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Neuanfang? Zurück in die 1920er
ОглавлениеDas nationalsozialistische Regime war beendet. Doch wie mit der Schreckensherrschaft umgehen, Täter identifizieren und verfolgen und Opfer entschädigen und rehabilitieren, wenn doch die Mehrheit der Bevölkerung Mittäter oder „Mitläufer“ waren? Wie das Chaos und Elend bewältigen? Wie einen Wiederaufbau in Gang setzen?
Die Antwort auf diese Fragen musste der britische Stadtkommandant, Harry W.H. Armytage, beantworten. Um die dringendste Not zu lindern, bedurfte es einer Zivilverwaltung mit unbelasteten und kooperativen Personen. In einem ersten Schritt setzte der Stadtkommandant den 1878 geborenen Kaufmann Rudolf Petersen als Ersten Bürgermeister ein. Er war der Militärregierung unmittelbar unterstellt und hatte die Aufgabe, mit anderen Fachleuten die Zivilverwaltung zu leiten.
Petersen schien in diesem Moment für diese Position besonders geeignet, weil er aus einer traditionsreichen, gut situierten Hamburger Familie stammte und im Dritten Reich keine Position im nationalsozialistischen Regime bekleidet hatte. Er war aber kein so begabter Politiker wie sein älterer Bruder, Carl Wilhelm, der in den zwanziger Jahren und zuletzt von 1932 bis 1933 das Amt des Ersten Bürgermeisters von Hamburg innehatte. Der parteilose Rudolf war dagegen politisch unerfahren und stand der Aufgabe zunächst auch skeptisch gegenüber. Als Hamburger Unternehmer stellte er sich in die Tradition der hanseatischen Kaufleute, der Elite der Stadt seit Jahrhunderten. Für ihn hing das Wohlergehen der Stadt von der Kraft der Wirtschaft und vor allem vom Außenhandel ab. Als unbelastetes, parteiloses Mitglied der gesellschaftlichen Oberschicht der Stadt bot er sich im Mai 1945 für die Briten als Bürgermeister an. Dass er den Nationalsozialismus als einen „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte und als ein Schicksal, das über das deutsche Volk hereingebrochen sei, bezeichnete, zeigte seine politische Naivität. Es ist ihm allerdings anzurechnen, dass er sich der Aufgabe stellte und sein Amt bis zur Wahl der ersten Bürgschaft und eines neuen Senats im November 1946 ausübte.{191}
Zu den Fachleuten, die Petersen mit Billigung der Briten um sich scharte, gehörte zunächst auch Senator Oscar Martini, der seit 1920 und später auch im nationalsozialistischen Hamburg für das Wohlfahrtswesen zuständig war. Er wurde 1937 Parteimitglied der NSDAP und bekannte sich zur ausgrenzenden NS-Sozialpolitik, die auch die Euthanasie beinhaltete. Er wurde erst Ende 1945 von der britischen Militärregierung seines Amtes enthoben. Bereits am 20. Juni 1945 wurde Friedrich Ofterdinger entlassen und interniert. Er starb kurze Zeit später in der Haft. Er war im nationalsozialistischen Hamburg Generalkommissar für das Gesundheitswesen und oberster Organisator der Krankenmorde. Dagegen gab es auch neues Personal, das für die Bewältigung der Krise und einen Neuanfang erforderlich war. Zu den für die Jugendhilfe maßgeblichen Personen gehörte Heinrich Eisenbarth. Der Sozialdemokrat war bereits von 1925 bis 1933 Senator der Jugendbehörde und später zusätzlich der Sozialbehörde und wurde am 15. Mai 1945 erneut in dieses Amt berufen. Er gehörte dem Senat bis zu seinem Tod im Jahr 1950 an. Er übertrug Hermine Albers die Leitung des Landesjugendamtes. Die 1894 geborene Sozialwissenschaftlerin wurde 1928 für den Aufbau einer behördenübergreifenden Familienfürsorge in die Hamburger Sozialverwaltung berufen. Als sozialdemokratische Reformerin wurde sie 1933 aus dem öffentlichen Dienst entlassen und überstand als Wirtschaftsprüferin und Treuhänderin die Zeit bis zum Kriegsende. Sie arbeitete nicht nur in Hamburg mit großem Engagement an einem Wiederaufbau, sondern wirkte auch bundesweit am Aufbau der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und der 1949 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge“ mit. Als Mitherausgeberin der Fachzeitschrift „Unsere Jugend“ beeinflusste sie den Diskurs über die Fortentwicklung der Jugendhilfe in der Nachkriegszeit.{192}
Unmittelbar nach Kriegsende stand zunächst die Aufgabe im Vordergrund, der Not in der städtischen und gesellschaftlichen Trümmerlandschaft zu begegnen. Die Briten hatten verständlicherweise wenig Mitleid mit den Deutschen. Für ihre Verwaltung und ihre Soldaten requirierten sie Wirtschaftsgebäude und auch Wohnraum. Ihre eigene Versorgung hatte Vorrang. Sie stellten sich aber auch der Aufgabe, die Menschen in der Stadt zu versorgen, auch wenn Großbritannien selbst Not litt und zeitweise Lebensmittel rationieren musste. Die Lebensmittelversorgung war trotz aller Bemühungen zwischen 1945 und 1947 immer wieder prekär. Die täglichen Rationen lagen mit 800 Kalorien unter dem als Minimum anerkannten Wert von 1500 Kalorien. Die Briten lieferten Wellblechhütten, die auf Trümmergrundstücken aufgestellt wurden. Im bitterkalten Winter 1946/47, in dem mehrere Kältewellen von minus 20 Grad die Stadt wochenlang erstarren ließen, schafften sie Brennstoff heran, damit die Strom – und Gasversorgung zumindest für wenige Stunden am Tag aufrechterhalten werden konnte.
Für alle britischen Militärangehörigen galt mit dem Einrücken in die Stadt ein striktes Fraternisierungsverbot. Kontakte waren nur aus dienstlichem Anlass erlaubt und standen im Übrigen unter Strafe. Die Soldaten verbrachten ihre Freizeit unter sich, in extra eingerichteten britischen Clubs, Lokalen und Theatern. Das britische und das deutsche Alltagsleben verliefen strikt getrennt. Zunächst jedenfalls, denn die britischen Soldaten vermochten es offenbar nicht, sich an das Verbot zu halten.{193} Da es zu Kontakten kam, vor allem auch zwischen Soldaten und den Hamburger Mädchen und Frauen, sah sich die britische Militärführung bereits im August gezwungen, das Verbot zu lockern. Man durfte sich auf Straßen und im öffentlichen Raum unterhalten. Faktisch war es aber Sex in Grünanlagen, wie die Polizei in einem Bericht festhielt: „Die Verbrüderung schreitet fort. Allerdings scheinen ‚Schwestern‘ gefragter zu sein als ‚Brüder‘. Hierbei entstehen Auswüchse, die sowohl im Interesse der deutschen als auch der britischen Verwaltung vermieden werden müssten. Auf Anlagen – mitten in der Stadt – wo noch dazu Schilder stehen mit der Aufschrift ‚betreten verboten‘ – liegen britische Soldaten und deutsche Mädchen in mehr als zweideutigen Situationen. (…) Immerhin muß man dabei geltend machen, daß es sich in erster Linie um sehr junge Mädchen handelt oder um solche, die hoffen, irgendetwas (Schokolade, Zigaretten usw.) von den Kavalieren zu erhalten.“{194} Viele Hamburger waren über diese Verhältnisse empört, behielten es aber weitgehend für sich. Aus den Kontakten entstanden Partnerschaften und Eheschließungen, uneheliche Kinder und Infektionen mit Geschlechtskrankheiten. Bereits kurz nach Kriegsende hat es in Hamburg Prostitution gegeben, und zwar nicht nur die professionelle, sondern auch die heimliche oder „Hungerprostitution“, die als Ursache für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten angesehen wurde. Die Behörden stellten fest, dass sich durch das „Fehlen familiärer und damit sittlicher Bindungen“ und aufgrund „des sinkenden Verantwortungsbewußtseins der Erwachsenen“ zahlreiche männliche Jugendliche auf dem Schwarzmarkt betätigten und nicht zur Arbeit gingen, und junge Mädchen in die heimliche Prostitution abglitten.{195} In einem Lagebericht der Polizei vom Juli 1945 heißt es dazu. „Die Gefahr der Verbreitung venerischer Krankheiten ist (…) durch den Zustrom weiterer Personen männlichen und weiblichen Geschlechts und den inzwischen ungebundenen Verkehr der Bevölkerung mit den Besatzungstruppen zu erwarten.“{196} Sowohl die Militärpolizei als auch die Hamburger Sittenpolizei griffen Frauen aus Bars und von der Straße auf, um sie zu untersuchen. Stellten sie sich als infiziert heraus, wurden sie in ein Krankenhaus zur Behandlung eingewiesen. Ein durchschlagender Erfolg war der Aktion nicht beschieden. Das offenbar rüde Vorgehen der Polizei geriet 1946 in die Kritik und veränderte das Vorgehen. „Durch die Initiative der Gesundheitsbehörde gelang es, anstelle der Razzien einen aus weiblichen und männlichen Fürsorgekräften bestehenden neuen Streifendienst einzusetzen“, berichtete der Senat rückblickend.{197} Er hatte auf der Grundlage eines von der Bürgerschaft beschlossenen Gesetzes umfassende Befugnisse zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Neben der Zwangsbehandlung Infizierter betrieb die Behörde Aufklärung in der Öffentlichkeit, um die Unkenntnis vor Gefahren und über den eigenen Schutz zu überwinden. Die Razzien wurden im Spätherbst 1947 schließlich aufgegeben.
Dass hier auch Mädchen aus Heimen involviert waren oder nach einem Aufgreifen dorthin gebracht wurden, ist wahrscheinlich. Zumindest galten die als „verwahrlost“ geltenden Mädchen in den Heimen als vergnügungssüchtig und sexuell enthemmt. Daher gehörten in den Mädchenheimen nicht erst seit Kriegsende, sondern bereits zuvor gynäkologische Untersuchungen zur Feststellung von Geschlechtskrankheiten zum Aufnahmeprozedere. So berichtete eine im Jahr 1942 15-Jährige im Mädchenheim Schwanenwik, dass sie in das Arztzimmer geleitet wurde, in dem sich die Heimleiterin, eine Krankenschwester und ein Arzt befanden, der unter seinem Kittel Uniform trug. „Und dann ging’s auf den Tiroler“, den gynäkologischen Untersuchungsstuhl, auf dem das Mädchen einer schmerzhaften Untersuchung unterzogen wurde.{198}
„Es gibt keine verlorene Generation“. Mit diesen Worten beginnt der Rückblick des Senats auf die „Arbeit für die Jugend“ seit dem Kriegsende bis 1949. „Das natürliche Grundelement des Jugendlebens ist immer wieder das der Hoffnung“, denn dem jungen Menschen bleibe „immer die Möglichkeit, doch die Zukunft und die ganze Welt zu gewinnen.“{199} Pathetische Worte, die angesichts der „Jugendnot“ auch nötig waren, um die Kraft für die Bewältigung dieser Krise aufzubringen: „Politischer Zerfall und Auflösung der wirtschaftlichen Ordnung, Ernährungsschwierigkeiten, Elternlosigkeit und Verlust der Heimat brachten viele Tausende von Jugendlichen in eine Lage, der sie seelisch nicht gewachsen waren.“{200} Die Versorgung junger Menschen, aber auch die Förderung ihrer Erziehung innerhalb und außerhalb der Familie waren die Schwerpunkte der Jugendpolitik in der Nachkriegszeit.
„Nach der Kapitulation strömten Massen flüchtender, vertriebener Jugendlicher aus dem Osten in die Westzone ein. (…) An einer einzigen Auffangstelle in Hamburg zählte man monatlich viele Hunderte“, berichtete der Senat.{201} Die Jugendbehörde errichtete Durchgangslager, in denen die jungen Menschen versorgt und die Rückkehr zu den Eltern, Verwandten oder ihrem Heimatort organisiert wurde. Sie schuf auch „Jugendwohnheime für heimat-, eltern- und obdachlose Jugendliche“. 1945 gab es bereits 13 Heime, 1949 dann 18 mit 949 Plätzen. „Auch in zahlreichen Erziehungsheimen mussten Durchgangsgruppen gebildet werden, die monatlich 80-120 Kinder aufnahmen.“{202}
Die Erziehungs- bzw. „Jugendamtsheime“ sahen sich nach dem Zusammenbruch mit einem Neuanfang konfrontiert. Bei Kriegsende gab es elf Erziehungsheime, neun wurden in kurzer Zeit neu geschaffen, so dass der Bestand 1949 bei 20 lag. Die materielle Not machte in diesen Jahren vor ihren Türen nicht Halt. Personal fehlte für die große Zahl an zu betreuenden Kindern und Jugendlichen. Konzeptionell bestand erneut die Erwartung, „den früheren Charakter der Fürsorgeanstalt“ zu überwinden{203}.
Einen Einblick in den Heimalltag jener Zeit gewähren die Aufzeichnungen aus dem Jugendheim Gojenberg im Südosten Hamburgs. Die Einrichtung war 1939 als Erziehungsheim für „schwierige, aber erbwertige Kleinkinder und kleinere Schulkinder“ klassifiziert worden. Sie befand sich in der Hitlerstraße 104 in Hamburg-Bergedorf.{204} Während des Krieges wurde das Heim mit seinen Kindern nach Thüringen verlegt. Die Heimleiterin, Hertha Schulze, die bis zu seiner Schließung das Kinderheim „Seestern“ in Grömitz geleitet hatte, begleitete die Kinder zunächst in das thüringische Heim, dann im März 1945 nach Niendorf an der Ostsee und von dort Ende Mai nach Hamburg zurück. Das Gebäude war allerdings noch bis zum Sommer 1945 von einem Säuglingsheim in Beschlag genommen, so dass die Kinder und das Personal zunächst an unterschiedlichen Orten untergebracht wurden und das Heim erst im Juli seine Arbeit wieder aufnehmen konnte. „Die wirtschaftlichen Sorgen waren nicht gering“, erinnerte sich die Heimleiterin im Oktober 1945 in einem rückblickenden Bericht.{205} Die Lebensmittelreserven waren verschwunden, „Feuerung zum Kochen war nicht vorhanden“, „es fehlt an warmer Bekleidung“ und „das Schuhzeug ist trostlos.“ Auch die Kinder helfen mit, Holz zu sammeln, das aber vermutlich nur zum Kochen und nicht für das Heizen im bevorstehenden Winter ausreichen würde. „Durch Aussaat von Salat, Mangold und Bohnen konnten wir die spärlichen Erträgnisse des Gartens etwas verbessern.“ Trotz der schwierigen Versorgungslage war der Gesundheitszustand der Kinder „bisher recht gut“. Das Haus war im Oktober 1945 mit 114 statt 85 Kindern überbelegt. Zu ihnen gehörten 15 Kleinkinder, je 45 Schuljungen und ‑mädchen sowie 9 jugendliche Mädchen. Der Schulunterricht wurde im Heim abgehalten, weil die öffentlichen Schulen „mit dem augenblicklichen Kindermaterial“ nicht belastet werden könnten. Die Zusammensetzung der Kinder im Heim entspreche einem „rechten Durcheinander von Typen“. Dies sei dem starken Zustrom an Kindern geschuldet, die in einem Heim unterzubringen seien. „Erschütternd ist die Unehrlichkeit und Unaufrichtigkeit unter den Kindern“, stellte die Heimleiterin fest. Der ausführliche Bericht endete mit der Feststellung, dass Personal fehle, es aber dennoch in der Belegschaft „selbstlose Einsatzbereitschaft“ gebe, um die „Nöte der Zeit zu [be]zwingen.“
Der Bericht geht auf eine Aufforderung des für die Heime zuständigen Verwaltungsbeamten Röbiger zurück. Er hatte am 1. Oktober 1945 die Anweisung des Erstens Bürgermeisters Petersen weitergegeben, dass „von allen Ämtern und Behörden Tätigkeitsberichte für jeden Monat“ vorzulegen seien: „Bitte nicht schimpfen, der Bürgermeister hat befohlen!“, gab er die Berichtspflicht weiter. Im Zuge dieser Aufforderung erbat Röbiger auch Ausführungen zu einem besonderen Thema: „Interessieren würde mich – vom Standpunkte der Jugendpsychologie – wie Kinder und Jugendliche seelisch auf den Zusammenbruch des NSDAP-Regimes reagierten. Oder war das Gefühl, daß ‚endlich der Krieg aus war‘ so dominierend, daß andere Empfindungen dadurch verdrängt wurden?“{206}
Die Heimleiterin Schulze versuchte hierzu eine Einschätzung zu geben. Die Kinder seien stark durch die Umgebungswechsel geprägt, berichtete sie{207}. Manche seien auf den Zusammenbruch innerlich vorbereitet gewesen, andere scheinen sich betrogen zu fühlen und zeigten Misstrauen gegenüber den Erwachsenen. „Einige Jungen haben sich mit Bravour darangemacht, alles ‚Nazimässige‘ zu suchen und es dem Untergang zu weihen.“ Allerdings stehe keine Einsicht dahinter, sondern nur das Neue der Zeit, das alle Jugendgenerationen jeweils bestimmen würde. Die jugendlichen Mädchen seien ganz „im Sinne der H.J. erzogen worden“. Sie äußerten sich wenig, weil sie bei Erwachsenen ohnehin auf eine andere Meinung stoßen würden. So sei es erforderlich, „in geschickter pädagogischer Führung diese Menschenkinder zur Kritik und über die Kritik zur Einsicht zu erziehen.“ Die Kinder würden eine Reaktion auf das Geschehene nicht unbedingt zur Schau tragen. Allerdings müsse man sich auch davor hüten, zu viel in die Kinder „hineinzusehen“. Sie schloss den Bericht mit der Einschätzung ab: „So sehr ich versucht habe zu ergründen, wie die Kinder auf den Zusammenbruch wirklich reagieren, so bin ich zu keinem klaren Bild gekommen.“
Auch im Mädchenheim Feuerbergstraße herrschte materielle Not. Brennmaterial fehlte, die Ernährung war unzureichend. Die Mädchen dachten dauernd ans Essen, waren aber auch durch abenteuerliche Geschichten aus der Stadt und über die britische Besatzung aufgeregt. „Auch sonst ist die Steigerung des Genussbetriebes deutlich – möchten wieder tanzen, ausgehen, Kino, Schokolade, Bekanntschaften mit Engländern, um Vorteile zu haben“, berichtete die Heimleiterin Cornils.{208}
Das Mädchenheim Schwanenwik wurde im Mai 1945 durch das britische Militär beschlagnahmt, aber bereits im Juni wieder freigegeben. In dieser kurzen Zeit wohnten dort britische Soldaten zusammen mit 100 Mädchen. Im Herbst wurde das Heim dann vollständig als Durchgangsheim für schulentlassene Mädchen und junge Frauen konzipiert.{209} Und von diesen gab es so viele, dass im Dezember dann schließlich eine Aufnahmegruppe in der Feuerbergstraße eingerichtet wurde, ein Provisorium, das als „Aufnahmegruppe Schwanenwik im Mädchenheim Feuerbergstraße“ bezeichnet wurde.{210}
Mit der Zeit bildete sich wieder eine Normalität in den Heimen heraus, wie das Beispiel des Mädchenheims Schwanenwik zeigt, über das in einer Reportage im Hamburger Abendblatt vom 6. Juli 1949 berichtet wurde.{211} Zu diesem Zeitpunkt wohnten nur noch 46 Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren dort. Die neue, 30 Jahre alte Heimleiterin hatte die eisernen Gitterstäbe entfernen lassen und die Situation auch pädagogisch offenbar etwas liberalisiert. Das Heim war immer noch ein Durchgangsheim, also eine Erstaufnahmestation im System der Heime. Es gab aber nicht mehr so viele umherirrende junge Menschen, die Zeiten hatten sich in dieser Hinsicht beruhigt. Die Zahl der Entweichungen sank von 1947 bis zum Juli 1949 von 46 auf nur zwei. Die Heimleiterin teilte die Mädchen in „weiße“, „graue“ und „schwarze Schafe“ ein, also in nur „vorübergehend Gestrauchelte“, die bald wieder entlassen werden, jene, bei denen erst die Beobachtung eine Klärung bringen musste, und die Gefährdeten, deren weiterer Weg in die Feuerbergstraße führte. Noch immer spielten Bekanntschaften zu britischen Soldaten eine Rolle, das Umherirren in „Absteigequartieren und Bahnhofshallen“, Prostitution und kleinere Straftaten. „In ihren Augen stehen Erkenntnisse, die man in ihrem Alter nicht haben sollte“, heißt es weiter zu den biografischen Hintergründen der Mädchen, zu denen verstorbene Eltern und zerrüttete Familien ebenso gehörten wie Misshandlungen durch nahe stehende Personen und sogar Vormünder sowie Suizidversuche.
Nachdem bereits in den ersten Tagen nach der Kapitulation die britische Militärregierung den Hamburgern die zivile Verwaltung unter ihrer Aufsicht übertragen hatte, erfolgte im September 1945 der erste Schritt zur Demokratisierung des Gemeinwesens. Die Militärregierung wollte einen Ratsausschuss berufen, dessen Zusammensetzung sie vorgab: Die Mitglieder sollten nach einem vorgegebenen Proporz aus dem Senat, Parteien, den Kirchen, den Gewerkschaften, aus Handel, Gewerbe, Landwirtschaft und Grundeigentümerschaft und anderen Berufsgruppen. Hinzu kamen Hausfrauen, Vertreter aus Harburg und Bergedorf und aus dem Kreis der politischen Gefangenen und Verfolgten. 50 Organisationen und Einrichtungen wurden aufgefordert, Vertreter für den Ratsausschuss zu benennen. Der aus 81 Mitgliedern bestehende Ratsausschuss, der schließlich den Namen Bürgerschaft führte, konstituierte sich am 27. Februar 1946 und war das „Vorparlament“, das bis zur ersten Nachkriegswahl der Hamburgischen Bürgerschaft am 13. Oktober 1946 im Amt war.{212} Die Wahl brachte ein deutliches Ergebnis für die SPD, die zusammen mit der KPD und der FDP eine Koalition bildete. Die neu gegründete CDU schnitt zwar als zweitstärkste Partei ab, konnte sich aber nicht auf eine Große Koalition mit der SPD einlassen. Der erste gewählte Nachkriegsbürgermeister war der Sozialdemokrat und ehemalige Oberbürgermeister von Altona, Max Brauer. Er war nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in die USA geflohen und stand nun für die Politik in Hamburg wieder zur Verfügung. „Brauer konnte als Emigrant und bis vor kurzem noch amerikanischer Staatsbürger den Engländern mit einem Selbstbewusstsein gegenübertreten, das andere Deutsche damals kaum aufzubringen vermochten.“{213} Der neue Bürgermeister stellte sich als tatkräftig und krisenfest heraus. Er bewältigte die erste große Herausforderung, indem er zusammen mit der britischen Militärverwaltung die Energie- und Lebensmittelversorgung im Kältewinter 1946/47 auf einem Mindestniveau absicherte. In Brauers Senat fand sich auch Eisenbarth als Sozialsenator wieder. Für die Aufgaben der Jugendhilfe wurde ein eigenes Ressort geschaffen, an deren Spitze „die einzige Frau im Senat und erste Senatorin in der Geschichte Hamburgs überhaupt“{214}, Paula Karpinski, berufen wurde. Die damals 49jährige Sozialdemokratin sollte die Jugendbehörde bis zum Dezember 1961, mit einer Unterbrechung zwischen Dezember 1953 und Dezember 1957, leiten.
Der Senat leistete eine enorme Aufbauarbeit, die er am Ende seiner Amtszeit in der Schrift „Drei Jahre Arbeit für den Wiederaufbau der Freien und Hansestadt Hamburg“{215} eindrucksvoll darstellte. Begünstigt wurde die Tätigkeit mit wachsender Verantwortung auch durch den Rückzug der britischen Militärverwaltung und ihrer Funktionsoffiziere zugunsten eines zivilen Gebietskommissars.{216} Der Zusammenschluss der westlichen Besatzungszonen, die Währungsreform von 1948 und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 förderten den Wiederaufbau erheblich.
Die Aufbruchsstimmung ließ die Bewältigung der Vergangenheit schnell in den Hintergrund treten. Die „Entnazifizierung“ war ein zentrales Ziel der Alliierten nach dem Krieg. Verbrecherische Nationalsozialisten sollten aufgespürt, ihre Taten aufgeklärt und bestraft und ihre Übernahme in Ämter in der öffentlichen Verwaltung unterbunden werden. Die Alliierten klagten Kriegsverbrecher, Ärzte und andere maßgebliche und hochrangige Funktionäre des Regimes an, und machten ihnen noch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren den Prozess. In Hamburg verfügte der von der britischen Militärverwaltung eingesetzte Senat 1945 zunächst, dass „alle Beamten, Angestellten und Arbeiter zu entlassen seien, die der NSDAP (oder der SA oder SS) vor dem 1.Mai 1933 (das heißt vor der Mitgliedersperre, die bis 1937 galt) beigetreten waren. Ferner war zu entlassen, wer zwar später eingetreten war, aber eine höhere Funktion bekleidet hatte.“{217} Bereits bis zum August 1945 wurden auf dieser Grundlage rund 20% der höheren Beamten und jeweils 6% der anderen Beamten und Angestellten verhaftet oder entlassen. Bis Dezember waren von 48000 Bediensteten der Verwaltung 35000 durch die Militärregierung überprüft und von diesen 8700 entlassen oder verhaftet worden.{218} Aber auch die nicht öffentlich Bediensteten mussten sich in einem Fragebogen zu ihrer Vergangenheit äußern und einer Überprüfung unterziehen. Die Verfahren wurden in den Folgejahren mehrfach geändert. Ab 1947 lag die Verantwortung weitestgehend bei deutschen Entnazifizierungsausschüssen. Die Menge der Fälle und die Berufungsverfahren erwiesen sich als sehr aufwändig. Der kalte Krieg rückte dann schließlich die Westintegration der Bundesrepublik in den Vordergrund, so dass die Verfahren alsbald zugunsten eines Blicks nach vorn abgeschlossen wurden.
Die Verfahren gegen einige Hamburger Funktionäre endeten mit befremdlichen Ergebnissen. Als unbelastet eingeschätzte Juristen aus der Zeit des Nationalsozialismus waren nun Richter, die über Verbrechen aus jener Zeit zu urteilen hatten. Bei den Prozessen gegen Euthanasieärzte trafen diese beiden Eliten des Regimes, Juristen und Ärzte, in unterschiedlichen Rollen aufeinander. Sie hatten aber während des „Dritten Reiches“ beruflich intensiv zusammengearbeitet, etwa als psychiatrische Gutachter bei Gericht.{219} Gutachter und Zeugen waren also oft Kollegen aus der gemeinsamen Vergangenheit. Sie waren vom Regime und seinen Maßnahmen überzeugt und bewerteten diese in der Nachkriegszeit zwar verhaltener, aber immer noch rechtfertigend. Im Prozess gegen die Ärzte und Schwestern in den Hamburger Kinderfachabteilungen kam es zu jahrelangen Untersuchungen, die von engagierten Verfahrensbeteiligten eingefordert wurden. Eine vorschnelle Einstellung des Verfahrens wurde damit verhindert. Im Februar 1949 legte die Staatsanwaltschaft dann eine Anklageschrift gegen 18 an der Euthanasie beteiligte Ärzte und deren Vorgesetzten vor, die Totschlag oder Beihilfe dazu zum Gegenstand hatte. Die Strafkammer entschied im April 1949 dann jedoch, die Hauptverhandlung nicht anzuordnen, weil den Angeschuldigten das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ihres Handelns nicht nachgewiesen werden könne.{220} Man gestand ihnen also zu, Kinder im guten Glauben und rechtmäßig getötet zu haben. Die Staatsanwaltschaft erhob keine Beschwerde gegen den Beschluss. Spätere Versuche, die Verfahren wieder aufzunehmen, scheiterten ebenfalls. „Die juristische Aufarbeitung der Tötungen an Kindern in Hamburg kann hinsichtlich einer Verurteilung von Beschuldigten als gescheitert erklärt werden. Keiner der Angeklagten wurde verurteilt, geschweige denn in einer Hauptverhandlung vor einem Gericht befragt,“{221} schließt Burlon seine Untersuchung aus dem Jahr 2009 in diesem Punkt ab. Auch im Bereich der Wissenschaft und der ärztlichen Standespolitik wurde die Frage der Euthanasie heruntergespielt oder verschwiegen.
Die Verantwortung anderer, für die Jugendhilfe bedeutsamer Hamburger Funktionäre wurde ebenfalls nur oberflächlich bewertet. So wurde der Gauleiter Kaufmann im Entnazifizierungsverfahren als Minderbelasteter eingestuft, zwar vorübergehend mehrmals inhaftiert, jedoch nie angeklagt, und im November 1950 aus der Haft entlassen.{222} Auch Senator Oskar Martini, der nach Kriegsende noch im Amt belassen wurde, wurde im Entnazifizierungsverfahren entlastet. Der Psychiater Villinger setzte seine Karriere in der Nachkriegszeit fort. Otto Hülsemann, Leitender Psychiater im Landesjugendamt seit 1937, blieb bis 1963 in dieser Position, obgleich er Beisitzer beim Erbgesundheitsgericht war. Über seine Tätigkeit im Dritten Reich war darüber hinaus jedoch wenig bekannt, da möglicherweise aufschlussreiches Aktenmaterial in den Flammen der Bombennächte vernichtet wurde.{223} Der Journalist und Schriftsteller Ralph Giordano bezeichnete die Verdrängung und Verleugnung der „Schuld der Deutschen unter Hitler“ nach 1945 als „zweite Schuld“.{224} Das war 1987, in einer Zeit, in der das weite Feld der Machenschaften im Dritten Reich immer detaillierter von einer kritischen Generation aufgeklärt wurde.
Die „Jugendnot“ der Nachkriegszeit forderte von allen behördlichen und freien Institutionen der Jugendhilfe einen erheblichen Einsatz. Auch wenn die Kontakte untereinander erschwert waren, lebte das Verbandswesen wieder auf. Der „Allgemeine Fürsorgeerziehungstag“ (AFET) veranstaltete im Juli 1946 seine erste Hauptversammlung nach dem Krieg und im September 1947 fand die erste öffentliche Verbandstagung statt.{225} Zu den ersten Vorstandsmitgliedern gehörte die Leiterin des Hamburger Landesjugendamtes, Hermine Albers. Mit Max Zelck beteiligte sich die Hamburger Jugendhilfe im ersten Beirat am Aufbau verbandlicher Strukturen und der Entwicklung der Jugendhilfe.{226} 1949 gründete sich die „Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge“ (AGJJ). Mitglieder waren Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe, aber auch Vertreter der Heimerziehung, darunter der AFET, die Innere Mission, der Deutsche Caritasverband, Einrichtungen der Heimerziehung und weitere Institutionen. Die AGJJ verstand sich damals als „Ort des Zusammenwirkens der Jugendhilfe auf allen Gebieten der freien und behördlichen Arbeit“.{227} In der Broschüre zur Hauptversammlung 1950 wurde dieses Anliegen wie folgt beschrieben: „Dieses Miteinander soll aber nicht nur bestehen in der obersten Spitze der Jugendwohlfahrtsbehörden und der freien Organisation der Jugendpflege und Jugendfürsorge, es soll vielmehr zu einer Bewegung werden, die das letzte örtliche Jugendamt und die letzten örtlichen Jugendwohlfahrtsausschüsse erfasst“. Das „lebendige Jugendamt“ sei das Ziel, an dem alle Beteiligten „schöpferisch“ zusammenwirken.{228}
Erst 1954 wurde die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter gegründet, die sich zum Ziel gesetzt hatte, „den fachlichen Standard in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe zu sichern und weiterzuentwickeln, zu einer bundesweit einheitlichen Ausgestaltung der Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe beizutragen und sich für die Belange junger Menschen und ihrer Familien einzusetzen.“{229} An der Entstehung der Arbeitsgemeinschaft war die Leiterin des Hamburger Landejugendamtes, Hermine Albers, maßgeblich beteiligt.
Die Themen, die in diesen Zusammenschlüssen bearbeitet wurden, umspannten die gesamte Jugendhilfe, so dass auch die Heimerziehung immer wieder auf der Tagesordnung stand. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren erörterte man die Überfüllung der Heime und ihre materielle Notlage sowie die Unterfinanzierung. Besondere Sorge bereiteten die Kinder und Jugendlichen in Heimen, bei denen die Kriegserlebnisse ihre Spuren hinterlassen hatten und die neben materieller auch seelischer Fürsorge bedurften. In diesem Zusammenhang wurde auch die fehlende Qualifikation des Personals angesprochen. Sie sei ein Problem, wenn die Heimerziehung zum Wohl der Kinder und Jugendlichen beitragen wolle.{230} In den 1950er Jahren befasste sich auch der AFET mit der Heimerzieherausbildung. Aus einer Untersuchung zur „Lage der Heimerzieher“ leitete er Forderungen zur Ausbildung und zu den Arbeitsbedingungen ab, die dem Beruf einerseits eine Kontur und Attraktivität geben und andererseits eine positive Wirkung auf den pädagogischen Alltag entfalten sollten.{231} 1961 folgte dann eine ausführliche Darstellung zum „Berufsbild des Heimerziehers“ und ein Jahr später ein Vorschlag für eine Ausbildungs- und Prüfungsordnung und ein „Stoffplan“, ein Curriculum für „Schulen der Heimerziehung“.{232} Die Anforderungen an den Beruf wurden in den Diskussionen der Fachverbände hoch gesteckt. Die erzieherischen Kräfte sollten gut ausgebildet sein und nicht nur über Grundsätze der allgemeinen Pädagogik und Heilpädagogik sowie über die Erkenntnisse der modernen Psychologie genauestens Bescheid wissen“, sondern auch „das nötige Berufsethos“ haben. Damit war gemeint, dass sie die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, „die bisher an der Schattenseite des Lebens groß geworden sind, als eine Aufgabe ansehen, für die es sich lohnt, ein ganzes Leben einzusetzen.“ Gefragt waren „lebendige Persönlichkeiten“, die sich den Beruf zur Lebensaufgabe machen.{233} Das Personal wohnte in aller Regel „aus erzieherischen Gründen“ im Heim. Der AFET formulierte in seinen „Forderungen in Leitsätzen“ daher auch, dass für das „Geborgenheitsgefühl des Erziehers“ eine angemessene Unterbringung in einem Einzelzimmer erforderlich sei. „Schlafzellen für Erzieherinnen innerhalb großer Schlafsäle“, die der AFET bei seiner Untersuchung vorgefunden hatte, seien eine „Überforderung der menschlichen Nervenkraft“.
Diese, von Verlautbarungen über hehre Ziele getragene Aufbruchsstimmung nutzten einzelne Fachvertreter, die Strukturen der Heimerziehung in Frage zu stellen. Zu den Protagonisten gehörte der Heil- und Sozialpädagoge Andreas Mehringer, der 1945 die Leitung des Münchner Waisenhauses übernahm und dort das „Familienprinzip“ einführte.{234} Darunter verstand er kleine Gruppen von Kindern und Jugendlichen, die einer Familie ähneln sollten. Bereits in den Nachkriegsjahren stellte er öffentlich fest, dass Anstaltskinder oft im Leben versagen würden. In den Anstalten seien besonders „starke, ausgeprägte, originelle Naturen“ gefährdet, denn diese würden den Anstaltsbetrieb stören und zu ihrem Ausschluss zwingen. Er sprach auch die künstlichen Trennungen nach Alter, Geschlecht und erzieherischer Bedarfseinschätzung sowie die zu großen Gruppen als Hauptprobleme an. Möglichen Reformen würde aber der Traditionalismus in der Heimerziehung entgegenstehen. Damit waren die gewachsenen Strukturen des Anstaltslebens und das Selbstverständnis der Heimleitungen und des Personals angesprochen, die eher in scheinbar „boshaften, unerziehbaren“ Kindern das Problem für Konflikte in den Heimen sahen als in der Anstaltsorganisation und in ihrer eigenen Haltung.{235}
Auch im AFET wurden ähnliche Beiträge zur Diskussion gestellt. So stellte der Pädagoge Friedrich Trost 1947 auf einer AFET-Tagung fest, dass in den religiös ausgerichteten Heimen das Ziel religiöser Erziehung im Vordergrund stehe und nicht die Pädagogik für das Kind. Daher sei ein „Kampf gegen das Monopol der kirchlichen Erziehung“ in der Heimerziehung notwendig.
In den Fachdiskussionen weitgehend unwidersprochen war die Einschätzung aus den späten 1950er Jahren, dass die Hälfte der Heimerzieher nicht ausgebildet, der Erzieherbeststand überaltert, die Gruppen zu groß sind und die Erzieher „erschreckend häufig wechseln“.{236}
Aus diesen kritischen Beiträgen entwickelte sich keine, von einer Mehrheit getragene fachliche Auffassung oder gar eine Reformbewegung. Bis weit in die 1960er Jahre hinein sollte es zwischen vereinzelten kritischen Diskussionen in der Fachöffentlichkeit und der Ebene der praktischen Heimerziehung eine tiefe Kluft geben. Und die Praktiker waren stets darum bemüht, die Heimerziehung vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen. Die Jugendpolitiker setzten einen deutlichen Schwerunkt beim Aufbau der Kinder- und Jugendarbeit und bei anderen, präventiv in der Breite wirkenden Programmen. Die Heimerziehung blieb ein in sich geschlossenes und daher einer Reform nicht zugängliches System.
Die Akteure in der Jugendhilfe und speziell in der Heimerziehung waren zu Reformschritten wohl auch nicht in der Lage. Sie knüpften vielmehr stark an der Fachlichkeit der Vorkriegszeit an, in der sie bereits gewirkt hatten. Senator Eisenbarth und auch Frau Senatorin Karpinski waren ebenso wie die Leiterin des Landesjugendamtes von den 1920er Jahren geprägt. Kurt Röbiger, der bis 1958 Vorgesetzter der Leiterinnen und Leiter der Erziehungsheime war, war in den 1920er Jahren Lehrer im Waisenhaus in der Averhoffstraße. Auch auf der Ebene der Heimleitungen waren beispielsweise Frau Schulze aus dem Heim Gojenberg und Frau Cornils aus der Feuerbergstraße bereits seit Ende der 1920er Jahre im Heimdienst tätig. Ähnlich stellte es sich auch in der Mitarbeiterschaft dar.
Im Bereich der Psychologie und Medizin wirkten die erbbiologisch geprägten Konzepte zur Verwahrlosung und Unerziehbarkeit aus den späten 1920er Jahren und der Zeit des Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland nach. Der Psychiater Villinger trat als Koryphäe seines Faches zwar etwas gemäßigter auf, und auch die leitenden Heimärzte in Hamburg, Mann und Hülsemann, durften ihre Tätigkeit nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes fortsetzen. Die von ihnen in der Vergangenheit vertretenen Auffassungen und Methoden erfuhren jedoch nur oberflächliche Korrekturen, wie Stil und Inhalt der Gutachten zum Beginn der 1950er Jahre belegen. Erst langsam und vor allem mit neuem Personal änderte sich auch die psychologische und psychiatrische Begutachtungspraxis.{237}
Nach dem Krieg lebte auch die Forderung des AFET wieder auf, ein „Bewahrungs- und Arbeitserziehungsgesetz“ zu verabschieden, um die „Unerziehbaren“ aus den Heimen zu verbannen. Ein solches Gesetz wurde jedoch nie beschlossen. Die „Unerziehbaren“ blieben also in den Heimen, ohne dass neue pädagogische Ansätze Einzug hielten, oder sie wurden wegen mangelnder Erfolgsaussicht der erzieherischen Maßnahmen aus den Heimen entlassen.{238}
Dieser konservativen Tendenz in der Jugendhilfe stand ein kultureller Wandel in den Wirtschaftswunderjahren gegenüber. Die deutsche Jugend begeisterte sich für die amerikanischen Einflüsse wie neue Musikrichtungen, Comics, Kleidungsstile und liberalisierte Geschlechterrollen. Dies erschütterte die von Ordnung geprägte, deutsche Leitkultur. Viele in der Jugendhilfe Tätige konnten diese Veränderungen nicht verstehen und nicht verarbeiten. Fachvertreter sahen in dieser Entwicklung sogar eine Gefährdung junger Menschen, die einen Eingriff des Staates erforderlich machte. Die Zahl der in Heimen betreuten Minderjährigen stieg auch vor diesem Hintergrund ab 1950 an und nahm erst zum Ende des Jahrzehnts wieder ab.{239}
Auf der Ebene der Gesetzgebung gab es ebenfalls wenig Fortschritt. Das Reichjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922 blieb in seiner Fassung von 1932 auch nach dem Krieg in Kraft. Umfassendere Reformversuche Anfang der 1950er Jahre setzten sich nicht in neues Recht um. Erst 1961 wurde ein novelliertes Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) verabschiedet, das auch die Heimerziehung etwas klarer regelte. Bis zu dieser Novelle war im Gesetz die Fürsorgeerziehung geregelt, die bei einer Gefährdung des Kindes durch das Vormundschaftsgericht angeordnet werden konnte. Neben der eher längerfristigen Erziehung in einem Heim waren auch die eilige und die versuchsweise Fürsorgeerziehung geregelt. Sie sollten den sofortigen Schutz eines Kindes regeln und dessen pädagogische Erreichbarkeit in einem Fürsorgeerziehungsverfahren klären. Eltern konnten aber auch aus ihrem elterlichen Recht heraus mit ihrer Einwilligung oder auf eigenes Betreiben ihr Kind in die Fürsorgeerziehung übergeben und damit auch die Beendigung der Erziehung in einem Heim bestimmen. Für diese freiwillige Erziehungsmaßnahme fand sich im RJWG keine eindeutige Regelung. Die Länder hatten allerdings in ihren Landesfürsorgegesetzen seit Ende des 19.Jahrhundert und später in den Ausführungsgesetzen zum RJWG bereits Regelungen getroffen. In Hamburg, mit seiner langen Tradition seit 1892 auf diesem Gebiet und anders als in anderen Ländern, überwog die Zahl der freiwilligen Erziehungshilfen gegenüber der angeordneten Fürsorgeerziehung daher auch in den Nachkriegsjahren deutlich. Daneben gab es noch einen weiteren Zugangsweg in ein Erziehungsheim: Das Jugendgericht konnte in Jugendstrafsachen eine Unterbringung in einem Jugendheim nach dem Jugendgerichtsgesetz veranlassen.
Das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961 brachte einige wenige Verbesserungen: so wurde etwa die freiwillige Erziehungshilfe einheitlich geregelt. Außerdem wurden die Aufgaben einer Heimaufsicht definiert, die bislang in Deutschland sehr unterschiedlich geregelt waren. In Hamburg gab es seit den 1920er Jahren bereits eine landesjugendamtliche Aufsicht. Neu geregelt war auch, dass die Träger der Heime nur „geeignete“ Kräfte zu beschäftigen hatten, womit jedoch nicht unbedingt ausgebildete Fachkräfte gemeint waren. Es gab einfach zu wenige Fachkräfte, so dass ein Fachkräftegebot gar nicht umzusetzen gewesen wäre.{240} Die Rechtsänderung hatte auf den Alltag in Heimen allerdings kaum Auswirkungen, wie in einem Gutachten aus dem Jahr 2010 festgestellt wurde: „Im Ergebnis bleiben die Umstände, die … die ‚Misere‘ der Heimerziehung kennzeichnen, auch über die Reform von 1961 erstaunlich konstant.“{241}
Die Haltung gegenüber der Jugend, die Heimtraditionen, die ungenügende Finanzierung der Heime und die Ohnmacht des Personals, auch mit schwierigeren Jugendlichen umzugehen, waren die Rahmenbedingungen für einen Heimalltag, der an die Praxis der vergangenen Jahrzehnte anschloss. Kinder und Jugendliche wurden in der Regel streng erzogen und bisweilen eingesperrt, misshandelt, ausgebeutet und kaum individuell gefördert und wenig auf das Leben vorbereitet. Die Misere fing für viele Kinder bereits in den Säuglingsheimen an. Eine weit verbreitete und vom Bundesministerium für Familienfragen noch 1958 vertretene Auffassung war, dass Säuglinge „nicht pädagogisch betreut, sondern lediglich hygienisch gepflegt“ werden müssten. Dadurch erlitten aber viele Kinder erhebliche Entwicklungsrückstände und dauerhafte Schädigungen.{242}
Und die Öffentlichkeit ignorierte die ihr wenig bekannten Zustände in der Heimerziehung weitgehend. In ihrem Bewusstsein waren die Kinder und Jugendlichen und ihr vermeintlicher Unwille, sich angepasst zu verhalten, das Problem. Mit der Strenge des Heims, seinem Strafcharakter, wurde in der Bevölkerung gegenüber Kindern auch gerne mal gedroht: „Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim!“{243}
Die Untersuchungen über die Heimerziehung von 1945 bis zu Beginn der 1970er Jahre kommen daher zu sehr kritischen Einschätzungen. Der AFET ordnete sich nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes im Mai 1945 „in die repressiven Traditionen der Debatten über ein Bewahrungsgesetz sowie der Konzepte zur Verwahrlosung und Unerziehbarkeit ein.“{244} Die diskutierten, notwendigen Reformen scheiterten vor allem an der „Reformresistenz der Heime, die auf eine Jahrzehnte alte ‚Tradition‘ im Hinblick auf Weltanschauung und eingefahrene ‚Erziehungsmethoden‘ zurückblickten.“{245} Damit waren die Heime bundesweit angesprochen, und zwar alle, also Heime sowohl in freier, oft kirchlicher, als auch kommunaler oder staatlicher Trägerschaft.
In Hamburg fand die Heimerziehung vor allem in den städtischen Heimen statt. Hamburg war allerdings auch nach dem Krieg wie zuvor darauf angewiesen, Kinder und Jugendliche außerhalb der Stadt unterzubringen. So wurden beispielsweise 1966 190 auswärtige Heime durch die Hamburger Jugendbehörde belegt.{246} Die meisten Gebäude der städtischen Heime waren für einen Heimbetrieb nicht oder nur bedingt geeignet. Sie waren vor längerer Zeit für einen Anstaltsbetrieb errichtet worden, wie die Heime in der Feuerbergstraße oder in Wulfsdorf. Einige waren als Villen oder aus anderer Nutzung für einen Heimbetrieb hergerichtet worden, wie etwa das Mädchenheim Schwanenwik. Bis 1970 wurden nur das Kinderheim Niendorf und das Säuglingsheim Poppenbüttel neu gebaut. Die Vereinigung städtischer Kinder- und Jugendheime errichtete 1961 außerdem das Kinderheim Hohe Liedt.{247} In einem, Jahrzehnte später veröffentlichten Bericht heißt es: „Die pädagogische Situation in fast allen Vollheimen war durch viel zu hohe Gruppenstärken, strikte Trennung zwischen Wohn- und Schlafbereichen und große Schlafsäle bestimmt“. Und: “Die schlechte Personalsituation beeinträchtigte die Erziehungsarbeit mindestens ebenso stark wie die schlechten Bedingungen.“{248} Die Jugendbehörde verfügte 1962 über insgesamt 23 Heimschulen, die alle Schulformen außer das Gymnasium bis zur Berufsschule umfassten.{249} Kinder in Heimen besuchten die mit den Heimen räumlich verbundenen Heimschulen, wenn man sie für öffentliche Schulen, die „Ortsschulen“, für nicht zumutbar hielt oder es keine Schule in der Nähe gab. Für die Heimschule wurde auch argumentiert, dass die Heimkinder in den Ortsschulen stigmatisiert würden und für die Verwahrlosten ohnehin ein Milieuwechsel und eine enge Verzahnung der Erziehung im Heim mit der Schule erforderlich seien. Erst in den späten Sechzigerjahren überstieg in Hamburg die Nutzung der Ortsschulen die der Heimschulen, obgleich der Anteil der Heimschulen weiterhin sehr hoch war.{250} In den ersten zwei Jahrzehnten nach Kriegsende blieb der Heimschulbetrieb qualitativ deutlich hinter dem der öffentlichen Schulen zurück. Unterrichtet wurde in Klassen mit mehreren Jahrgängen. Und auch die Schulräume - oft waren dies die Gemeinschaftsräume der Einrichtung -, die Ausstattung mit Lehrmitteln und die Qualifikation des Lehrkörpers und ihrer Vertretung blieben hinter den Standards öffentlicher Schulen zurück.{251} Das Konzept der Heimschule blieb trotz der verstärkten Nutzung öffentlicher Schulen noch die Leitlinie in den Heimen für die so genannten Schwererziehbaren mit geschlossenen Gruppen. So wurde beispielsweise noch Ende der 1970er Jahre im Mädchenheim Feuerbergstraße ein Heimschulgebäude geplant und errichtet.
Die Heime waren und wurden weiterhin nach Alter und pädagogischen Anforderungen differenziert. So wurden das Kinderheim in Dibbersen und das Overbeckheim in Emmelndorf in heilpädagogische Heime mit psychologischem Fachpersonal umgewandelt. Im Hamburger Heimsystem gehörten auch vor dem Entlaufen gesicherte Gruppen im Mädchenheim Feuerbergstraße, in den Jugendheimen Wulfsdorf und Osdorf und in den Durchgangsheimen Hütten und Schwanenwik zum Bestand an Heimen. Die Jugendbehörde wie auch die Hamburger Vormundschaftsrichter vertraten die Auffassung, dass „die Anordnung der Fürsorgeerziehung und sogar die Gewährung der Freiwilligen Erziehungshilfe eine etwa notwendige Freiheitsentziehung einschließen.“{252} Die „gesicherten Gruppen“, in denen Jugendliche eingeschlossen wurden, genügten jedoch weder pädagogisch noch baulich den Anforderungen an diesen Zweck in einem modernen Rechtsstaat: Das Heim „Hütten“ war beispielsweise ein ehemaliges Polizeigefängnis aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.{253} Die Regelungen zur Umsetzung der Freiheitsentziehung im Heimalltag waren seit der Zeit vor dem ersten Weltkrieg zwar ein nie zu Ende diskutiertes Thema, aber faktisch nie geändert worden. Und so war es für die im Gestern verhaftete Jugendhilfe bezeichnend, dass das Heim „Hütten“ nach dem Krieg zwar nach dem ermordeten, jugendlichen NS-Widerstandskämpfer aus der Hamburgischen Verwaltung in Helmuth-Hübener-Haus umbenannt wurde, dieser Name aber nie Eingang in die Alltagskommunikation fand.
In Hamburg gab es außerdem eine Reihe von Jugendwohnheimen, die jungen Menschen nach der Schule und während ihrer Berufsausbildung einen Wohnort boten. Sie waren im System der Heime eine weitere, letzte Station vor der endgültigen Entlassung aus der öffentlichen Erziehung. Die Überweisung eines jungen Menschen in eines der Jugendwohnheime war eine Möglichkeit, den Aufenthalt im Erziehungsheim nach dem Schulbesuch zu beenden. 1966 gab es noch 11 Jugendwohnheime mit insgesamt 600 Plätzen, die zu diesem Zeitpunkt in die Abteilung „Kinder- und Jugendheime“ der Jugendbehörde eingegliedert wurden.{254}
Der seit Jahrzehnten eingefahrene Heimalltag blieb bis weit in die 1960er Jahre hinein für die Öffentlichkeit weitgehend verborgen. Aus heutiger Sicht ist es jedoch möglich, den Heimalltag aus mehreren Perspektiven genauer zu betrachten. Die Sicht der Funktionäre in Verbänden und Behörden wurde oben bereits angerissen und ist aus öffentlichen Darstellungen erkennbar. Die der Heimleitungen und des Personals findet sich in Heimakten und eigenen Schilderungen wieder. Die Perspektive der Betroffenen, also der Eltern, Verwandten und vor allem der Kinder und Jugendlichen selbst, ist erst zu Beginn des folgenden Jahrhunderts durch die Aufarbeitung jener Zeit an den „Runden Tischen“ zur Heimerziehung und über die Entschädigungsfonds ans Licht der Öffentlichkeit gehoben worden. Aus allen Perspektiven ergibt sich ein Bild des Heimalltags mit Licht, aber auch viel Schatten.