wurden unerträglich. Das alles ging Arthur Lassalle durch den Kopf, als er auf einer schmutzigen Kachelwand Reste eines vergilbten Wahlplakats zu erkennen glaubte.
Von dieser Entwicklung blieb damals auch das Streckennetz der Untergrundbahn nicht verschont. Die Kolonisten hier unten führten einen jahrelangen, erbitterten Krieg gegen die Metromilizen, die versuchten, den Untergrund von „Gesindel“ zu säubern. Züge wurden überfallen, ausgeraubt und in Brand gesteckt. Die Kommandos der Kolonisten flüchteten sich immer tiefer in das schier unendliche Netzwerk der Gänge, Tunnel und Kanäle unter der Stadt. Hier kannten sie sich aus, hier waren sie einigermaßen sicher. Hier lag vor vielen Jahrzehnten der Ursprung der unterirdischen Lebensgemeinschaften.
Die große Halle, vor der Naila Elisar, der schwer verletzte Arthur Lassalle, der ungeduldige Rudin und die beiden kleinen, staunenden Laboriten standen, gehörte noch zum Niemandsland zwischen Ober- und Unterwelt. Ein Gebiet zwischen Überleben und Tod. Hier sammelten sich die Gestrandeten und Aussätzigen, die verwahrlosten Freaks und die ruchlosen Gauner, die einsamen Verrückten und die ganz normal Wahnsinnigen und warteten darauf, dass die Schleusen der Welt des organisierten Untergrunds sich für einige von ihnen öffneten.
Auf den vierzehn Bahnsteigen hatten sich die Flüchtlinge dicht gedrängt niedergelassen und ihre Lager errichtet. In den einstigen Fahrrinnen, in denen es keine Schienen mehr gab, brannten kleine Feuer. Der Rauch konnte kaum abziehen und tauchte die ganze riesige Halle in eine bizarre Nebellandschaft. Die Menschen kauerten auf ihren wenigen Habseligkeiten. Es wurde gekocht, Kinder turnten umher, Greise schliefen in Verschlägen aus Pappe und Müll. Auf den schmalen Stegen zwischen den Parzellen herrschte reges Treiben. Eine beinlose Kreatur schob sich auf einer Rollhilfe mühsam durch die Masse der Anwesenden. Von irgendwoher erklang eine Geige, die sich aber im allgemeinen Geräuschwirrwarr fast verlor. Wie in einer Kathedrale wurde der Lärm durch die hohe, gewölbte Decke vervielfacht und davongetragen.
Die Ankömmlinge erregten kaum Aufmerksamkeit. Lassalle gelang es nur noch mühsam, aufrecht zu gehen. Er hatte viel Blut verloren. Elisar versuchte ihn zu stützen, aber nach den ersten Stufen versagten seine Beine und er brach kraftlos zusammen.
„Es ist hoffentlich nur ein Schwächeanfall“, sagte jemand zu Elisar.
Vor ihr baute sich eine stämmige Person auf. Er nannte sich Osjan Tolpok. Sein vernarbtes Gesicht glich einer rätselhaften Kriegsbemalung. Jede dieser Verwundungen schien ihre eigene Geschichte zu erzählen. Er hatte sich in einen zerschlissenen Umhang gehüllt, trug Schuhe mit weiträumigem Ausblick für die großen Zehen sowie ein Stirnband als Kopfbedeckung, das die zahlreichen Zöpfe zu bändigen versuchte, die sein Antlitz umspielten. Auffällig war auch die Tätowierung einer Krähe oder eines Raben auf seiner linken Hand zwischen Zeigefinger und Daumen.
Naila Elisar ignorierte ihn erst einmal. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt jetzt Lassalle. Nachdem sie einen kurzen Blick auf seine blutige Schulter geworfen hatte, bemerkte sie, dass auch Lassalles Hose blutverschmiert war. Sie hatte ihre enge Kleidung geöffnet, sodass sie sofort das passende Instrument aus dem Brustbeutel ihrer Schutzweste ziehen konnte, um Lassalles Hosenbein aufzuschlitzen.
„Das sieht nicht gut aus, beim Krassov“, bemerkte Tolpok, als er sich über das nackte, rote Knie beugte. Auf Elisars Stirn bildeten sich Schweißtropfen und ihre Augäpfel traten leicht hervor. Es war im ersten Moment keine offene Wunde zu erkennen. Tolpok half ihr, Lassalle zu entkleiden und beobachtete dabei Elisars zitternde Hände. Lassalles gesamte Unterbekleidung war mit Blut getränkt. Sie fanden eine Wunde unter seinem linken Arm. Sein Anzug war zerrissen und ein daumengroßes Stück Fleisch klaffte heraus. Elisar riss ein Stück Verbandszeug aus einer Körpertasche und presste es auf den roten Sumpf. Tolpok reichte ihr sein Halstuch.
Lassalle musste diese Wunde schon einige Zeit mit sich herumgetragen haben, ging es Elisar durch den Kopf. Warum hat er geschwiegen, dieser verdammte Kerl? Nahm er in Kauf, hier zu sterben oder hatte er die Folgen der Verwundung unterschätzt?
„Auf den Boden mit ihm, holt Wasser, schnell!“ Eine kauzige Alte trat aus dem Dunst der Halle hervor und begutachtete mit zerknautschter Miene Lassalles Körper. Sie öffnete vorsichtig seine schorfigen Augenlider und zurrte an seinem Verband. „Der wird nich mehr, der is hinüber“, fauchte sie. Die Greisin tauchte Stoffreste in die dunkle Brühe, die man ihr reichte und packte sie auf Lassalles Waden.
„Er hat die Brut. Weg von ihm oder wollt ihr alle krepieren?“
Die Umstehenden zuckten zurück. Naila Elisar hielt ihm ein Riechfläschchen unter die Nase, das sie aus ihrem Brustbeutel gekramt hatte.
„Er muss hier weg, bringt ihn raus!“, kreischte die Alte und bekreuzigte sich. Lassalle kam wieder zu sich. Seine Gesichtszüge hatten sich in diesen wenigen Augenblicken deutlich verändert. Die Anspannung, die ihn in den letzten Stunden gequält hatte, war verschwunden. Elisar wusste, was dieses leise Lächeln auf seinem Gesicht zu bedeuten hatte. Fragen wurden unnötig, um Lassalles Zustand zu begreifen. Der Tod hatte ihn eingeholt und Arthur Lassalle war zum ersten Mal in seinem Leben wirklich bereit loszulassen. Für Elisar kam sein Ende plötzlich genug. Schlagartig wurde ihr klar, was sie nun zu erwarten hatte. Die ParaCybernetik-Abt. ohne einen Arthur Lassalle war für sie unvorstellbar. Sie sah ihn an und bedauerte, wie wenig sie diesen Menschen wirklich gekannt hatte.
Für Lassalle gab es nur noch eine Sache zu regeln. Elisar wusste, was kommen würde. Sie beugte ihr Ohr an seinen Mund. „Blue . . child“, hauchte Lassalle müde. „Bluechild“, wiederholte Elisar. Er nickte und es gab noch einmal diesen unsicheren Blick zwischen ihnen, der ihr die nötige Zuversicht in die kommende Aufgabe nicht zu geben vermochte. Sein Blick verlor sich irgendwo im Jenseits. Schneller als sie ahnen konnte, war es nun an ihr, sich um die überlebenswichtigen Aufgaben der Subworld-Gemeinschaft zu kümmern.
Nach seinem letzten Lebenszeichen wurde Arthur Lassalle auf eine eilig zusammengebundene Bahre gebettet und von Osjan Tolpok und Naila Elisar durch die Halle getragen. Rudin und die Laboriten folgten ihnen. Das Stimmengewirr verstummte kurz, nur ein einsames Streichinstrument reihte hart gestrichene Töne aneinander. Diese Laute wurden vielfach von den Wänden des großen Saals der Untergrund-Bahnhöfe zurückgeworfen. Man hätte meinen können, es erklänge für wenige Augenblicke ein Choral während der Feierlichkeiten für einen nicht unbedeutenden Toten. Aber eine Leiche bedeutete diesen Menschen nichts. Das Sterben gehörte zum Alltag und wurde ohne tieferes Bedauern hingenommen. Trotzdem hielten sie für kurze Zeit inne. Eine uralte Tradition wurde lebendig. So, als erinnere man sich doch noch irgendwie an die Bestattungsrituale der Vergangenheit.
Am anderen Ende der Halle fanden sich Leute bereit, Lassalles Leiche in einen der vielen tausend Schächte der großen Unterweltkanäle abzukippen, um dort vom Strom der tiefen Wasser für immer fortgerissen zu werden. Elisar machte ihnen klar, dass sie, um Abschied zu nehmen, noch einmal mit dem Toten allein sein wollte. In einer Tunnelgrotte der alten Kanalisation, die noch aus sorgfältig gemauerten Ziegeln bestand, ließen sie Elisar mit Lassalles Leiche allein. Sie beleuchtete den Gang mit ihrem Flächenstrahler und begutachtete noch einmal sein geschundenes Antlitz.
„Was verbirgt sich hinter deiner Maske, Arthuro?“
Elisar konnte ihren inneren Zwiespalt nicht verleugnen, wenn sie an die vergangenen Zeiten dachte, die jetzt, im Angesicht des Toten, wieder lebendig wurden. Sie versuchte nicht zuzulassen, dass Lassalles Tod ihr zu nahe ging. Sie akzeptierte nur ein unbestimmtes Gefühl von Verlust und innerer Leere. Dieser Egomane Arthur Lassalle, der doch vom Menschsein so viel erwartete, hatte sie als selbstverständliche Ergänzung seines Willens betrachtet, hatte sie benutzt und ihre Kooperation vorausgesetzt, ohne sie auch nur einmal als eigenständige Person wahrzunehmen. Sie hatte sich von ihm verführen lassen, seinen Gedanken mehr Aufmerksamkeit gewidmet als ihren Bedürfnissen. Und sie hatte schließlich nur noch in seiner Gedankenwelt gelebt. Und nun war plötzlich alles vorbei. Sie wusste natürlich, ohne Arthur Lassalle gäbe es diese unterirdische Welt der Subworld-Gemeinschaft vielleicht nicht mehr. Mit ihm hatte sich eine biotechnologische Revolution vollzogen, die das Überleben der Menschen hier unten für einen längeren Zeitraum gesichert hatte.
Naila Elisar erinnerte sich noch deutlich an ihre erste Begegnung. Er wurde vor nunmehr 19 Jahren als Fremder, halb verhungert, von einer Streife irgendwo in den unteren Verbindungsnetzen von Subworld aufgegriffen, ohne eine Nummer auf seinem Arm vorweisen zu können. Ein Mensch, der es geschafft hatte, ohne Registriernummer bis in die Festung Subworld vorzudringen, das hatte es lange nicht gegeben. Elisar fiel die Aufgabe zu, ihn in der Quarantänestation zu befragen. Ein großer, sehr kultivierter Mensch hatte da vor ihr gesessen. Mit seinem weißgrauen Haarschopf, seinem goldbraunen Teint und dem Zwanzigtagebart sowie mit seinen grüngrauen Augen, die seltsamerweise den ihren glichen, hatte er auf Elisar gewirkt wie der Muster-Schurke einer INet-Serie. Er war für sie damals das Phantom aus der anderen Welt. Im Laufe des Verhörs bekam sie einen ersten Eindruck von seinem Wissenspotential und seinen Fähigkeiten, Menschen für sich einzunehmen und auf besondere Weise zu beeinflussen.
Arthur Lassalle berichtete ihr von seiner Arbeit in Scientropoli. Diese weltberühmten drei Türme, die als Townhall City eine ganze Stadt in sich vereinten, kannte Naila Elisar aus unzähligen INet-Berichten. Sie erfuhr von Lassalle, wie hier auch alle Fäden des Terraforming-Projekts für den Mars zusammenliefen und von den geheimen Hierarchien, die es prägten. Die Einschränkungen durch das Masterplankalendarium hatte Lassalle in diesem Umfeld besonders deutlich zu spüren bekommen. Die meisten Projekte und Abteilungen dieser senkrechten Stadt wurden von kleinen, autonomen Teams geleitet und beschränkten ihre Arbeit auf ein winziges Teilgebiet. Kontrollgremien der komplexen Kompetenz-Kommissionen achteten darauf, dass niemand einen Überblick über das komplette Programm erhalten konnte. Niemand wusste so genau, was die anderen Teams taten, was ganz im Interesse des Masterplankalendariums zu sein schien.
Lassalle sagte aus, dass er zum Hydra-Projekt gehörte, in dem menschliche Embryonen genetisch verändert wurden, um sie besser an die Verhältnisse des Mars anzupassen. Sein Teilprojekt hatte die Aufgabe, den neuronalen Informationsaustausch biologischer Systeme zu analysieren und zu optimieren. Er war unter anderem für die Analyse morphogenetischer Resonanzen zuständig, um einen unbewussten Infostrom zwischen lebenden Organismen zu erforschen. Diese Fähigkeit, die dem Homo sapiens wahrscheinlich im Laufe der Evolution verloren gegangen war, hatten einige führende Forscher bei Delphinen nachweisen können. Dadurch wurde der heutige Mensch aus dem intuitiven Naturkreislauf verdrängt, wie einige Theorien behaupteten, die sich mit den Ursachen der weltweiten Umweltzerstörungen befassten. Diese menschliche Ureigenschaft wollte man wieder rekonstruieren. Ganz Scientropoli arbeitete damals eingehend an organischen Programmen, um zum Beispiel die Quantenspeichertechnologie voranzubringen, die noch immer nicht den Erwartungen gerecht geworden war.
Der Tod seines Mentors Collin Athnan und der Beginn der Daanjeries-Verfolgungen im Jahr 2147 riss Lassalle aus seinem geordneten Leben und er wusste damals nichts mehr mit sich anzufangen. Er verkroch sich, lebte einige Jahre in einem Kaff an der Grenze der Hochebenen und begann seine innere Welt, sein wahres Ich zu erkunden und die Einflüsterungen der äußeren Welt anzuzweifeln. Er machte im Laufe der Jahre eine Wandlung durch, die sein Weltbild quasi auf den Kopf stellte. Es war also nicht nur Abenteuerlust, behauptete er, als er das Wagnis einging, das sagenhafte, dunkel-verschlossene Subworld aufzusuchen, von dem es nur Gerüchte gab und von dem keine Rückkehr in ein geordnetes Leben in einem anerkannten Sektor mehr möglich war.
Der 23. Sektor war schon vor Jahrzehnten von den Vereinigten Central Staaten zu einer unbewohnbaren Sperrzone erklärt worden. Es sollen dort angeblich bei radioaktiv verstrahlten Nano-Organismen Unregelmäßigkeiten aufgetreten sein, die wahrscheinlich das GNS-Syndrom auslösten und verbreiteten. Der Sektor von der Größe eines Planquadrats war über Jahrzehnte hinweg vernachlässigt und ausgebeutet worden, obwohl dieses Gebiet einmal zur menschlichen Hochkultur gehört hatte. ‚Wenn man sich an alle unvermeidbaren Kriege, biologischen Attacken und genetischen Planspiele erinnern würde, die sich im Laufe der Zeit auf diesem Territorium abgespielt haben, ist es geradezu ein Wunder, dass dort heute überhaupt noch Leben möglich ist . . .’, war in einer kritischen INet-Studie zu lesen gewesen. Die Administration schaffte sich also mit der Sperrzone ein lästiges Problem vom Hals. Sollte es Arthur Lassalle trotzdem gelungen sein, ohne Unterstützung von außen und ohne besonderen Auftrag, in den 23. Sektor einzudringen? Elisar hatte stets nicht nur diesem Teil seiner Schilderungen misstraut.
Nach einer kurzen Gewöhnungsphase im Untergrund war Lassalle bald von Subworld eingenommen. Das fürsorgliche Miteinander, der intensive Austausch im sozialen Zusammenleben und die außergewöhnlichen architektonischen Konstrukte hatten es ihm angetan. Er stellte bereitwillig sein Wissen der Gemeinschaft zur Verfügung und gewann neue Lebensenergie durch die Unterstützung, die man seinen Projekten entgegenbrachte. Er begann sich um die Gewächshäuser zu kümmern, optimierte den Gemüseanbau unter künstlichem Licht. Unter seiner Anleitung entstanden neue Pilzkulturen, die in den dunklen, feuchten Kammern besonders gut gediehen und die durch kompetente Zubereitung sehr aromatisch schmeckten. Das kleine Laboratorium des Arthur Lassalle entwickelte sich bald zu einem Komplex mit mehreren Abteilungen. Züchtungsprogramme brachten Gemüsesorten hervor, die unter erdwarmen Nährlicht und intensiver Bewässerung prächtig gediehen. Er schuf mit der Zeit ein kleines tropisches Paradies unter der Erde.
Neben seiner praktischen Arbeit für die Subworld Gemeinschaft gab es in seinem Wesen aber auch eine dunkle Seite. Er zog sich beispielsweise tagelang in sein Labor zurück, um anorganische Substanzen mit lebenden Nervenzellen zu verknüpfen oder Hybrid-Netzwerke aus Biochips und gentechnisch veränderten Stammzellen zu verschmelzen, um damit Wachstumsprozesse anzuregen, wie er erklärte. Er sprach davon, dass er die Aura einer Pflanze wahrnehmen könne und es ein imaginäres Gedächtnis der Natur gäbe, das die Welt unter bestimmten Umständen in einem ganz anderen Licht erscheinen lasse. In diese Welt konnte ihm niemand folgen, aber man hörte neugierig seinen Vorträgen zu.
Nachdem schon in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eindeutige Beweise vorgelegen hatten, dass noch andere intelligente Lebewesen im Universum existierten, verlor der Mensch als einzigartiges Wesen seine Bedeutung. Der Homo sapiens wurde eine Möglichkeit unter Myriaden anderer Möglichkeiten. Lassalle vermutete sogar, dass der Mensch nichts anderes als eine primitive Ausgeburt einer noch höher entwickelten Intelligenz sein könnte, die einst die Erde besucht hatte. Er schenkte allem, das der menschlichen Bewusstseinsentwicklung diente, allergrößte Aufmerksamkeit. Es ging das Gerücht um, er suche nach einer Möglichkeit, die humanitäre Evolution zu beschleunigen. Leider wollte oder konnte er sich über den Kern seiner Projekte in Subworld mit niemandem austauschen.
Naila Elisar erinnerte sich noch gut daran, wie misstrauisch man Arthur Lassalle schon damals begegnet war, als er sich als Angehöriger der Wissenschaftselite von Scientropoli zu erkennen gab. Der Rat der Sieben von Subworld nahm ihn stundenlang ins Verhör und versuchte alles über das Masterplankalendarium und seine Folgen aus ihm herauszuquetschen. Ein Rest Skepsis über diesen meist durchaus gesprächsbereiten, hochrangigen Flüchtling, der in Subworld nun um Asyl bat, blieb bestehen. Vielleicht um seine Loyalität zu beweisen gab er die entscheidenden Impulse zum Aufbau der ParaCybernetik Abteilung, der er die Aufgabe erteilte, die machtpolitischen Konstellationen auf der Oberfläche zu beobachten und Strukturen aufzudecken, die zu einer Gefahr für Subworld werden könnten.
Die Vereinigten Central Staaten feierten damals das hundertste Jahr des Terraforming-Programms mit dem jährlichen Erde-Mars Fest. Das INet explodierte fast von all den Massenveranstaltungen, den Rückblicken auf die geleistete Arbeit, den Preisverleihungen, dem festlichen Kultural der Daanier mit der Präsentation der 20 Ringe, dem bedeutendsten Heiligtum der Nationen. Aber auch den Tausenden von Opfern des Terraforming-Programms wurde die letzte Ehre erwiesen. Der freundliche Präsident Rasmus Pekker stand dabei im Mittelpunkt. Seine Aufgabe bestand nicht darin, Macht auszuüben, sondern die interessierte Öffentlichkeit von ihr abzulenken, erklärte Lassalle. Pekker versuchte die Vertrauenskrise, die die Folgen des Masterplankalendariums in weiten Teilen der Bevölkerung hinterlassen hatte, in neue Bahnen zu lenken. Natürlich ging alles weiter wie bisher. Die Vereinigten Central Staaten blieben die verdammte, alles verschlingende Krake auf diesem Planeten.
In Subworld wirkte diese verschwenderisch inszenierte Euphorie faszinierend und abstoßend zugleich. Naila Elisar hatte in der ParaCybernetic Abt. gelernt, den Bildern zu misstrauen, die das INet massenhaft ausspie. Ihre Aufgabe war es, pompöse Nachrichten auf ihren eigentlichen Kern zu reduzieren, versteckte Absichten herauszufiltern, Drohungen wahrzunehmen und schillernd verpackte Luftblasen zu ignorieren. Kurz gesagt, die Nachrichten des INet auf den Punkt zu bringen.
Arthur Lassalle hielt lange Vorträge über politische Ökonomie und versuchte zu erklären, wie das System der Vereinigten Central Staaten seiner Meinung nach funktionierte und wozu es diente. Die großen Parteiapparate hingen alle an einer Nabelschnur, behauptete er. Die globale Demokratie war nichts anderes als eine leere aber sinnstiftende Bedeutungsmaschine, die dazu diente, die Machtinteressen einer kleinen Elite durchzusetzen. Die Masse verschenkte ihre legitimen Rechte an den Wahlgeräten. Die privatwirtschaftlich organisierten Medienmonopole hämmerten pausenlos den Konsumenten ein, dass nur das jetzige System in der Lage ist, die anhaltenden Krisen zu bewältigen. Er war ein leidenschaftlicher Aufklärer gewesen. Sein Unbehagen über diese Zustände da draußen übertrug sich mit der Zeit auf die ganze Abteilung.
Das bleiche Gesicht des toten Arthur Lassalles wirkte neben den dunklen Schatten und den schwarzroten, feuchten Ziegeln der Wand noch weißer und unheimlicher als es ohnehin schon war. Nachdem sie ihm vorsichtig beide Augen zugedrückt hatte, war klar, dass sie die schmutzige Arbeit, die nun getan werden musste, nicht weiter hinauszögern konnte. Sie schaute sich nach einem harten Gegenstand um, den sie im dunklen Teil des Ganges aus der Wand zerrte. Dann setzte sie Lassalle aufrecht gegen das Mauerwerk und ließ seinen Kopf auf die Brust fallen, so dass sich sein fast kahler Schädel ihr entgegen neigte. Sie nahm den Stein in beide Hände und ließ ihn mit der ganzen Kraft ihres Körpers auf die Schädeldecke krachen. Lassalles Schädel knackte, aber auch beim zweiten Schlag gab er nicht nach. Blutgerinnsel verteilten sich über sein Gesicht. Naila Elisar schloss die Augen, festigte ihren Stand und schlug erneut zu. Unter der dunkelroten Haut zerplatzten die gefüllten Adern. Beim nächsten Schlag riss der Schädel auf und das Blut spritzte nach allen Seiten davon.
Zwei Arme packten sie abrupt von hinten und schleuderten sie zu Boden. Sie schrie und wehrte sich mit allen Kräften, die ihr zur Verfügung standen. Aber auch Schreie und Flüche halfen nichts. Wie konnte sie diesen Kerlen begreiflich machen, dass es hier nicht um die Schändung eines Toten ging? Noch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde ihr schwarz vor Augen. Ein Schlag hatte ihre Schläfe getroffen ...
...Schatten, Lichter, kreisende Gesichter, helle, weite Augen, die Laboriten summten wie Tiere. Ist das Rudin, der da seine Zunge herausstreckt? Osjan Tolpok löste sich zeitlupenhaft aus dem dunklen Hintergrund und legte ihr seine Hand auf die Stirn.
„Wo ist er?“ schrie sie.
Naila Elisar gelang es, in nur wenigen Sekunden, ihre Gedankengänge wieder aufzunehmen. Sie hob den Kopf und schaute in die Runde. Die Leiche war verschwunden. Tolpok half ihr unbeholfen auf die Beine. Es gab nur einen Gang, der zu den großen Kanälen führte. Noch während sie sich zu orientieren versuchte, sprang sie auf und rannte taumelnd den leeren, langen Hauptgang hinunter. Ein erstes donnerndes Rauschen nahm sie nach zweihundert Metern wahr. Die Beleuchtung verblasste hinter ihr und sie eilte in der Dunkelheit dem feuchten Luftzug entgegen, der ihr aus der Tiefe entgegen blies. Verzweigungen taten sich auf, Stufen offenbarten Abgründe und bald tastete sie sich nur noch an den Wänden entlang, immer das Dröhnen des Flusses im Ohr, der sich irgendwo unter ihr seinen Weg bahnte. Eine winzige Lichtschattierung in der Ferne des Ganges gab ihr Hoffnung, noch rechtzeitig die Männer zu erreichen und das Abkippen der Leiche zu verhindern. Nach weiteren, für sie endlos erscheinenden Sekunden des Voranschreitens erreichte der Strom neben ihr eine ohrenbetäubende Lautstärke. Sie ertastete neben sich einen Torbogen, unter dem das Wasser ungebändigt dahinschoss. Jetzt konnte sie die diffuse Lichtquelle erkennen. In einigen Metern Entfernung führte eine Brückenkonstruktion über den Kanal und unter dieser Brücke stürzte sich der Fluss in den schwarzen Schlund eines Überlaufbeckens.
Auf der Brücke hatten die Männer begonnen, Lassalles Leiche zu entkleiden. Sie nahmen ihm auch den kleinsten Gegenstand ab, um ihn für sich zu verwerten. Elisar betrat die Brücke und ging sofort auf die beiden los. Die Männer waren so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie Elisar erst bemerkten, als ihr Schatten auf den Planken der Brücke auftauchte. Erschrocken drehten sie sich um. Die nackte Leiche knickte dabei ein und rutschte wie ein nasser Sack auf den glitschigen Bohlen durch das Geländer hindurch, tauchte in den Wasserfall unter der Brücke ein und war im selben Moment unrettbar verschwunden.
Elisar hätte jetzt schreien können, wenn sie nicht schon vom donnernden Flussbett wie betäubt gewesen wäre. Sie hatte gründlich versagt. Über die Konsequenzen durfte sie jetzt nicht nachdenken, sie hätten sie vielleicht um den Verstand bringen können. Instinktiv berührte sie die linke Brusttasche ihres Anzugs. Lassalles Acryl-Tafel, die sie ihm schon im Tunnel abgenommen hatte, war noch an ihrem Platz. Dieses transparente Behältnis hatte er ständig um seinen Hals getragen. In ihr waren Artur Lassalles persönlichste Dokumente versammelt, unter anderem auch die Aufnahmen eines Kernspintomographen, die in verschiedenen Schnitten sein Gehirn abbildeten. Sie hatte einmal zufällig einen kurzen Blick darauf werfen können. Dabei war ihr dieses ungewöhnliche Ring-Implantat aufgefallen, das einfach nicht zu übersehen war. Nur der Umstand, dass er aus diesem Befund ein Geheimnis zu machen versuchte, hatte sie angeregt, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass er vielleicht, freiwillig oder unfreiwillig, von diesem Gehirn-Modul beeinflusst worden sein könnte. Es fehlten aber die Beweise. Jetzt, nach seinem Tod, hätte sich die Möglichkeit ergeben, den Ring näher zu untersuchen, um der wahren Person Arthur Lassalle auf die Spur zu kommen. Nun hatte er sein Geheimnis endgültig mit ins nasse Grab genommen.