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Doppelmord

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Ich gab Lotte ein Zeichen, mir zu folgen. »Komm, Lotte. Wir sehen nach, was da los ist.«

»Meinst du?« So zaghaft hatte ihre Stimme vorhin beim Start meines Flickversuches nicht geklungen.

Wir packten unsere Fahrräder bei den Lenkern und schoben sie neben uns her. Die Richtung, in der das Haus liegen musste, bei dem Lotte die schwarze Gestalt gesehen hatte, stimmte nach meiner Einschätzung mit der Richtung, aus der die Knallgeräusche gekommen waren, überein.

Als wir die Straße »Am Ufer« erreichten, sahen wir schon, wie sich ein kleiner Menschenauflauf formierte.

Wo kamen diese Figuren so plötzlich her? Vor einer Stunde hatte der Ort noch den Eindruck gemacht, als wäre er völlig verwaist.

»Mein Gott. Die gehen genau zu dem Haus, wo dieses schwarze Ungetüm geklingelt hat. Sigi, das wird mir immer unheimlicher.«

»Ich bin ja bei dir«, versuchte ich meine Beste zu beruhigen. In Momenten wie diesen gelingt mir das gelegentlich sogar.

Wir erreichten die Villa, vor der sich drei Männer und fünf Frauen versammelt hatten. Aufgeregt schwatzten sie durcheinander. Ich drängelte zwischen ihnen hindurch aufs Haus zu.

»Sie sind nicht aus Wildpark West. Was tun Sie hier?«, fragte mich ein älterer Herr mit Vollglatze wichtigtuerisch.

Lotte nahm mich vor ihm in Schutz. »Mein Mann ist bei der Kripo!«

Ein wenig Stolz klang mit, der mein aufgewühltes Bastlerherz erwärmte. Allerdings hätte ich mich auch selbst zu erkennen geben können.

Stattdessen spulte ich meine Routine ab. »Sind Sie hergekommen, weil Sie Schüsse aus diesem Haus gehört haben?«

Wieder schob sich der Glatzkopf vor. »Genau deshalb. Zwei, um genau zu sein.«

»Hat irgendjemand einen schwarz gekleideten Verdächtigen aus diesem Haus herauskommen sehen?«

Murmeln machte sich breit. Kopfschütteln.

Ich hakte nach: »Also niemand?«

Keine Antwort, ratlose Gesten.

»Sie sollten sich nicht allzu sicher fühlen, so wie Sie hier herumstehen. Ich empfehle Ihnen, zurück in Ihre Wohnungen zu gehen, Fenster und Türen zu verriegeln und vorerst nur Besuchern zu öffnen, die Sie kennen. Es ist schon vorgekommen, dass jemand in Situationen wie diesen zur Geisel wurde«, deutete ich an, um den Platz zu räumen. Zu Anordnungen war ich hier natürlich nicht befugt.

»Hört auf den Mann«, rief der Wichtigtuerische in die Runde, um einen Rest seiner ziemlich schnell zusammengedampften Autorität zu retten. Damit löste er eine spontane Fluchtwelle aus. Das Trüppchen stob auseinander. Nur Lotte blieb bei mir. »Du bitte auch! Und verständige die Kollegen, wenn dein Abstand groß genug ist!«

»Ich werde dich doch jetzt nicht alleine lassen!«

»Doch, das wirst du. Sieh zu, dass dich einer von diesen Leuten mit ins Haus nimmt. Du bist genauso in Gefahr wie alle anderen. Abmarsch!« Mein Befehlston erschreckte Lotte. Da sie mich aus nahe liegenden Gründen bestens kannte, spürte sie den Ernst, der darin lag. Sie stellte ihr Fahrrad am Straßenrand auf den Ständer und trat ebenfalls die Flucht nach hinten an. Nicht, ohne mich zu ermahnen: »Sei bitte vorsichtig!« Gut gemeint, aber überflüssig.

Ich stellte mein Fahrrad neben Lottes ab, schlich an die Hauswand heran und ging in die Hocke. Oberhalb befand sich ein Fenster. Langsam schob ich den Kopf hoch und lugte hindurch. Ich interessierte mich offensichtlich für die Toilette. Sie war leer. Geduckt und möglichst lautlos schlich ich weiter die Wand entlang. Das nächste Fenster. Diesmal eine Art Arbeitszimmer. Wieder leer.

Ich erreichte die Hausecke und ließ meinen Kopf wie die Zunge eines Chamäleons vorschnellen. Die Blitzaufnahme der Seitenfront verriet mir, dass ich weiterhin Deckung unterhalb der Fenster fand. Also los. Als Nächstes die Küche. Niemand drin. Weiter …

Mittlerweile war ich an der Hinterfront der Villa angelangt, die zum Garten wies. Zwischen den alten Bäumen hindurch ließ sich die Havel erahnen. Dafür opferte ich natürlich nur einen oberflächlichen Blick. Ich wiederholte die Chamäleon-Nummer. Zum Garten hin besaß die Villa eine ausgedehnte, bodentiefe Fensteranlage. Davor eine riesige Terrasse, reich dekoriert mit Pflanzkübeln. Hier konnte ich keine Deckung unterhalb der Fenster finden. So, wie die Pflanzkübel verteilt standen, waren sie mir ebenfalls nicht nützlich.

Ich machte mich auf dem anthrazitfarbigen Naturstein der Terrasse lang. Von einem der mächtigen alten Bäume herunter hörte ich einen Vogel krächzen. Vorsichtig robbte ich, ständig den Kontakt zur Hauswand suchend, an die Fensterreihe heran. Ein Schiebeelement gab einen Spalt frei, durch den ein Mensch gerade hindurchpasste. War dort jemand geflüchtet? Oder befand sich derjenige, der geschossen hatte, noch im Haus?

Zentimeter um Zentimeter reckte ich den Hals vor. Es gelang mir, ins Haus hineinzuspähen. Was ich in diesem Sekundenbruchteil sah, bestätigte meine Befürchtungen. Zwei Körper lagen auf dem Boden, dicht beieinander. Ansonsten schien sich niemand im geräumigen Wohnzimmer aufzuhalten.

Wie sollte ich weiter vorgehen? War der Täter noch drin, bestand Lebensgefahr für mich. Sollte ich lieber auf das Eintreffen der Kollegen warten?

Es war möglich, dass die beiden Menschen, die dort drinnen lagen, Hilfe benötigten. Je schneller, desto besser. Gemäß meinem Anspruch an mich selbst, besaß ich keine andere Wahl: Rein!

Ich griff nach einem trockenen Ast, der zufällig in meiner Nähe lag. Mit Wucht schleuderte ich ihn gegen die Glasfront. Ein scharfes Klatschen war die Antwort – wie ich es geplant hatte. Wäre der Täter noch im Haus, würde er nachsehen oder im Reflex einen weiteren Schuss abgeben.

Angestrengt horchte ich in die Villa hinein. Eine Minute lang blieb alles still. Es wurde immer unwahrscheinlicher, dass sich außer den beiden daliegenden Körpern noch jemand darin aufhielt. Sollte ich es wagen?

Lotte brachte mein Herz ein paar Schläge zum Stillstand.

»Was ist da los?«

Unbemerkt war meine Allerbeste von hinten an mich herangeschlichen. Aufrecht und arglos, dafür mit neugierig aufgerissenen Augen, stand sie direkt hinter mir. Am liebsten hätte ich sie zusammengefaltet, aber ich war Profi genug, um das der Sachlage geschuldet hinunterzuschlucken.

Mit einem Handzeichen bedeutete ich Lotte, sich sofort hinzuhocken. Sie befolgte meine Anweisung entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten auf der Stelle. Ich flüsterte ihr ins Ohr: »Ich werde drinnen nachsehen. Bleib unbedingt hier, hörst du!«

In Zeitlupe richtete ich mich auf. Allen Mut zusammennehmend, zwängte ich mich - nur den Körper einsetzend -, durch den verflixt engen Spalt des Schiebeelements ins Wohnzimmer. Dabei gab es ein wenig nach. Hier war entweder ein gertenschlanker Täter durchgeschlüpft oder er hatte die Tür wieder hinter sich zugezogen. An die dritte Möglichkeit, dass sie nur zum Lüften offenstand, mochte ich nicht denken.

Es waren zwei Frauen, die im Wohnzimmer lagen. Eine ältere, grauhaarige Dame im Strickkleid, seitlich von einem Sofa zusammengesackt und eine Jüngere, deren Leiche ich zuerst näher betrachtete. Sie lag seltsam verdreht auf dem Parkett, das Gesicht zum einfallenden Licht gewandt. Mitten auf der Stirn prangte ein Einschussloch. Neben ihrem leblosen Körper lag ein Tablett, daneben zersprungenes Porzellan. Der Tee, den sie zum Zeitpunkt ihrer Ermordung offenbar gerade servieren wollte, hatte sich mit der Blutlache unter ihrem Kopf vermischt. Hier kam jede Hilfe zu spät.

Ich ging zur Älteren hinüber. Ihr Gesicht lag halbschräg auf dem Boden, sodass sie mich aus einem erloschen Auge anglotzte. Unter ihrem Kopf tränkte ein Läufer reichlich Blut. Ich ging in die Knie und drehte sie etwas zur Seite. Ein Einschussloch. Mitten auf der Stirn.

Hinter mir knirschte der Mechanismus der Schiebetür. Erschrocken fuhr ich herum.

»Sind die tot?«, fragte Lotte überflüssigerweise. Entgegen meiner Mahnung war sie hinter mir hergeschlichen. Ehe ich sie stoppen konnte, trat sie mit entsetzt aufgerissen Augen ins Wohnzimmer. Super – jetzt mussten wir der Spurensicherung unserer beider Spuren am Tatort plausibel machen. Nur Lottes Gesichtsausdruck verhinderte, dass ich sie lauthals anschrie. Kein schöner Anblick, so ein Mordopfer. Mein Kollege Erich hatte sich bis heute nicht daran gewöhnt.

Eine kleine Zurechtweisung war trotzdem angezeigt.

»Bist du von Sinnen? Du solltest doch draußen bleiben. Du zerstörst vielleicht wichtige Spuren!«

Meine Worte erreichten meine paralysierte Gattin nicht.

»Die armen, armen Frauen. Das war diese schwarze Figur.«

»Sachte, sachte. Wir wissen noch gar nichts. Hast du die Kollegen angerufen?«

Keine Antwort.

»Hallo! Hast du die Kollegen angerufen?«

»Nein«, piepste Lotte, dem Weinen nahe.

»Du verlässt jetzt augenblicklich mit mir diesen Tatort. Werde ich eben selbst anrufen.«

Ich musste Lotte am Arm herauszerren, so schockiert war sie.

Als ich im Garten mein Handy aus der Tasche holte, kam sie wieder zu sich. »Du brauchst die Polizei nicht zu rufen.«

»Aber du hast es doch nicht getan!«

»Ich nicht, aber dieser Mann. Der Vorlaute. Immerhin hat er mich zu sich hereingebeten, damit mir nichts geschieht.«

Aber hinter mir zum Tatort hineintrampeln, dachte ich, behielt es jedoch für mich.

Stattdessen bestimmte ich: »Wir warten draußen auf die Kollegen. Der Täter scheint ausgeflogen zu sein. Und für die beiden Frauen kommt jede Hilfe zu spät. Zwei Leichensäcke könnten wir ordern.«

Lotte konnte die Tränen endgültig nicht mehr zurückhalten. Ich führte sie vor die Villa. Dort setzte ich sie auf eine kniehohe Mauer, die das Grundstück zur Straße hin einfriedete. Ich versuchte, beruhigend auf sie einzureden.

Lotte schluchzte auf. »Die armen Frauen. Wer tut so etwas?«

»Das wird die hiesige Polizei schon herausbringen. Warte nur, bis die Kollegen hier sind.«

»Bring mich hier weg, Sigi.«

»Das wird nicht gehen. Du wirst eine Aussage machen müssen.«

Ihre tränengefluteten Augen maßen mich streng. »Eine Aussage? Was sollte ich auszusagen haben?«

»Was ist mit der schwarzen Gestalt?«

»Meinst du wirklich? Meine Güte, ich bin im Urlaub.«

»Darauf können die Kollegen keine Rücksicht nehmen, Schatz. Die müssen ihre Arbeit machen und deine Beobachtung gehört dazu.«

Neue Tränen liefen ihr über die geröteten Wangen. Hoffentlich würde sie die grausamen Bilder irgendwann los.

In etlichem Abstand zum Ort des Geschehens bildete sich nach und nach wieder eine Traube Schaulustiger. Zum Teil kannten wir die Herrschaften von unserem Eintreffen an der Villa, andere Gesichter kamen neu hinzu. Insgesamt ein paar mehr als vorhin.

Einen Moment später hörte ich die Sirenen. Ein Sanitätsfahrzeug und ein Streifenwagen bogen in die Straße ein. Zwei uniformierte Beamte stiegen aus und traten auf uns zu. Einer von ihnen richtete das Wort an mich: »Haben Sie uns gerufen?«

»Nein. Das war einer der Herren von denen da hinten.« Ich wies unbestimmt mit der Hand in Richtung der Gaffer. »Wir haben die Leichen entdeckt.«

»Leichen? Uns wurde nur etwas von Schussgeräuschen durchgegeben. Waren Sie etwa da drin?«

»Ja, ich war im Haus. Die Gartentür steht offen. Ich konnte mir selbst ein Bild vom Tatort verschaffen.«

»Wie kommen Sie dazu?«, fragte der Polizist empört. Berechtigterweise.

»Ich bin bei der Kripo. Allerdings in NRW. Hätte ja sein können, dass jemand meine Hilfe benötigt.«

Der Polizist zuckte die Schultern. »Ich informiere gleich die Spurensicherung. Halten Sie sich bitte für Fragen zur Verfügung. Ist sonst noch jemand im Haus?«

»Keine Ahnung. Mir kam es so vor, als ob der Täter ausgeflogen ist. Die Risikoeinschätzung kann ich Ihnen nicht abnehmen.«

Der Mann wandte sich an seinen Kollegen. »Was meinst du? Sollen wir rein?«

»Der Sani sollte rein. Komm, wir begleiten ihn.«

Die beiden verschwanden mit dem Sanitäter hinterm Haus. Ziemlich bald kehrte der Medizinmann zurück. »Nix zu machen«, hörten wir ihn murmeln. Er setzte sich in seinen Wagen und telefonierte.

Einige Zeit verging, ehe auch die Polizisten zurückkehrten. Ein ziviler Wagen fuhr vor. Ihm entstieg eine etwas knittrig wirkende Erscheinung, ein Mann um die sechzig. Er beachtete uns nicht und ging gleich auf die Uniformierten zu. Den kurzen Wortwechsel konnte ich von meinem Standort gut mithören.

»Morgen die Herren. Lage?«

»Morgen Herr Staudinger. Zwei erschossene Frauen. Täter flüchtig.«

»Wer hat sie entdeckt?«

»Der Zeuge dort. Ist übrigens ein Kollege. Aus NRW.«

Der Polizist, der geantwortet hatte, zeigte auf Lotte und mich.

Der Neuankömmling kam zu uns herüber.

»Guten Morgen. Staudinger. Kriminalpolizei. Sie sind bitte?«

»Siegfried Siebert ist mein Name. Das ist meine Frau Charlotte. Ich arbeite bei der Kripo Essen.«

»Aha«, ging Staudinger leichthin über unsere Berufsverwandtschaft hinweg. »Dann muss ich ja nicht lange erklären, worauf es ankommt. Was ist Ihre Aussage zu dem Ganzen hier?«

»Da drin liegen zwei Frauenleichen, beide mit einem Einschussloch mitten auf der Stirn. Die Schüsse haben wir von weiter weg gehört und sind dadurch aufmerksam geworden. Es waren genau zwei und sie fielen kurz hintereinander. Wahrscheinlich ist der Täter zur Gartenseite hin geflüchtet. Die Schiebetür zur Hinterseite stand bei unserem Eintreffen so weit offen, dass eine Person knapp durchschlüpfen konnte.«

Staudinger war aus dem Konzept gebracht. Solch differenzierte Aussagen hörte er wahrscheinlich höchst selten bei der ersten Befragung eines Zeugen.

»Haben Sie den Täter gesehen?«

»Ich nicht. Vielleicht meine Frau.«

Der Kriminalbeamte sah zu Lotte, die immer noch auf der Mauer kauerte.

»Was haben Sie beobachtet?«

Lottes Stimme bebte vom Heulen. »Eine schwarze Gestalt.«

»Bitte beruhigen Sie sich. Geht es etwas genauer? Was verstehen Sie unter einer schwarzen Gestalt? Von wo kam sie? Was bringt Sie zu der Vermutung, dass diese Gestalt der Täter ist?«

»Ich bitte Sie. Schwarze Klamotten bei dem Wetter und eine Kapuze auf.«

»Das reicht wohl kaum aus für einen konkreten Verdacht. Warten Sie bitte hier. Und versuchen Sie, ruhig durchzuatmen. Ich will mir kurz den Tatort ansehen.«

Staudinger verschwand um die Hausecke.

»Komischer Kauz«, schluchzte Lotte.

»Der macht nur seinen Job. Spricht mit bayerischem Akzent. Was hat den wohl hierher verschlagen?«, rätselte ich.

Staudinger ließ uns nicht lange warten. Höchstens zwei Minuten später kehrte er von seiner Inaugenscheinnahme des Tatorts zurück. Er gab den Uniformierten ein paar kurze Anweisungen und richtete sich dann wieder an uns.

»So, von vorne und ganz in Ruhe. Was haben Sie gesehen, gnädige Frau?«

Lotte hatte sich mittlerweile etwas beruhigt. Ihre Stimme flatterte nicht mehr.

»Da war diese schwarze Gestalt. Wie gesagt: Mit einer Kapuze auf dem Kopf. Die hat hier am Haus geklingelt.«

»Ein Mann oder eine Frau?«

Lotte kam ins Grübeln – das sah ich ihr an. »Tja, so ganz eindeutig kann ich Ihnen das nicht beantworten …«

»Wie würden Sie die Figur dieser schwarzen Gestalt, wie Sie sie nennen, beschreiben?«

»Schlank, eher sportlich, würde ich sagen.«

»Irgendwelche Auffälligkeiten im Bewegungsfluss? Ein Hinken, eine hängende Schulter, gebeugte Haltung?«

»So was ist mir nicht aufgefallen.«

»Wie groß?«

»Ein bisschen größer als ich vielleicht. Eins siebzig?«

»Können es auch eins sechzig oder eins achtzig gewesen sein?«

Lotte wurde durch Staudingers Fragerei ganz unsicher.

»Möglich.«

»Komplett schwarz gekleidet? Keine Abzeichen, Streifen an den Hosennähten oder ähnliche Dinge? An den Füßen? Sockenfarbe? Schuhe? Auch schwarz?«

»Da habe ich nicht drauf geachtet.«

»Viel ist das nicht gerade. Was hat diese schwarze Figur denn in Ihren Augen verdächtig gemacht?«

»Sie hat an der Tür geklingelt. Das sagte ich bereits.«

»Wenn also jemand eine Vorliebe für schwarze Kleidung hat und an einem Haus schellt, ist er für Sie verdächtig, ein Mörder zu sein?«

»Nein, aber …« Es war Staudinger tatsächlich gelungen, Lotte aus dem Konzept zu bringen. Sie verstummte.

»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Meine Fragen zielen nur darauf ab, Ihre Erinnerung zu beflügeln. Sie mögen dadurch manchmal etwas unhöflich klingen. Das ist nicht so gemeint.«

Ein weiteres Polizeifahrzeug fuhr vor. Mehrere Personen stiegen aus. An ihrem Verhalten erkannten meine geschulten Hauptkommissaraugen, dass es die Spurensicherung war. Eine Dame mittleren Alters kam zu Staudinger herüber.

»Ah, die Spusi«, begrüßte er die Kollegin.

Dann wandte er sich wieder Lotte und mir zu: »Wissen Sie, was wir jetzt machen? Sie geben einem der Kollegen hier Ihre Personalien und hinterlassen, wo wir Sie erreichen können. Verdauen Sie das Geschehene erst mal, besonders Sie, gnädige Frau. Morgen treffen wir uns um elf in der Henning-von-Treskow-Straße in Potsdam. Dort werden wir ausführlich über diese mysteriöse schwarze Gestalt reden. Vielleicht sortieren Sie bis dahin Ihre Beobachtungen, Frau Siebert, und erzählen mir hübsch der Reihe nach, was Sie gesehen haben. Ich habe größtes Verständnis dafür, dass Sie noch unter den Eindrücken der Tat stehen.«

Staudinger reichte mir eine Visitenkarte mit der Adresse seiner Dienststelle.

»Aber wir sind hier im Urlaub«, tat Lotte ihren Unwillen kund, »den möchten wir nicht in muffigen Amtsstuben absitzen. Außerdem ist mein Mann ebenfalls Kriminalbeamter.«

Was das wiederum heißen sollte, war mir schleierhaft. Staudinger wahrscheinlich auch.

Trotzdem sah er mich freundlich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Richtig. Ich vergaß. Darf ich Sie bitten, Ihrer Frau ein wenig beim Sortieren zu helfen. Sie wissen ja, worauf es ankommt. Nun müssen Sie mich leider entschuldigen. Ich brenne darauf zu erfahren, wie die Spusi den Tatort sieht.«

Zum Abschied gab uns Staudinger beiden die Hand. Dann nahm er die Kollegin mit in den Garten.

Einer der Uniformierten ließ sich unsere Personalausweise zeigen, und notierte unsere Urlaubsadresse sowie meine Handy-Nummer. Er verabschiedete uns und half seinen Kollegen weiter dabei, Haus und Garten mit Flatterband abzusperren. Alles wie bei uns.

»Fühlst du dich in der Lage, das Fahrrad zurückzuschieben?«, erkundigte ich mich besorgt bei Lotte.

Sie antwortete erstaunlich restauriert.

»Lass uns schnellstmöglich von hier abhauen. Was denkt dieser Kerl eigentlich? Dass ich ihm alles wie in einem Polizeibericht herunterrassele? Eingebildeter Fatzke.«

Daher wehte also der Wind. Meine Allerbeste schrieb die Präzision, die Staudinger an ihrer Aussage bemängelte, seiner Überheblichkeit zu. Na gut. Es war besser, sie hatte etwas zum Aufregen. Das brachte sie zurück auf den Damm.

Schweigend schoben wir unsere Fahrräder auf dem Weg zurück, den wir hergekommen waren. Am kleinen Strand hielten wir an und nahmen dort erneut die Bank in Beschlag. Mein Blick schweifte zur gegenüberliegenden Havel-Insel hinüber. Welch ein Frieden hier herrschte! Nur wenige hundert Meter vom Schauplatz eines Kapitalverbrechens entfernt.

»So habe ich mir unseren Urlaub nicht vorgestellt«, beklagte sich Lotte bei mir. »Reifen platt, zwei Erschossenen gegenüberstehen, Zeugenaussage bei der Kripo.«

»Das ist morgen Mittag überstanden. Danach starten wir durch.«

»Wir müssen Lucy noch absagen. Die wollte doch morgen früh kommen.«

Das hatte ich beinahe vergessen. Stimmte ja!

»Ich rufe Sie heute Abend an. Vielleicht können wir uns mit ihr im Anschluss an unsere Aussage in Potsdam treffen und ein wenig bummeln.«

Lotte wurde plötzlich leiser. »Wie geht das vor sich, eine Aussage?«, flüsterte sie, als ob wir inmitten eines vollbesetzten Theaters säßen, in dem gerade ein Stück aufgeführt wurde.

Ich beschrieb ihr das Prozedere. »Du erzählst einfach der zeitlichen Reihenfolge nach, was du gesehen hast. Möglichst detailliert.«

»Da habe ich nicht den geringsten Bock drauf!«

»Beruhige dich. Das hat kaum ein Zeuge. Ich habe da einschlägige Erfahrungen, weißt du …«

Lotte schaute mich verwundert an. Endlich begriff sie, dass ich sie mit meiner Bemerkung trösten wollte und schenkte mir ein kleines, dankbares Lächeln.

Dann huschte ein neuer Schatten über ihr Gesicht.

»Die armen Frauen«, jammerte sie wieder.

***

Ecki hat mir aufmerksam zugehört. Er unterbricht mich das erste Mal.

»Wie hat Lotte das eigentlich weggesteckt?«

Worauf genau will Ecki hinaus? »Was weggesteckt?«

»Na, die beiden ermordeten Frauen. Leichen am Tatort, das ist nicht einfach. Mancher verdaut das nie. Kann man sich eigentlich jemals daran gewöhnen? Mit der Zeit stumpft man etwas ab. Aber es ist immer wieder schwer, dem Tod ins Gesicht zu sehen.«

»Das ist Jahre her, Ecki. Außerdem hat Lotte die beiden ermordeten Frauen nur ganz kurz gesehen. Ich bin ziemlich sicher, dass sich das Bild nicht bei ihr festsetzen konnte. Sie wird keine konkrete Erinnerung daran besitzen. Wir haben zu Hause ewig nicht darüber gesprochen. Ich denke, sie ist drüber weg. Lotte ist ziemlich robust.«

Mein Erzählfluss ist durch Eckis Zwischenfrage etwas aus dem Lot geraten.

»Wo mache ich nun weiter? Ach, ja. Es wird glaube ich Zeit, die Geschichte von der Frau zu erzählen. Was meinst du?«

»Die Sache von dieser ungewollten Schwangerschaft? Wie ewig die Motive für Mord zurückliegen können! Der Mensch trägt manches auf dem Buckel mit sich herum«, sinniert Ecki.

»Kannste wohl sagen. Als wir das Puzzle stückweise zusammengesetzt haben, damals, waren wir selbst erstaunt, was da alles zutage trat.«

»Allerbeste Zutaten für einen Doppelmord, finde ich.«

»Sollen wir nun mit ihrer Geschichte fortfahren?«, fasste ich nach.

»Meinetwegen. Ihre Geschichte, seine Geschichte, eure Geschichte … Leg einfach los.«

»Gut. Also ihre Geschichte. Ich erzähle sie dir in der Version, die uns die Frau später selbst serviert hat. Reden konnte sie …!«

Lotte mischt mit

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