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Ihre Geschichte
ОглавлениеSie starrte an die Decke. Immerzu an die weiße Decke. So als ob das hier nichts mit ihr zu tun hätte.
Dann überfielen sie wieder die Wehen. Wellen des Schmerzes.
»Pressen!«, rief ihr jemand zu, der am Fußende ihrer Liege stand.
Sie schloss die Augen, spannte den Körper, atmete aus und presste. Wann würde dieser Geburtsvorgang endlich ein Ende nehmen? Wann käme endlich dieses »Balg« aus ihr heraus, wie es der Vater die ganze Zeit über ausschließlich genannt hatte? Mit seinem Ausstoßen wäre ihr Martyrium der letzten Monate endlich zum Abschluss gebracht. Dann wäre sie endlich wieder frei vom Gewicht der Frucht und von der Last, dass sich ihr Leben nur noch darum drehte.
»Pressen, pressen, pressen!«
Abgegeben hatte sie die Mutter hier in der Klinik, als es so weit war. Wie einen Gegenstand, den man unauffällig loswerden will.
»Ich übergebe meine Tochter und ihr Unglück in ihre Hände.«
Bloß schnell weg. Niemand aus ihrer Familie wollte etwas mit ihrer Schande zu tun haben. Als Geächtete hatte sie zwischen Vater und Mutter gelebt. Versteckt hatte man sie vor den Augen der neugierigen Nachbarschaft, aus dem Leben im Viertel ausradiert. Nicht einmal mehr zum Training hatten sie die Eltern gehen lassen.
Die nächste Welle Wehen überfiel sie. Noch brutaler, noch schmerzhafter. »Pressen, pressen, pressen!«, feuerte sie die Stimme zu ihren Füßen wieder an. Zwischen ihren gespreizten Oberschenkeln machten sich Hände zu schaffen. Nahm diese Geburt denn gar kein Ende? Wie lange hielt eine Frau so was aus?
Robert hatte sich lange aus dem Staub gemacht. In dem Moment, in dem sie ihm von ihrem gemeinsamen Kind erzählte, hatte er sie verstoßen. Beschimpft hatte er sie sogar. Sie hätte besser aufpassen müssen. Im Übrigen lege er keinen Wert mehr auf den Kontakt mit ihr. Mit einem Babybauch wäre sie für ihn sowieso nicht mehr attraktiv.
Wie hätte sie aufpassen sollen? Die Pille hätten die Eltern ihr nie erlaubt. Danach zu fragen, wäre überflüssig gewesen. Außerdem war es aus dem Moment heraus geschehen. Zu viel getrunken hatte sie, unerfahren, wie sie im Umgang mit Alkohol war. Wenn sie es recht bedachte, hatte Robert ihren Zustand schamlos ausgenutzt. Zwei, dreimal danach war es wieder dazu gekommen. Das war alles. Dadurch war sie zur »Hure« geworden. Ein weiteres Zitat ihres Vaters.
Wieder überfielen sie die Wehen. Heftiger als je zuvor. Sie schrie. Ein Laut des Schmerzes und der Wut auf alle Menschen, die sie in ihren schwersten Stunden allein gelassen hatten.
Dann merkte sie, dass sich etwas von ihr löste. Der Schrei dieses Etwas vermischte sich mit ihrem.
Sie blieb noch ein paar Tage in der Klinik. Die Schwestern waren nett zu ihr, auch wenn sie wussten, dass sie ihr Kind zur Adoption freigegeben hatte. Nach der Geburt hatte sie es nicht sehen dürfen. Gleich war es in einen Nebenraum gebracht worden. Nicht einmal die Frage aller Mütter, »Junge oder Mädchen«, hatte man ihr beantwortet. Ob es sich noch hier in der Klinik befand, sagte man ihr ebenso wenig. Sie hatte das Fragen aufgegeben. Kümmerte es sie überhaupt?
Die Eltern hatten ihr eingeredet, mit der Geburt käme alles wieder in Ordnung. Sie hatten sie zur Adoption gedrängt, gleich als sie ihr Geheimnis vor ihnen gelüftet hatte. Für einen Schwangerschaftsabbruch war es da bereits zu spät gewesen. Sie hatte sich Zeit gelassen mit der unangenehmen Beichte. Ihre eigene Einstellung zum Kind war da noch ein trüber Tümpel aus Gedanken und diffusen Gefühlen gewesen. Trotzdem hatte sie bereits damals gespürt, dass daran etwas nicht richtig war. Ein Kind einfach weggeben? Was wäre aus ihr geworden, hätte sie die Mutter einfach weggegeben? Was hätte solch ein Schicksal mit ihr angestellt? Durfte man das, ein Kind weggeben?
Die Mutter hatte sie zur Jugendhilfe begleitet. Die strenge Dame mit dem Knoten, zu der sie vorgelassen wurden, hatte sie über ihre Lesebrille hinweg wie Abschaum gemustert. Ihr war versichert worden, es gäbe viele Parteigetreue, die selbst keinen Nachwuchs bekommen konnten. Eine solche Familie würde man für ihr Kind aussuchen. Es sei das Beste, was man für den Wurm tun könne, so blutjung, wie seine Mutter noch sei. Unerfahren, noch gar nicht richtig im Leben angekommen. Das Kleine würde es bei den Adoptiveltern guthaben.
»Darf ich mein Kind ab und zu besuchen?«, traute sie sich zu fragen.
Sie wurde von der Matrone streng abgebügelt.
»Es ist nicht an dir, Forderungen zu stellen. Schlimm genug, dass du dem Staat solche Umstände bereitest.«
Es läge nicht im Interesse der Adoptiveltern und mit Sicherheit nicht im Interesse des Kindes, ohne klare Bezugsperson aufzuwachsen, führte sie aus. Unmittelbar nach der Geburt würde die Trennung vollzogen. Auf Dauer.
Auf dem Heimweg von der Beratung hatten sie erste Gewissensbisse geplagt. Sie war schließlich die Mutter, nicht irgendeine linientreue Tussi. Womöglich so eine, wie diese Matrone. Igitt. So einer wollte sie ihr Kind nicht ausliefern.
Ihre Mutter indes schien ganz zufrieden mit der aufgezeigten Lösung. »Ein sauberer Schnitt.« – so drückte sie sich später gegenüber dem Vater aus. Die beiden ahnten nicht, dass ihre Tochter das Gespräch an der angelehnten Wohnzimmertür belauschte. Angewidert zog sie sich zurück. Spielte sie denn hier überhaupt keine Rolle? Oder gar das Kind?
Jetzt lag sie in diesem weißen Bett mit anderen Wöchnerinnen zusammen in einem Zimmer. Ihre Zimmergenossinnen besuchten ihre Kinder auf der Säuglingsstation. Die Gesichter der jungen Mütter strahlten, wenn sie von dort zurückkehrten. Ihr nach außen getragenes Glück klagte sie an. Es war falsch gewesen! Sie hätte auf keinen Fall einwilligen dürfen! Sie hätte sich zur Wehr setzen müssen!
Vier Wochen nach der Geburt nahm sie ihr Training im Schießsportverein wieder auf. Sie traf sicher, besonders mit der Pistole. Verbissen arbeitete sie daran, den Trainingsrückstand durch die Schwangerschaft wieder aufzuholen. Dabei hätte sie auch während dieser Zeit weiterschießen können – hätten sie die Eltern gelassen. Aber die waren von Anfang an nur darauf bedacht gewesen, ihren »Fehltritt« – wieder so ein Wort des Vaters – vor der Welt zu verstecken.
Sie verfolgte konsequent ihren großen Traum, die DDR bei den Olympischen Spielen zu vertreten. 1984 in Los Angeles. Das war noch sieben Jahre hin. Die neue Trainerin hatte ihr Hoffnungen darauf gemacht. Sie war gut, die Zweitbeste in ihrer Staffel. Ein wenig fehlte noch, dann stände sie auf Nummer eins.
Ihre Familie genoss Vorteile durch ihr Talent. Kleine Vergünstigungen, die den Alltag erleichterten. So war das Regime. Hinterrücks, still und heimlich, wurden die Dinge geregelt, bis in den privaten Bereich hinein. Wer spurte, den lockte man mit hingeworfenen Brocken vom Tisch der Partei, wer sich versagte, bekam das zu spüren. Eine nette, große sozialistische Gemeinschaft. Ihre kritische Einstellung fand täglich neue Bestätigungen für diesen Eindruck.
Ein Kind hätte dem allem im Wege gestanden. Es hätte ihr Zeit abgeknapst vom Training. Ihre Olympiateilnahme wäre in Gefahr geraten. Ihre Familie wäre auf Normalmaß zurückgefallen, auf den Lebensstandard vor der Entdeckung ihres Talents. Ihre Eltern, so schätzte sie, hätten schwer daran zu knapsen gehabt.
Sie legte an und zielte. Ihre Hände hielten die Waffe ganz ruhig. Sie drückte ab. Der Knall erfüllte die Halle. Volltreffer. Ein anerkennender Blick von ihrer Trainerin. Stolz wallte in ihr auf. Sofort mischte sich Bitterkeit darunter, weil sie daran denken musste, wodurch sie sich diesen Blick erkauft hatte.
Wo war ihr Kind?
Ihre Schießleistung wurde immer besser. Längst war es ihr gelungen, die Nummer eins vom Thron zu stoßen.
Robert mied ihre Nähe. Trotzdem war es unvermeidlich, dass sie sich im Verein über den Weg liefen. Verlegen lobte er ihre sportlichen Fortschritte. Dabei war alles Schmeicheln aus seiner Stimme verschwunden. Der sanfte Unterton, mit dem er sie damals rumbekommen hatte. Sie war sich sicher, dass er unter Beobachtung des Apparats geraten war. Einen neuen Fehltritt, wie mit ihr, durfte er sich wahrscheinlich nicht erlauben.
Eines Tages, im Anschluss an ihre Trainingseinheit, kam Robert mit einem Mann zu ihr. In mittlerem Alter, recht formell gekleidet mit Hut und Mantel. Die beiden baten sie, mit ihnen zusammen in ein Hinterzimmer der Halle zu gehen. Ihr wurde mulmig zumute. Was wollten die beiden von ihr?
Sie setzten sich an einem Tisch zusammen. Bald sah sie klar. Der Formelle war Mitarbeiter der Stasi. Man verdächtigte eine ihrer Kameradinnen, politisch gegen die Interessen der DDR zu agieren. Sie bereitete angeblich eine Demonstration vor. Subtil versuchte der Stasi-Mann, sie zum Aushorchen der Kameradin zu bewegen.
»Es wäre dein Schaden nicht. Du willst doch sicher weiter gefördert werden. Man könnte mehr für dich tun, als dich hier in der Provinz in einer zweitrangigen Staffel trainieren zu lassen. Es gäbe da Möglichkeiten«, deutete der Mann einschmeichelnd an. Sie solle an Los Angeles denken, spann er sein Spinnennetz fort. Wenn sie bewiese, dass sie die Heimat vor konterrevolutionären Umtrieben schützte, würden ihre Chancen für die Reise ins Vorreiter-Land des Klassenfeindes steigen.
Roberts Gesicht blieb während dieser Unterredung wie versteinert. Sie schaute oft zu ihm hinüber. Er machte ihr nichts vor. Sie saß hier, weil er damit etwas gegenüber dem Apparat gutmachen wollte. Wieder war sie sein Opfer. Diesmal nicht das seiner Triebe, sondern das seiner eigenen Verpflichtungen oder gar Verfehlungen gegenüber der Obrigkeit.
In ihr kroch Wut auf Robert hoch. Seine Gleichgültigkeit ihrem gemeinsamen Kind gegenüber, hatte sie ihm zwar nie verziehen, aber es war ihr gelungen, sie tief in ihrem Inneren einzukapseln. Dass er sie angeblich nicht liebte, darüber war sie hinweg. Sie kannte die Teamkollegin, um die es hier ging, recht gut. Sie waren Freundinnen. Das wusste Robert genau. Es war für sie unvorstellbar, ihre Vertrautheit mit der jungen Frau zu missbrauchen. Für Robert nicht und für diesen Bullen von der Stasi schon gar nicht.
»Ich kann in dieser Sache nicht helfen«, sprudelte sie trotzig heraus.
»Du weißt, was das bedeutet?«, fragte der Stasi-Arsch.
Sie bejahte.
»Du kannst es dir gerne ein paar Tage überlegen.« Der Typ schickte Robert einen intensiven Blick auf die andere Tischseite. Dieser Blick entlarvte das miese Spiel endgültig.
Sie wurde hinausgeschickt und die beiden Männer blieben alleine zurück. Sollte sie an der Tür lauschen? Nein, so tief würde sie nicht sinken. Energisch reckte sie das Kinn und begab sich auf den Heimweg.
Sie blieb auch auf zweifache Nachfrage von Robert standhaft. Er bekam zu verstehen, wie sie über die Angelegenheit dachte.
»Du hast bei mir verschissen. Sieh zu, wie du aus dem Schlamassel, in dem du offensichtlich steckst, herausfindest. Wem bist du bei denen eigentlich etwas schuldig?«
Robert kniff und trollte sich.
Wie sehr sie selbst ins System verstrickt war, verstand sie, als ausgerechnet ihr eigener Vater ins selbe Horn stieß.
»Du musst an die Republik glauben. Der Sozialismus ist gut für die Menschen. Wenn du unserem Staat helfen kannst, darfst du dich dem nicht verweigern.«
Jedem dieser Versuche des Vaters, in sie zu dringen, begegnete sie nur mit schmallippigem Schweigen. Doch irgendwann platzte ihr der Kragen.
»Bist du auch so einer?«
Gespieltes Unverständnis. »Was für einer?«
»So einer wie Robert, der für das Regime spitzelt. So einer wie diese Stasimumie, die Leute dazu aufwiegelt, Freunde auszuspionieren. Bist du so einer? Ein Spitzel?«
Sie fing sich eine schallende Ohrfeige ein. Danach ließ er sie in Ruhe.
Im Anschluss an diese Szene wurde das Schweigen zu Hause unerträglich. Nicht nur der Vater, auch die Mutter strafte sie, indem sie durch ihre Tochter hindurchblickte. Alle schienen verstrickt in diesen Sumpf. Sie vermisste jemanden, dem sie unbedingtes Vertrauen schenken konnte, ein Wesen, unverdorben und frei von kranker Ideologie. Jemanden, der ihr bedingungslos vertraute und dem sie ihre Liebe schenken konnte.
Sie vermisste ihr Kind.
Rein sportlich blieb sie auf der Höhe. Sie wurde sogar immer besser und überflügelte bald die beste Schützin ihrer Altersgruppe. Als in den Ferien ein Förderprogramm in der Hauptstadt ausgelobt wurde, schickte man jedoch nicht sie, sondern die Zweitbeste hin.
Sie stellte ihre Trainerin zur Rede: »Was bezweckst du damit?«
»Mir sind die Hände gebunden. Ich spreche nur Empfehlungen aus. Die Entscheidungen werden anderswo getroffen«, antwortete die Frau verlegen.
»Ich bin die Beste! Das weißt du genau.«
»Du triffst am genauesten. Die Beste bist du nach Ansicht der Vereinsleitung nicht.«
»Worauf kommt es denn bitteschön beim Schießen an, wenn nicht auf das Treffen?«
Der Gesichtsausdruck der Trainerin zeigte ihr, dass sie selbst peinlich berührt war von der Antwort, die sie ihr geben musste. »Auf Disziplin und Gehorsam.«
Natürlich! Das wieder!
»Ah, jetzt verstehe ich.«
Der Gesichtsausdruck der Frau wurde weich.
»Hör mir zu. Ich kann nicht so handeln, wie ich es gerne würde. Wenn die Sprache auf dich kommt, beiße ich auf Granit. Du wirst selbst am genauesten wissen, warum das so ist. Ich hätte jedenfalls dich geschickt.« Damit ließ sie die Trainerin stehen.
Sie knabberte sehr an diesem Vorfall. Am Abend zog sie sich ohne Abendbrot in ihr Zimmer zurück und heulte.
Doch sie war eine starke junge Frau. Ihre Verzweiflung währte nicht lange. Sie benötigte nur diesen einen Abend, um einen Schlussstrich zu ziehen. Am Folgetag beendete sie ihre Karriere als Sportschützin.
Das Regime verzieh ihr das Wegwerfen ihres Talents nicht. Ihre Akte – wenn es so eine gab – schien eine Markierung zu tragen. Einen roten Punkt. Ein Minus. Wie immer sie solche Akten kennzeichneten. Leute stigmatisierten.
Die ganzen nächsten Jahre über war sie gezwungen, gegen Widerstände zu kämpfen, wo andere leicht hindurchspazierten. Nur mit Mühe gelang es ihr nach dem Schulabschluss, einen Studienplatz zu ergattern. Sie wählte Chemie, weil das Fach als schwierig galt und deshalb von ihren Mitschülern gemieden wurde.
Immerhin gab ihr das die Möglichkeit, der Enge des Elternhauses zu entfliehen. Sie zog zu einer Freundin in Halle und schlief die ersten beiden Semester auf deren Wohnzimmercouch. Ein eigenes Zuhause war ihr verwehrt worden.
Ein Schießeisen nahm sie nie mehr in die Hand. Sie hatte abgeschlossen mit diesem Sport, ja, verachtete ihn mittlerweile. Waffen waren für sie zum Sinnbild des Gefängnisses geworden, in das unbequeme Geister eingesperrt wurden. Sie litt unter dem ständigen Gefühl, bespitzelt zu werden. Das empfand jedoch nur sie so. Ihre Freundin winkte ab, wenn sie das Gespräch auf die Stasi und ihre Spione lenkte.
»Das wird maßlos übertrieben«, belehrte sie ihre Mitbewohnerin gerne.
Sie sah es der Freundin nach. Ihr eigenes Schicksal repräsentierte nicht zwangsläufig das, was Otto Normalbürger in dieser DDR begegnete. Wer sich systemkonform und unauffällig verhielt, der entging den allgegenwärtigen Augen des Spitzelapparates. Ein Schuss Glaube an die heile Welt verstellte den meisten Zeitgenossen ohnehin den Blick dafür.
Sie lenkte sich durch ihr Studium ab, arbeitete hart und wurde eine Musterstudentin. Immerhin gelang ihr der drittbeste Abschluss ihres Jahrgangs. Trotzdem dauerte es lange, bis ihr ein Arbeitsplatz angeboten wurde. In Bitterfeld. Wieder ein Ortswechsel.
Gleich am ersten Tag wurde sie von einem Mitarbeiter der Objektdienststelle des Werkes ermahnt, sich an die Regeln zu halten. Welche, das erwähnte er nicht.
»Mir liegen Auskünfte bezüglich Ihrer Person vor, dass Sie es in jungen Jahren an Engagement für unsere Republik haben vermissen lassen. Hier in Bitterfeld erhalten Sie eine neue Chance, sich zu bewähren. Ich habe Sie im Blick!«
Würde es nie ein Ende haben mit diesen Nachstellungen? Wann würden der rote Punkt oder das Minus von ihrer Akte endlich getilgt?
Immer häufiger träumte sie in den Nächten von einem Mädchen, das bei ihr schlief. Es besaß große, grüne Augen und lockiges, blondes Haar. Vielleicht vier, fünf Jahre alt. Sie hatte ihm eine Puppe geschenkt, die in den Armen des Kindes ruhte, während das Mädchen in ihren Armen schlief.
Regelmäßig wachte sie von diesem Traum auf. Schweißüberströmt.
Ihr eigenes Kind würde jetzt doppelt so alt sein wie dieses Mädchen. Sie wusste nicht mal, ob es ein Mädchen war. Genauso gut konnte es ein Junge sein mit Rotznase und Segelohren. Ganz gleich. Sie spürte die Wunde in ihrem Leben klaffen. An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Ihrer Arbeit im Chemiewerk ging sie gewissenhaft und korrekt nach. Sie äußerte sich niemandem gegenüber zu politischen Themen und gab über sich selbst nur das Notwendigste preis. Es schien ihr besser so.
Von Männern hielt sie sich fern. Immer, wenn sie Gefallen an einem Kollegen fand, stiegen die Erinnerungen an Robert und an ihren Vater in ihr hoch. Gleich darauf die Ermahnungen des Kerls von der Objektdienststelle. Was, wenn ein Mann es nicht ehrlich mit ihr meinte und nur ein weiterer Baustein des Beobachtungsrings um sie war? Diese Enttäuschung wollte sie unbedingt vermeiden!
Eine kleine Genugtuung verspürte sie, als sich die DDR 1984 dem Olympiaboykott anschloss. Ihr Jugendtraum, für ihr Heimatland an den Olympischen Spielen teilzunehmen, wäre spätestens jetzt geplatzt. Jedwedes Training für diese Reise wäre umsonst gewesen. Kein Siegertreppchen, kein olympisches Metall für das ach so geliebte Vaterland. Sie feixte in sich hinein. Leid taten ihr nur die Athleten, die kein Forum als Gegenleistung für ihren immensen Einsatz erhalten würden.
In Bitterfeld lebte sie ein einsames, abgeschottetes Leben. Die Jahre schlichen dahin, ohne dass sich etwas daran änderte. Sie wollte es so.
Dann kam der Mauerfall.
Sie verfolgte die entscheidende Verlautbarung von Schabowski zufällig am Fernseher in ihrer Wohnung. Unmittelbar darauf hörte sie das Getrappel der Nachbarn auf dem Flur. Aufgeregte Stimmen drangen zu ihr vor. Die Nachricht war so ungeheuerlich, dass wild spekuliert wurde. Erst nach und nach wurde die Stimmung freudig, ja überschwänglich.
Sie blieb in ihrem Sessel hocken, erstarrt vor der Macht der Ereignisse. Ihr Gehirn glich einem Bienenstock, in dem die Gedanken wie Arbeiterinnen herumsummten. Was bedeutete das? Was bedeutete das für ihr eigenes Leben?
Auf der Straße setzten sich erste Autokorsos in Bewegung. Hupen wurden laut.
Die Menge skandierte Freiheitsparolen. »Wir fahren in den Westen!«
Unschlüssig schaute sie aus dem Fenster und sah dem übermütigen Treiben zu. Sie traute der Informationslage nicht. Zu plötzlich kam hier etwas ins Rollen, das ihre kühnsten Träume überstieg. Hatte die Freiheit bei der DDR angeklopft? Nach so langer Zeit?
Sie schaltete den Fernseher auf ein Westprogramm um. Tatsächlich. Die ersten Trabbis warteten vor den Schranken der Grenzübergänge in Berlin. Die Soldaten wirkten völlig überfordert mit der Situation. Gestern noch, ja heute Morgen noch, hatte für sie der Schießbefehl gegolten. Welcher Befehl galt nun?
Es wurde ein langer Abend. Langsam reifte in ihr das Bewusstsein, dass sie Zeitzeugin eines historischen Ereignisses war. Gebannt sah sie den Mauerspechten zu, wie sie mit primitivsten Werkzeugen Bröckchen aus dem Grenzwall schlugen, Andenken an diesen großartigen Tag.
Schon an diesem Abend wusste sie, dass sie ihre Heimat baldmöglichst gen Westen verlassen würde.