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Fahrradtour mit einem Platten

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Am nächsten Morgen besorgte ich in der Nähe der Brücke, die auf die Insel führte, ein paar Brötchen zum Frühstück. Als ich zurückkehrte, hatte Lotte bereits den Tisch gedeckt und Eier gekocht. Wir genossen die Zeitlosigkeit, die beim Frühstück im Urlaub herrscht. Eine Tageszeitung hatte ich ebenfalls mitgebracht. Alles, was Sigi Siebert für einen relaxten Start in den Tag benötigt.

Nach dem Aufräumen holten wir unsere Fahrräder aus dem Schuppen und schoben sie durch die Hintertür des Gartens zum verabredeten Treffpunkt. Frauke wartete dort bereits auf uns, bekleidet mit einer schwarzen Trainingshose und einem schwarzen Kapuzenshirt mit langen Armen. Sie war allerbester Laune. »Guten Morgen. Gut geschlafen?«

»Die erste Nacht im fremden Bett ist immer scheiße«, gab ich wahrheitsgemäß kund.

»Hör nicht auf den. Kommt in die Jahre, mein Bester«, lachte Lotte.

Dieser kleine Nadelstich war zu erwarten gewesen. Ich versuchte mich nicht zu ärgern und verbuchte die Bemerkung als Retourkutsche dafür, dass ich Lindemanns erlaubt hatte, meine Angetraute Lotte zu nennen.

Frauke fuhr voraus. Sie lenkte ihr Fahrrad auf denselben Weg zum Bahnhof, den wir gestern genommen hatten. Es war im Prinzip ganz einfach, den Einstieg zum kleinen Abzweig zu finden, der an der Eisenbahnbrücke endete. Wir hatten Tomaten auf den Augen gehabt. Wahrscheinlich eine Folge der anstrengenden Anreise.

Auf die Brücke hinauf führte eine Treppe. Zur Erleichterung des Fahrradtransports war an einer Seite eine Metallschiene angebracht. Wir fädelten unsere Drahtesel ein und schoben sie hinauf. Oben gab es parallel zur Eisenbahnlinie einen Übergang, etwa in Gehwegbreite. Auf der anderen Seite führte ebenfalls eine Treppe mit Metallschiene wieder hinab. Als wir unten waren, schwenkte Frauke auf einen unbefestigten, schmalen Weg nach rechts.

Die ganze Zeit über ratschten die beiden Frauen miteinander – wie erwartet. Es wurde über Auswüchse der aktuellen Mode gelästert, sich über Ausflugsziele im Havelland ausgetauscht, über Passanten hergezogen. Es dauerte nicht lange, da hatte ich abgeschaltet. Ich genoss lieber die Ausblicke aufs Wasser und das sonnige Wetter. Sollte die Damenwelt ihrem Lieblingszeitvertreib nachgehen.

Wir fuhren durch einen schmalen Grünstreifen, der von Büschen und Bäumen markiert wurde, und gelangten nach einigen hundert Metern an einen beschaulichen Strand. In der Nähe gab es einen Steg, an dem Boote vertäut lagen. Seitlich im Wasser ein Schilffeld, dahinter die Insel mit der Altstadt von Werder. Der Kirchturm grüßte über die in der Sonne glitzernde Havel hinweg.

»Hier ist es aber schön«, brach Lotte in spontane Verzückung aus.

»Da steht eine Bank. Sollen wir einen Moment bleiben?«, schlug Frauke vor.

Es war wirklich idyllisch hier. Auch, wenn wir kaum Strecke gemacht hatten, willigten Lotte und ich in den Vorschlag ein.

Wir nahmen auf der Bank Platz und blickten aufs Wasser. Ein Graureiher schwebte durch unsere Postkartenaussicht. Eine leichte Brise kräuselte die Havel. Sieht aus wie Cellulite - dachte ich. Zum Glück zähmte ich meine Zunge. Diese Assoziation teilte ich lieber nicht mit meinen Begleiterinnen!

Lotte nahm meinen Arm und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Ich streichelte einmal sanft über ihre Wange. Man kennt sich ja so lange.

In diese Stimmung platzte plötzlich Frauke hinein: »Verflixt. Ich habe meine Herztablette vergessen. Ich muss zurück.«

Lotte wurde wieder munter. »Das wird wohl nicht so schlimm sein.«

»Hast du eine Ahnung! Mein Herz ist ziemlich im Eimer. Ich muss meine Tabletten nehmen. Seid Ihr mir böse? Ihr kennt ja jetzt den Weg über die Eisenbahnbrücke.« Richtig hektisch wurde Frauke.

»Wenn du meinst«, erwiderte Lotte verschnupft. Sie hatte deutlich darauf gesetzt, wesentlich ausgiebiger zum Plaudern zu kommen. Das konnte ich ihr natürlich nicht bieten.

Im Grunde war auch mir die Beschäftigung der beiden Frauen miteinander nicht ganz unlieb gewesen.

»Sollen wir auf dich warten?«, schlug ich vor.

»Nein, nein. Eine Dreiviertelstunde brauche ich bestimmt. Das ist nett von euch.«

»Sehen wir uns denn heute Abend?«, hoffte meine Angetraute.

»Ihr wisst ja, wo wir wohnen. Fragt einfach nach. Tschüss Ihr zwei. Schönen Tag Euch!«

Frauke stieg auf ihr Fahrrad und verschwand in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

»Bis heute Abend«, rief ihr Lotte nach. Ihr Tonfall verriet Enttäuschung. »Die hat es aber verdammt eilig!«

»Wenn sie doch ihre Tabletten nehmen muss«, beschwichtigte ich und zog die Fahrradkarte aus meiner Gepäcktasche. Wir studierten sie gemeinsam und stimmten kurz miteinander ab, wo es weitergehen sollte.

Nun hielten wir es nicht mehr länger am Strand aus. Ein paar Kilometer sollten wir durchaus drauflegen. Wir bestiegen unsere Räder und fuhren weiter nach Wildpark West hinein.

Kurz darauf durchradelten wir eine Wohngegend, die mit ihrem wohlsituierten Gepräge so ziemlich alles ausstach, was wir jemals auf dem platten Land gesehen hatten. Von nordischer Holzbauweise, in Falunrot angestrichen mit weißen Kanten, Fenstern und Türen, bis hin zu moderner, schicker, kantiger Architektur, reichte das Spektrum. Auf der Havelseite erstreckten sich riesige Gärten mit altem Baumbestand bis ans Ufer. Keine Gegend für den Geldbeutel von Otto-Normalverbraucher.

»Sieh dir das an«, geriet Lotte ins Schwärmen. »So müsste unsereins wohnen!«

Ich kehrte den Praktiker hervor. »Möchtest du solche Flächen putzen? Was meinst du, wie viel Raum die bewohnen. Dreimal, viermal so viel wie wir. Und obendrein der Garten.«

»Lass mich doch mal träumen«, konterte Lotte.

Als wir am Ende des Ortes angelangt waren und ich gerade Gas geben wollte, bremste mich meine Allerbeste aus. »Sigi, lass uns noch eine Runde drehen.«

»Warum?« Ich verspürte wenig Lust, den gepflegten Luxus, der uns hier entgegenschlug, weiter anzugaffen.

»Bitte!«

Ich gab nach. Wenn Lotte es sich wünschte …

Wir fuhren eine Schleife, die von der Havel wegführte. Für mich setzten sich die Eindrücke nur fort, für Lotte schien sich die Welt zu weiten.

»Schau mal dort, den Eingang.« – »Ist das ein schönes Haus.« – »Die könnten mehr daraus machen.« – »So viel Kitsch auf einem Flecken. Tss, tss …«

Geduldig fuhr ich im Schneckentempo hinter ihr her. Aber was war das? War das Hinterrad an Lottes Drahtesel etwa platt? Merkte sie in ihrem aufgedrehten Zustand denn gar nichts davon? Frauen!

»Halt bitte mal an, Schatz!«

Lotte betätigte den Rücktritt. Sie blieb mit den Zehenspitzen abgestützt auf dem Sattel sitzen. Ich stellte mein Gefährt am Wegrand ab und ging zu ihr. Skeptisch befühlte ich den luftleeren Reifen.

»Völlig herunter.«

»Pumpst du ihn mir auf?«

»Das wird nichts. Aufgepumpt habe ich ihn erst zu Hause. Du hast einen richtigen Platten. Steig doch mal ab.«

Lotte knurrte. Widerwillig hievte sie ihren Allerwertesten vom Sattel. Ich bat sie, ihr Fahrrad hinten anzuheben. Mit der Handfläche strich ich über die Lauffläche. Schon blieb mein Mittelfinger an etwas Hartem, Scharfen hängen. Ich sah genauer hin: Ein Schraubenkopf ragte aus der Reifendecke.

»Da hast du dir was Schönes reingefahren. Der Schlauch ist hinüber, den muss ich flicken.«

»Oh Gott. Hier?«

»Natürlich hier. Weiterfahren kannst du damit auf keinen Fall.«

»Hast du denn Werkzeug dabei?«

»Klaro. Ein Mann ist auf so was vorbereitet.«

»Püüh«, kommentierte Lotte meine Allzeit-bereit-Äußerung mit einem Laut, der mir deutlich zu verstehen gab, was sie davon hielt.

»Bist du sicher, dass du das hinkriegst? Bei deinem Talent?«

Mein Puls kletterte spontan um mindestens dreißig Zähler. Warum nahm ich wohl Werkzeug mit, wenn ich mir nicht zutraute, es einzusetzen?

»Keine zehn Minuten, dann geht es weiter«, großkotzte ich.

Meine Angetraute half mir dabei, das Fahrrad umzudrehen und auf Lenker und Sattel abzustellen. Sah komplizierter aus, als gedacht. Richtig: Mein Vater hatte es mir in meiner Kindheit an einem Fahrrad ohne Gangschaltung gezeigt.

»Ich habe mehr als einmal zugeschaut, wie man einen Schlauch flickt«, sprach ich mir selbst Mut zu.

Die Hand am Kinn überlegte ich, wie am sinnvollsten vorzugehen wäre. Das dauerte meiner Göttergattin bereits zu lange.

»Fängst du bald mal an?«

Noch hatte ich mich im Griff. »Bitte lass mich in Ruhe arbeiten, Schatz, ja?«

Nach drei Fehlversuchen fand ich endlich den passenden Maulschlüssel. Ich schraubte die beiden Hutmuttern am Hinterrad los und versuchte es aus den Fallenden herauszudrücken. Ging nicht. Ich ruckte etwas heftiger. Das Fahrrad begann zu schwanken. Immer noch nicht.

Natürlich hatte das Auskundschaften der Sachlage bereits den größten Teil meines zu knapp geschätzten Zeitfensters aufgefressen. Meine Angetraute hielt mit ihrer Ungeduld nicht länger hinter dem Berg.

»Wie lange muss ich noch hier stehen? Das Hinterrad ist ja nicht mal ausgebaut.«

Das war zu viel. »Jetzt halt endlich die Klappe. Wie soll man arbeiten, wenn man andauernd kritisiert wird?«

»Ich kritisiere nicht. Ich frage nur.«

»Natürlich kritisierst du.«

Geübt im Umgang mit Erregungszuständen ihres Mannes, verstummte Lotte, um das Zünden weiterer Stufen auf der ehelichen Eskalationsleiter zu vermeiden.

Es gelang mir immer noch nicht, das Hinterrad aus seinen Fallenden zu befreien. In der durch weibliche Ungeduld aufgeheizten Stimmung brachte das mein Innerstes zum Kochen. Ich fluchte ungeniert und nicht zitierfähig.

Meine Beste hatte endgültig genug von mir.

»Wenn du jetzt anfängst zu fluchen, Sigi, dann gehe ich. In einer halben Stunde bin ich wieder zurück. Die wird dem Profi wohl reichen, um ein kleines Löchlein in einem Fahrradschlauch zuzupflastern.« Sprach’s und verschwand.

Lottes Eigenmächtigkeit machte mich rasend. Ich ruckte und ruckte. Für meinen ungestümen Krafteinsatz erwies sich die Lagerung des Fahrrads auf Lenker und Sattel als zu instabil. Es stürzte um und schlug mir dabei schmerzhaft gegen das Schienbein. Ich schrie auf.

Meine Holde war noch nicht weit genug entfernt, um das nicht mitzubekommen.

Sie entrüstete sich aus der Ferne: »Du spinnst doch. Mach mein Rad nicht kaputt, du Grobmotoriker.«

Dann setzte sie ihre Flucht fort. Mit dem geschulten Auge des Ehemanns erkannte ich an der Art, wie sie sich bewegte, dass sie mit Wut in allen vier Backen davonstürmte.

Das schmerzhafte Malheur dämpfte meinen Zorn auf tote Gegenstände etwas. Missmutig rieb ich mir das Schienbein und richtete den Drahtesel wieder auf. Dann sah ich mir die Baustelle genauer an. Irgendetwas klemmte. Ich verfiel erneut ins Grübeln. Da ragte ein Hebel aus der Schaltnarbe heraus, der am Rahmen befestigt war. Ich erinnerte mich. Lottes Fahrrad besaß Rücktritt. Also losgeschraubt, das Ding.

Ich unternahm den nächsten Versuch, das Hinterrad aus seiner Halterung zu befreien. Leider dosierte ich dabei den Krafteinsatz so wie bei den vorausgegangenen, vergeblichen Versuchen. Das völlig lockere Rad sauste aus den Fallenden heraus, die Antriebskette rasselte vom Zahnkranz der Schaltung herunter. Ich spürte einen kurzen Widerstand. Knack. Das dünne Drahtseil der Schaltung hatte meinem Rucken nachgegeben. Es war kurz vor seinem Ende abgerissen. Leider hatte ich vergessen, es vor dem Ausbau des Hinterrads zu lösen.

Ich fluchte gottlästerlich. Das würde ein Spezialist in Ordnung bringen müssen. Hier war ich mit meinem Latein definitiv am Ende.

Unter diesen Umständen machte das Flicken des Schlauchs keinen Sinn mehr. Ich ersparte mir weitere Versuche. Unter Aufbringung letzter Geduldreserven befestigte ich das Hinterrad wieder an Ort und Stelle. Dann setzte ich mich bedröppelt neben dem Fahrrad in den Straßenstaub. Ein Häufchen Elend.

Was für eine Blamage Lotte gegenüber!

Meiner Gattin beliebte es, länger als die angekündigte halbe Stunde auszubleiben. Nun war es an mir, ungeduldig zu werden. Endlich erspähte ich sie, die Straße entlang auf mich zuschlendernd. Ohne jede Eile. Ich blieb aus Protest einfach sitzen.

Als Lotte endlich bei mir angekommen war, wich die Entspannung aus ihren Zügen.

»Wie siehst du denn aus? Sogar im Gesicht hast du dich beferkelt. Warte, ich richte dich wieder her, damit ich mich mit dir in der Öffentlichkeit zeigen kann.«

Meine Angetraute zupfte ein Papiertaschentuch aus ihrer Windjacke hervor, bespuckte es und wischte mir damit über die Stirn. Das hatte zuletzt meine Mutter getan. Genauso kam ich mir vor: Wie ein dreckiges Kind. Eine sinnfällige Geste für meine Schmach. Mein Mut war mittlerweile so weit in sich zusammengesunken, dass ich die Prozedur demütig und widerspruchslos über mich ergehen ließ.

Endlich schien Lotte ein Ende mit ihrer Wischerei zu finden.

»Können wir jetzt weiterfahren?«, fragte sie, während sie meine Schläfe abtupfte.

»Nein«, gab ich kleinlaut zu. »Du wirst schieben müssen.«

Unter normalen Umständen hätte ich jetzt etwas zu hören gekriegt. Ehe jedoch neues Gezeter über mein blamiertes Haupt ausgegossen wurde, rettete mich ein scharfer Knall. Dann sofort noch einer. Lotte zuckte derart zusammen, dass sie mit ihrem Taschentuch abrutschte und mir damit über Nase und Kinn fuhr.

»Was war das denn?«

Auch ich hatte mich erschreckt, wenn auch nicht so heftig wie meine Angetraute.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen: Schüsse!« Irgendwie empfand ich ein wenig Dankbarkeit für denjenigen, der geschossen hatte.

»Schüsse?« In Lottes Augen breitete sich Panik aus. »Habe ich dir noch gar nicht erzählt. Da vorne bei den Palästen direkt am Ufer ist so eine merkwürdige Gestalt herumgeschlichen. Ganz in schwarz gekleidet. Kapuze auf – bei dem Wetter! Die hat bei einer der dicksten Villen angeklingelt.«

»Und? Hat jemand geöffnet?«

»Ja. Ziemlich schnell sogar.«

»Wurde die Gestalt reingelassen?«

»Ohne Zögern.«

»Dann ist ja alles in Butter.«

»Mir war das jedenfalls unheimlich. Ich habe gemacht, dass ich fortkam. Und jetzt diese Schüsse …«

Ich erhob mich aus dem Straßenstaub. Wir waren im Urlaub. Gingen mich potenzielle Schüsse etwas an?

Es hatte nicht nach einem Gewehr geklungen. Ein Jäger war es nicht gewesen. Meine Schnüffler-Stirn legte sich in Falten – das spürte ich deutlich. Bei mir immer ein untrügliches Zeichen dafür, dass Verbrechen in der Luft liegen. Gräueltaten, die aufgeklärt werden wollen.

Natürlich gingen Schüsse einen Sigi Siebert etwas an. Egal wo, egal in welcher Situation. Darauf war ich einfach gepolt.

Lotte mischt mit

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