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Eine neue Zeit
ОглавлениеDer politische Neuanfang war im Deutschen Reich und auch in Hamburg von Unruhen begleitet. Die Stadt steckte 1919 in einer schweren Versorgungskrise. Im Vergleich zur Vorkriegszeit betrugen die Milchlieferungen beispielsweise nur noch 20%. Waren wurden dem normalen Handel für Geschäfte auf dem Schwarzmarkt entzogen. Im Juni 1919 musste sogar die Reichswehr anlässlich der „Sülze-Unruhen“ ordnend eingreifen: Die Bevölkerung protestierte gegen den Verkauf verdorbenen und minderwertigen Fleisches. Die Arbeitslosigkeit war dramatisch angestiegen. Auch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm des Senats hatte nur eine geringe Wirkung. Die Kassen der Stadt waren leer, die Verschuldung hoch und damit der politische Handlungsspielraum des Senats gering. Auch wenn es in den Folgejahren einen konjunkturellen Aufschwung gab, blieb es unruhig: 1921 besetzten Kommunisten die Werft Blohm & Voss, um einen republikweiten Aufstand zu unterstützen. Doch dieser fiel in sich zusammen. 1923 verschärfte sich die wirtschaftliche Situation durch eine Hyperinflation. Auf deren Höhepunkt erfolgte ein weiterer Versuch, die Macht zu ergreifen: Kommunistische Kampfgruppen stürmten in den Morgenstunden des 23. Oktober im Osten Hamburgs Polizeireviere. Doch der Aufstand scheiterte an der Übermacht von 5000 Polizisten. Auch Putschversuche von Rechts bewegten Hamburg. Am 13. März 1920 versuchten Rechtsextremisten in Berlin die Reichsregierung zu stürzen. Dieser Umsturzversuch, der „Kapp-Putsch“, wurde jedoch durch einen Generalstreik vereitelt, an dem sich auch Hamburger Arbeiter beteiligten. Zu dieser Zeit bildeten national gesinnte, stellungslose Offiziere und Soldaten den Kern nationalistischer und republikfeindlicher Gruppierungen, die eine Reihe von Anschlägen auf liberale und kommunistische Einrichtungen und Personen verübten. In Hamburg war eine von ihnen die personell noch sehr kleine Ortsgruppe der NSDAP, die aufgrund des 1922 erlassenen Republikschutzgesetzes verboten wurde. Mit der Hyperinflation im Jahr 1923 endete der kurze wirtschaftliche Aufschwung in erneuter Not für weite Bevölkerungskreise. Der Preis für ein Brot lag bei 17 bis 18 Millionen Reichsmark und der für ein Pfund Butter bei 60 Millionen. Die Arbeitslosigkeit war hoch und jene, die Arbeit hatten, bekamen keine Löhne. Streiks, Krawalle und Plünderungen von Lebensmittelgeschäften waren die Folge.{77} Fragen der Jugendhilfe standen in diesen Krisenjahren nicht an erster Stelle auf der politischen Agenda. Sie wurden aber von engagierten Abgeordneten der neu gewählten Bürgerschaft dennoch aufgegriffen.
Oberin Rothe hielt das an sie gerichtete Kärtchen der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge in der Hand, als sie sich am 17. März 1921 auf den Weg zur außerordentlichen Sitzung der Behörde im Hamburger Rathaus machte. Das prachtvolle Gebäude war erst 1897 nach 10-jähriger Bauzeit im Stil der Neorenaissance fertiggestellt worden. Das in voller Breite auf den Rathausmarkt ausgerichtete Gebäude mit seinem über hundert Meter hohen Turm prägt das Bild der Innenstadt bis heute. Ort der Sitzung war der Phoenixsaal im Rathaus. Der Name ist dem Mythos vom Vogel Phönix entlehnt, der sich aus der Asche erhebt und neues Leben symbolisiert. Der Saal erinnert an das Trauma des großen Brandes von 1842, der weite Teile der Stadt zerstörte, dem aber der erneute Aufstieg folgte. Konferenzteilnehmer betreten noch heute den Saal durch die zweiflügeligen, schweren Türen, über denen das geschnitzte Stadtwappen prangt. Zwei hohe Fenster sind zum Rathausmarkt ausgerichtet und beleuchten den Raum. Auf dem Bild über dem Kamin entsteigt Hammonia – Hamburgs Schutzpatronin – der Asche. Die dagegen kleinen und beinahe demütig wirkenden Ölgemälde grauhaariger Männer mit Halskrause erinnern an die Honoratioren der Stadt.
In dieser Atmosphäre sollte ein ernstes Thema behandelt werden: Die von den Abgeordneten Stengele und Reiche der Hamburgischen Bürgerschaft aufgedeckten Missstände in den beiden Erziehungsanstalten, der Anstalt für Mädchen in der Feuerbergstraße und der für Jungen in Ohlsdorf. Die SPD-Abgeordnete Ida Stengele war Mitglied der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge. Sie hatte die beiden Erziehungsanstalten inspiziert und wollte über ihre Beobachtungen und vor allem die von ihr entdeckten Missstände berichten. Die 1861 in der Schweiz geborene Stengele war bis zu ihrer Heirat mit Gustav Stengele im Jahr 1894 als Erzieherin in Österreich, Frankreich und Italien tätig. Danach lebte sie als politisch interessierte Hausfrau an der Seite ihres Mannes in Hamburg. Gustav Stengele war Redakteur des Hamburger Echos und sozialdemokratischer Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft. Er starb 1917. Von politscher Seite erhob sich damit eine in der Pädagogik nicht unerfahrene Stimme. Ihre 1875 in Hamburg geborene Fraktionskollegin, Adele Reiche, war von 1896 bis 1907 Volksschullehrerin und von 1915 bis 1918 als Kriegshilfslehrerin in Hamburg tätig und ebenfalls Mitglied der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge. Zu ihr waren Beschwerden über die Behandlung der jungen Menschen in den Erziehungsanstalten vorgedrungen, die ebenfalls angesprochen werden würden.
Um 14:15 Uhr eröffnete Staatsrat Lohse die Sitzung, zu der die genannten Kommissionsmitglieder, Direktor Heskel, zwei Ärzte, einige Beamte, Direktor Schallehn der Knabenanstalt und Oberin Rothe anwesend waren. Stengele erhielt das Wort und berichtete über zwei Besuche in der Knabenanstalt im Februar. Sie war dort auf verschmutzte Bettwäsche und Kleidung, Hygienemängel und unzureichende Kost, insbesondere auch für kranke Zöglinge, gestoßen. Weiterhin hatte sie die Überzeugung gewonnen, „dass in der Anstalt noch in den alten Bahnen fortgearbeitet würde und dass die Anstalt noch nicht von modernem Geiste durchdrungen sei.“{78} Sie schloss ihren Vortrag mit der Forderung zur Erneuerung durch eine familiärer geprägte und freiheitliche Erziehung sowie der gründlichen Berufsausbildung der Zöglinge sowie der Erzieher. Der Behörde waren zudem Beschwerden über Misshandlungen zugetragen worden, und dass „in der Erziehungsanstalt noch die Anwendung der sogenannten Gruppenkeile üblich sei.“{79} Die Vertreter der Anstalten und Beamten der Behörde widersprachen den Vorwürfen weitgehend. Die Behörde beschloss, von einem häufigeren Wäschewechsel abzusehen. Auch die Frage einer besonderen Verpflegung für Kranke ließ man auf sich beruhen. Allerdings wurde das Bestreben beschlossen, das allgemeine Niveau der Ernährung zu verbessern. Dabei sollte auch „die Frage der Herbeiführung des gleichen Essens für Angestellte und Zöglinge“ geprüft werden, denn die Beratung hatte zutage gefördert, dass die Angestellten getrennt von Zöglingen aßen und auch eine bessere Kost erhielten.
Zum Abschluss wurden Beschwerden in Einzelfällen besprochen, darunter der Einschluss von Mädchen in der Feuerbergstraße in Arrestzellen, die nach Aussage der Oberin jedoch auf eigenen Wunsch der Zöglinge erfolgt seien. Insgesamt waren die Beamten wenig offen für die vorgebrachte Kritik. Der zweite Direktor, Riebesell, fühlte sich durch die Kritik verletzt und stellte sein Amt zur Verfügung, wenn die Behörde dies wünsche. Der Leiter der Knabenanstalt gab zu Protokoll, dass „von den von Frau Stengele gegen seine Amtsführung erhobenen Angriffen nichts an ihm hängen geblieben sei.“{80}
Die von Stengele angeschnittene Frage der „Einführung eines freiheitlichen Geistes“, die eng mit der Strafordnung in den Anstalten verbunden ist, wurde auf eine spätere Sitzung verschoben. Und diese sollte auch nicht die letzte zu diesem bedeutsamen Thema sein.
Es wurde eine „Kommission zur Abfassung einer Strafordnung in der Erziehungsanstalt für Mädchen“ einberufen, die sich jedoch grundsätzlich mit den Strafordnungen in allen Anstalten befasste. Zur Vorbereitung der ersten Kommissionssitzung wurden die Anstaltsleitungen von der Behörde im Juli 1921 beauftragt, Vorschläge für die Änderung der jeweiligen Strafordnungen zu unterbreiten. Die Oberin der Erziehungsanstalt für Mädchen bat die Lehrerinnen und Erzieherinnen, Erfahrungen mitzuteilen und Änderungen vorzuschlagen. Es scheint ein Interesse an der Mitgestaltung der Strafordnung bestanden zu haben, denn die Oberin erhielt eine Reihe kurzer Mitteilungen, aber auch lange Ausführungen. Manche Vorschläge hatten eher pädagogischen Charakter wie etwa die Wiedergutmachung, wenn Schaden angerichtet wurde, und dass eine Reaktion auf Fehlverhalten zügig erfolgen solle. Dass die körperliche Züchtigung aber weiterhin als Mittel gewünscht wurde, auch wenn sie angeblich wenig Anwendung fand, wurde offen geäußert: „Für angebracht halte ich bei frechen, ungebührlichen Reden und Gegenreden gleich einen ordentlichen Klaps auf den Mund, (…) bei mutwilligen Beschädigungen (…) Kleider zerreißen usw. sind wohl eine Tracht Prügel angebracht.“ Eine andere Erzieherin schrieb dazu: „Körperliche Züchtigung habe ich, abgesehen von einigen Ohrfeigen in der Anstalt noch nicht erlebt. Doch bin ich der Überzeugung, dass eine Tracht Prügel bei schlimmen Vergehen od. bei sehr großem Trotz ein wirksames Heilmittel sein könnte.“{81}
Die Meinungsäußerungen wurden besprochen und führten zum Entwurf einer neuen Strafordnung, die ein wenig milder erscheint, zumindest semantisch: Das abgestufte Strafregister begann mit dem Entzug von Vergünstigungen und verschiedenen Formen der Absonderung von der Gruppe durch Arbeit in der Freizeit, Vorenthaltung der Briefpost, Zimmerarrest für einzelne Stunden oder auch mehrere Tage. Die drei härtesten Strafen waren die Entziehung der Besuchserlaubnis, „Fasttage mit trockenem Brot und Wasser“ und die Rückversetzung in die Aufnahmegruppe. Eine körperliche Züchtigung war nicht mehr vorgesehen. Der Vorschlag endete mit der Bemerkung, „dass die Reihenfolge der Strafen ihrer, von den Zöglingen empfundenen Schwere nach aufgestellt worden ist.“{82}
Der Entwurf wurde am 6. Dezember 1921 in einer Kommissionsitzung beraten, an der für die Mädchenanstalt nicht nur die Oberin Rothe, sondern auch die Erzieherinnen Petri und Heuer teilnahmen. Nach der Eröffnung der Sitzung durch den Kommissionsvorsitzenden Müller erhielt Direktor Heskel die Gelegenheit, einen Überblick über die Entwicklung der Strafordnung der Erziehungsanstalt für Mädchen zu geben. Sodann entspann sich eine Grundsatzdebatte, bei der im Vergleich zu den in der Vergangenheit geführten Diskussionen Zweifel und ein offenerer Umgang mit Erfahrungen spürbar waren. Oberin Rothe äußerte, dass sie ihre Auffassung bezüglich der Notwendigkeit einer körperlichen Züchtigung nicht geändert habe. Allerdings würde sie der Wiedereinführung widersprechen. Sie persönlich würde sie nicht mehr vollziehen, weil sie nicht wisse, „wie eine solche auf das innere Leben eines Menschen wirke“. Allerdings „seien aber frühere Zöglinge zu ihr gekommen, die ihr die empfangene Züchtigung noch nach acht Jahren gedankt hätten.“{83} Auch Direktor Schallehn von der Knabenanstalt berichtet über einen Fall des Dankes für die Züchtigung. Die Erzieherin Heuer hingegen äußerte, dass die „Züchtigung in den meisten Fällen bei dem Zögling einen Hass entwickle.“ Dem stimmte auch Direktor Schallehn zu. Pastor Gastrow vertrat die Auffassung, dass die körperliche Züchtigung nur Erfolg haben könne, „wenn das Kind die Empfindung habe, dass diese Strafe ein Ausfluss der suchenden Liebe sei.“ Diese Äußerung wurde mit der Bemerkung abgetan, dass „die Gedanken des Herrn Gastrow nur auf das Familienleben anwendbar [seien].“
Die Abgeordnete Stengele, die die Einrichtung der Kommission erwirkt hatte, führte einen neuen Gedanken ein, der die Diskussion aufkochen ließ. Kinder seien nur das Produkt der Verhältnisse, denen sie entstammten. Sie selbst habe während ihrer Tätigkeit als Erzieherin nur einmal ein Kind gezüchtigt, dies aber später bereut. „Die Erzieher dürften nicht das Odium auf sich laden, Tierbändiger zu sein“. Falls die Behörde die Züchtigung beibehalten wolle, so würde sie die Schließung der geschlossenen Anstalten fordern. Zumindest sei die Einsperrung aufzuheben.
Müller und Heskel widersprachen deutlich. Ein Verzicht auf die Arreststrafe sei unmöglich. Ebenso sei eine Schließung der Anstalten nicht zu verantworten. Die Klientel habe sich in den letzten Jahren eher zum Schlechteren entwickelt, so dass die Behörde jedes Erziehungsmittel einsetzen müsse, „ehe sie es aufgebe, sich mit einem Zögling zu befassen“. Die Abgeordnete Stengele habe „wohl zu wenig Einblick in das Zöglingsmaterial der Behörde, um über die Notwendigkeit ernster Zuchtmittel urteilen zu können.“ Damit war in der Generaldebatte alles gesagt und die Fronten waren geklärt. Die Kommission vertagte sich und sollte erst in einem Jahr wieder zusammentreten.
Die Folgesitzung fand am 1. November 1922 im Sitzungssaal der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge statt. Der Vorsitzende Müller regte an, nach der Generaldebatte in die Erörterung der Einzelfragen einzusteigen und dabei den Entwurf einer neuen Strafordnung aus dem letzten Jahr zur Grundlage zu nehmen. Dabei fasste er zusammen, dass „auf Straf- und Disziplinarmittel nicht verzichtet werden könne. Bei Abschaffung der körperlichen Züchtigung müsse wenigstens an der Arreststrafe festgehalten werden.“{84} Aber bereits dieser Auftakt war in der Kommission umstritten. Oberin Rothe berichtete über ihre aus Erfahrung gewonnene Erkenntnis, dass die Mädchen selbst eine Einsicht in ihr Fehlverhalten und dessen Verhältnis zur Strafe gewinnen müssten. „Unter Umständen“ könne das Mädchen dann auch selbst seine Strafe bestimmen oder „einen Sühnevorschlag machen. (…). Die Strafe solle ein fühlbarer Eingriff in ihre eigene Lebenssphäre sein, ohne dass das Strafmittel grausam oder nervenaufreibend sein müsse.“ Diese pädagogisch geprägten Überlegungen stellten einen Schwenk dar, der vermutlich darauf beruhte, dass körperliche Züchtigungen in der Mädchenanstalt nicht mehr praktiziert und damit keine nachteiligen Erfahrungen gemacht wurden. Die harten Strafen waren auch sehr umständlich auszuführen. Durch das Erfordernis, dass die Oberin sie auf den Hinweis eines Vergehens durch eine Erzieherin verhängen und ein Arzt zustimmen musste, ging der Zusammenhang von Fehlverhalten und Strafe verloren. Aus ihrer Erfahrung warf sie in die Diskussion ein, dass die Mädchen sehr oft „eine Sühne vorschlügen.“ Dabei würden sie oft schwerere Strafen vorschlagen, als die Erzieherinnen sie selbst erwogen. Sie berichtete weiter, dass der Arrest nicht mehr in völliger Isolierung bestand, sondern die Teilnahme an den Unterrichts- und Arbeitseinheiten beinhaltete. Stengele sprach sich erneut deutlich gegen die Prügel- und Arreststrafe aus. Sie glaubte, „dass die Prügel das Übel nur vergrößern und bei den übrigen Kindern bestenfalls nur Mitleid erregten.“ Sie glaubte, dass „die Mädchen zu den Strafentscheidungen gehört werden könnten“ und die Erzieherin dabei „wie eine Mutter“ das Mädchen belehren könne. Sie führte weiter aus, dass sie auch die Arreststrafe nicht befürworten könne, denn die Arrestzellen in der Anstalt erinnerten sie an ein Gefängnis.
Erneut entspann sich eine Debatte über die Grenzfälle, über jene jungen Menschen, die etwa durch Widerstand oder Verlust der Impulskontrolle gewalttätig in Erscheinung traten. Klar war in der Diskussionsrunde, dass „außer den Geisteskranken auch Minderwertige und Hysterische [in die psychiatrische Anstalt Friedrichsberg] überwiesen würden, die wegen akuter Erregungszustände ausgesondert werden mussten.“ Auch wenn eine ärztliche Begutachtung für die Überweisung erforderlich war, stand die Frage im Raum, ob die Prügel- und Arreststrafe bereits im Vorfeld eine „Heilung“ bewirken könne. Nach längerer Debatte hierüber sortierte sich die Diskussionsrunde klar in die Befürworter und Gegner der körperlichen Strafen. Zu den Gegnerinnen gehörten Stengele, die Oberin Rothe und die Erzieherin Heuer sowie der ebenfalls mitdiskutierende Assessor Adler. Direktor Heskel betonte erneut, dass die Strafen als Abschreckung und letztes Erziehungsmittel erforderlich seien, um die Ordnung in den geschlossenen Anstalten aufrecht zu erhalten. Auch wenn man auf die Prügelstrafe verzichten würde, würde man auf den Arrest nicht verzichten können, denn ohne ihn seien die „Anstalten nicht zu führen.“ Sein Kollege Direktor Riebesell bestätigte Dr. Heskel, dass der Grad der Verwahrlosung in der Mädchenanstalt sehr hoch sei und „darum auch auf das äußerste Zuchtmittel der Züchtigung nicht ohne weiteres verzichtet werden dürfe.“ Dann äußerte er einen Gedanken, der auf das Grundproblem in der Diskussion hinweist: „Das Problem dieser Strafe dürfe nicht verwirrt werden durch die Reformgedanken, die im Strafrecht im allgemeinen und in der Reform des Gefängniswesens vertreten würden.“ Damit waren das Unbehagen und vielleicht sogar die Furcht vor Reformen angesprochen. Die Diskussion erweiterte sich sogar zu dem noch vor kurzem undenkbaren Aspekt, ob man in den Anstalten eine Strafkommission aus den Zöglingen bilden könne oder gar sollte. Oberin Rothe mahnte zur „Vorsicht“, denn „die Mitzöglinge neigten zu allzu harten und rohen Strafen.“ Diesbezügliche Versuche waren nicht erfolgreich: „die Vertrauensmädchen würden bald abgesetzt oder bäten bald selbst um Enthebung von ihrem Amte.“ Im letzten Fall einer körperlichen Züchtigung in der Anstalt hatte ein Mädchen, „das einst selbst für einen Mitzögling Stockschläge befürwortet hatte“, keine Abschreckung, sondern „Mitleid und andererseits Abscheu und Hass“ empfunden. Direktor Schallehn wies auf ein in Berlin propagiertes Modell eines „Jugendgerichts“ hin, das er „für eine gefährliche Spielerei“ halte. Jugendliche, die derart handeln könnten, seien „nicht mehr der Fürsorgeerziehung bedürftig“.
Der Argumentation für die Beibehaltung der körperlichen Züchtigung und des Arrestes schloss sich auch Direktor Schallehn an. Er stellte die Frage in den Raum, was bei einer Abschaffung der Züchtigung mit den „Fällen geschehen solle, in denen ein Zögling ohne Erregung, nur zum Zwecke der Entlassung sich wild gestellt, Sachen und Räume demoliert und durch sein Beispiel erreicht habe, dass nun andere Zöglinge bereits den dritten Raum zerstört hätten.“ Antonie Kähler, ein von der Bürgerschaft gewähltes Behördenmitglied, unterstützte die Beibehaltung der Prügelstrafe: „Wenn hier im äussersten Fall mit der fühlbarsten Strafe nicht mehr ausgerichtet werden könne, dann sei auch mit Liebe nichts mehr zu erreichen.“ ‚Liebe‘ war hier nur als Mittel zum Zweck verstanden, nicht als Empathie als eine Voraussetzung für die Erziehung. Der Assessor Adler versuchte, die unterschiedlichen Positionen vorsichtig auf den Punkt zu bringen: Es sei „wohl eine Frage der Weltanschauung, ob man züchtigen wolle oder trotz aller Gründe, die dafür sprächen, aus gleicher erzieherischer Verantwortung sich zu der Strafe nicht entschließen könne.“
Am Ende der Erörterungen entschied die Behörde, die Beibehaltung der bisherigen Beschlüsse der Behörde über die körperliche Züchtigung der Mädchen zu empfehlen. Ein Unentschieden gab es bei der Abstimmung zur Arreststrafe. Damit sollte auch sie zunächst nicht angetastet werden. Zum Ende der Sitzung war nur der Entwurf der Strafordnung für die Mädchenanstalt zu einem Teil beraten worden. Man vertagte die Diskussion auf eine weitere Sitzung. Müller äußerte die Erwartung, dass es Unterschiede in den Strafordnungen der Anstalten für Mädchen und Knaben nur geben solle, wenn das Geschlecht den Unterschied rechtfertige. Außerdem müssten „die Erziehungsmaßnahmen (…) wohl von den Strafen getrennt werden.“
Die Kommission traf sich vier Wochen später am 29.11.1922 zu ihrer 3. Sitzung{85}. In dieser Besprechung erhielt zunächst Direktor Schallehn von der Knabenanstalt das Wort und erläuterte die von ihm favorisierten Grundsätze für eine Erziehung in den Anstalten für die ‚sittlich verdorbene‘ Jugend. Diese sei anders zu betrachten als die „normale“ Erziehung durch Eltern zu Hause, fuße aber auf dem gleichen Grundsatz: „Lohn und Strafe sollen in der normalen Erziehung nur mässig angewandt werden, seien aber als Heilmittel heranzuziehen wie die Medizin, die der Arzt dem kranken Körper gebe.“ Der Erzieher in der Anstalt verfüge über eine „Stufenfolge von erzieherischen Massnahmen und Strafmitteln“, die er nach eigenem Ermessen einsetzen können müsse. Die „Strafreihe“ beginne mit dem „strafenden Blick oder der Ermahnung“ und die Wirkung der Strafe würde erhöht, wenn sie „aus der unmittelbaren sittlichen Empörung hervorgehend der Tat unmittelbar folge. (…) Die körperliche Züchtigung sei der gewaltsame Eingriff, der scharfe Schnitt, zu dem der Arzt im Notfall greife und zu dem sich auch der Erzieher entschliessen müsse, wo Weichlichkeit nicht angebracht sei: bei den schwierigen Elementen sei zuweilen eine derbe Tracht Prügel notwendig, um sie zur Besinnung zu bringen und andere abzuschrecken.“ Er belegte seine Auffassung mit den Geschehnissen in der Anstalt: In der Zeit der Diskussion über die Strafen sei die Prügelstrafe kaum noch verhängt worden und das Ergebnis sei, dass die Zahl der Entweichungen 1919 bei 99 und 1920 bereits bei 206 lag, um dann 1921 auf 263 zu steigen. „Die Mehrzahl sei wiederholt im Laufe desselben Jahres entwichen.“ Sie würden sich in Kaschemmen herumtreiben. Man könne kaum glauben, dass die Jungen nach ihrer Rückkehr wiederaufgebaut werden könnten. Im Übrigen entstehe dem Staat durch diese Jungen, die das Inventar der Anstalt zerstören und draußen ihr „Anstaltszeug“ verkauften, ein erheblicher Schaden, den er auf 60 Tausend Mark im Jahr bezifferte. „Nur die Furcht vor Strafe könne die Zöglinge vom Entweichen zurückhalten.“ Er musste auf Nachfrage allerdings einräumen, dass sich der ursächliche Zusammenhang zwischen der Zurückhaltung bei der Anwendung der Prügelstrafe und des Ansteigens der Zahl der Entweichungen „natürlich auch nicht beweisen lasse“. Ein weiterer Aspekt seien die Übergriffe auf das Personal. Unlängst sei ein „angegriffener Erzieher von einem längeren Krankenlager zum Dienst zurückgekommen.“ Die Kommission war sich in diesem Punkt einig, dass „ein Schutz der Erzieher dringend notwendig“ erscheine. Direktor Schallehn schloss seine Ausführungen mit dem Hinweis, dass sich das gesamte Personal „einstimmig“ dafür ausgesprochen habe, die körperliche Züchtigung und den Arrest als Strafmittel beizubehalten.
Durch den Vortrag angeregt, diskutierte die Kommission die Bestrafung des Entweichens: Die einen Zöglinge würden im Moment des Entweichens nicht an die Strafe denken, die anderen, die freiwillig zurückkehren wollen, würden durch die Erwartung der Strafe von der Rückkehr abgeschreckt. Direktor Schallehn entgegnete, dass „die Rückkehr aus weichen Stimmungen“ nicht gerade häufig vorkommen würde. Er stellte fest, dass die in die Anstalt überwiesenen Jungen eine Abwehr gegen ein geregeltes Leben überhaupt mitbrächten und sich daher auch gegen die Anstaltsordnung wehren würden. Er lenkte im Weiteren dann insoweit ein, dass die Prügelstrafe nicht auf ein bestimmtes Ereignis unweigerlich folgen müsse, sondern die Möglichkeit ihrer Anwendung gegeben sein müsse, um sie dann je nach Fall auch in milderem Maße oder gar nicht zu verhängen. Während Direktor Heskel dem zustimmte, lehnte die Beigeordnete Kähler jegliche Züchtigung und den Arrest ab. „In die Anstalt müsse etwas wärmeres als die Strafordnung hineingebracht werden, deren Drohungen die Zöglinge nur der Anstalt fernhielten.“ Diese pädagogisch geprägte Sicht rief den zweiten Direktor auf den Plan. Die Anstalten hätten de jure die Pflicht, die Zöglinge in ihrer Gewalt zu halten. Auch wenn Entweichungen durch Strafandrohung im Einzelfall nicht verhindert werden könnten, so werde „aber die Gesamtheit … durch die Strafandrohungen zurückgehalten. Ohne bestrafen der Entweichungen sei die Anstaltserziehung am Ende.“ Und schließlich müsse man Entweichungen auch „zum Schutze der Allgemeinheit vor diebischen, gewalttätigen oder kranken Zöglingen“ verhindern.
Auch wenn es angesichts dieser kontroversen Stellungnahmen zunächst aussichtslos erschien, sich auf eine novellierte Strafordnung zu verständigen, wurde aber genau dies erreicht. Die bereits milderen Entwürfe wurden in der Reihenfolge der Strafen verändert und die geringeren Strafen wie die Entziehung von Vergünstigen und der Freizeit den Erzieherinnen und Erziehern überlassen. Nur die härteren Strafen sollten von den Anstaltsleitungen genehmigt werden. Dabei wurde die körperliche Züchtigung als Maßnahme bei „schwersten Verfehlungen“ und „im äußersten Notfall“ an die letzte Stelle und der auf sechs Tage begrenzte Arrest an die vorletzte gerückt. Die Reihenfolge sollte aber nicht als zu durchlaufende Eskalationskette verstanden werden. Die Strafen sollten bei der Auswahl am Einzelfall ausgerichtet sein.
Der Vorschlag, dass die leichteren Strafen, die durch die Erzieherinnen und Erzieher verhängt werden durften, der Anstaltsleitung zu melden seien, um Angemessenheit und Missbrauch überprüfen zu können, wurde für die Mädchenanstalt angenommen, für die Knabenanstalt jedoch mit dem Hinweis auf „das den Zöglingen gegebene und von ihnen auch recht oft in Anspruch genommene Beschwerderecht“ verworfen.
Es war ein Kompromiss gefunden worden, der aber am Ende noch einer letzten Klarstellung bedurfte. Sollten die Anstaltsleitungen angehalten sein, die Strafen „auf Verlangen der Behörde“ auch zu verhängen, also auch die Prügelstrafe und einen verschärften Arrest? Oberin Rothe wollte das sicherlich nicht, Direktor Schallehn wollte dagegen über das komplette Repertoire an Strafmaßnahmen verfügen. „Die Meinungen sind geteilt“, wurde im Protokoll notiert. Man verständigte sich auf die Antwort, „dass schliesslich in jedem Einzelfall die besonderen erzieherischen Erwägungen ausschlaggebend bleiben müssten.“ Die Kommission beendete damit ihre Arbeit. Das glaubte sie zumindest.
Am 14. Dezember wurde das Ergebnis der Kommission in der Plenarsitzung der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge beraten. Sie verwies die Frage der körperlichen Züchtigung an die Kommission zurück, die am 21. März 1923{86} erneut zusammentreten musste. Neu dabei war der Vorsitzende Biedermann und neben ihm nahmen die Beigeordnete Kähler, die Abgeordnete Stengele, Pastor Manhardt und die Beamten Creutzburg und Adler teil. Oberin Rothe und Direktor Schallehn, die beiden Anstaltsleitungen, waren ebenfalls geladen. Direktor Heskel war nicht mehr im Amt. Seine Rolle vertrat Direktor Hellmann.
Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung mit einem Paukenschlag. Er teilte mit, dass seine Meinung zur körperlichen Züchtigung von der Mehrheit der Behörde geteilt werde: sie solle aus den Strafordnungen entfallen. In Fällen von Übergriffen auf Personal oder Sachen und tätlichem Widerstand gegen eine Erziehungsmaßnahme könne aber unmittelbarer Zwang ausgeübt werden, und zwar auf Grundlage der gesetzlichen Vorschriften zur Notwehr und Selbsthilfe und Verhütung von Sachbeschädigung. Direktor Schallehn verteidigte erneut seine Position, dass es Fälle gebe, „wo die Anwendung der körperlichen Züchtigung unbedingt nötig sei.“ Auch Oberin Rothe wollte auf das letzte Mittel für besondere Fälle nicht verzichten. Sie hielt Fälle für möglich, „wo durch einen solchen scharfen Eingriff der Ausbruch einer Geisteskrankheit geradezu verhütet werden könne.“ Sie sei „jedoch nicht bereit, eine körperliche Züchtigung selbst vorzunehmen.“ Für Befremden sorgte in der Sitzung die Äußerung des Direktors Schallehn, dass in den Strafordnungen nur die schweren Züchtigungen aufgenommen seien, nicht die leichten. Dies war ein deutlicher Hinweis darauf, dass es zwar keine Stockschläge mehr gab oder geben sollte, aber der Klaps oder die Ohrfeige weiterhin als legitim betrachtet wurden.
Direktor Hellmann plädierte ebenfalls für die Abschaffung der körperlichen Züchtigung. Er vertrat die Auffassung, dass der Zögling „die Züchtigung als Akt der überlegenen Gewalt [empfinde], der er sich fügen müsse. Es bleibe bei ihm die Abneigung bestehen und die Unerziehbarkeit werde verstärkt.“ Er ging auch auf die Ausführungen der Oberin ein: „Niemals könne eine Züchtigung eine Vorbeugung sein gegen Störungen des Nervensystems.“ Ein leitender Arzt der psychiatrischen Anstalt Friedrichsberg habe vielmehr „die Frage gestellt, ob nicht durch eine verkehrte Behandlung in der Erziehungsanstalt geistige Erkrankungen geradezu gefördert seien.“ Diesem Standpunkt schloss sich auch die Abgeordnete Stengele an. Dann entließ man die beiden Anstaltsleitungen und beschloss im engeren Kreis der Kommission, der Behörde vorzuschlagen, „die körperliche Züchtigung in beiden Strafordnungen zu streichen“ und dem Personal die Vorschriften für unmittelbaren Zwang zur Abwehr von Gefahren mitzuteilen. Das lang diskutierte Thema der Prügelstrafe war vom Tisch gefegt worden. In der darauffolgenden Sitzung der Behörde, an der auch der neue Direktor der Jugendbehörde, Dr. Wilhelm Hertz, teilnahm, wurde das Ergebnis bestätigt. Er machte deutlich, dass es bei den Disziplinarmaßnahmen nicht um Sühne, sondern um Verwaltungszwangsmaßnahmen gehe. Diese juristische Sichtweise mag für die behördliche Betrachtung des Gegenstandes hilfreich gewesen sein, für die erzieherische Praxis war sie es nicht.
Die Weimarer Republik mit dem erstmals in freien, allgemeinen Wahlen gewählten Reichstag war zweifelsohne eine ‚neue Zeit‘, insbesondere was sozialpolitische und speziell jugendpolitische Ambitionen anbelangt. Bereits 1921 lag ein Entwurf für ein „Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt“ vor. Er beginnt mit der Formel: „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf körperliche, geistige und sittliche Erziehung.“{87} Das war ein Paradigmenwechsel, denn Kinder galten bislang als Objekt erzieherischen Handelns, nicht als Träger eigener Rechte. Im ersten Paragrafen heißt es weiter: „Insoweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird, (…) tritt öffentliche Jugendhilfe ein“. Auch wenn diese Generalklausel zum Recht des Kindes auf Erziehung ‚nur‘ einen Grundsatz formuliert, so wirkte er dennoch inspirierend für Reformvorhaben in der erzieherischen Praxis.
Das Gesetz entstand in einer für die Reichsregierung und das Parlament höchst schwierigen Zeit. Politische Umsturzversuche und die Nachkriegsnot der Kriegsheimkehrer und weiter Teile der Bevölkerung, die schleichende und später galoppierende Inflation waren die Probleme, die das politische Handeln in den beginnenden 1920er Jahren beherrschten. Es verwundert daher nicht, dass das Gesetz überhaupt nur durch eine überparteiliche Initiative von Frauen zustande kam{88} und 1922 zwar verabschiedet wurde, aber erst mit einem Vorlauf zur Vorbereitung auf die neuen Aufgaben am 1. April 1924 in Kraft trat.
Es war vor allem ein Gesetz zur Organisation der Jugendbehörden, zur Festlegung ihrer Aufgaben und Kompetenzen und der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel. Auf kommunaler Ebene waren Jugendämter zu schaffen, auf Landesebene Landesjugendämter und im Bereich der Reichsverwaltung ein Reichsjugendamt.
Die bisherigen Entwicklungen in der Jugendhilfe der Länder des deutschen Reiches wurden dabei aufgegriffen. Offenbar war die Hamburger Jugendbehörde ein Vorbild für die gesetzlichen Regelungen, wie eine Abhandlung über die wirtschaftliche Lage Hamburgs aus dem Jahr 1921 zum Entwurf des Gesetzes bereits feststellte: Der Satz `Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf körperliche, geistige und sittliche Erziehung‘ stamme von Dr. Petersen, der das erste Jugendamt in Deutschland schuf. Es sei nun das Vorbild für „etwa 1000 Jugendämter in Deutschland.“{89}
Das Gesetz enthält die in Hamburg bereits praktizierten Regelungen zum Schutz der Pflegekinder, zur Rolle des Jugendamtes im Vormundschaftswesen sowie zur öffentlichen Unterstützung hilfsbedürftiger Minderjähriger und speziell zur Schutzaufsicht und Fürsorgeerziehung. Die Länder wurden befugt, Ausführungsgesetze zu erlassen. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation zum Zeitpunkt des Inkrafttretens, wurden durch eine Notverordnung vom Februar 1924 Vorbehalte zur Durchführung des Gesetzes zur finanziellen Entlastung auf der Länder- und Kommunalebene formuliert.
Hamburg hat hiervon keinen Gebrauch machen müssen, denn die behördlichen Strukturen der Jugendhilfe entsprachen hier bereits im Wesentlichen denen, die im neuen Reichsgesetz vorgesehen waren. In der Schrift „Öffentliche Jugendhilfe in Hamburg“ aus dem Jahr 1925 heißt es dazu:
„So ist die Behörde für öffentliche Jugendfürsorge ausgerüstet mit großen Erfahrungen und mit dem gut organisierten Apparat, der zu ersprießlicher Arbeit nötig ist, im Jahre 1924 aufgegangen in Landesjugendamt und Jugendamt, ohne das Gesicht nach außen viel zu verändern, da im großen und ganzen – mit Ausnahme einiger Aufgaben des Landesjugendamtes - die heutigen Aufgaben der Jugendwohlfahrtsbehörden schon durchgeführt waren.“ {90}
Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) und das Hamburgische Ausführungsgesetz legten als landesjugendamtliche Aufgabe fest, dass die Erziehungsanstalten vom Landesjugendamt zu überwachen waren. Bereits 1925 beschloss der Senat in einer Verordnung Grundsätze der Überwachung der Anstalten, die durch die zeitgleich erlassenen Richtlinien des Landesjugendamtes inhaltlich weiter ausgeführt wurden. Die „Heimaufsicht“ war ins Leben gerufen worden.
In der Geschäftsstelle des Landesjugendamtes waren 1925 in 7 Abteilungen etwa 230 Beamte und Angestellte tätig, im Jugendamt einschließlich der Anstalten sogar 580.
Doch nicht nur in Bezug auf die Verwaltungsstrukturen waren die Bedingungen in Hamburg für den Start des Reichjugendwohlfahrtsgesetzes sehr gut. Auch die Aufgabenwahrnehmung war bereits weiter fortgeschritten als anderswo. So gab es in Hamburg zum Beispiel bereits ein Mütterheim, das Marthahaus, in dem junge Mütter mit ihrem Kind aufgenommen werden konnten. „Nicht nur, daß dem Kinde hier in der Regel der Vorteil der Brustnahrung zu Teil wird: vor allem lernen Mutter und Kind sich hier eins fühlen, wenn sie einige Wochen im Heim waren.“{91}
Hamburg war damals wie heute eine spannende Groß- und Hafenstadt, die junge Menschen, “seien es Arbeitsuchende oder Abenteurer und Bummler“, anzog. Für die in der Stadt gestrandeten männlichen Minderjährigen unter 18 Jahre stand eine Jugendherberge mit 870 Betten für den vorübergehenden Aufenthalt bereit, bis sie in ihre Heimat zurückgeführt oder in Arbeit vermittelt wurden. Zwischen 1920 und 1924 waren es immerhin 12721 jugendliche Zuwanderer, derer sich das Jugendamt annahm. Im Mädchenheim Alstertwiete fanden Mädchen Aufnahme, „die um Schutz nachsuchen oder die des Schutzes bedürfen.“{92} Der Aufenthalt sollte nur von kurzer Dauer sein und diente der Klärung der Situation und der Perspektive, die in der Rückführung in das Elternhaus oder dem weiteren Schutz in einer Einrichtung bestand. Im Jahr 1924 war diese Einrichtung mit 45 Plätzen der Zufluchtsort für 800 Mädchen. Damit verfügte Hamburg bereits über Anlaufstellen für junge Menschen in gefährdenden Lebenssituationen, die man heute als Notdienste bezeichnen würde.
Eine weitere Besonderheit in Hamburg waren die Lehrlingsheime, in die Fürsorgezöglinge aufgenommen wurden, wenn sie eine Ausbildung begannen. Hamburg war mit seinem Ausführungsgesetz zum RJWG auch den Schritt gegangen, dass die Erziehungsberechtigten ihr Kind dem Jugendamt auf Antrag und ohne Gerichtsbeschluss zur Erziehung übergeben konnten. Die Strukturen der Fürsorgeerziehung hatten sich allerdings seit den Reformjahren nach 1900 nicht wesentlich geändert. Die Einrichtungen aus der damaligen Zeit waren noch immer in Betrieb, teilweise sogar ausgeweitet worden. So wurde 1927 das Gut Wulfsdorf als Erziehungsanstalt für männliche Jugendliche in Betrieb genommen, dazu die Zweigestellen des Waisenhauses in Bergedorf und Besenhorst. In Hamburg wurde die „Anstaltserziehung“ mit wenigen Ausnahmen in Einrichtungen der Behörde durchgeführt. „Dadurch unterscheidet sich Hamburg von den meisten deutschen Ländern und preußischen Provinzen, die in sehr ausgedehntem Maße die Anstalten der freien Liebestätigkeit, namentlich der konfessionellen in Anspruch nehmen. Vorteile und Nachteile sind klar: Sehr wesentlich ist doch der Vorteil, auf den Geist der Anstalt einen Einfluss zu besitzen.“{93}
Und diesen Einfluss versuchte die Jugendbehörde auch geltend zu machen. Voraussetzung hierfür war eine reformfreudige Leitung. Mit Dr. Wilhelm Hertz als Direktor und dem zweiten Direktor August Hellmann waren gute Voraussetzungen gegeben, ab Mitte der 1920er Jahre die Jugendhilfe und insbesondere die Anstaltserziehung fachlich fortzuentwickeln. So wurde auch der Stachel im Fleisch der pädagogischen Praxis, die Erziehung durch Strafe, erneut auf die Tagesordnung gesetzt: Hertz verdeutlichte 1928 in den von ihm formulierten Leitsätzen den Vorrang der Erziehung vor anderen Maßnahmen: „Jede Erziehung wird sich bemühen, ohne Strafen auszukommen. Sie wird auch die Androhung von Strafen nach Möglichkeit zu vermeiden suchen. (…) Die Erziehung will den jungen Menschen ermutigen. Muss aber eine deutliche Missbilligung seines Verhaltens eintreten, so darf die Form des Tadels nicht verletzen. Ironische Behandlung ist ganz zu vermeiden, weil sie den pädagogischen Bezug stört. Vorhalte, die unter vier Augen gemacht werden können, sind dem Tadel vor der Gemeinschaft (Klasse, Gruppe) vorzuziehen.“{94} Den weiteren Ausführungen zufolge sollten Arreststrafen nicht mehr zulässig sein, sondern waren durch Einzelerziehung mit Absonderung von der Gruppe zu ersetzen. Als härteres Disziplinierungsmittel waren zusätzliche Arbeitsleistungen vorgesehen. Dabei sollte die Atmosphäre des Arrestes vermieden werden. Damit verblieb vor allem der Entzug von Vergünstigungen als mögliches Mittel, auf Fehlverhalten, wie man es damals verstand, zu reagieren. Drei Jahre zuvor hatte die Behörde bereits die „Briefsperre“, also das Zurückhalten von Post an die Betreuten, aus den Strafordnungen der Erziehungsanstalten gestrichen. Diese Entscheidung schloss aber nicht aus, „bedenkliche Briefe oder Briefteile dem Zögling vorzuenthalten.“{95} Die Achtung der Privatsphäre war dabei weniger der Grund als vielmehr der, dass die Briefsperre von den jungen Menschen als besonders hart empfunden wurde und außerdem – so die Aktenlage - seit Jahren kaum noch angewendet wurde.
Die Leitung des Jugendamtes ging 1930 noch einen Schritt weiter, indem sie das Beschwerderecht in einer Richtlinie verankern und einen „Vertrauensausschuss der Zöglinge“ einführen wollte. Überliefert ist das Protokoll einer behördlichen Besprechung zu diesem Thema, in dem sich die Anstaltsleitungen und Vertreter des Personals äußern konnten. Das Spektrum reichte von Ablehnung bis hin zu konstruktiven Vorschlägen. Direktor Schallehn von der Knabenanstalt befürchtete eine Verunsicherung der Erzieher im täglichen Umgang mit den Betreuten, wenn Beschwerderichtlinien verbrieft seien. Sie würden „wie eine Aufforderung zur Beschwerdeführung wirken“{96}. In die Diskussion wurde auch eingebracht, dass in den Anstalten der Grundsatz gelten sollte, „dass zwischen Erzieher und Zögling unmittelbares Vertrauen besteht.“ Es sei „zweifelhaft, ob wir weiterkommen, wenn wir den Zögling das Verhältnis als ein Rechtsverhältnis sehen lernen.“ Der zweite Direktor der Jugendbehörde entgegnete, dass die „Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Anstalt und Zögling nur familiär und patriarchalisch aufzufassen“ an der Tatsache scheitere, “dass am Anfang der Fürsorgeerziehung doch der direkte Zwang steht.“ Schließlich wurden die Richtlinien im Grundsatz mehrheitlich befürwortet. Allerdings wünschte man sich, die Beschwerderichtlinien in die Heimordnungen einzuarbeiten, um eine bessere Ansprache der Zöglinge zu ermöglichen und Besonderheiten der Heime berücksichtigen zu können. Der Vorstoß, einen Vertrauensausschuss der Betreuten in den Anstalten einzuführen, stieß allerdings auf Skepsis. Die Erziehungsanstalt für Knaben „würde der Gefahr einer Revolte“ ausgesetzt werden. Die Direktorin der Mädchenanstalt, Margarethe Cornils, die der Oberin Rothe 1926 im Amt folgte, hielt dagegen im Einklang mit ihren Erzieherinnen einen Vertrauensausschuss „für einen fruchtbaren und gebotenen Fortschritt.“ Am Ende wurde ein kleiner, weiterer Reformschritt erreicht: „Herr Direktor Hellmann bemerkt abschließend, dass die Hineinnahme der Richtlinien etc. in eine Heimordnung, sowie eine kindertümliche Wortung wohl ermöglicht werden kann. Der Zeitpunkt der Einrichtung der Vertrauensausschüsse kann noch offen gelassen werden.“ In der Akte ist das Schicksal der beiden Reformvorschläge leider nicht überliefert. Die Hinweise auf die Praxis in den Anstalten lassen erahnen, dass eine zügige Umsetzung in den letzten Tagen der Weimarer Republik wohl, wenn überhaupt, nur in Ansätzen erfolgte. Denn Direktor Hertz musste noch im selben Jahr klarstellen, dass „das Kahlscheren entwichener Zöglinge (…) als geeignete Strafe oder Erziehungsmaßnahme nicht anzusehen“{97} ist. Weiterhin sollten Kollektivstrafen unterlassen werden: „Eine Bestrafung von Mitzöglingen derselben Gruppe wegen Entweichens eines Zöglings soll nicht stattfinden, es sei denn, dass die Mitwirkung oder Begünstigung seitens der betreffenden Mitzöglinge anzunehmen ist.“ Auch sei die „Gruppenstrafe“ als „Mittel zur Herbeiführung von Aussagen (…) ungeeignet.“ Heute ist bekannt, dass die Reformideen die Praxis der nachfolgenden Jahrzehnte nicht erreicht haben.
Zur Bürgerschaftswahl 1927 gab der sozialdemokratische Verein eine Bilanz des „Kampfes [der SPD] um die Staatsmacht“ {98} heraus und stellte für die öffentliche Jugendhilfe fest: „In den Anstalten ist Schritt für Schritt ein freier Geist eingezogen. Eine der ersten Taten der neuen Leitung ist die Abschaffung der körperlichen Züchtigung gewesen. Die Mädchenanstalt ist von innen heraus umgewandelt.“ Das „kirchlich-konfessionelle“ Erziehungsverständnis, die „muffige, veraltete Luft“ habe einem modernen Verständnis von Erziehung Platz gemacht. Dieser allgemein gehaltene Hinweis wird im Jahresbericht des Jugendamtes von 1927 aufgeklärt: „Als besonders bedeutungsvoll hat sich der im Jahre 1926 eingetreten Wechsel in der Leitung der Erziehungsanstalt für Mädchen herausgestellt.“ Mit der neuen Leiterin, Margarethe Cornils, habe sich eine „neue und andersartige Arbeitsauffassung“ eingestellt. Die „äußere und allzu straff gehandhabte Disziplin“ sei gelockert worden und habe ein besseres Klima geschaffen, so dass „manche Reibung ausgeschaltet und ein ruhigeres, zwangloseres Leben eingeleitet“ worden sei.{99} Der Reform in der Mädchenanstalt wurde im Jahresbericht ein sehr breiter Raum gegeben, schien sie doch ein Lichtblick in der damaligen Zeit gewesen zu sein. Wie die Erziehungsdirektorin Cornils allerdings die ihr anvertrauten Mädchen sah und darauf ihre Pädagogik aufbaute, stellte sie in einem, im Jahr 1931 gehaltenen Vortrag beim AFET über das „Problem der Schwererziehbaren in der Fürsorgeerziehung – gesehen von der Arbeit an weiblichen Jugendlichen“{100} dar. Für sie war schon eine „begriffliche Klarlegung“, was die Schwersterziehbaren ausmacht, nicht möglich. Vom pädagogischen Alltag aus könnten die „Zerstörer der Gemeinschaft“ und die „Jugendlichen, deren Persönlichkeit keinen Ansatzpunkt für aufbauende Arbeit bietet oder konsequent ausweicht“ unterschieden werden. Zu den ersteren zählte sie Aggressive, Intriganten, übersteigerte Individualisten und Homosexuelle. Dem „zweiten Typ“ ordnete sie „Schwachsinnige“ und „schwere Psychopathen“ zu. Außerdem fielen in diese Gruppe: „völlig Haltlose“, „Willensschwache und Antriebslose“, die „Frühsexualisierten“, die „Abgesperrten“, womit sie vor allem die „Dirnen“ meinte, die „Dauerläufer“, die permanent entweichen und unter denen sich die „Kokainistinnen, Morphinistinnen und Trinkerinnen“ befanden, und schließlich die Aufsässigen, die „von den Eltern oder sonstigem Anhang (Cliquen, Parteien) gegen das Heim, seine Ordnung und seine Forderungen verhetzt werden“. Dieser bunte Strauß an unterschiedlichen Persönlichkeiten war für sie der Ausgangspunkt für den Vorschlag, für unterschiedliche Gruppen auch jeweils eine spezielle Pädagogik vorzusehen, wobei sie „Sonderheime für Schwersterziehbare“ ablehnte. Sie stellte sich eher unterschiedliche Gruppen in Heimen vor, die Übergänge ermöglichten. Wenn Schwersterziehbare allerdings trotz dieser besonderen pädagogischen Herangehensweise sich als nicht tragbar herausstellen würden, seien sie „Psychopathenheimen und Bewahranstalten zuzuführen“. Insoweit sprach sie sich auch dafür aus, dass „in engster Tuchfühlung mit dem Psychiater“ gearbeitet werden müsse. Für sie war es wichtig, dass pädagogisch qualifiziertes Personal in den Heimen arbeitet, das die in der Gruppe sich vollziehende „Gemeinschafts- und Freizeiterziehung“ betreibt: „Sport, Spiel, Wanderungen, Tanz, Gesang, Handfertigkeit, Handarbeit usw.“. Daneben trat sie für die die „intensive Arbeits- bezw. Berufserziehung“ ein. Wenige Jahre nach ihrem Amtsantritt, war sie sich der Grenzen ihres Anspruchs an ihre Arbeit bewusst: „Bei den Schwererziehbaren wird man bescheiden“, lauteten die abschließenden Worte des Vortrags, auch und gerade, wenn sie sich mit Revolten äußern: „Die Schwer- und Unerziehbaren dürfen uns keine Last sein. Sie sind für uns eine ganz wertvolle Korrektur und Kritik unserer Maßnahmen.“ Die Fachwelt sollte „den Jugendlichen zu Dank verpflichtet“ sein, „daß sie sich aufgelehnt haben gegen das, was ihnen nicht gerecht wurde.“ Wirft man einen Blick auf die nachfolgenden Jahrzehnte, so sind diese pädagogischen Grundsätze der Heimordnung und der Gestaltung des Heimalltags im Mädchenheim Feuerbergstraße erkennbar. Cornils legte Wert auf handwerkliche, sportliche und musische Erziehung. Mit dieser Art erreichte sie aber immer nur einen Teil der Mädchen. Die anderen mussten mit Zwang im Zaum gehalten werden.
In den 1920er Jahren gingen Impulse für eine Reform der Fürsorgeerziehung auch von der psychoanalytischen Theorie aus. Sie öffnete den Blick für die Entwicklung einer Persönlichkeit durch Beziehungen und insbesondere denen in der Familie. Sie fand Eingang in reformpädagogische Ansätze für die Praxis der Erziehungsberatung und Heimerziehung. Zu den Reformpädagogen gehörte etwa der Wiener Psychologe August Aichhorn. In einer 1925 veröffentlichten Vorlesungsreihe für Erzieherinnen und Erzieher führte er sein Publikum in die psychoanalytischen Leitgedanken für ein Fallverstehen und die sich daraus ergebende pädagogische Praxis ein. Als Leiter einer Erziehungsanstalt verfügte er auch selbst über Erfahrungen mit den neuen, von ihm eingeführten Erziehungsmethoden, die sich ganz wesentlich von den herkömmlichen unterschieden. Aichinger benutzte auch den damals verwendeten Begriff der Verwahrlosung in dem Sinn, dass damit alle normabweichenden Verhaltensweisen, „dissoziales Verhalten“, gemeint waren. Also ein Begriff, der Erscheinungen beschreiben sollte, aber nicht die Ursachen. Und als verwahrlost galt Vieles: vom Schulschwänzen über kleinere und größere Lügen, Diebstahl, Aufsässigkeit in Familie, Schule und Arbeitsleben, „Arbeitsscheu“ bis zu den als gefährdend anzusehenden Kontakten zu Erwachsenen. Für Aichinger und die von ihm vertretene Schule war die Verwahrlosung „Ausdruck für Beziehungen zu Personen und Dingen, die andere sind, als die Sozietät sie dem Einzelnen zubilligt.“{101} Das pädagogische Handeln müsse darauf eingehen und dies bedeute auch, dass das Anstaltsmilieu ein ganz anderes sein müsse, als es bisher sei. In seinem Vortrag fügte er eine Beschreibung einer „alten Besserungsanstalt“ ein:
„Überall nur scheue haßerfüllte Blicke von unten herauf. Nirgends ein offenes, freies Ins-Gesicht-Schauen. Das fröhliche, oft kraftüberschäumende Wesen der normalen Jugend fehlt vollständig. Was an Heiterkeit zu sehen ist, stimmt den Besucher traurig. Lebensfreudige Äußerungen sehen ganz anders aus. Man kann sich eines Schauers über den vielen Haß, der in diesen jungen Menschen aufgespeichert ist, kaum erwehren. Es kommt in diesen Anstalten nicht zur Lösung, verdichtet sich noch mehr, um später in der Gesellschaft entladen zu werden.“{102}
Die in den Anstalten geltenden Regeln würden deutlich werden lassen, „welche Gewalt da Tag für Tag aufgewendet werden mußte, um einen Zustand aufrecht zu erhalten, der kindlichem Verhalten so zuwiderläuft, dem dissozialer Jugend um so mehr. Den Zwang des sozialen Lebens haben sie nicht ertragen und durch solchen Anstaltszwang sollen sie wieder sozial werden?“{103} Er schildert danach die Herangehensweise in einem neu ausgerichteten Heim, das er leitete. Dort kam es auf den analytischen Blick der Erziehenden an. All die täglichen Konflikte, auch jene mit der Nachbarschaft des Heimes, waren zulässig, um sie schließlich für das Erreichen des Erziehungszieles nutzbar zu machen: „Wir gewähren den Verwahrlosten im lustbetonten Milieu unsere Zuneigung, bedienten uns also der Liebesprämie, um einen versäumten Entwicklungsprozess nachzuholen: den Übergang von der unwirklichen Lustwelt in die wirkliche Realität.“{104}
Die Erziehenden mussten für diese Art der Sozialarbeit eine ganz andere Haltung gegenüber den Betreuten einnehmen als in den herkömmlichen Besserungsanstalten. „Keinem von uns war je eingefallen, in ihnen Verwahrloste oder gar Verbrecher zu sehen, vor denen die Gesellschaft geschützt werden müsse; für uns waren es Menschen, denen das Leben eine zu starke Belastung gebracht hatte (…) für die daher ein Milieu geschaffen werden mußte, in dem sie sich wohlfühlen konnten“{105}, schilderte Aichinger in seinem Vortrag.
Solchen und ähnliche Erfahrungen und Einsichten haben die Reformbestrebungen der Hamburger Jugendbehörde vielleicht auch inspiriert. Anspruch und Wirklichkeit lagen in den Anstalten jedoch noch weit auseinander. Die Praxis der Erziehung mit Mitteln der Strafe sollte sich auch in den nächsten Jahrzehnten kaum ändern. Die Änderung der Bezeichnung „Anstalt“ in „Heim“ und pädagogische Richtlinien setzten dabei zumindest symbolische Akzente, die eine Aufbruchsstimmung signalisierten und sicherlich die Reformkräfte in der Praxis stärkten. Die Sicht auf die jungen Menschen war jedoch in weiten Teilen nicht von Verständnis und Empathie geprägt. Es gab keine Einsicht, dass übermäßige Ordnung und Strafe sowie schematische Erziehungsmethoden die Gewaltspirale anheizten. Das Erziehungsversagen wurde vielmehr den jungen Menschen angelastet. Sie galten als unerziehbar, wenn sie sich nicht einfügten.
Ende der 1920er Jahre wurde an der Fürsorgeerziehung in Anstalten auch in der Öffentlichkeit Kritik laut. Anlass waren bekannt gewordene Erfahrungsberichte aus Anstalten und Anfang der 1930er Jahre Misshandlungen und Revolten in zwei Heimen, die auch zu strafrechtlicher Verfolgung des Personals führten. Dies hat den Fachverband „Allgemeiner Fürsorgeerziehungstag“ (AFET) 1931 zu einer Positionsbestimmung durch seinen Vorsitzenden, Pastor Wolff, veranlasst, die mit den Worten beginnt:
„Wir befinden uns in einer Kampflage. Seit die ersten Revolten in Erziehungsheimen bekannt wurden, seit Lampel sein Buch „Jungen in Not“ schrieb und das Stück „Revolte im Erziehungshaus“ über die Bühnen aller großen Städte Deutschlands ging, seitdem die Prozesse um Rickling und Scheuen [Anstalten, in denen Misshandlungen öffentlich wurden, KDM] die Öffentlichkeit beschäftigt haben, sind wir nicht mehr zur Ruhe gekommen.“{106} In einem Ritt durch die aktuellen Themen stellte Wolff nach einem Lob für die Leistungen der Fürsorgeerziehung die Herausforderungen der Zukunft dar. Dies seien die Sicherstellung der wirtschaftlichen Grundlagen der Anstalten, die Qualifizierung des Personals, die Lebensweltnähe der Erziehungsorte, die menschenwürdige Behandlung der jungen Menschen, aber auch der Schutz des Personals vor Übergriffen der „Zöglinge“, um zuletzt bei einem Thema zu landen, das damals die Fürsorgeerziehung besonders beschäftigte:
„Eine letzte wichtige Aufgabe der Zukunft bleibt die sorgfältige Trennung der Schwerst- oder Unerziehbaren von denen, bei denen die erzieherischen Bemühungen noch Erfolg versprechen.“ Bei feineren „Verteilmethoden“ könne die Zahl dieser Gruppe sehr geringgehalten werden, jedoch „bleibt schließlich ein Rest übrig, und diese Gruppe muß allerdings von den übrigen Kindern und Jugendlichen getrennt werden.“ Wolff verweist schließlich auf das bereits von weiten Teilen der Fürsorgeerziehung „ersehnte Bewahrungsgesetz“, nach dem die als Schwerst- und Unerziehbaren aus der Jugendhilfe ausgesondert würden und man damit „die Fürsorge für die hier bezeichneten Zöglinge den Pädagogen abnimmt.“{107}
Dieser Wunsch der Aussonderung war weit verbreitet und wurde durch einen maßgeblichen Teil der Kinder- und Jugendpsychiater unterstützt. In der damals in der Medizin verbreiteten Eugenik galt die Auffassung, dass die „Verwahrlosung“ junger Menschen als genetisch bestimmt und daher als „angeboren“ zu betrachten sei. Eine pädagogische oder psychiatrische Einflussnahme sei daher zwecklos.
Diese Auffassung vertrat auch der damalige leitende Arzt beim Jugendamt in Hamburg, Dr. Werner Villinger. Der 1887 in Besigheim am Neckar geborene Villinger studierte von 1909 bis 1914 Medizin, wurde dann zum Kriegsdienst eingezogen und setzte nach 1918 seine ärztliche Laufbahn fort. Ab 1920 leitete er die neu eingerichtete kinderpsychiatrische Abteilung an der Universitätsklinik in Tübingen. Mit dieser Erfahrung in einem „klinischen Jugendheim“ bot er sich im Jahr 1926 für die Berufung zum ersten hauptamtlichen Kinder- und Jugendpsychiater in der Hamburger Jugendbehörde an. Er wirkte in Hamburg zugleich als beratender Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik der Universität Hamburg, hielt Vorlesungen über Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters und unterrichtete an Bildungsinstituten für Erzieher und Lehrer. 1932 übertrug man ihm eine Professur an der Universität Hamburg.{108} Als Arzt des Jugendamtes war er in der Beobachtungsstation tätig und entwickelte bereits dort eine biologische Auslesediagnostik und den Vorschlag einer Zwangssterilisation der als unerziehbar geltenden Kinder und Jugendlichen. In den späten 20er Jahren wurden diese Ideen im Hamburger Jugendamt und in der Reichsgesetzgebung noch nicht aktiv aufgegriffen. Der Bericht des Hamburger Jugendamtes für das Jahr 1927 enthält aber bereits einen breiten Raum für die psychiatrische Klassifizierung der Zöglinge: „Vom Jugendamtspsychiater sind im Berichtsjahr 1274 Fälle untersucht und begutachtet worden.“ Diagnostiziert wurden etwa „Schwachsinn der verschiedenen Grade“ mit 46% der Fälle oder „Psychopathie und Schwachsinn“{109} mit 12%. Im Bericht folgt dann unter anderem die Feststellung, dass „die Hilfsschulen sich immer noch mit einem Schülermaterial belasten, das infolge seines intellektuellen Tiefstandes nicht in die Hilfsschule, sondern in die Schwachsinnigenanstalt gehört.“{110}
Mit seiner Tätigkeit im Jugendamt und in der Lehre trug Villinger dazu bei, dass der Boden für eine rassenbiologische Ideologie in der Gesellschaft und in der Fürsorgeerziehung im Besonderen bereitet wurde.{111}