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Der Staat greift ein

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Johannes Petersen war vermutlich von Pathos erfüllt, als er 1911 das Vorwort zu seiner Abhandlung über die öffentliche Jugendfürsorge verfasste. Er blickte auf die letzten zwei Jahrzehnte zurück, in denen sich der Staat hilfsbedürftigen Kindern und Jugendlichen zuwendete und seine Verwaltung entsprechend organisierte: „Die Organisation soll im wesentlichen dafür sorgen, daß der Jugendliche überhaupt persönlicher Hilfe teilhaftig wird, daß jeder Jugendliche, der dieser Hilfe bedarf, sie in geeigneter Form findet.“{15} Dabei merkte er an, dass den in der Jugendfürsorge Tätigen bewusst sei, dass die Arbeit „von Mensch zu Mensch“ für den Erfolg der Erziehung entscheidend ist. Was war geschehen, dass der erste Direktor der Jugendbehörde in Hamburg diese Worte niederschreiben konnte?

Ab 1892 nahmen die Aktivitäten zur Entwicklung einer einheitlichen Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben gegenüber jungen Menschen zu. Die gesetzlichen Regelungen aus diesem Jahr hatten die Verantwortung für armenrechtlich hilfsbedürftige Kinder vom Werk- und Armenhaus auf das Waisenhauskollegium übertragen. Im Waisenhaus wurde „eine Aufnahmestation eingerichtet zwecks ärztlicher Untersuchung und Einkleidung der Kinder, eine Säuglingsstation und eine Warteschule (für Kinder bis zu sechs Jahren), die bisher gefehlt hatten.“{16} Außerdem wurde die Überwachung der Pflegestellen organisiert, da keineswegs gesichert war, dass es den „Privatkostkindern“ in den Familien den Erwartungen gemäß gut erging.

Obwohl mit den Reformen nach der französischen Besatzungszeit Sträflinge von den Armen im Werk- und Armenhaus getrennt wurden, unterstand es dennoch insgesamt der Gefängnisverwaltung. Erst durch Gesetz vom 5. April 1893 ist die Verwaltung des Werk- und Armenhauses in die Zuständigkeit des Armenkollegiums übergegangen. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in diesen Anstalten Kinder und Jugendliche nicht von Erwachsenen getrennt. 1828 wurde die „Strafklasse des Werk- und Armenhauses“ für verwahrloste Jugendliche gegründet. In dem mittlerweile vom Armenhaus getrennten Zuchthaus bestand für straffällig gewordenen Kinder eine „Strafklasse des Zuchthauses“. Nach einer Diskussion zur Beibehaltung dieser Institution entschied das Gefängniskollegium, die Strafklasse weiterzuführen, allerdings nicht im Zuchthaus, sondern im Werk- und Armenhaus. Die Erwägungen hierzu waren für die damalige Zeit recht modern. Man hatte erkannt, dass man straffällig gewordene Jugendliche nicht zusammen mit Erwachsenen im Zuchthaus einsperren könne, „dass die verwilderte Jugend nicht bestraft, sondern erzogen werden müsse.“{17} Neben der Unterbringung in der Strafklasse sollten Kinder auch dem von dem Theologen und Lehrer Johann Hinrich Wichern 1833 gegründeten „Rauhen Haus“ zur Erziehung zugeführt werden. Inspiriert von seinen Einblicken in die Lebensverhältnisse armer und sozial gefährdeter Familien hatte er die Idee einer „Rettungsanstalt“ für Kinder entwickelt, die von Verwahrlosung bedroht waren.

Die Strafklasse im Werk- und Armenhaus wurde im Oktober 1883 abgeschafft. Ihre Aufgabe übernahm die in Ohlsdorf neu errichtete Erziehungs- und Besserungsanstalt für schulpflichtige Jungen und Mädchen, die 1887 der neu eingerichteten Behörde für Zwangserziehung unterstellt wurde. Die nicht mehr schulpflichtigen Minderjährigen verblieben im Armenhaus, das noch bis 1893 der Gefängnisdeputation unterstand, bevor es in die Verwaltung des Armenkollegiums überging. Erst 1911 wurde eine Einrichtung für gefährdete, schulentlassene Mädchen errichtet: das Heim in der Feuerbergstraße.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es kein staatlich organisiertes, allgemeines Schulwesen und keine Schulpflicht. Die Armenanstalten organisierten in Hamburg für ihre Klientel eine Beschulung. Dort zeigte sich eine „grobe Zuchtlosigkeit einzelner Schüler, die wegen Störung des Unterrichts entlassen wurden.“{18} Da die Beschulung aber zum Kern der Arbeit der Armenanstalten gehörte, wurde 1833 die Strafschule gegründet. Dort wurden die Kinder „nicht nur während der Schulzeit, sondern ganz, Tag und Nacht, (…) aufgenommen.“{19} Mit der Einführung des Volksschulwesens ab 1871 unterstellte man die Strafschule der Oberschulbehörde und schuf damit ein Instrument, um auf das Schulschwänzen zu reagieren. Die Kontrollausschüsse der Volksschulen veranlassten bei Bedarf die Überweisung eines Kindes in die Strafschule für bis zu 8 Wochen. Diese Einrichtung wurde aber 1905 wieder aufgegeben. Die Rechtsgrundlage für die Einweisung war mittlerweile zweifelhaft und die Praxis als nicht mehr zeitgemäß kritisiert geworden. Ein weiterer Grund war die bevorstehende Neuordnung der gesetzlichen Grundlage für die sogenannte „Zwangserziehung“ in Hamburg.

Die rasante wirtschaftliche Entwicklung im ausgehenden 19. Jahrhundert ließ den Bedarf an Arbeitern steigen und die Zahl der Bewohner in den Städten schnell wachsen. In Hamburg stieg die Zahl der Einwohner von 1821 mit knapp unter 200 Tausend bis zum Jahr 1900 auf rund eine Million an, wobei damit auch eine Ausweitung der Wohngebiete von der engen Innenstadt auf die äußere Stadt und die damaligen Vororte verbunden war. Der Wohnungsbau konnte mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten und so drängten sich die Menschen in den Wohnungen und eng bebauten Stadteilen, die bisweilen als überbevölkert galten. Dies waren vor allem die Quartiere in der Nähe des Hafens, denn er bot vielen Facharbeitern und Tagelöhner Arbeit. 1892 waren 38% der werktätigen Bevölkerung im Sektor Handel und Verkehr beschäftigt und damit im Bereich des Hafens und der Flussschiffahrt.{20}

In diesem Prozess der Stadtentwicklung vollzog sich auch eine Trennung von Arm und Reich: wer es sich leisten konnte, und das hieß: wer der Mittel- oder Oberschicht angehörte, wohnte nicht im Gängeviertel, auf St. Pauli oder in St. Georg, sondern in den äußeren Stadtteilen wie Rotherbaum, Harvestehude oder Hohenfelde.{21}

Das Jahr 1892 hatte erneut gezeigt, wie schlecht die Lebensbedingungen für Arbeiterfamilien in der Stadt waren und wie schnell die Existenzgrundlage einer Familie durch Krankheit und vor allem Arbeitslosigkeit kollabieren konnte. In den Haushalten der Arbeiterfamilien lebten neben den Eltern und ihren fünf und mehr Kindern oft auch weitere Familienangehörige. Die Mieten verschlangen nicht selten 25 bis über 30 Prozent des Familieneinkommens, zu dem die Frauen und Kinder durch Arbeit betrugen, und das dann doch nur zu einer Existenz am Rande der Armut reichte: Hauptnahrungsmittel war Brot, Kleider wurden immer wieder geflickt und alle Kinder teilten sich ein Bett. Mindestens in einem Drittel der ohnehin engen Behausungen wurde auch noch ein „Schlafbursche“, ein lediger, junger Arbeiter, aufgenommen, um über die Runden zu kommen:

„Ein Beispiel für eine solche Familie liefert Ernst Neddermeyer, der für 18 Mark Wochenlohn in einer Gerberei und im Sommer auf dem Lastkahn seines Arbeitgebers als Matrose arbeitete. Er bewohnte Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre in Hamburg eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche, die im Monat 24 Mark kostete, 30% seines Einkommens. In dieser spartanischen Unterkunft ohne Strom, Gas oder ordentliche Toilette hausten nicht nur Neddermeyer mit seiner Frau, sondern auch fünf Kinder sowie ein Untermieter, der mit 2,50 Mark je Woche zum Familieneinkommen beitrug. Die fünf Kinder schliefen zusammen in einem Bett (…). Vier der Kinder waren chronisch krank (…).“{22}

In diese Verhältnisse gelang es Eltern nicht immer, ihrer Fürsorge- und Erziehungspflicht hinreichend zu genügen. Die staatlichen Stellen in Hamburg, die für die junge Generation und ihre Integration in die Gesellschaft verantwortlich waren, konnten den Blick nicht abwenden von vernachlässigten Kindern und auch nicht von schulentlassenen Minderjährigen, die ohne Unterstützung in der Gesellschaft nicht Fuß fassen würden. Sie widmeten sich ab 1892 verstärkt „der Bekämpfung der Verwahrlosung“{23} Minderjähriger, insbesondere auch durch Eingriffe in die Familien durch die sogenannte „Zwangserziehung“. Diese war eine von der Vormundschaftsbehörde angeordnete, staatliche Erziehung in einer Anstalt oder in einer Pflegefamilie. Bereits 1883 ersuchte die Bürgerschaft den Senat, eine gesetzliche Grundlage für diesen Eingriff zu schaffen, wie sie seit 1878 in Preußen bereits bestand. Das erste hamburgische Gesetz zur Zwangserziehung trat 1887 in Kraft. Mit ihm war die Gründung einer besonderen Behörde verbunden, der vormundschaftliche Befugnisse über die ihr zugewiesenen „Zöglinge“ übertragen wurden. Das damals Besondere war, dass in die Zielgruppe nicht nur straffällig gewordene Minderjährige, sondern alle Kinder und Jugendlichen einbezogen wurden, die nach den damaligen Vorstellungen von „Verwahrlosung“ bedroht waren, also auch schulentlassene, ältere Jugendliche. Mit dem Gesetz setzte man zwar vorrangig auf Familienpflege als dem Mittel der Wahl zur Verbesserung der Erziehungsbedingungen, hielt aber auch mit der 1883 gegründeten „Erziehungs- und Besserungsanstalt“ in Ohlsdorf die „Anstaltspflege“ als Möglichkeit vor.

Das Gesetz zur Zwangserziehung nahm auch die über 16 Jahre alten, schulentlassenen Jugendlichen{24} in den Fokus. Damit war der Personenkreis größer gezogen als in Preußen, dessen Zwangserziehungsgesetz von 1878 als Vorbild gedient hatte. Dies hatte zur Folge, dass eine zunehmende Zahl an jungen Menschen in die Zwangserziehung zu nehmen war, so dass bereits 1892 die „Errichtung eines Mädchenhauses“{25} beschlossen wurde. Zu diesem gestiegenen Bedarf in der „Anstaltspflege“ trug allerdings auch bei, dass „das Alter und die sittliche Beschaffenheit“{26} eine Unterbringung in der Familienpflege ausschlossen.

In den Folgejahren wurden die Mängel des Gesetzes offenbar. Mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) im Jahr 1900 mussten einzelne Regelungen des Hamburgischen Zwangserziehungsgesetzes an das neue Reichsrecht, das neue familienrechtliche und vormundschaftsrechtliche Regelungen enthielt, angepasst werden. Eine Überprüfung des Zwangserziehungswesens durch einen Ausschuss der Bürgerschaft kam zu dem Ergebnis, dass die Zuständigkeit für gefährdete Minderjährige zwischen dem Armenhaus, dem Waisenhauskollegium und der Zwangserziehungsbehörde in nicht nachvollziehbarer Weise verteilt war. Künftig sollte es eine Bündelung bei einer in pädagogischen Fragen kompetenten Behörde geben. In diesem Zuge sollte auch den „guten Kindern schlechter Eltern“ durch die Zwangserziehung geholfen werden können. Von Bedeutung war hier der § 1666 BGB, der das Vormundschaftsgericht zum Handeln zwang:

„Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere anordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird.“{27}

Mit dem „Gesetz über die öffentliche Fürsorge für Minderjährige“ vom 11. September 1907 wurden alle Aufgaben und Befugnisse im Bereich des Schutzes von Minderjährigen beim Waisenhauskollegium zusammengefasst. Die Behörde für die Zwangserziehung wurde aufgelöst und die Erziehungs- und Besserungsanstalt Ohlsdorf dem Waisenhauskollegium unterstellt. Mit dem parallel novellierten „Gesetz über die Zwangserziehung Minderjähriger“ wurden die Voraussetzungen und das Verfahren für die Überweisung von Minderjährigen in die „Zwangserziehung“ geregelt. Bei einer weiteren Novelle im Jahr 1910 löste die neu bezeichnete „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ das Waisenhauskollegium ab. Das erste Jugendamt, das sich dem Schutz Minderjähriger widmete und gesetzlich geregelte Eingriffsrechte besaß, war entstanden.

Johannes Petersen, der erste Beamte an der Spitze dieser Behörde, hatte allen Grund, auf diese Entwicklung stolz zu sein. Im Vorwort seiner bereits erwähnten Abhandlung über die „Hamburgische Öffentliche Jugendfürsorge“ schrieb er:

„Die Vereinigung der gesamten öffentlichen, d.h. derjenigen Jugendfürsorge, die auf gesetzlichen Vorschriften beruht und mit öffentlichen Mitteln und auf öffentliche Kosten durchgeführt wird, bei einer Behörde ist in Hamburg in besonderem Maße verwirklicht. Zugleich ist der Kreis der Jugendlichen, der dieser öffentlichen Fürsorge teilhaftig wird, hier verhältnismäßig größer, als irgendwo sonst im Deutschen Reich.“{28}

Petersen reagierte mit seiner Abhandlung auf die zahlreichen Bitten um Auskunft zu den Neuerungen in Hamburg auf dem Gebiet der „Öffentlichen Jugendfürsorge“. Wer hätte nach dem schlechten Zeugnis über die Hamburgische Verwaltung im Cholera-Jahr gedacht, dass Hamburg einst als Vorbild dastehen würde?

An diesem Erfolg hatte der 1862 in Steinbeck bei Hamburg geborene Petersen engagiert gearbeitet. Er studierte Naturwissenschaften und Philosophie und wurde 1884 zum Dr. phil. promoviert. 1887 trat er als Gymnasiallehrer in den Hamburgischen Staatsdienst ein. Ab 1893 engagierte er sich als Pfleger und Bezirksvorsteher im VIII. Hamburger Armenkreis und war im Jahr 1900 gut vorbereitet für das Amt des Direktors des Waisenhauses, auf das er sich erfolgreich beworben hatte. Schwerpunkte seiner Arbeit waren der Ausbau der Säuglingspflege, Erziehungsfragen und die Einführung der Berufsvormundschaft als einem wichtigen Teil im System der öffentlichen Jugendfürsorge. Nur wenige Jahre nach seiner Ernennung zum Direktor der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge starb er im Oktober 1913.{29}

Er hinterließ seinem Nachfolger, Alexander Heskel, eine für damalige Verhältnisse gut aufgebaute Behörde mit den wesentlichen Instrumentarien zur Erfüllung der Aufgaben in der „öffentlichen Jugendfürsorge“. Der 1864 geborene Heskel studierte klassische Sprachen und Germanistik und schloss sein Studium mit der Promotion ab. Von 1896 bis 1906 arbeitete er als Oberlehrer an einer Hamburger Realschule, danach als Inspektor des höheren Schulwesens, bevor er 1914 Petersens Nachfolge antrat und das Amt als Direktor der Jugendbehörde bis 1923 ausübte.{30}


Zu den Aufgaben der Behörde gehörten die Fürsorge und ggf. Erziehung von Minderjährigen,

 die aus dem Armenwesen in die „öffentliche Waisenpflege“ überwiesen werden.

 deren Erziehung durch die Eltern nicht gesichert ist und die Verwahrlosung durch den Staat im Rahmen der „Zwangserziehung“ abgewendet werden muss (§§ 1666 und 1638 BGB).

 die Straftaten begangen haben und wegen fehlender jugendlicher Einsicht in die Tat nicht verurteilt werden oder wegen ihres Alters strafunmündig sind, aber einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt überwiesen werden (§56 Reichstrafgesetzbuch).

 die sich einer Übertretung gem. § 361 Nrn. 3 bis 8 Reichsstrafgesetzbuch schuldig gemacht haben. Dazu gehörten Landstreicherei, Arbeitsscheu bei Bezug öffentlicher Fürsorge, „gewerbsmäßige Unzucht“ bzw. Prostitution, Bettelei und Wohnungslosigkeit.

 für die der gesetzliche Vertreter die öffentliche Erziehung beantragt hat.

 die von der Polizei in Verwahrung genommen wurden.

Der Aufgabenkatalog zeigt deutlich die Wurzeln der heutigen Jugendhilfe. Die Anlässe für Eingriffe der staatlichen Jugendbehörde sind Vernachlässigung, Misshandlung und sonstige Gefährdung des Kindeswohls, wobei dieser Begriff noch nicht entwickelt war. Und auch der Delinquenz junger Menschen sollte grundsätzlich in einem jugendgemäßen Sinn mit erzieherischen Maßnahmen begegnet werden. Ein eigenes Jugendstrafrecht gab es noch nicht, wohl aber das Instrument der Vermeidung von Haft.

Die Behörde hatte darüber hinaus die Aufgabe, die öffentliche Erziehung durchzuführen. Hierzu konnte sie sich dreier Einrichtungen, die damals noch als „Anstalten“ bezeichnet wurden, bedienen. In geeigneten Fällen sollte aber dem traditionellen Instrument der Pflegefamilie und der Lehr- oder Dienststelle der Vorrang eingeräumt werden. Letztere waren vor allem für ältere, schulentlassene junge Menschen vorgesehen, um sie in eine berufliche Tätigkeit mit Wohnmöglichkeit zu überführen. Die Behörde hatte über diese Lebensorte der Minderjährigen die Aufsicht zu führen, um das Wohlergehen der Minderjährigen in den Familien und bei Lehrherren und Arbeitgebern zu überwachen. Es war eine Erfahrung, dass diese Stellen gerne das „Kostgeld“ nahmen, die „Privatkostkinder“ dann aber vernachlässigten oder ausbeuteten. Die Behörde hatte bereits in der Vergangenheit ein Netz ehrenamtlicher Waisenkreise und -bezirke über das Stadtgebiet geworfen. Sogenannte „Vertrauensmänner“{31} prüften die Pflegstellen vor und während der Aufnahme von Kindern. Die heutige, jugendamtliche Aufgabe des „Pflegekinderwesens“ mit der Überprüfung der Eignung von Pflegestellen und der Überwachung des Wohlergehens der Kinder, war damit in jener Zeit bereits ausgeprägt.

Mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches waren auch familienrechtliche Bestimmungen in Kraft getreten, die das Sorgerecht und die Unterhaltspflicht des Kindesvaters regelten und auch den Fall, dass dieser das Sorgerecht und die Sorgepflicht nicht oder nicht angemessen ausübte oder als Sorgerechtsinhaber ausfiel. In diesen Fällen war das Sorgerecht an einen Vormund zu übertragen. Der Behörde oblag die Ausübung der Vormundschaft über die Mündel, die nicht in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt lebten, über Mündel in der sogenannten „vollständigen Fürsorge“ in Anstalten oder bei Pflegefamilien und über uneheliche Kinder, die nicht in Anstalten lebten. Damit war die vom Staat wahrgenommene Berufsvormundschaft neben der Vormundschaft durch Privatpersonen institutionalisiert worden.

Der neuen Behörde wurden auch die Aufgaben des Gemeindewaisenrats gemäß § 1850 BGB zugewiesen. Danach hatte der Gemeindewaisenrat „in Unterstützung des Vormundschaftsgerichts darüber zu wachen, daß die Vormünder der sich in seinem Bezirk aufhaltenden Mündel für die Person der Mündel, insbesondere für ihre Erziehung und ihre körperliche Pflege, pflichtmäßig Sorge tragen. Er hat dem Vormundschaftsgerichte Mängel und Pflichtwidrigkeiten, die er in dieser Hinsicht wahrnimmt, anzuzeigen und auf Erfordern über das persönliche Ergehen und das Verhalten eines Mündels Auskunft zu ertheilen.“{32} Zu den Aufgaben des Gemeindewaisenrates gehörte gem. § 1675 BGB, dem Vormundschaftsgericht von allen Fällen drohender und eingetretener Verwahrlosung, die Entziehung der elterlichen Rechte oder Zwangserziehung zur Folge haben können, Mitteilung zu machen.“{33} Diese Aufgaben sind bis heute im Kern solche eines Jugendamtes.


Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Einrichtungen der „vollständigen Fürsorge“, also die Erziehungsanstalten neben der Familienpflege. Hierzu gehörten das Waisenhaus in der Averhoffstraße, die Erziehungsanstalt für Knaben in Ohlsdorf und die 1911 in Betrieb genommene Erziehungsanstalt für Mädchen in Alsterdorf, die als die „Feuerbergstraße“ bis heute ein bedeutsamer Ort der Hamburgischen Jugendhilfe ist.

Die Einrichtungen, die zum Teil mehrere hundert Menschen beherbergten, wurden als „Anstalt“ bezeichnet. Eine derart große Einrichtung bedurfte einer straffen Ordnung sowohl im Aufbau als auch in den täglichen Abläufen, die die in ihr lebenden und arbeitenden Menschen nach fabrikmäßigen Maßstäben organisierten. Die Einrichtungen hatten spezialisierte Aufgaben und bildeten als Gesamtheit den Apparat der „vollständigen Fürsorge“, der für jedes Kind, jeden „Zögling“, einen Ort und eine Behandlung bereithielt. Die Leitungen der Häuser waren „Direktor“ oder „Oberin“, was eine Nähe zu einer Fabrik einerseits und andererseits zu einer klösterlichen Organisation ausdrückt. Das Personal für die Verwaltung, Erziehung, Gesundheitspflege und den Betrieb hatte überwiegend ihre Wohnstatt in der Anstalt. Im Waisenhaus gab es beispielsweise neben Erziehungs- und Lehrpersonal auch Schreiber und Ökonomiegehilfen, Tischler, Schneider, Schumacher, Heizer und Mechaniker, sowie Ärzte, die die Anstalt regelmäßig aufsuchten. Sie arbeiteten in anstaltsinternen Küchen, Waschküchen und Nähstuben, in Krankenabteilungen, Klassenräumen und Gärten für den Gemüseanbau, in Heizanlagen sowie Werkstätten für den Reparaturbetrieb. Sie waren aber auch in der Unterweisung der jungen Menschen zur Vorbereitung auf einen Beruf und das Arbeitsleben tätig. Im Waisenhaus mit seiner Säuglingsstation befanden sich sogar ein Operationszimmer, ein Sektionsraum und eine Leichenkammer. Für den Gottesdienst und die Seelsorge kam ein Geistlicher in die Anstalt.

Zwischen den Anstalten bestand auch eine wirtschaftliche Arbeitsteilung. So wurde ein Großteil der Wäsche zentral in der Mädchenanstalt gewaschen, der landwirtschaftliche Betrieb der Knabenanstalt belieferte die Mädchenanstalt mit Milch.

Auch die Vermögensverwaltung der „Zöglinge“ war innerhalb des Systems geregelt. Mitgebrachtes und in der Zeit der Unterbringung erspartes Geld wurde von der „Sparkasse des Hamburgischen Waisenhauses“ verwaltet. Hatten früher junge Menschen in Arbeits- und Dienststellen ihr Geld noch bei einer Ortssparkasse eingezahlt und verfügten damit selbst über ihre Ersparnisse, so hatten sie seit Einführung der Sparkasse des Waisenhauses diese zu nutzen. Damit war der Zugang zum Geld und dessen Verwendung kontrollierbar.{34} Die Anstalten waren also in einem erheblichen Umfang autarke und von der Umwelt abgeschlossene Orte.

Die Kinder und Jugendlichen durften die Anstalt auch nicht ohne Erlaubnis verlassen und Besuch nur kontrolliert empfangen. Gelegentlich, zu besonderen Anlässen, wurden vom Personal begleitete Ausflüge unternommen. Dass hier den jungen Menschen die Freiheit genommen wurde, wird in den zeitgenössischen Darstellungen nicht explizit erwähnt, weil dies als selbstverständlich und rechtens galt. Auch der Einsatz von Erziehungsmitteln, die in ihrer sanktionierenden Form auch als „Zuchtmittel“ bezeichnet wurden, war ebenso selbstverständlich und rechtlich legitimiert{35}.

„Die Tageseintheilung ist naturgemäß streng geregelt“, berichtet Petersen über das Waisenhaus, um aber gleich nachzuschieben: „doch so, daß den Kindern möglichst viel freie Zeit zur Erholung und freien Bewegung verbleibt.“{36} Geweckt wurde um 5:30 Uhr im Sommer und 6:00 Uhr im Winter. Dann begann ein Tag damit, Schlafsaal und Wohnzimmer in Ordnung zu bringen und danach das erste Frühstück einzunehmen. Um 8 Uhr versammelten sich alle zu einer gemeinsamen Andacht unter der Leitung des Direktors. Dann ging es in den Schulunterricht, der - durch eine Frühstückspause um 10 Uhr unterbrochen - bis zum Mittagessen um 12 Uhr erteilt wurde. Danach war Freizeit bis um 2 Uhr. Ab 1 Uhr konnten Kinder für eine Dreiviertelstunde Besuche empfangen, allerdings unter Aufsicht eines Beamten, „namentlich um etwaigem schlechten Einfluss übel beleumdeter Angehöriger entgegenzutreten“{37}. Ab 2 Uhr war je nach Alter Spiel, Beschäftigung für häusliche Zwecke, Hausfertigkeitsunterricht oder Gartenarbeit angesetzt. Zwischen 4 und 5 Uhr am Nachmittag gab es eine Pause mit Milch und Brot und freier Zeit. Von 5 bis 7 folgte wieder eine geregelte Tätigkeit in den Arbeitsstuben und Werkstätten oder im Garten sowie eine Stunde für Schulaufgaben. Kleine Kinder durften während der Arbeitsphasen der älteren bis zum Abendbrot um 7 Uhr spielen und basteln. „Nach 7 Uhr freie Bewegung“, wobei Petersen stolz ergänzt: „Eine Anzahl Knaben treibt in den Freistunden Musik und unterhält ein Musikkorps von 11 Bläsern, 6 Geigern und mehreren Trommlern und Pfeifern.“{38} Nach der vergnüglichen Freizeit ging es dann nach einer kurzen Abendandacht je nach Alter zwischen 6 und 8:30 Uhr ins Bett.

Petersen beschreibt das Konzept hinter diesem Tagesplan, mit dem er der „großen Gefahr jeder Anstaltserziehung, welche in der Gleichförmigkeit des Lebens besteht“, begegnen möchte. Es geht ihm um eine gewisse Vielfältigkeit, auch innerhalb der Arbeits- und Unterrichtsphasen, indem sich für die Mädchen zum Beispiel „Kartoffelschälen mit Stopfen, Anfertigung der Schularbeiten und Nähen usw. abwechselt. Der Stundenplan sieht so recht bunt aus, kein Tag gleicht dem anderen in bezug auf die Reihenfolge der Beschäftigungsarten, so weit es irgend möglich ist.“{39}

Ob die Kinder und Jugendlichen dies so erlebten, muss offenbleiben. Das Leben in der Anstalt war in jeder Beziehung streng durchorganisiert. „Die Kleidung der Kinder ist uniform“, überwiegend in blau, wobei im Sommer und Winter jeweils andere Uniformen zu tragen waren. „Jeden zweiten Sonntag ist Ausgehtag“, jedoch, schränkt Petersen ein, „nur für die Kinder, welche von Angehörigen eingeladen sind.“ An ganz wenigen Festtagen dürfen dann auch jene zu Angehörigen oder Freunden gehen, die nicht eingeladen wurden. Und es war ratsam, pünktlich in die Anstalt zurückzukommen, denn nach den einschlägigen Gesetzen war die zuständige Polizeibehörde verpflichtet, einen Minderjährigen der sich der Aufsicht entzogen hat, wieder zuzuführen. Und im Übrigen hatte das Personal die „Befugnis zur Anwendung angemessener Zuchtmittel“{40}.

Angesichts der Verhältnisse, aus denen viele der Kinder stammten, war die materielle Fürsorge sicherlich ein Gewinn. Die Kinder genossen ärztliche Behandlung, wurden eingekleidet und gut ernährt. Der von Petersen beispielhaft veröffentliche Speiseplan des Waisenhauses weist jeden zweiten Tag Fleisch zum Mittagessen und über den Tag verteilt mehrere kleine Mahlzeiten mit Milch aus.

In diesen Grundstrukturen arbeiteten alle Anstalten unter der Leitung der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge. Wer in ihre Obhut überwiesen wurde, durchlief ein Aufnahmeverfahren, erhielt einen Platz in einer der Anstalten und sollte am Ende eines langjährigen Prozesses im besten Fall als junger Erwachsener einen Beruf erlernt, aber zumindest eine Arbeit gefunden haben.

Im Verwaltungsgebäude der Behörde, das erst 1908 fertiggestellt wurde, begann dieser Weg in der Aufnahmestation. „Dort erfolgt die Prüfung des Überweisungsbeschlusses und die genaue Feststellung der Personalien der Aufgenommenen“, berichtet Petersen.{41} Sie wurden „sogleich nach der Einlieferung (…) gebadet und in Anstaltstracht gekleidet“.{42} Jene, „mit Ungeziefer behaftete oder auf ansteckende Krankheiten Verdächtige“{43}, wies man gleich in die Isolierabteilung ein. Alle wurden ärztlich untersucht und dann, soweit sie für gesund befunden wurden, in die nach Mädchen und Jungen sowie Alter getrennte Beobachtungsstation verlegt. Die Erkrankten kamen in öffentliche Krankenhäuser. Infektionskrankheiten waren seinerzeit ein großes Problem, so dass es sogar einen besonderen Trakt gab, in dem ganze Gruppen Infizierter aufgenommen werden konnten. Insgesamt spielte die Gesundheitspflege in allen Anstalten eine bedeutende Rolle, „weil eine große Zahl der aufgenommenen Kinder in schlechtem Ernährungszustande ist, und namentlich auch allerlei Krankheiten, insbesondere Skrofulose{44} und tuberkulöse Erscheinungen verhältnismäßig oft vorkommen.“{45} Der Verdacht auf Masern, Scharlach und andere Infektionskrankheiten war alltäglich. Mangelernährung, Verkrümmungen der Wirbelsäule oder einzelner Glieder kamen häufig vor. Die Krankenstation im Waisenhaus war daher auf 70 bis 80 Kinder ausgerichtet. In der Mädchenanstalt in Alsterdorf verfügte die Krankenabteilung über 24 Betten, in der die Geschlechtskranken von den anderen Erkrankten getrennt wurden. Die Ärzte stellten auch die fatalen Folgen von Alkoholismus und Vernachlässigung in der geistigen Entwicklung fest.

Der bedrohliche Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen spiegelt sich in der Statistik der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge wider. Für das Jahr 1911 wird dort unter der Rubrik „Übersicht über die Gestorbenen“ in der öffentlichen Jugendfürsorge von 126 Kindern berichtet, von denen 61 das erste und weitere 39 das fünfte Lebensjahr nicht überlebten. Von diesen starben allein 44 Säuglinge und 20 ältere Kinder im Waisenhaus. {46}

Aufgabe der Beobachtungsstation war es neben der gesundheitlichen Einschätzung und Behandlung der Kinder und Jugendlichen, „ein Urteil über ihren Charakter zu gewinnen, auf Grund dessen die Entscheidung getroffen wird, ob die Betreffenden in Familienpflege kommen, ins Waisenhaus versetzt werden oder einer Besserungsanstalt überwiesen werden sollen.“{47} Dabei widmet das Erziehungspersonal „dem geistigen Zustand der Zöglinge besondere Aufmerksamkeit, damit erforderlichenfalls eingehende psychiatrische Untersuchung veranlaßt werden kann.“{48} Auch „geistig abnorm erscheinende oder nach den Vorfakten auf geistige Abnormitäten Verdächtige werden besonderer Beobachtung durch das Erziehungs- und Pflegepersonal empfohlen, auch wiederholt untersucht, um eventuell Überführung in Spezialuntersuchung und Behandlung zu veranlassen“{49}, berichtete Petersen.

Bei dieser Beurteilung über den weiteren Verbleib wurde auch die Konfession berücksichtigt, denn die katholischen und jüdischen Kinder und Jugendlichen sollten in die Einrichtungen ihrer Konfession überwiesen werden. Die staatlichen Einrichtungen waren protestantisch ausgerichtet.

Am Ende des Jahres 1911 zählte man 1932 Kinder und Jugendliche in der Zwangserziehung. Davon befanden sich 473 in Familienpflege, 689 in Lehr- und Dienststellen, 328 im Waisenhaus und der Aufnahmestation, 147 bzw. 105 in den Erziehungsanstalten Ohlsdorf und Alsterdorf, 112 in der Besserungsanstalt des Werk- und Armenhauses, 42 im katholischen Waisenhaus in Bergedorf, 14 in anderen Erziehungsanstalten und 22 in „Krüppelheimen und Irrenanstalten (Alsterdorf, Friedrichsberg, Langenhorn).“{50}

„In das Waisenhaus kommen in der Regel diejenigen Kinder, deren Verbleib in der Fürsorge der Behörde voraussichtlich von nur kurzer Dauer ist“{51}, etwa bei Erkrankung der Mütter, Obdachlosigkeit der Eltern oder bei einer späteren Überweisung in die Familienpflege, in eine der Erziehungsanstalten oder zu anderen Betreuungsorten.

Die Hauptteile des Waisenhauses mit Platz für 550 bis 600 Kinder waren der Mädchen- und der Knabenflügel. Im ersteren war auch die Säuglingsstation mit 90 Betten für die kranken und besonders pflegebedürftigen Kinder unter zwei Jahren untergebracht. In der sog. „Warteschule“ befanden sich Mädchen und Jungen im Alter von 3 bis 6 Jahren, also im heutigen Kindergartenalter. Die schulpflichtigen Mädchen und Jungen wurden in insgesamt 4 Gruppen im ersten Schuljahr noch zusammen betreut, dann getrennt in Gruppen zu 20 bis 30 Kindern, in höherem Alter sogar zu 30 bis 40 Kindern. Die etwa 50 bis 60 schulentlassenen, konfirmierten Mädchen verblieben nach der Schule noch etwa ein Jahr in der Anstalt, um in hauswirtschaftlichen Tätigkeiten unterwiesen zu werden. Ziel war es, sie später in Dienststellungen zu vermitteln.

Im sog. „Knabenflügel“ des Gebäudes waren sechs Gruppen von Kindern untergebracht, die in der Zusammensetzung den Volksschulklassen 1 bis 6 entsprachen. Diejenigen, die vor dem Ende der Schulzeit standen, aber einen Abschluss nicht würden erreichen können, wurden einer besonderen Gruppe zugewiesen.


Die schulpflichtigen und nicht mehr schulpflichtigen Jungen, für die nach der Begutachtung eine „strengere Anstaltserziehung notwendig“{52} erschien, wurden an die Erziehungsanstalt für Knaben in Ohlsdorf überwiesen. Auch hier war ein autarkes Dorf entstanden mit zwei größeren Gebäuden und kleineren Nebengebäuden, den „Pavillons“, in denen vor allem Werkstätten untergebracht waren. Die Zuordnung der Jungen zu den Gruppen erfolgte anhand des Alters und des „sittlichen Zustandes“. „Für die schwer erziehbaren, geistig minderwertigen Zöglinge ist eine besondere Abteilung gebildet, welche der regelmäßigen täglichen Aufsicht eines psychiatrisch erfahrenen Arztes untersteht“{53}. Die schulpflichtigen Jungen arbeiteten nach dem Unterricht in der Anstaltsschule vier Stunden in den Werkstätten und anderen Arbeitsplätzen, die schulentlassenen 8 Sunden. Das Angebot an berufsqualifizierenden Arbeitsplätzen war breit gefächert, und sollte den Neigungen der jungen Menschen entgegen kommen: Es gab eine Schneiderei, eine Schuhmacherei, eine Tischler- und Glaserei, eine Schlosserei, Klempnerei, eine Mechanikerwerkstatt, Buchbinderei, Sattler- und Tapeziererei und schließlich die Bürstenbinderei, die vor allem für die in höherem Alter aufgenommenen Jugendlichen eine in kurzer Zeit zu erreichende, geringere Qualifizierung ermöglichte. Zur Anstalt gehörte ein 25 Hektar großer landwirtschaftlicher Betrieb mit Pferden, Kühen, Schweinen und Hühnern. Die Erzieher waren vor allem selbst Handwerker mit abgeschlossener Meisterprüfung und damit zur beruflichen Ausbildung befähigt. Ziel war es, die Jugendlichen später in Ausbildungsstellen zu vermitteln, wobei ihre Beschäftigung in den Werkstätten auf die Dauer der Lehrzeit angerechnet wurde.

Die Anstalt für Knaben verfügte auch über eine Krankenabteilung und eine ärztliche Versorgung durch einen täglich erscheinenden Arzt. Wie in den anderen Anstalten wurden auch in Ohlsdorf Andachten und Gottesdienste unter der Regie des Geistlichen des Waisenhauses abgehalten. Petersen betont, dass auch in der „Besserungsanstalt“ den „Zöglingen ein möglichst großes Maß an Lebensfreude zuteil wird“{54}, insbesondere durch Unterhaltungsabende mit Gesang, Musizieren und Theaterspiel sowie bei Ausflügen und Spaziergängen. Bei Petersens Schilderungen bleibt unausgesprochen, dass auch hier, wie in allen Anstalten, die jungen Menschen auf dem Gelände eingeschlossen und von der Außenwelt abgeschottet waren. Das Empfangen von Besuch, auch dem von Angehörigen, galt als Vergünstigung und musste verdient werden. Beurlaubungen aus der Anstalt waren eine Ausnahme. Der Direktor hatte das Recht, Entlassungen aus der Anstalt vorzuschlagen. Viermal im Jahr fanden diese dann auch statt, wobei sie in aller Regel nicht das Ende der Zwangserziehung bedeutete: Die jungen Menschen wurden zur Bewährung in eine Dienst- oder Lehrstelle mit weiterer behördlicher Aufsicht überführt.

In der auf 230 junge Menschen ausgelegten Einrichtung in Ohlsdorf waren 1911 nur 141 Plätze belegt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in dieser Einrichtung Jungen und Mädchen gemeinsam untergebracht waren. Erst im Jahr 1911 war die Erziehungsanstalt für Mädchen fertiggestellt, so dass eine Geschlechtertrennung vorgenommen werden konnte.

Die Ohlsdorfer Anstalt war in den 1880er Jahren erbaut worden. Zwischenzeitlich hatte man Erfahrungen mit dem Anstaltsbetrieb gesammelt und ließ diese neben dem architektonischen Zeitgeist in die Planung der neuen Einrichtung für Mädchen einfließen. Petersen schwärmte, dass der Neubau der Mädchenanstalt „durch die Eigenart seiner Anlage die Vorzüge des Pavillonsystems, das in der scharfen Trennung der Erziehungsgruppen von einander besteht, mit den Vorteilen des Kasernensystems, die in der größeren Wohlfeilheit der Anlage, der leichteren Bewirtschaftung und der wirksameren Beaufsichtigung durch die Leitung liegen, zu verbinden“{55} versucht. In den Stockwerken des Haupthauses wurden Zimmergruppen mit Wohnsaal, Schlafsaal, Abort und Wohnung für die Aufsicht gebildet, „etwa so, wie die Etagen eines Etagenhauses.“{56} Die insgesamt sieben Gruppen boten Platz für jeweils 16 bis 22 Mädchen, die zum Teil bei Ausfall des Personals verbunden werden konnten. Auch war damit die Möglichkeit eröffnet, eine Aufnahmegruppe zu bilden und „außerdem die Mädchen nach Alter, Grad der Verdorbenheit und Ursache der Verwahrlosung zu sondern.“{57} Ein diesem Geist folgendes Novum war die Gestaltung des Dachgeschosses. Für 60 Mädchen waren kleine Einzelschlafzimmer geschaffen worden, die im Gebäudeplan als „Zellen“ bezeichnet sind. Diese hatten den Zweck, „die Mädchen des Nachts wirksam voneinander zu sondern, ohne ihr Schamgefühl zu verletzen.“{58} Hier spielt Petersen darauf an, dass ein Hauptgrund für die Einweisung in die Einrichtung die sexuelle Verwahrlosung, wie man sie damals sah, war und man mit der Trennung offenbar sexuelle Begegnungen vermeiden wollte.

In den beiden Nebengebäuden waren die Krankenabteilung und die Wäscherei untergebracht. Und auch in dieser Anstalt war es ein hochrangiges Ziel, die Mädchen auf ihr voraussichtliches Leben in einem gewerblichen Beruf, in einer Anstellung in einem Haus und als Hausfrau vorzubereiten.

Die Mädcheneinrichtung mit ihren insgesamt 144 Plätzen in den Betreuungsgruppen und der Krankenabteilung wurde durch eine „Oberin“ geleitet, für die in dem Hautgebäude eine Wohnung vorgesehen war. Das übrige Personal war bis auf den „verheirateten“ Oberaufseher weiblich. Er wohnte in einem Seitentrakt des Hauptgebäudes und war für die technischen und administrativen Angelegenheiten zuständig. Schule, Arbeitstätigkeit, ärztliche Versorgung und das Alltagsleben in der Einrichtung waren nach dem gleichen Prinzip geregelt wie in ihrem Ohlsdorfer Pendant für Jungen.

Über Erfahrungen aus dem Betrieb der Anstalt für Mädchen konnte Petersen noch nichts berichten. Sie war 1911 gerade fertiggestellt worden, aber ein wesentlicher Baustein in der Architektur der öffentlichen Fürsorgeerziehung, die ihm unterstand.

Petersens Beschreibung der Anstaltslandschaft wirkt fast wie ein Idyll, in dem Kinder und Jugendliche individuell gesehen werden und sich dort mit erzieherischer Begleitung entwickeln können. Dass es neben einer guten Organisation vor allem auf das Verhältnis der jungen Menschen zu den ihnen zugewiesenen Erziehungspersonen ankommt, spricht Petersen einzig im Vorwort an: Die Arbeit von Mensch zu Mensch sei entscheidend für den Erziehungserfolg. Denn „die wahre Hilfe [werde] dem hilfsbedürftigen Jugendlichen hauptsächlich durch die unmittelbare Einwirkung des Erziehers, des Lehrers, des Vertrauensmannes, des Waisenpflegers und der anderen zur Hilfeleistung berufenen Organe“{59} zuteil. Das war ein idealistischer Anspruch, dem die Praxis in den Anstalten bedingt gerecht wurden.


Bei allen guten Absichten steckte ein schmerzender Stachel im Fleisch der Erziehung und insbesondere der Anstaltserziehung: Körperliche und psychische Gewalt, die als Strafe für Ungehorsam und unerwünschtes Verhalten ausgeübt wurden, aber als übliche Erziehungsmittel galten. Bereits zur Zeit Petersens wurde die Behandlung der jungen Menschen in den Anstalten kritisch gesehen. Mit dem Titel „Erziehungsanstalt oder Zuchthaus“ veröffentlichte der Schriftsteller und Kriminalpsychologe Heinz-Otto Fock im August 1914 einen Beitrag in der Zeitschrift „Das neue Blatt“{60} und griff damit das Thema wie andere vor und nach ihm auf. Er verfasste den Artikel anlässlich eines Gerichtsprozesses in Hamburg, in dem sich eine Frau wegen Beamtenbeleidigung zu verantworten hatte. Sie hatte immer wieder und vehement Beschwerden über die Misshandlung ihrer Tochter in der Erziehungsanstalt für Mädchen vorgebracht, die jedoch von der Behörde als unhaltbar eingestuft wurden. Der Fall veranlasste Fock, zur Alltagspraxis in Erziehungsanstalten zu recherchieren: „Hierbei sind mir ebenfalls Sachen zu Ohren gekommen, die jeder Beschreibung spotten“, fasste er seine Ergebnisse zusammen. In den Zuchthäusern sei die Prügelstrafe schon seit Jahren abgeschafft, sie sei aber in den Erziehungsanstalten weiterhin statthaft. Er schloss seinen Aufsatz mit den Worten ab: „Junge Männer, die nichts weiter verbrochen haben, als daß sie in puncto Erziehung verwahrlost sind, werden schlimmer behandelt als wie die gemeinsten Verbrecher.“{61}

Die hier implizit angesprochenen Strafordnungen der Erziehungsanstalten waren zu jener Zeit immer wieder Gegenstand von Erörterungen in der Behörde. Dabei wurde die Züchtigung als erzieherisches Mittel, auch die körperliche durch Schläge, gar nicht in Frage gestellt, war sie doch selbstverständlich und auch in der väterlichen Erziehung erlaubt{62}.

Mit der Eröffnung der „Besserungsanstalt für schulentlassene Mädchen in Alsterdorf“ wurde die Anwendung von Zuchtmitteln in einer „Strafordnung“ geregelt. Die „Strafen“ reichten von der Entziehung der Freizeit, der Besuchserlaubnis und einer Mahlzeit für einen Tag über das Aussetzen der warmen Kost für mehrere Tage, den einfachen Arrest bis zu vier Wochen bis hin zu strengem Arrest bis zu 12 Tagen, erschwert durch Entzug der warmen Kost und des Bettlagers. Bei besonders harten Strafen mit körperlichen Auswirkungen war der Anstaltsarzt hinzuziehen, in Einzelfällen sogar die Leitung der Behörde. Dagegen sticht ein Passus ins Auge: „Körperliche Züchtigungen jeder Art sind verboten.“{63} Der Strafordnung ist ein Auszug aus einem Protokoll der Behörde angefügt, in dem es heißt: „Kein Dunkelarrest, keine körperliche Züchtigung, Verhängung der Arreststrafen jeder Art für Schwangere nur nach ärztlicher Begutachtung. Hierzu bemerkt der Herr Präses, dass, wenn auch in dem Entwurf die körperliche Züchtigung als Strafmittel verboten sei, eine solche in dringenden Notfällen natürlich vorgenommen werden könne, ohne dass sich etwa der betreffende Angestellte strafbar mache.“{64}

Die verhängten Strafen waren zu dokumentieren und dem Direktor der Behörde, damals Johannes Petersen, zu übersenden. Es dauerte zwei Jahre, bis die Strafordnung geändert wurde und das Verbot der körperlichen Züchtigung aufgehoben wurde. In der diesbezüglichen Anordnung des Direktors Petersen hieß es: „Es kann körperliche Züchtigung mit bis zu 12 Hieben vollzogen werden. (…) Der Vollzug erfolgt durch Anwendung eines leichten Rohrstocks. (…) Schläge auf den Kopf sind unbedingt verboten.“{65} Diese Strafe durfte nur durch die Oberin angeordnet werden und war in ihrer Gegenwart zu vollziehen.

Die verschärfte Praxis war eine Reaktion auf die Erfolglosigkeit im Umgang mit den Mädchen, die sich in die strenge Anstaltsordnung nicht einfügten und wohl auch nicht einfügen konnten. Auf Anregung des Präses der Behörde kamen die verantwortlichen Beamten am 6. April 1915in einer Besprechung zusammen um die Praxiserfahrungen der Züchtigung und Alternativen zu besprechen. Oberin Rothe aus der Mädchenanstalt äußerte, dass sie für das Vorgehen gegen „dauernden Widerstand, Tätlichkeiten gegen Vorgesetzte, unanständige Schamlosigkeiten, Brutalität gegen schwächere Mitzöglinge keinen vollwertigen Ersatz für körperliche Züchtigung kenne.“{66} Wenn als härteste Züchtigung nur die Arreststrafe bliebe, würden die „passiveren Naturen“ im Arrest völlig teilnahmslos werden. Die „aktiveren Elemente“ würden auf alte Verhaltensweisen zurückfallen und ohnehin gegenüber der Arreststrafe unter Einschränkung der Kost mit wenig Furcht oder Respekt reagieren. Die körperliche Züchtigung habe dagegen den Vorteil, dass sie auf den Fuß zu der Verfehlung mit einer Ermahnung folge. Danach würde der Alltag fortgeführt. Bei der Arreststrafe sei der Zusammenhang zwischen Verfehlung und dem Vollzug der Strafe nicht mehr gegeben. Der Direktor der Knabenanstalt war überzeugt, dass verschärfte Arbeitsauflagen im Arrest bewirkten, dass die Zöglinge davon abgehalten würden, „Unfug zu treiben“. Der Direktor des Waisenhauses favorisierte ebenso wie die Oberin Rothe die Züchtigung als unmittelbaren erzieherischen Einfluss, während er beim Arrest Selbstverletzung und Selbsttötungsversuche in geradezu „epidemisch zu bezeichnendem Umfang“ wahrgenommen habe. Hier schaltete sich Oberin Rothe in die Diskussion ein: „Derartige Epidemien“ seien „durch die Wirkung der Züchtigung eines Zöglings auf die anderen Zöglinge mit einem Schlage zu beseitigen.“ Der Arzt Dr. Leistikow hielt eine Züchtigung für vertretbar, wenn sie „in einer der elterlichen Züchtigungsbefugnis entsprechenden humanen Weise vorgenommen würde.“ Es wurde vorgetragen, dass die Züchtigung und auch der Arrest individuell sehr unterschiedlich wirkten. Hier waren sich die Gesprächsteilnehmer jedoch nicht einig. Der Vorschlag des Direktors Heskel, „die den Anstaltsleitern zustehende elterliche Gewalt nicht in Form von Züchtigungen, sondern in Gestalt eines dem elterlichen ähnlichen moralischen Einflusses den Zöglingen gegenüber in Erscheinung treten zu lassen“, wurde in der Diskussion inhaltlich nicht weiter aufgegriffen. Er war den Anwesenden aus der Praxis vermutlich zu abstrakt. Heskel erwirkte jedoch gleich den Beschluss, dass die erwachsenen weiblichen Zöglinge für zunächst sechs Monate nicht mehr gezüchtigt werden sollten. Der Direktor der Knabenanstalt erklärte, nicht ohne Züchtigung auskommen zu können. Sie habe eine erzieherische Wirkung, da sie von dem Zögling „nach eindringlicher Ermahnung mit dem Bewusstsein hingenommen [werde], dass er sie verdient habe.“{67} Im Folgenden wurden noch die Praxis der Züchtigung von schulpflichtigen Jungen und Mädchen und solchen in Dienst- und Lehrstellen erörtert, jedoch ohne konkrete Beschlüsse zu fassen. Die Wortwahl der Teilnehmenden lässt wenig Empathie für die ihnen anvertrauten jungen Menschen erkennen, die in den Anstalten nicht erwartungsgemäß funktionierten. Vor allem Oberarzt Dr. Manchot sprach über die Jungen und Mädchen von „schwierigen Elementen“, „minderwertigem Schulmaterial“ und „eigenartigem Material“.

Die Behörde beschloss am 10. April 1915, für ein Jahr in der Mädchenanstalt auf Züchtigungen bis auf begründbare Ausnahmen zu verzichten. Doch wurde dieser Beschluss praktisch nicht umgesetzt. Die Oberin begründete dies in den folgenden Berichten damit, dass sich in den betreffenden Fällen alle anderen Strafmittel als wirkungslos erwiesen hätten. Die Angelegenheit wurde im Herbst 1916 wieder aufgegriffen. Die Behörde beschloss, dass Arreststrafen und körperliche Züchtigungen nur nach Anhörung eines Arztes vollstreckt werden durften. Züchtigungen sollten nur nach schwersten Verfehlungen und nur bei solchen Zöglingen angewandt werden, bei denen sich andere Strafmittel als unwirksam erwiesen hätten. Zuvor hatte die Oberin Rothe in einem ausführlichen Bericht anhand einer Schilderung der Falllagen dargestellt, dass auf eine Züchtigung nicht verzichtet werden könne. Vor allem bei den „Tobsüchtigen“ könne man mit der Züchtigung deren „gefährlichen, zum Verbrechen neigenden Eigenwillen“ brechen. Der Bericht hob hervor: „Nicht nur wir Erzieherinnen auch der Arzt ist der Überzeugung, dass körperliche Züchtigung, die in hartnäckigen Fällen wiederholt werden muss, diese Mädchen vor der Irrenanstalt bewahrt hätte.“{68} Es hatte sich ein System eingestellt, dass Erziehung für sich in Anspruch nahm, aber mit Strafgewalt vorging. Die verhaltenen Versuche, die Strafpraxis zu entschärfen, waren gescheitert und vorerst beendet.


Bis 1911 hatte sich in Hamburg die staatliche Organisation für Jugendangelegenheiten konzeptionell und organisatorisch einen Stand erreicht, der als Basis für die Fortentwicklung zur modernen Jugendhilfe angesehen werden kann, die bis in die 1980er Jahre hinein erkennbar blieb. In Hamburg im Besonderen hatte sich eine behördliche Struktur gebildet, die nicht nur administrierte, sondern die erzieherische und fürsorgerische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen weitgehend selbst übernommen hatte. Dass der Staat auch Heime betreibt, blieb als Grundprinzip – wenn auch mit fachlichen Veränderungen – bis heute erhalten.

Aber auch andernorts hatte es eine Entwicklung bezüglich der Sicht auf die Aufgaben der Gesellschaft und des Staates gegenüber jungen Menschen gegeben. Bis zur Jahrhundertwende war es üblich, unter dem Begriff des Jugendlichen vor allem den aus armen Verhältnissen stammenden und kriminellen oder sonst „verdorbenen“ jungen Menschen zu verstehen, den man dem wachsenden Proletariat zuordnete. Für diese hatte man die Jugendfürsorge mit dem Instrument der Zwangserziehung geschaffen. Staatlichen Stellen wurde aber auch bewusst, dass man sich jungen Menschen und allem voran jungen Männern bereits im Kindes- und Jugendalter widmen musste, um sie von sozialistischen Organisationen fern zu halten und als fügsame Arbeiter und Soldaten zu gewinnen. Hierfür wurde 1908 das Reichsvereinsgesetz novelliert, das Personen unter 18 Jahren fortan die Mitgliedschaft in politischen Vereinen verbot.{69} Gleichzeitig förderte der Staat die von ihm gewünschten Jugendorganisationen unter dem programmatischen Begriff der Jugendpflege. Der diesbezügliche preußische Erlass wurde in einer Publikation des zu Preußen gehörenden Altona, einer Nachbarstadt Hamburgs, wie folgt beschrieben:

„Die Jugendpflege will die Erziehungstätigkeit der Eltern, der Schule und Kirche, der Arbeitgeber und Lehrherren unterstützen, ergänzen und weiterführen zur Heranbildung einer frohen, körperlich leistungsfähigen, sittlich tüchtigen, von Gemeinsinn und Gottesfurcht, Heimat- und Vaterlandsliebe erfüllten Jugend.“{70}

Damit entwickelte sich neben der Jugendfürsorge die zweite Wurzel der modernen Jugendhilfe, auch wenn ihre Absichten aus heutiger Sicht alles andere als modern bezeichnet werden konnten. In der nur kurzen Zeit bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges hatte der zuvor negativ konnotierte Begriff des Jugendlichen eine „Umwertung“, eine „Image-Korrektur“ erfahren. „Nur wenn man die Proletarierjugend“ aus der Pauschalverdächtigung, ‚Jugendlicher‘ zu sein, entließ, konnte man erwarten, daß sie sich für die Interessen der privilegierten Stände einsetzte.“{71} Und das gelang für weite Teile der Jugend, die in den ersten Weltkrieg ziehen sollte.


Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Belgien herrschte im Deutschen Reich, ein „Hurra-Patriotismus“{72} in allen Schichten der Bevölkerung, der kritische Stimmen verstummen ließ. Die Straßen waren auch in Hamburg gesäumt von jubelnden Massen, die die zur Front marschierenden Truppen verabschiedeten. Auch die Sozialdemokraten im Reich wie in Hamburg schlossen sich dem Burgfrieden mit dem Regime für die Zeit des Krieges an, und brachten innerparteiliche Kritiker, darunter auch Vereinigungen der Arbeiterjugend, zum Verstummen.

Bevor die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg nach den ersten Kriegsmonaten im Reich zu schwinden begannen, hatte die Hamburger Bevölkerung die Kriegsfolgen bereits zu spüren bekommen. Schon im August 1914 wirkte sich die britische Seeblockade verheerend aus: die Hafenwirtschaft brach in kurzer Zeit zusammen, die Arbeitslosigkeit stieg an. Arbeiteten 1913 noch rund 17 Tausend Personen täglich im Hafen, so sank die Zahl während des ersten Weltkrieges auf etwa drei Tausend ab. Ende August hatte sich die Zahl der Obdachlosen gegenüber dem Vormonat von sieben Tausend auf 16 Tausend mehr als verdoppelt. Am 21. August berichtete das SPD-Organ „Hamburger Echo“, dass in einzelnen Stadtteilen bereits gehungert werde. Die Situation verschlechterte sich zusehends, so dass im März 1915 in Hamburg die Lebensmittelversorgung rationiert und die „Brotkarte“ eingeführt wurde. Wie so oft in einer Notlage vor und auch nach dieser Zeit, stieg das Ausmaß der öffentlichen und freiwilligen Fürsorge für Arme und Schwache, zu denen auch die Kinder und Jugendlichen zählten, an. Im Juni versorgten bereits 58 öffentliche Kriegsküchen notleidende Menschen. Ein Jahr später waren es 70, zu denen täglich einhundert Tausend Menschen, darunter auch Kinder und Jugendliche, kamen. Viele Männer, also auch Väter, wurden zum Kriegsdienst eingezogen, Frauen nahmen im Verlauf des Krieges mehr und mehr ihre Stellung in der Produktion und im öffentlichen Leben ein. Kinder waren dadurch noch mehr sich selbst überlassen. Und einige verloren ihre Väter oder auch beide Elternteile.

Seit dem Kriegsbeginn stieg die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die der Behörde zugewiesen wurden. Ende 1914 waren es 6617, fast 300 mehr als Ende 1913 mit 6334, wobei das Gros in Familienpflege untergebracht war oder unter Erziehungsaufsicht stand. Die Erziehungsanstalt für Mädchen in Alsterdorf hatte seit ihrer Betriebsaufnahme 1911 eine Ausweitung der Zahl der Betreuten auf 160 zu verzeichnen, während die Anstalt für Knaben einen leichten Rückgang auf 136 erfuhr. Das Waisenhaus mit der Aufnahmestation war mit einem deutlichen Zuwachs konfrontiert und musste daher Ausweichquartiere beziehen.{73} Für die Erziehungsanstalt für Mädchen war bereits nach ihrer Eröffnung schnell klar, dass sie einen Erweiterungsbau benötigte, der in Auftrag gegeben und dann 1915 eingeweiht wurde. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen in öffentlicher Erziehung in Anstalten stieg von 1913 mit 1400 bis zum Kriegende 1918 auf 2400 an. In einer Schrift zur wirtschaftlichen Lage Hamburgs aus dem Jahr 1921 heißt es dazu: „Die Zunahme der Zahl der Anstaltszöglinge ist eine bedauerliche Folge der wirtschaftlichen Verhältnisse, die die Bereitwilligkeit der Familien, Kinder in Pflege zu nehmen, immer mehr schwinden läßt.“{74} Auf Antrag der Eltern wurden im Jahr 1913 225 Minderjährige in Fürsorgeerziehung genommen und 1918 510.

Für die Erziehungsanstalten war es bereits ab 1913 und besonders im Krieg schwierig geworden, geeignetes Personal zu gewinnen. Männliche Aufseher wurden nach und nach zum Kriegsdienst eingezogen, so dass der Anteil der Frauen im Personalkörper der Anstalten stieg. Die Zahl der Betreuten war hoch, so dass immer wieder die Überfüllung der Anstalten beklagt wurde. Im Krieg kamen die Lebensmittelknappheit und Rationierung als Erschwernis hinzu. So bat die Oberin der Erziehungsanstalt für Mädchen im März 1917 ihre Behörde, „dass wir hin und wieder, vielleicht 1 oder 2 mal wöchentlich, für unsere 170 Zöglinge Magermilch bekommen. (…) Die uns von der Knabenanstalt gelieferte Menge Milch ist zu gering, seit 14 Tagen täglich durchschnittlich 7 Liter, früher weniger oder gar nichts, wovon für die Angestellten täglich 3 Liter abgehen.“{75}

Am 1. Dezember 1916 berichtete die Oberin in einer Besprechung der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge, dass es in den Kriegsjahren zu vermehrten, kritischen Situationen gekommen sei, die in erhöhtem Maß Disziplinarstrafen erforderlich gemacht hätten. Als Ursache beschrieb sie den in den letzten Jahren „tieferen geistigen und sittlichen Standpunkt“ der überwiesenen Zöglinge, aber auch die gestiegene Zahl an „Fluchtversuchen“. Auch sei eine gewisse „Kriegsnervosität“ festzustellen, „die die Zöglinge anstaltsmüde mache und die durch die in die Anstalt eindringenden Gerüchte, dass draussen in Fabriken für Mädchen Arbeit in Hülle und Fülle vorhanden sei, noch verstärkt werde.“{76} Der hier beschriebene Widerstand und das Entweichen der jungen Menschen war eine Bedrohung für die Ordnung in den beiden Anstalten. Und sie war ein Thema in den damals geführten Debatten zur Ausgestaltung von Strafen und der Züchtigung als Erziehungsmittel. Die Verantwortlichen haben auf diese Herausforderung in den Kriegsjahren keine befriedigende Antwort gefunden. Dafür brauchte es einen freiheitlichen Geist, der in jener Zeit in der Anstaltserziehung nicht zu finden war.

Der Zusammenbruch der alten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung war aber nur eine Frage der Zeit. Im August 1916 jährte sich der Kriegsbeginn zum zweiten Mal, an dem erstmals Proteste gegen den Krieg und das Elend öffentlich zum Ausdruck gebracht wurden. Zum Jahresbeginn 1917 hatte sich die Versorgungslage weiter verschlechtert. Kartoffeln gab es kaum noch, stattdessen Steckrüben. Andere Lebensmittel wie Butter und Milch waren ohnehin selten geworden. Die Situation eskalierte. Geschäfte wurden geplündert, Unruhe beherrschten die Straßen in den Arbeitervierteln, die nur mit bewaffnetem Militär im Zaum zu halten war. Anfang 1918 streikten die Werftarbeiter und die Arbeiter der Zulieferbetriebe. Der Streik brachte das Fass der unhaltbaren Zustände aber noch nicht zum Überlaufen. Hierfür bedurfte es des Kieler Matrosenaufstandes, der am 3. November nach ersten Meutereien auf Kriegsschiffen begann. Wenige Stunden nach dessen Bekanntwerden, beschlossen Werftarbeiter einen Streik, der sich schnell zu größeren Versammlungen ausweitete und politisierte. In der darauffolgenden Nacht entwaffneten revolutionäre Matrosen die in Hamburg liegenden Torpedoboote und die vereinigten Arbeiter und Soldaten übernahmen wichtige Schaltstellen des öffentlichen Lebens. Am 6. November verkündete der provisorische Arbeiter- und Soldatenrat vor 40 Tausend Hamburgern, dass er die politische Macht in Teilen übernommen habe. Am 12. November war sie vollends in seiner Hand. Der Weg zu einem demokratischen Hamburg war geebnet. Im Februar 1919 verkündete der Arbeiter- und Soldatenrat im Amtsblatt der Freien und Hansestadt Hamburg die Neuwahl der Bürgerschaft. Am 16. März1919 fand die erste allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Bürgerschaftswahl für Männer und Frauen statt. Wahlsieger war die SPD mit 50,4 Prozent der abgegebenen Stimmen. In dieser ersten, demokratisch gewählten Bürgerschaft mit 160 Abgeordneten hatten auch 17 Frauen Mandate inne. Das neue Parlament war das erste in Deutschland, das von einer Frau, der Alterspräsidentin Helene Lange, eröffnet wurde. Die gewählte Volksvertretung arbeitete eine neue Verfassung aus, die 1921 in Kraft trat. Die Bürgerschaft war nun alleiniger Gesetzgeber, der neben dem Budgetrecht die Wahl des Ersten Bürgermeisters und die Kontrolle des Senats oblag.

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