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II. WEGE ZU KLEINEN LÖSUNGEN

1.»DAS ESSEN IST KALT!«

Wie durch eine kleine Lösung bei der Essensversorgung 300 000 Euro IT-Kosten eingespart werden konnten

Das Essen ist kalt. Auf den Stationen eines Universitätsklinikums kam das Essen kalt beim Patienten an. Ob Chirurgie, Innere oder Onkologie – jeden Tag das Gleiche. Schnitzel: kalt. Kartoffeln: kalt. Brokkoli: kalt. Zwei Drittel aller Speisen waren kalt, musste die Klinikverwaltung einräumen. Bei rund 600 Essen täglich ein peinlicher Zustand. Und nicht nur das, es war ein echtes Problem.

Im Grunde ist es ein simpler Vorgang: Das Essen wird gekocht, kommt aus der Küche, wird auf Teller, Schalen und Tabletts gelegt, diese kommen in silberfarbene Essenswagen, und die wiederum werden im Haus verteilt.

Doch dann verlor sich die Spur. Die Essenswagen mit den gestapelten Tabletts standen herum, weit mehr als eine Stunde. Jeden Tag kamen die Menüs nicht rechtzeitig zum Patienten. Das sorgte für Verdruss. Aber keiner fühlte sich verantwortlich. Keiner wusste, wie lange die Dinger schon auf den Gängen parkten. Keiner wusste irgendwas. Und wenn das Tablett dann endlich vor dem Patienten stand, das alte Lied: Schnitzel: kalt. Kartoffeln: kalt. Brokkoli: kalt.

Die IT-Lösung war praktisch schon bestellt

Der Vorstand meldete sich bei uns. Wir sollten ein Auge darauf werfen. »Woran liegt das?«, wollte der Vorstand wissen. »Das kann doch nicht sein.« Die Beschwerden würden sich häufen. Pflegepersonal und Patienten seien verärgert. Kein Ruhmesblatt für ein Universitätsklinikum. Man wurde unruhig. Das Essen ist ohnehin immer ein Streitpunkt im Krankenhaus. Aber sie hatten schon eine Idee: Für 300 000 Euro wollte man eine neue Software installieren. Diese sollte die Kostlieferung logistisch auf Vordermann bringen. Die IT-Spezialisten hätten ihnen eine sehr gute Lösung vorgeschlagen, hieß es: Eine Essenslogistik-Software, die registriert, wann das Essen die Küche verlässt, wo es sich befindet, wer es bekommt, wann es gegessen wird. Alles ließe sich wunderbar nachvollziehen. Sie waren fast entschlossen, die Software zu installieren. Doch vorher hatte sich der Vorstand bei uns gemeldet. Sie wollten die Sache noch einmal auf den Prüfstand stellen. Wir waren bereits in einigen Krankenhäusern und Gesundheitszentren als Berater tätig und hatten mehr als einmal erlebt, wie die Komplexität einer Klinik Management und Mitarbeiter an den Rand der Verzweiflung bringen kann.

Im genannten Fall war das komplexe System »Essensversorgung« enorm ins Wanken geraten. Wir als systemische Berater sollten analysieren, was los war und wie das Essen schlussendlich warm und genießbar zum Patienten kommen kann.

»Warum ist das Essen kalt?« Das war also die Frage, der wir im Team nachzugehen hatten. Wir machten ins in der Klinik auf die Suche nach Antworten. Gleich zu Beginn unseres Einsatzes stießen wir in den 15 Einzelkliniken auf eine Menge Mythen und Märchen, die im Umlauf waren, was das Essen betraf. Natürlich bekamen wir auch Handfestes zu hören: »Die in der Küche schlafen«, hieß es auf den Stationen. Damit war die Richtung klar: Schuldzuweisung. Und so ging es weiter. »Wir machen das Essen pünktlich fertig, der Transportdienst ist zu blöd, die Wagen auszuliefern«, sagten die Köche. Die Küche hatte also auch keine Schuld. Die Schwestern und Pfleger hatten grundsätzlich die Pflegeschüler und Azubis im Verdacht. Die wiederum konnten sich nicht wehren.

Einfache Frage: »Warum ist das Essen kalt?«

Und wenn sich die Ärzte wiederholt die Klagen von Patienten und Angehörigen anhören mussten und sie nicht auch noch mit kaltem Essen behelligt werden wollten, beschimpften sie später den Pflegedienst auf der Station – und der wiederum in guter Tradition die anderen Abteilungen: »Auf der Inneren läuft doch vieles nicht richtig – wie immer.« Kurz und gut: Immer sind die anderen schuld.

Keiner hat Schuld – trotzdem ist das Essen kalt

Das habe ich als Berater häufig erlebt: Niemals ist die eigene Berufsgruppe schuld. Niemals! Egal ob im Krankenhaus oder in einem Unternehmen. Die Ingenieure geben den Kaufleuten die Schuld. Die Kaufleute den Juristen. Die Vertriebler dem Innendienst. Die Produktionsleute den Entwicklern. Die Ärzte den Pflegern, die Pfleger und Ärzte der Verwaltung. Die Verwaltung dem Vorstand. Der Vorstand dem Betriebsrat.

Es gibt immer eine Menge Schuldige. Aber leider ganz selten einen Verantwortlichen. Es sind immer erst mal die anderen. Und das wird heißblütig verteidigt. Mit dieser Emotion muss man umgehen, da muss man als Berater erst mal die Ruhe bewahren, sonst wird man konfus. Alles brav anhören, nicken, zum Nächsten gehen. In dieser Situation ist die Lösung weit. Solange das gegenseitige Schuld-in-die-Schuhe-Schieben die vorherrschende Kultur ist, gibt es keine Lösung und schon gar nicht eine elegante »kleine Lösung«.

Solange jeder dem anderen Schuld gibt, ist eine Lösung weit weg.

In unserem Beispiel hatte diese Phase vor allem die eine Folge: Es gab immer noch kein warmes Essen! Nachdem wir uns alles angehört hatten, niemand etwas dafür konnte und offenbar jeder alles richtig machte, standen wir noch immer vor der Frage: Warum schaffen es die Essenswagen nicht rechtzeitig auf die Stationen? Wo im System ist der Haken? Warum ist das Essen kalt?

Nun musste – im wahrsten Sinne – alles auf den Tisch. Es war an einem heißen Sommertag, draußen brannte die Sonne. Wir saßen in einem klimatisierten Konferenzraum bei zu kühlen 18 Grad und suchten nach Ursachen. Was ist mit dem Essen?

Wir hatten gute, weniger gute und auch spleenige Ideen. Wir diskutierten eine ganze Zeit. Dann hatte einer meiner jungen Kollegen eine recht simple Idee, um herauszufinden, woran es liegen konnte. Er sagte: »Wir kleben einfach einen Zettel an die Essenscontainer, schreiben drauf, wann sie die Küche verlassen haben.« Neben der Uhrzeit, so seine Idee, sollte noch notiert werden, dass »das Essen 45 Minuten warm ist«. Das klang simpel. Wir stimmten sofort zu und machten das.

Folgender Text kam auf Papier, das auf die Essenswagen geklebt wurde: »Aus der Küche: 11.05 Uhr. Das Essen ist 45 Minuten warm.« Die Idee kam bei allen gut an. Auf diesem Weg betrieben wir also Ursachenforschung. Wir waren sicher, jetzt konnten wir forschen: Wo stockt es? Wo stehen die Wagen? Wie lange stehen sie dort? Und vor allem: Warum?

Das Essen ist 45 Minuten lang warm.

Auf diese Weise, so war der Gedanke, können wir nachvollziehen, wo es hakt, wo man ansetzen muss. Also stellten wir uns wenige Tage später zur Mittagessenszeit an das Ende des Fließbands der Küche. Wir warteten, bis alle Tabletts im Essenscontainer verstaut waren. Dann klebten wir einen unserer Zettel mit Tesafilm auf den Wagen, schrieben die Uhrzeit drauf, ergänzt durch den Satz: »Das Essen ist 45 Minuten warm.« Wir machten das ganz klassisch: mit Stift und Papier. Alles kein großer Aufwand. Als wir fertig waren, hatten alle Container einen Zettel. Und dann ging es los.

Was dann geschah, verblüffte alle Beteiligten. Vor allem auch uns.

Ohne einen Plan. Ohne Meetings. Ohne Rundmails

Es dauerte nicht lange, und das Essen kam warm bei den Patienten an.

Warm. Innerhalb kürzester Zeit war das Problem gelöst.

Was war geschehen? Was war denn da passiert? Alle waren verblüfft.

Aber es war offensichtlich: Es hatte sich etwas geändert. Ohne eine Anordnung. Ohne einen Plan. Ohne Meetings. Ohne Rundmails. Ohne eine einzige Software.

Wenn die Suche nach der Lösung schon zur Lösung wird

Und das hatte einen einfachen Grund: Die Suche nach der Lösung kann bereits die Lösung sein. Und es ist ein Beispiel für die Kunst der kleinen Lösung.

Was genau war geschehen?

Inmitten der hochkomplexen Logistik und Technologie der Klinik zeigte sich plötzlich eine vernachlässigte, aber im entscheidenden Augenblick doch absolut zuverlässige multifunktionale Lösungssoftware: der Mensch. Der Mensch, der lesen kann und ohne Anleitungen plötzlich zu denken beginnt …

Mit einem Mal wurden die Container wahrgenommen, wurden die Zettel gelesen. Ein Papierzettel, mit Klebeband am Wagen befestigt, versehen mit zwei zentralen Botschaften. Erstens: Kochzeit, zweitens: »Das Essen ist 45 Minuten warm.« Das reichte.

Es reichte, einen Zettel auf einen Wagen zu kleben

Wir nehmen oft große Worte in den Mund, sprechen vom »Paradigmenwechsel«, vom » Kulturwandel« oder »Mentalitätswandel«, wenn sich etwas ändern soll. Manchmal reicht es jedoch, einfach einen Zettel auf einen Essenscontainer zu kleben, und das Verhalten der Menschen ändert sich, ja, sie werden verantwortungsbewusster.

Aber was war passiert? Der Reihe nach. Die Essenswagen mit den Zetteln wurden also ausgefahren. Und dann machten alle etwas ein bisschen anders als sonst: Auf einer Station verlegte der Chefarzt seine Visite, damit das Essen noch innerhalb der 45 Minuten verteilt werden konnte. Man hatte festgestellt, dass Mahlzeit und Chefarzt-Visite kollidierten. Auf der zweiten Station begannen die Reinigungskräfte damit, den Wagen vom Aufzug zur Station zu schieben. Sie konnten einfach nicht mit ansehen, dass da Essen kalt werden sollte. Ein Blick auf die Uhr genügte, und jedem war sofort klar, was los war.

Auf der dritten Station hatten die Patienten auf das Anrollen des Essenswagens geachtet, immer ein Patient schob von nun an »Wache«. Auf der vierten Station hatten die Pflegekräfte ihre übliche Mittagspause verlegt, weil jetzt klar war, wann und wie schnell das Essen weggebracht werden muss. Damit wir uns richtig verstehen: Die Information war der Zettel auf dem Wagen. Sonst nichts.

Die Suche nach den Ursachen löste das Problem

Es war für jeden nur ein Handgriff, nur eine kleine Korrektur. Viele Menschen, viele Angestellte des Krankenhauses, Ärzte, Ärztinnen, Pfleger, Schwestern, Helfer hatten den Zettel gelesen. Ein Zettel, der zu nichts aufforderte. Der eigentlich kein Handeln verlangte. Es stand nur darauf, wann gekocht wurde und wie lange das Essen warm ist, nämlich 45 Minuten. Nichts Besonderes also. Und doch war das Problem gelöst.

Die Ursachenforschung war gleichzeitig die Problembehebung. Eine kleine Lösung für ein großes komplexes Problem. Ein Zettel, keine Software.

Und die Klink hatte 300 000 Euro gespart.

Der Mensch hatte die Technik überholt. Statt das Problem technisch und damit immer auch aufwendig zu lösen, hatten wir es sozusagen menschlich gelöst.

Wir hatten die Komplexität mit einer einfachen Lösung gemeistert. Das ist systemische Beratung. Das ist die Kunst der kleinen Lösung. Gerade wenn die Probleme groß und komplex sind.

Der Mensch, das habe ich in den vergangenen Jahren oft genug erlebt, ist nicht selten das fehlende Teil im Puzzle. Es gibt die Fälle, da behindert der Mensch durch menschliches Verhalten eine Lösung, und es gibt die Fälle, da löst sich der Knoten durch die Einbindung des Menschen. Aber man darf ihn nie aus dem Blick verlieren.

Trotzdem trauen wir dem Menschen immer weniger. Wir trauen ihm nicht über den Weg. Wenn er nicht eingebunden ist in eine IT-Infrastruktur, erscheint uns der Mensch unberechenbar, schräg, kaum zu navigieren. Obwohl gerade der Mensch sehr oft mit viel Ideenreichtum und einer ihm eigenen Vielfalt das Problem angeht, wie im gezeigten Fall. Der Mensch trägt oft die Lösung in sich – und wir lassen sie nicht heraus.

Wir sind oft dem technischen Lösungsansatz verfallen. Warum eigentlich? Ich als Ingenieur weiß das von mir selbst: Wir wollen Technik, weil es einfach unglaublich reizvoll ist, eine neue Technik zu entwerfen und zu bauen.

Den Menschen etwas zutrauen

Erliegen wir diesem Reiz, lassen wir uns von nichts und niemandem aufhalten. Tatsächlich aber steht sie uns nicht selten im Weg, unsere Technikverliebtheit. Auf der einen Seite ist die deutsche Ingenieurskunst unser ganzer Stolz. Das ist das, was die Welt von uns kennt, von uns will. Das sind unsere Exportschlager. Damit haben wir nicht zuletzt auch unseren Wohlstand begründet. Die Kehrseite ist die fast schon ungezügelte Liebe zur Technik. Kopflos, im wahrsten Sinne blind vor Liebe stürzen wir uns in Aufgaben und trauen der Technik in dieser Hochphase der Liebe alles zu – vor allem nur Gutes. Wir überhöhen die Technik wie ein frisch verliebter Teenager seinen Schwarm. Wir haben Schmetterlinge im Bauch, wenn von ferne eine technische Lösung winkt – und verlieren dabei den Blick auf den Menschen. Auf den Menschen, der diese Technik nutzen soll. Und das sage ich als Ingenieur.

»Mit der Technik bin ich ein Problem los«

Die IT oder neue Technik werden oft als Lösungsansatz gehandelt, damit man »das Problem« ein für alle Mal los ist. Dahinter steckt aber nicht nur Technikverliebtheit. Dahinter steckt der Glaube, dass eine Organisation wie eine Maschine funktioniert und wenn die »Zahnräder« nur alle gut ineinandergreifen und aufeinander abgestimmt sind, dann läuft auch alles. Vor allem hat man sich dann der Verantwortung entledigt. Die Führungskraft denkt: »Mit der Technik bin ich ein Problem los.« Der Mitarbeiter denkt: »Schon wieder Technik, aber gut, dann läuft es.« Viele sind dankbar für die technische Lösung. Oft ist die technische Lösung, die neue Software, aber sehr teuer. Und bei der Installation der Software sagt der IT-Manager, dass die auftretenden Probleme »in der nächsten Version behoben werden«. Und bei der nächsten Version sagt er es wieder. Und der Mitarbeiter, dem halbjährlich mitgeteilt wird, dass bei der nächsten Software »alle Fehler behoben« werden, nimmt die Technik auch nicht mehr ernst.

Meine Erfahrung ist, dass es oft einen besseren Weg gibt. Indem man durch kleine organisatorische Eingriffe den beteiligten Menschen mehr Bewusstsein über das Problem verschafft. Und wenn sie das dann nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern sogar bereit sind, selbsttätig und spontan Handlungen auszuprobieren, dann kann eine Problemlösung überraschend einfach sein. Und wesentlich preiswerter.

Lassen wir uns nicht immer blenden von der Technik. Das gilt im Übrigen nicht nur für ein verhältnismäßig kleines Problem wie die Essensversorgung in einer Universitätsklinik. Auch ein Großprojekt wie Stuttgart 21 ist ein Beispiel für Technikverliebtheit. Auch da hat die Planer und Verantwortlichen ganz stark die Liebe getrieben. »Ein unterirdischer Bahnhof!« »Unterirdisch!« »Das ist überirdisch.« »Eine Magistrale von Paris nach Budapest!« »Magistrale!« Aber die Beteiligten haben die Komplexität und Dynamik unterschätzt. Und dass es nicht nur um den Bahnhof geht, sondern um Haltungen und Empfindungen von Bürgern. Um Zeitströmungen. Um politische Stimmungen. Die Frage, ob die Menschen in der Region diesen Weg mitgehen und den Bahnhof und die damit verbundenen Umwälzungen in der Stadt mittragen, blieb auf der Strecke. So etwas bekommt man aber auch mit einer noch so gut organisierten Planung nicht heraus.

Und plötzlich waren die Betroffenen enttäuscht von den Menschen: »Die Bürger hätten sich ja früher melden können.« Tendenziell sogar ein bisschen beleidigt: »Die begreifen gar nicht, was für ein Gewinn das für die Stadt wird.«

Menschen einbinden und zu Mitgestaltern des Prozesses machen

Das ist es, was ich meine. Es reicht nicht, über die betroffenen Menschen zu sprechen. Die betroffenen Menschen müssen zu Mitgestaltern des Prozesses gemacht werden. Von Anfang an. Wenn Stadt, Land und Bahn es verstanden hätten, die Menschen in Stuttgart frühzeitiger und viel umfassender jenseits aller Planfeststellungsverfahren einzubeziehen und Fragen zu stellen, die alle betreffen, Fragen wie: »Wie überlebt die Region?« – »Wie wichtig ist der Verkehr für das Überleben der Region?«, dann wären die Stuttgarter vermutlich nicht so vehement auf die Barrikaden gegangen. Man hatte sich gegen die Intelligenz des Menschen entschieden und für die Überlegenheit der Technik. Und das geht selten gut.

Und wieder sind wir im siebten Himmel

Es ist ein Widerstreit, den ich seit Jahren erlebe. Oder besser: ein Widerstreit, an dem ich mich seit Jahren abarbeite. Ich bin ein technisch orientierter Mensch. Aber wenn man sich einen Weg durch komplexe Systeme bahnen will und das Problem systemisch betrachtet, ist auffällig, wie wenig der Mensch als denkendes und handelndes Wesen einbezogen ist. Und wie blind wir oft der Technik folgen.

Auch bei der beschlossenen Energiewende in Deutschland macht uns die Technikverliebtheit einen Strich durch die Rechnung. Wir waren im siebten Himmel, träumten davon, wie der Wind über fantastische Offshore-Windparks in der Nordsee die Energie liefert, die dann quer durch Deutschland transportiert wird, um in Bayern und Baden-Württemberg genutzt zu werden. Bei allem Respekt vor der nachvollziehbaren Entscheidung, langfristig auf erneuerbare Energiequellen zu setzen, so waren wir doch wieder viel zu emotional. Die Technik, unsere geliebte Technik wird es wieder richten.

Jetzt sind wir in der Phase der Ernüchterung nach dem ersten Liebesrausch.

Der Mensch, also der Bundesbürger, hat ein großes Problem damit, dass die Stromtrassen quer durch das Land, im schlimmsten Fall sogar direkt durch seinen Garten führen. Da ist von Liebe keine Spur.

Keine Frage: Die Liebe ist ein wunderbares Gefühl. Aber Technikverliebtheit kann nur am Anfang stehen. Der Blick für das Ganze führt zu einer »reifen« Liebe: zu den Menschen, zu den Organisationen und zur Technik. Damit das ganze System in seiner ganzen Komplexität und Dynamik nicht ins Wanken gerät. Und der erste Schritt ist immer, das »Problemsystem« zu beobachten. Schon allein die Beobachtung eines Systems verändert sein Verhalten.

Mit einer kleinen Störung beginnt die Diagnose

Das ist Regel Nummer eins: Schauen Sie genau hin! Dann finden Sie die Lösung. Die gute Lösung. Die kleine Lösung. In dem erzählten Beispiel war es ja nicht unsere Absicht, durch die Zettel »Das Essen ist 45 Minuten warm« schon die Lösung zu finden. Es war eher unsere Annäherung an das Problem. Allerdings wollten wir damit nicht nur »messen«. Unsere Absicht war es auch, das System ein wenig zu »stören«. Eine kleine Störung eines eingefahrenen Ablaufs schafft das Fundament für eine gute Diagnose des Systems.

Schon allein die Beobachtung eines Systems verändert sein Verhalten.

Und wir vertrauten darauf, Anregungen von den beteiligten Menschen zu erhalten, wie das Problem gelöst werden könnte. Ich halte nichts davon, eine Lösung überzustülpen, also top-down zu erklären, wie es zu laufen hat. Damit entgehen einem nicht nur die wertvollsten Ideen, es funktioniert schlichtweg nicht. Jedes Problem hat seine eigene Komplexität. Um die zu durchschauen, brauchen Sie den Hinweis der mit dem Problem vertrauten beziehungsweise der unter dem Problem leidenden Mitarbeiter. Und dann empfehle ich, zu stören, ein »bisschen im Weg zu stehen«. Unsere »Störgröße« – also der Zettel – initiierte ja nichts weniger als einen Lern- und Innovationsprozess.

Untersuche und beobachte komplexe Systeme stets so, dass die beteiligten Akteure durch die Beobachtung von selbst – eigenwillig und eigenständig – eine Lösung in die Wege leiten können.

Das sollten Sie tun, bevor Sie das teure IT-System einführen. Oder andersherum: Wenn Sie erst das IT-System einführen, dann wird es in der Regel danach noch teurer, weil das IT-System bei einem lebenden System nie ausreichend oder vollständig »verstehen« kann, wie das System wirklich funktioniert.

Die Kunst der kleinen Lösung

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