Читать книгу Trips & Träume - Klaus Fischer - Страница 7

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drei Septober Energy

Ich lag in meinem Dachzimmer auf dem Bett und las es wieder und wieder. Der Artikel in Das Auge war aufgemacht wie eine Titelgeschichte im Spiegel. Großes Foto auf dem Cover und im Innenteil drei Seiten.

Rock Power gegen grauen Spießermief, lautete die Überschrift. Das war nicht besonders originell, Überschriften waren nicht meine Stärke. Den Begriff Rock Power hatte ich mir bei der Musikzeitschrift Sounds ausgeliehen. Einmal für dieses Blatt schreiben, das wäre der Wahnsinn. An New Musical Express oder Rolling Stone wagte ich gar nicht zu denken.

Don hatte einen Typ namens Meurer für die Fotos engagiert. Der machte das hobbymäßig, hatte aber eine Spiegelreflex und konnte mit dem Ding umgehen. Meurer bekam kein Honorar, dafür hatte Don ihm versprochen, er dürfe beim Festival fotografieren. Und wenn die Bands mal groß rauskämen, könne er die Bilder an alle großen Blätter verkaufen. Die gesamte Hot-Rats-Bande positionierte sich vor der Tür des Ladens. Meurer verschoss einen kompletten Film. Mark und Andi standen in der ersten Reihe. Das war dann auch das Titelbild. Und ich? Ich versuchte den theoretischen Überbau zu liefern. Mir kam die Aktion im Eckfritz wieder in den Sinn. Befeuert davon, kam mein Text daher wie eine politische Kampfschrift gegen Spießer und Reaktionäre:

Sie sind noch keine zwanzig. Genau das richtige Alter, um Revolutionär zu werden. Und wie alle Revolutionäre kämpfen sie für eine neue Welt. Ihre Welt ist voll mit neuen Klängen. Sie führen einen Kampf und greifen dafür zu den Waffen. Ihre Waffen sind Gitarre, Keyboard, Mikrophon, Bass und Schlagzeug. Diese Jugend verwandelt ihre Wut in kreative Energie. Eine Energie, die zu Sound wird. Ein Sound voller Rock Power, der die Mauern unserer kleinen Stadt zum Einstürzen bringen wird. Um ihre Ziele zu erreichen, formieren sie sich in Kollektiven. Nur in Kollektiven, auch Band oder Gruppe genannt, können sie ihre kreative Kraft zur wahren Blüte entfalten. Sie wollen keinen Erfolg, keine Karriere. Ihre Seelen sind für Geld nicht zu haben. Sie suchen ihr Glück in der künstlerischen Erfüllung. Gegen die Langeweile, nieder mit grauer Städte Mauern!

Es folgte eine Auflistung aller Bands, die sich innerhalb der vergangenen vier Wochen in unserem Ort formiert hatten. Ich stellte ihre Mitglieder vor und welche Stilrichtung sie spielten. Fra Mauro, Dreamlight, Storm und Electric Junk (Falko und Bab hatten inzwischen mit Nick aus der Unterprima einen Schlagzeuger gefunden) waren die Ersten. Außerdem gab es noch Alpha Centaurus, Inri, Fragile Age, Pharos und Beyond. Da sich einige Bands noch unschlüssig waren, in welche musikalische Richtung ihre Reise gehen sollte, dachte ich mir einfach etwas aus.

Ich beschrieb ihre Musik als Progressiven Rock und Underground. Keine der Bands, die es betraf, traute sich zu widersprechen, denn das wäre das Eingeständnis gewesen, von nichts, aber auch von gar nichts eine Ahnung zu haben. In einer Band zu spielen, die nicht wusste, was für eine Musik sie machte, war nur peinlich.

Alpha Centaurus und Inri waren im Grunde ein und dieselben Musiker. Das funktionierte so: Wenn Fränki Lust hatte, Bass zu spielen, hießen sie Inri. Fränki, in dem anscheinend ein kleiner Multiinstrumentalist steckte, konnte noch ein bisschen was auf der Orgel. Dann daddelte er auf einem alten Elektroklavier herum, der Gitarrist wechselte kurzfristig auf den Bass, und schon hieß der Verein Alpha Centaurus.

Sonny und Moses mischten auch mit. Sie nannten sich Waisel-Villwock, nach einem Namen auf dem Klingelschild in dem Haus, in dem sie in Kürze das Müsli eröffnen wollten. Sie spielten akustische Versionen von Frank-Zappa-Songs und standen auf diese ironischen Texte, die immer mit sexuellen Anspielungen garniert waren. Da sie im Moment nur zu zweit waren, erinnerte ihr Sound eher an Schobert & Black.

Weitere spontan gegründete Bands hießen Occulta, Oxygen Factory, Staffelbruch (mit einem Schlagzeuger, so urig wie Buddy Miles), Stiebel Eltron (getauft nach den Elektrogeräten) und Zoon Politikon (stammte von Aristoteles: der Mensch als Gemeinschaftswesen).

Fünfzehn Bands waren für den Anfang nicht schlecht.

Nicht schlecht? Das war sensationell!

Die Story endete mit einem neuerlichen Aufruf, sich fürs Festival anzumelden. Die Frist lief noch. Nach dem fünften Durchlesen ließ ich mich mit einem Seufzer der Zufriedenheit ins Kissen fallen. Mein erster richtiger Aufmacher war ein Volltreffer.

»Holst du dir jetzt einen runter? Ich meine geistig«, fragte Mark.

Er saß im Schneidersitz vor dem Bett, ein Exemplar von Das Auge mit dem Rock-Power-Artikel aufgeschlagen in den Händen. Durch das offene Fenster in der Dachschräge kam ein angenehmer Luftzug, die Sonne warf ein gleißendes, unwirkliches Licht ins Zimmer, die Sommerhitze ließ unsere T-Shirts am Rücken kleben.

Statt zu antworten, erhob ich mich und legte Embryo auf.

»Dass du immer diesen Krautrock-Mist hören musst«, knurrte Mark.

»Klappe, kannst ja gehen, wenn dir der Sound nicht passt«, antwortete ich. Das war ein Spiel zwischen uns, wir stritten uns nicht wirklich. Es ging darum, wer als Erster aufgab und wer seine Musik durchsetzte.

»Mal ehrlich, schreiben kannst du ja, aber mit einigem, was du da verzapft hast, bin ich nicht einverstanden.«

»Und was, bitte, gefällt dir an meinem Artikel nicht?«

»Die Passage, wo es um Erfolg geht. Zu pathetisch: Ihre Seele ist für Geld nicht zu haben. So ein Quatsch. Alter, da liegst du völlig falsch. Don hat schon recht. Natürlich geht es um Kohle. Ich will Musik machen und damit mein Geld verdienen. Davon leben zu können, das ist mein Traum.«

Ich verspürte Lust auf einen kleinen Diskurs. »Zwischen Musik machen und davon leben können und Musik machen, um damit Geld zu verdienen, liegen doch Welten. Oder willst du so enden wie Led Zeppelin?«

»Was hast du gegen die? Machen geile Mucke, fliegen im Privatjet um die Welt, spielen in riesigen Hallen und verkaufen Millionen von Platten. Die sind reich, können sich alles leisten. Und haben alle künstlerische Freiheit, die sie brauchen«, antwortete er.

Freiheit, das war mein Stichwort. Jetzt kam ich richtig in Fahrt.

»Der Rock ’n’ Roll ist eine Industrie, eine riesige Geldmachmaschine. Rockstars sind ein Teil davon. Die Fans haben nur als Konsumenten herzuhalten. Du musst einen Hit landen, sonst lässt dich die Plattenfirma fallen. Ohne Hit geht niemand auf deine Konzerte. Und dann die Tourneen. Was soll das für ein Leben sein? Jeden Tag ein anderes Hotel, eine andere Stadt. Da verlierst du den Bezug zur Realität, das macht Freundschaften und Beziehungen kaputt. Rockstars wissen gar nicht mehr, wie das wirkliche Leben funktioniert. Frag Robert Plant und Jimmy Page, wann sie das letzte Mal im Supermarkt einkaufen waren. Die haben keine Ahnung vom normalen Leben. Kriegen alles umsonst hinten reingeschoben.«

»Hey, das mit dem Hit ist gar nicht so verkehrt. Reich, berühmt und sexy werden. Und dann raus hier aus dem langweiligen Kaff. Einen richtig guten Song müsste man haben. Einen, der dich groß rausbringt«, sinnierte er.

Ich ignorierte ihn. »Nicht zu vergessen die Drogen, die Groupies, der Alkohol und was weiß ich noch alles. Dafür geben die ihr Geld aus. Irgendwann macht es peng, und die ganze Chose fliegt ihnen um die Ohren. Brian Jones bekifft im Pool ertrunken, Jimi Hendrix an seiner Kotze erstickt, Janis Joplin zu Tode gefixt. Wer verdient am Tod von Rockstars? Die Plattenbosse und die Manager. Und so ein Leben willst du führen?«

»Vielen Dank für die Belehrung, du Spaßverderber.«

Mark schien genervt zu sein. Er sprang auf und lief im Zimmer umher, während er zur Replik ansetzte.

»Kennst du dieses Lied von Ton Steine Scherben? ›Ich will nicht werden, was mein Alter ist‹. Genau so fühle ich mich. Wenn ich nach Hause komme, sitzt da mein Alter und erzählt mir was davon, dass ich was Anständiges lernen soll. Und dass ich, solange ich die Füße unter seinen Tisch stecke, nix zu melden hab. Ich ertrag das alles nicht mehr. Ich muss da raus. Wenn ich Musik mache, die Geld einbringt, komm ich da raus. Auf eigenen Füßen stehen, nicht mehr auf meinen Alten angewiesen sein.«

Er war noch nicht fertig. »Und das geht nur, wenn ich dorthin gehe, wo die echte Szene ist, wo Plattenlabels sind und Studios, wo es Clubs gibt zum Auftreten. Warum, glaubst du, klopfe ich nur auf Bongos herum? Weil ich einen Alten habe, der mir das Schlagzeugspielen verbieten und mir ein Leben aufzwingen will, so ein kleinbürgerliches Spießerleben, wie er es führt. Weißt du, was das Arschloch gesagt hat?«

»Keine Ahnung. Verrat’s mir«, antwortete ich.

»Dass ich so enden würde wie Onkel Rudi«, platzte es aus ihm heraus.

Er stampfte dabei so heftig mit dem Fuß auf, dass die Nadel des Mister Hit zu hüpfen begann und Embryo ein abruptes Ende fanden.

Jetzt war ich es, der genervt war. »Wer zum Teufel ist Onkel Rudi?«

»Er ist der Bruder meiner Mutter.«

»Und?«

»Früher war er der Stolz der Familie. Sein Klavierlehrer bescheinigte ihm eine glänzende Zukunft. Aber irgendwie hat er es vergeigt. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war ich zehn Jahre alt. Er trug eine Schuhplattleruniform.«

»Eine was?«

»So bayerische Lederhosen, Kniestrümpfe, Trachtenjanker und Tirolerhut. Er haust in einem Wohnwagen und tritt als Alleinunterhalter in Münchener Biergärten auf. Für meinen Alten sind Musiker Versager. Wie Onkel Rudi. Musiker, das ist kein Beruf, sagt er.«

»Warte mal ab, wenn er dich Schlagzeug spielen sieht. Da kann er nicht mehr dran vorbei, dass du gut bist. Du hast eine natürliche Begabung. Es wäre eine Schande, die einfach brachliegen zu lassen. Okay, die Sprüche von deinem Alten sind ziemlich daneben. Aber deswegen würde ich mich nicht verrückt machen.«

»Ich habe noch nicht mal ein eigenes Schlagzeug. Ich will mit Dreamlight am Festival teilnehmen. Aber ohne Drumset kann ich das vergessen.«

Ich rollte mich vom Bett, ging zum Schreibtisch, auf dem die Adler-Schreibmaschine stand, die ich von Karrieremama kürzlich zum Geburtstag bekommen hatte, zog die Zeitung vom Samstag hervor und hielt sie ihm hin. Die Anzeige hatte ich mit einem Kuli markiert:

Schlagzeug günstig abzugeben. Preis: 300 Mark. Selbstabholung.

Eine Telefonnummer noch, größer war die Anzeige nicht. Die Vorwahl ließ darauf schließen, dass es in der Nähe von unserem Kaff sein musste.

»So viel Geld hab ich nicht«, sagte Mark.

»Ich habe etwas gespart. Du gibst mir das Gekd zurück, wenn du deinen Hit gelandet hast und im Privatjet um die Welt fliegst.«

»Dann müssen wir uns beeilen, sonst ist das Schlagzeug vielleicht schon verkauft. Übrigens, wie kriegen wir das Ding überhaupt transportiert?«

»Ich habe da eine Idee«, antwortete ich.

*

Mein Plan war verwegen, aber er sollte funktionieren.

Mark telefonierte vom Wandapparat in unserer Küche aus. In einer Stunde könne er vorbeikommen. Nein, das Schlagzeug sei noch nicht verkauft, ja, es sei vollständig und intakt, etwa zehn Jahre alt, mit zwei Becken und Hi-Hat-Maschine, allerdings kein Markeninstrument.

Bei dem Preis hatte ich auch nichts anderes erwartet.

Wir mussten nach Marienfels, einem Dorf rund dreißig Kilometer entfernt, zu erreichen über eine kurvige Landstraße. Mit dem Auto könnten wir die Aktion in einer halben Stunde hinter uns bringen. Aber wer könnte uns fahren? Meine Mutter nahm ihren Kadett immer mit zur Arbeit.

Ich rief Don an. Ja, sagte er, er würde uns sein Mofa leihen, es müsse nur aufgetankt werden. In zehn Minuten, logo, kommt vorbei.

Mark schüttelte ungläubig den Kopf. »Bist du des Wahnsinns?«

»Weißt du was Besseres?«

Natürlich hatte er keine andere Lösung parat. Seinen Vater konnte er nicht fragen, und auch sonst kannten wir niemanden, der ein Auto besaß. Halt, Andi konnte man fragen, der war einundzwanzig und fuhr einen Käfer. Doch das war völlig ausgeschlossen. Mark hätte nicht mitgemacht.

Zuerst holten wir meine Kreidler aus der Garage. Mark setzte sich auf sein Fahrrad und hielt sich an meiner Schulter fest. So düsten wir los.

»Wie soll das gehen? Ihr braucht noch was zum Festbinden«, sagte Don zur Begrüßung. Ja, mein Plan war absurd. Er gab uns eine Wäscheleine mit. Dons Mofa war leer bis zum Tankboden.

»Hast du einen Kanister?«, fragte Mark.

Er schwang sich auf den Drahtesel und besorgte den Sprit. Wir füllten Dons Mofa auf, es blieb sogar noch ein Rest für die Kreidler. Eine halbe Stunde später waren wir auf der Landstraße.

Auf halber Strecke schob sich eine schwarze Wolke über die Felder und Wiesen. Der Himmel verdunkelte sich. Blitze zuckten. Dann ergoss sich ein feiner, aber dichter Regen über das Land. An einer überdachten Bushaltestelle mitten in der Pampa stellten wir uns unter.

Wir waren völlig durchnässt, doch eine Umkehr kam nicht in Frage. Aufgeweicht und bibbernd vor Kälte erreichten wir Marienfels. Die Adresse war leicht zu finden, das Dorf bestand nur aus drei Straßen.

Ein Typ Ende dreißig machte uns auf.

»Du meine Güte!«, rief er erschrocken. Ich weiß nicht, wen oder was er erwartet hatte, zwei langhaarige Freaks aus der Stadt, denen die feuchte Mähne am Gesicht klebte, anscheinend nicht. Er starrte uns an wie einen außerirdischen Besuch, dann stellte er sich als Rolf vor, bat uns herein und gab uns Handtücher.

Rolf schien schon länger keine Menschenseele mehr gesehen zu haben, denn er redete ohne Unterlass. Dass er früher mal in einer Beatband gespielt habe, dass er bald fortziehen würde, dass seine Mutter vor einem Jahr verstorben und der Vater jetzt im Altersheim sei. Bald werde er den Hof seiner Eltern verkaufen und in die Stadt ziehen.

»Vielleicht werde ich auch nur vermieten. An so Typen wie euch«, sagte er. Er habe nämlich in der Zeitung gelesen, dass immer mehr junge Leute das Stadtleben satt hätten und aufs Land wollten. Um eine Kommune zu gründen. Das sei doch merkwürdig, oder nicht? Er als Dörfler wolle weg, und die Städter wollten auch weg. Alle wollten irgendwie weg. Dann verriet er uns noch, obwohl uns das alles gar nicht interessierte, dass er bei der Post arbeite. In der Stadt sei viel mehr los, dort gebe es die hübscheren Mädchen. Hahaha! Er klopfte mir auf die Schulter, als hätte ich mit ihm in der Untersekunda Kondome in Luftballons verwandelt.

Mark und ich saßen am Küchentisch, rubbelten uns die Haare trocken und ließen ihn reden. Als Rolf schließlich seinen Vortrag beendet hatte, hörte auch der Regen auf.

folgten ihm hinaus in eine baufällig anmutende Scheune. Er öffnete das Tor, und sofort flogen uns gackernde Hühner entgegen. Heu und anderer Dreck waren plötzlich in der Luft und in meinen Augen. Als sich die Aufregung gelegt hatte, sah ich in der hinteren Ecke neben einem Traktor das Schlagzeug stehen. Es war mit einem Tuch abgedeckt, das Rolf in einer übertriebenen Geste entfernte, als handele es sich um eine Denkmalsenthüllung. Es war keine Schönheit, dieses Drumkit, aber – soweit ich das beurteilen konnte – in guter Verfassung. Es war rot und hatte wirklich zwei Becken, aber nur eine Hängetom.

»Ihr müsst mir versprechen, die Kleine gut zu behandeln, wenn ich sie schon hergebe«, sagte Rolf.

Mark ging um das Schlagzeug herum, schaute sich alles genau an, wie bei einem Autokauf. Dann setzte er sich, schnappte sich die Stöcke, die in der Bassdrum klemmten, und trommelte ein paar Takte. Die Schießbude hatte einen kräftigen Sound und war sogar gestimmt.

»Das Teil ist ganz in Ordnung, so wie es ist. Ist zwar kein Ludwig, aber ich werd damit zurechtkommen«, flüsterte Mark mir zu.

»Du spielst ja richtig gut«, sagte Rolf. »Ich hab das Gefühl, meine Kleine ist bei dir in guten Händen. Habt ihr das Geld dabei?«

»Das Schlagzeug hat nur eine Hängetom. Der Kleinen fehlt was, wenn du verstehst, was ich meine«, antwortete ich und hielt die Hände, als würde ich zwei Bälle vor der Brust tragen.

Rolf war verunsichert. »Was willst du damit sagen?«

»In Anbetracht der fehlenden Tom sollten zweihundertfünfzig reichen.«

Dreist, aber ich wollte nichts unversucht lassen.

»Dreihundert, so wie es in der Anzeige stand, drunter geht es nicht.«

»Okay, das war’s dann. Mark, lass uns abhauen«, sagte ich.

Rolf machte hektische Bewegungen mit den Händen. »Wollt ihr mich verarschen? Ihr kommt den weiten Weg, um unverrichteter Dinge wieder abzuziehen?«

»Mark braucht das Schlagzeug. Er hat einen Auftritt bei einem Festival. Das heißt aber nicht, dass du die Situation ausnutzen und unverschämte Preise verlangen kannst«, antwortete ich.

Wie auf einem Bazar. Das macht Spaß, dachte ich und guckte rüber zu Mark. Der blickte verstohlen zu Boden. Es war meine Kohle, darum überließ er das Verhandeln mir.

»Ich mach euch einen Vorschlag. Ich war noch nie auf einem Festival. Das stell ich mir aufregend vor. Ich kriege freien Eintritt. Was ist, kommen wir ins Geschäft?«

Ich zog fünf Fünfzigerscheine aus der Hose und hielt sie ihm hin.

Rolf riss mir das Geld aus der Hand und stopfte es in seine Hemdtasche. Der musste total abgebrannt sein. »Okay, abgemacht. Aber ich krieg auch wirklich freien Eintritt, damit das klar ist.«

Er half uns, die Teile auf den Mofas zu verstauen, was gar nicht so einfach war. Bassdrum und Standtom kamen auf den Gepäckträger der Kreidler, Hängetom und Becken auf Dons Mofa. Mark klemmte sich Hi-Hat und Fußmaschine unter den Arm, ich mir die beiden Beckenständer.

*

Als wir am Hot Rats ankamen, war es bereits dunkel.

Die Rückfahrt hatte zwei Stunden gedauert. Die Landstraße war kaum befahren, doch jeden dritten Kilometer hielten wir an, weil entweder die Bassdrum vom Gepäckträger zu rutschen drohte oder mir mit den Beckenständern unterm Arm die Knochen wehtaten.

Mark erging es nicht besser. In einer Linkskurve löste sich die Leine, die Hängetom rollte ein Feld hinunter, die Becken klatschten mit einem Riesengetöse auf die Straße.

Ein Capri fuhr mit Affenzahn vorbei, der Fahrer zeigte uns einen Vogel. Wir luden alles wieder auf. Zum Glück war keine Polizei unterwegs. Die hätten bestimmt einen mächtigen Terz veranstaltet.

Skip, Gero und Paul warteten schon, Dreamlight wollten heute ihren Proberaum herrichten. Kief hatte gerade das Rats aufgeschlossen und gab Zeichen, wir sollten alle nach hinten kommen.

»Das ist also das Teil, auf dem du Wunder vollbringen wirst«, sagte Skip.

Mark machte auf Bandboss. »Soll ich alles alleine tragen?«

Der Hintereingang zum Rats lag in einer unbeleuchteten Gasse. Durch einen schmalen, gekachelten Flur, in dem sich Getränkekästen an der Wand stapelten, ging es zwei Treppen hinunter. Ich fühlte mich an einen Film über die Erstürmung der Bastille erinnert. Da hatte es auch dunkle Verliese gegeben.

Kopf einziehen und den Hebel einer schweren Eisentür umlegen, dann standen wir in einer Art Gewölbe. Es roch nach Moder, Dreck und Abfällen. An der Decke baumelte einsam eine Glühbirne, der Boden war betoniert. Ich stellte die unhandliche Bassdrum ab.

»Ein richtig abgefahrenes Loch. Scheint aber trocken zu sein«, sagte ich.

»Dann kannst du schon mal den Pinsel schwingen.« Paul war hinter mir die Treppe heruntergekommen und stellte einen Eimer auf den Boden.

Nachdem die Einzelteile von Marks Schlagzeug in einer Ecke verstaut waren, brachten Skip und Paul zwei weitere Eimer an. Gero hatte Eierkartons und zwei Teppiche besorgt. Aha, dachte ich, erst Kleber auftragen und alles mit den Kartons zupappen.

Es hieß, das sähe nicht nur gut aus, so als Dekoration an der Wand, die Kartons trügen zusätzlich auch zur Dämpfung bei. Nach der Schlagzeugaktion hatte ich keinen Bock, mich schon wieder körperlich zu betätigen, mich mit Kleber zu bekleckern erst recht nicht.

»Ich bring das Mofa zu Don zurück«, rief ich und war draußen, bevor die Jungs widersprechen konnten.

Die Mofas standen noch da, wo Mark und ich sie abgestellt hatten. Okay, dachte ich, zuerst Dons Knatterbüchse zurückbringen, dann würde ich noch mal herkommen und die Kreidler abholen. Was soll’s.

Dons Maschine sprang beim ersten Kick an. Ich gab ein paarmal Vollgas, um in der schrägen Gasse genug Power für die Anfahrt zu haben. Mit einem kurzen Ruck holte ich das Mofa vom Ständer und preschte los.

Plötzlich tauchte ein Fahrrad vor mir auf. Ausweichen ging nicht mehr, und im nächsten Moment krachten der Drahtesel und das Mofa zusammen. Ich landete auf dem Boden, die Maschine ging mit einem lauten Knall aus. Ich lag auf der rechten Seite, einen Fuß in den Speichen des Fahrrads. Mein Arm schmerzte, der Kopf brummte.

»Kannst du nicht aufpassen?«

»Karen, bist du das?«

»Mist. Du hättest mich beinahe umgebracht.«

»Eine junge Dame flucht nicht.«

»Du kannst mich mal.«

Ich rappelte mich auf, klopfte Arme und Beine ab. Der rechte Ellbogen tat höllisch weh. Mit der linken Hand half ich Karen auf die Beine. Sie blickte mich wütend an. Sie war kurz davor, über mich herzufallen. Als ich mir das vorstellte, musste ich schmunzeln.

»Was gibt es denn da zu lachen?«, meckerte sie. Obwohl sie jetzt auch schmunzelte, war da was. Ich sah es an ihrem durchdringenden Blick.

»Wenn du wütend bist, siehst du noch hübscher aus«, sagte ich.

Sie boxte mich auf den schmerzenden Arm. »Klappe!«

»Hey, das tut weh«, sagte ich und hielt ihr den Arm hin.

»Die Haut ist abgeschürft. Waschen und ein Pflaster drauf«, sagte sie.

»Lad bitte deinen Ärger woanders ab.«

»Ärger ist das richtige Wort. Ich bin sauer.«

»Etwa auf mich?«

»Nein.«

»Willst du drüber reden?«

Ich stellte das Mofa wieder auf die Räder. Es schien alles in Ordnung zu sein, bis auf den Kickständer, der irgendwie schief aussah. Das ließ sich bestimmt wieder richten. Don wird darüber hinwegkommen, dachte ich. Karens Vorderrad war platt. Auch das war zu verschmerzen.

Gegenüber dem Rats lag die Berufsschule. Wir gingen über die Straße und setzten uns auf die Stufen.

Besonders an Sonntagen war diese Treppe Austragungsort für so manches Freakout. Dann hingen da bis zu zwanzig Leute herum und warteten darauf, dass Kief das Rats aufschloss. Natürlich kreiste dann und wann ein Joint, Mark spielte auf seinen Bongos, Paul packte die Akustische aus, dann wurde eine richtige Session abgehalten.

Hucky, Jule und Werner parkten ihren VW-Bus immer genau vor der Treppe. Schiebetür auf, und ein dicker Qualm schlug uns entgegen, weil die Kerle gerade ein Chillum geraucht hatten.

Ich liebte diese sonntäglichen Treffen. Einmal waren wir so bekifft, dass ein echtes Happening draus wurde. Es war Karens Idee gewesen, den Bus zu bemalen. Sie schwang sich aufs Fahrrad und besorgte von zu Hause dicke Filzstifte und Wasserfarben. Alle, auch Mark und ich, machten mit.

Es entstanden ausufernde psychedelische Bildchen mit Kifferfratzen und Sonnenaufgängen. Wir lachten und sahen danach aus wie bunte Hühner, so hatten wir uns mit Farbe eingesaut. Ein paar Spaziergänger kamen vorbei und schüttelten den Kopf, doch sie trauten sich nicht, etwas zu sagen. Dass die Polizei nicht aufkreuzte, war eh schon ein kleines Wunder. In dieser Stadt musste man mit allem rechnen. Das Gemalte hielt leider nicht lange, beim nächsten Regen war alles verschmiert. Der Bus war für uns trotzdem ein Kunstwerk, eine soziale Skulptur oder so was in der Richtung.

Heute gehörte die Treppe Karen und mir allein.

»Ich hau ab«, sagte sie.

Ich war baff. »Was?«

»Hast du keine Träume?«

»Na klar, Artikel schreiben für den Rolling Stone, wie Sartre im Café sitzen und Essays verfassen. Sag mal, was ist denn mit dir los? Du zitterst ja.«

»Meine Eltern haben mir eine Moralpredigt gehalten. Sie sind solche Spießer, das ist nicht zum Aushalten. Auf die hab ich keinen Bock mehr. Ich mach die Fliege. Basta. Ich geh nach Christiania.«

»In diese Freakkommune? Kopenhagen ist aber nicht gerade der angesagteste Ort. Amsterdam, Paris oder London, ja, das könnte ich verstehen. Aber Dänemark? Das gibt es doch nur trinkfeste Seemänner.«

»Erinnerst du dich noch, als ich im vergangenen Jahr ins Allgäu gefahren bin, meine Großmutter besuchen?«

»Auf dem Rückweg hast du im Zug zwei Mädels kennengelernt, richtig?«

»Miti und Rike, die kommen mich bald besuchen. Und dann geh ich mit ihnen nach Kopenhagen.«

»Gib es zu, ihr habt euch in hübsche Dänen-Hippies verliebt, jetzt wollt ihr gemeinsam nach Grönland auswandern«, versuchte ich sie aufzuziehen.

Karen schüttelte den Kopf. »Christiania wird eine ganz große Sache. Jeder ist willkommen, wenn er etwas zum Gelingen beitragen will. Verstehst du, eine richtige Kommune. Miti und Rike haben mir erzählt, die Besetzung des Geländes sei für September geplant. Aber davon darf niemand etwas wissen.«

»September? Das geht nicht, da ist das Festival. Du musst mit dabei sein.«

»Mal schauen. Darüber muss ich aber erst mit Miti und Rike reden. Schön wär das schon, dann könnte ich einen Stand aufbauen, so einen wie von dem Typ bei Guru Guru, und ein paar von meinen selbst geschneiderten Klamotten verkaufen. Um meine Reisekasse aufzubessern.«

»Wir fragen Don wegen des Stands. Mensch, Karen, Christiania, das klingt nach Jesus People, nach Hippie-Dorf, wir haben uns alle lieb.« Ich blickte in ihre braunen Uschi-Obermaier-Augen. Keine Spur eines Zweifels war darin zu sehen. Sie wollte es wirklich.

Karen nahm mein Gesicht in ihre Hände. Kühl und zart, ich spürte jeden ihrer Finger auf meiner Haut. Wir schauten uns an.

»Meine Eltern wollen, dass ich ein braves Töchterchen bin und nicht mehr im Rats mit all den Freaks rumhänge. Sie wollen es mir verbieten. Sie sagen, ihr Ruf würde darunter leiden, weil ich in diesem Haschschuppen verkehre. Die Leute würden sich das Maul zerreißen. Sollen sie doch. Es ist mein Leben, und damit mach ich, was ich will. Ich geh nach Christiania. Und das hab ich meinen Eltern genau so gesagt.«

Sie ließ mich wieder los. Ich würde mich nie in sie verlieben können. Da war ich mir sicher. Sie war einfach zu perfekt. Mark stand auf sie, und Andi anscheinend auch.

Karens Eltern waren Zahnärzte. Sie besaßen eine Villa, darin war auch die Doppelpraxis untergebracht. Alles gerade mal zwei Straßen von unserem Haus entfernt. Braves Bürgertöchterchen stand ihr wirklich nicht. Sie war ein Freigeist. Ein Wildfang. Dafür bewunderte ich sie. Auch wenn mir das Getue mit der Kommune auf den Keks ging. Ich meine, ich hatte auch lange Haare, aber das machte mich nicht zum Hippie. Hippies hatten Träume, die entweder im Drogenwahn endeten, oder sie mutierten zu esoterischen Monstern und hüpften des Nachts nackt auf einer Wiese herum, auf der Suche nach Mondgeistern. Wie auch immer, Hippies hatten einen Knall. Der Sommer der Liebe war schließlich schon vor Jahren wie eine Seifenblase zerplatzt. Kiffen und flippen wie bei der Aktion mit dem Bus, das machte Spaß, aber ansonsten waren Hippies von gestern. So sah ich das.

»Verbieten, ins Rats zu gehen? Deswegen musst du nicht gleich abhauen. Verbote sind dazu da, umgangen zu werden«, sagte ich, um den Faden wiederaufzunehmen.

»Du weißt, wie gern ich schneidere. Ich will auch Schmuck entwerfen. Ich habe da schon ein paar Ideen. Ich will das mit anderen zusammen machen, wie in einer großen Familie. Der eine kann tischlern, der andere den Abfluss reparieren. So stelle ich mir eine Kommune vor, wie eine Gemeinschaft, in die jeder das einbringt, was er am besten kann. Ich will mir etwas Eigenes aufbauen, nicht das, was meine Eltern sich für mich ausgedacht haben.«

»Ich dachte immer, in Kommunen geht es nur um Kiffen und Ficken.«

»Plapper du bitte nicht auch den Scheiß von Sonny und Moses nach. Ich bin kein dummes Hippie-Girl. Auch wenn du versuchst, mich so hinzustellen.« Karen strich sich demonstrativ die Haare aus dem Gesicht, eine Geste, die ihren Worten den nötigen Nachdruck verleihen sollte.

»Derzeit entstehen ganz viele dieser Projekte. Hast du schon mal was von Summerhill gehört?«, fragte sie.

»Sagt mir nichts.«

Kannte ich wirklich nicht. Klang wie Ferienlager.

»Das ist eine Schule in England. Nur dass die Kinder dort selbst bestimmen dürfen, was sie lernen wollen. Und wenn sie mal keine Lust haben auf Unterricht, dann wird halt nichts gemacht. Antiautoritäre Erziehung nennt man das.«

»Was soll denn das sein?«

»Du und dein Sartre, ihr seid doch Verfechter eines nicht entfremdeten Lebens, oder wie das heißt. Um dich herum passiert so viel. Sieh dir nur das Musikfieber an, das bei uns grassiert. Das ist auch ein Versuch, der Monotonie und dem Stumpfsinn zu entkommen.«

Das war absolut richtig. Um eine andere, bessere Gesellschaft zu schaffen, musste man irgendwann damit anfangen. Am besten jetzt. Ja, das Musikfieber konnte sich zu einem Aufstand gegen die Spießer entwickeln.

Ich zündete mir eine Selbstgedrehte an. Ich drehte mir immer fünf, sechs Kippen vor und packte sie in den Beutel.

Der Geruch der Kippe brachte sie auf einen anderen Gedanken.

»Ich könnte jetzt einen Joint vertragen«, sagte sie.

»Also doch Hippie-Girl.«

Karen lachte. »Und du, du bist ein Möchtegern-Existenzialist.«

Wenn Andi das gesagt hätte, hätte ich angefangen zu diskutieren. Doch ihr verzieh ich. Sie war wieder gut gelaunt. Der Ärger verraucht.

»Okay, viel Glück mit deiner Kommune. Aber was ist mit Andi?«

»Was soll mit dem sein?«

»Meinst du, ich bin blind? Wie du mit ihm abhängst, könnte man meinen, da läuft was.«

»Da ist nichts. Wir sind Freunde, das ist alles.«

»Dann also Mark mit seinen Schlagzeugermuckis?«

»Hör auf damit, ich will weder über den einen noch den anderen reden, okay?«, sagte sie. »Obwohl ...«

»Du lässt dir wirklich alles aus der Nase ziehen.«

»Mein Traum wäre perfekt, wenn wir alle gemeinsam in einer Kommune leben könnten. Du, Mark, Andi und ich, vielleicht auch noch Don. Das wäre toll«, sagte Karen nachdenklich.

»Das wird nicht funktionieren, weil zwei von denen, die du genannt hast, gern was mit dir hätten. Ich sag doch, es geht nur um Sex in so einer Kommune«, feixte ich.

Karen schaute zum Rats hinüber. Mein Blick folgte ihrem. In der Wohnung darüber war das Licht angegangen. Die beiden Fenster hatten keine Gardinen, doch es war niemand zu sehen.

Karen stupste mich an. »Andi ist zu Hause.«

Seit drei Monaten wohnte er in dieser Einzimmerwohnung. Woher er die Kohle hatte, war mir schleierhaft. Er hatte ja keinen Job. Von dem bisschen Auflegen im Rats mal abgesehen.

»Lass uns rübergehen, Musik hören und quatschen. Vielleicht kriegst du da auch ein Pflaster für deinen Arm. Andi ist nicht so, wie du denkst, man kann sich toll mit ihm unterhalten.«

Das war die Gelegenheit. Ich war neugierig, nun konnte ich selbst sehen, ob Andi wirklich ein Klavier in seiner Bude stehen hatte, wie man sich erzählte. Mal einen Blick riskieren, wie er hauste. Was aber, wenn der Sack wieder arrogant tat? Egal, wenn Karen dabei war, würde er nicht so auf die Kacke hauen. Und auf den Mund gefallen war ich schließlich auch nicht.

*

Irgendwie hatte ich erwartet, ein Siffloch vorzufinden.

Warum? Weil Freaks es nun mal nicht so mit der Ordnung haben. Die Jungs vom Hausboot kümmerten sich nicht um Abwasch und solche Dinge. Wenn es hoch kam, machten sie einmal im Monat sauber.

Karen hatte mir davon erzählt, da sie öfter bei Hucky, Jule und Werner abhing. Man stolpere, so wusste sie zu berichten, bei ihnen ständig über Socken, Schuhe, Hosen und Plattencover.

Ich war auch nicht viel besser. Auguste ermahnte mich manchmal. Dann sauste ich mit dem Staubsauger kurz durchs Zimmer. Das musste reichen.

Andi dagegen hatte Geschmack und Stil.

Nach dem dritten Klingeln summte der Öffner. Als Karen und ich im ersten Stock ankamen, stand die Wohnungstür einen Spalt offen.

Karen ging voraus, als sei sie hier zu Hause.

In der kleinen Küche blinkten Herd, Spüle und Hängeschrank wie in der Werbung. Von schmutzigen Tassen und Tellern keine Spur. Am Fenster stand ein Bistrotisch mit zwei Klappstühlen davor. In einer Vase steckten Blumen. Durch einen schmalen Flur, in dem Porträts von Rosa Luxemburg und Samuel Beckett die Wand säumten (sogar richtig eingerahmt), ging es am Badezimmer vorbei geradewegs ins große Zimmer, das Andi als Schlaf-, Wohn- und Arbeitsstätte diente.

In der Mitte des rechteckigen Raumes thronte das Klavier. Andi saß auf dem Schemel davor und hielt einen Stapel Noten in der Hand.

Es war kein Steinway. Ganz deutlich war der Schriftzug Schimmel zu erkennen. Siehst du, kein Steinway, dachte ich, man darf der Gerüchteküche nicht trauen. Aber immerhin. Selbst dieses Teil bekam man gebraucht nicht für unter fünf Riesen.

Das musste ich ihm lassen. Er war der Einzige der Szene, der eine eigene Wohnung, ein Auto und ein tolles Instrument besaß.

Andi musste einen Mäzen haben.

Er konnte Gedanken lesen. »Ich habe nach dem Tod meines Vaters geerbt«, sagte er zur Begrüßung. Ich fühlte mich ertappt und sagte nichts, schaute mich nur weiter im Zimmer um.

Das Bett bestand aus einer Matratze, durch einen Vorhang vom Rest des Zimmers abgeschirmt. Daneben ein kleines Bücherregal, in das ich einen Blick wagte. Adorno, Marcuse, Horkheimer, Mandel und Lukács. Frankfurter Schule und ihre verwandten Geister. Dann Ionesco, absurdes Theater oder wie man das nannte, und viel Musiktheorie. Den Prozeß von Kafka entdeckte ich. Und ein paar Filmbücher. Über Truffaut und Hitchcock. Ich war beeindruckt, Andi war in viele Richtungen interessiert.

Es gab kein Sofa, keinen Sessel. Dafür lagen zwei größere Sitzkissen bereit, die total angesagt waren, aus Nappaleder und mit Styroporstückchen gefüllt. Ich schnappte mir eines der federleichten Teile und ließ mich in der Nähe des Klaviers nieder. In einer Ecke des Zimmers wuchs eine Palme bis unter die Decke. Einen Fernseher konnte ich nicht entdecken. Die Einrichtung war schlicht und hatte Atmosphäre.

Mit der Selbstverständlichkeit, die nur jemand haben konnte, der sich in diesem Raum auskannte, nahm Karen sich ebenfalls ein Kissen und pflanzte sich neben mich. Ich stellte mir vor, wie sie mit Andi auf dem Bett lag – und was Mark dazu sagen würde.

Der Plattenspieler, ein Dual, stand auf einer kleinen Kommode, darüber ein Foto von Adorno, dem Minima-Moralia-Philosophen.

Meine Neugier war noch nicht gestillt.

In einer Kiste neben der Kommode waren Andis Platten verstaut. Ich ging hin und wühlte darin. Die Sammlung kam daher wie das Nonplusultra des Jazz. Thelonious Monk, Herbie Hancock, Eric Dolphy, Charles Mingus, Miles Davis, Pharoah Sanders, Archie Shepp, aber auch avantgardistische Sachen von Anthony Braxton, Sun Ra und Ornette Coleman.

Aus der englischen Szene hatte er Platten von Ian Carrs Nucleus und Chris McGregors Brotherhood of Breath. Die Klassikabteilung war mit Karajan-Einspielungen von Mahler, Brahms und Tschaikowsky vertreten. Außerdem gab es Boulez, Schönberg, Cage, Kagel und Stockhausen. Und dann dieses elektrische Jazz-Zeug: Weather Report, John McLaughlin, Larry Coryell und Tony Williams Lifetime. Das Neueste vom Neuesten. Andi war das, was man, das hatte ich bei Jack Kerouac gelesen, einen Hipster nannte.

Aus den Boxen, die diagonal im Raum platziert waren, kam ein Sound, der wie ein Auffahrunfall auf der New Yorker Fifth Avenue klang. Die Bläsersätze gingen drunter und drüber, eine schräge und freie Improvisation von der allerfeinsten Sorte. Eine Frau sang: Take away everything that we own / We can even live without a home / Have all the money, if that is your goal / But you’ll never touch our soul.

»Abgefahren, was ist das?«, fragte ich.

»Centipede, ein Projekt um den britischen Pianisten Keith Tippett. Die Stimme, die du hörst, ist die von Julie Driscoll.«

»Du meinst die Driscoll, die bei The Trinity, der Band von Brian Auger, gesungen hat?«

»Nur dass sie jetzt nicht mehr Driscoll heißt, sie hat Keith Tippett geheiratet.«

Auf dem betont schlichten weißen Klappcover stand lediglich der Titel Septober Energy. Im Innenteil ein Foto der Band. Fast fünfzig Musiker. Ich las die Namen. Sagenhaft, da war die Crème der englischen Jazz-, Rock- und Avantgarde-Szene vertreten: Robert Wyatt, Evan Parker, Louis Moholo und wie sie alle hießen. »Produziert von Robert Fripp«, las ich laut vor.

»Was der bei King Crimson macht, gefällt mir überhaupt nicht.« Andis Ton klang missbilligend. Außer Jazz war ihm nichts gut genug.

Karen schaute auf. »Könnt ihr mal mit eurer Fachsimpelei aufhören, das langweilt. Andi, komponierst du derzeit was?«

Er drehte sich auf dem Schemel in ihre Richtung und lächelte. »Ich habe da eine kleine Melodie, nichts Besonderes, ich arbeite noch dran. Ich hoffe, ich kriege es bis zum Festival hin.«

Mit einem Mal war ich gespannt. »Komm, lass mal hören.«

Er klemmte sich die Haare hinters Ohr. »Es ist noch nicht so, wie ich es mir vorstelle. Es ist noch nicht ... perfekt.«

Ich guckte Andi ratlos an. »Was ist schon perfekt? Das gibt es doch gar nicht, die perfekte Musik, das perfekte Kunstwerk.«

Er schloss die Augen. »Hör dir A Love Supreme an. John Coltrane ist perfekt. Als Instrumentalist und als Komponist. Dahin möchte ich kommen, einmal so etwas zu schreiben.«

Karen bettelte. »Warum spielst du nicht diese kleine Melodie?«

»Der Song ist noch nicht ausgereift«, antwortete er bestimmt.

»Bitte, dann halt nur das, was du bist jetzt hast«, sagte Karen.

Das wirkte.

Andi klappte den Deckel des Klaviers auf. »Ihr müsst mir versprechen, niemandem davon zu erzählen. Zumindest bis zum Festival.«

Karen und ich erhoben uns von unseren Plätzen und stellten uns links und rechts neben dem Piano auf. Wenn er wirklich eine eigene Komposition hatte, dann wollte ich nie mehr ein schlechtes Wort über ihn verlieren.

Andi setzte an und kam nur drei Noten weit.

Ein schriller Dauerton kreischte durch die Wohnung. Entweder hatte die Klingel einen Defekt, oder jemand klebte mit dem Daumen dran.

Das musste ein Verrückter sein, der so um Einlass verlangte.

Karen und ich schauten uns erschrocken an.

Andi erhob sich und schlurfte zur Tür.

Zwei Minuten später stand Don im Zimmer. Er kam immer dann, wenn es keiner erwartete.

Er atmete hektisch, als sei er gerannt.

»Euch habe ich überall gesucht«, stieß er hervor. Als er wieder Luft bekam, hörte es sich an wie ein asthmatisches Pfeifen.

»Komm wieder runter. Was gibt es denn?«, fragte ich.

»Wo ist mein Mofa?«

»Sorry, ich habe ich mich hier festgequatscht«, antwortete ich.

»Okay.«

»Nun sag schon«, drängte Karen.

»Habt ihr es nicht in der Tagesschau gesehen?«, fragte er.

Andi schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Glotze.«

»Jim Morrison ist tot.«

Don sagte es, als sei der Sänger der Doors ein enger Verwandter.

Für die nächsten Sekunden passierte nichts.

Aber es gab jemanden in dieser stilvoll abgehangenen Musikantenbude, den diese Nachricht wirklich umhauen würde.

Jim Morrison, der Rock-Superstar, der Traum heißer Mädchenphantasien, Coverboy beim Rolling Stone, der Kritikerliebling, der zurzeit in Paris eine Pause vom Musikgeschäft einlegte und Gedichte schrieb, war tot.

Die Hippies hatten ihren letzten Helden verloren.

Karen hatte das Fenster geöffnet und starrte hinaus.

Dann hallte ihr Schrei durch die Nacht.

Trips & Träume

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