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Оглавление2.DIE RICHTIGE MUTTER
Wie die Suche nach einem Ersatzteil zeigt, worauf es ankommt: auf Logistik, auf Details – und auf einen klaren Blick im Chaos
Wenn es etwas gibt in meinem Leben, was mir in vielerlei Hinsicht den Weg bereitet hat, ist das sicher auch die Erfahrung beim Militär. Einerseits hatten wir damals alle die Erfahrung der Trümmer in den Knochen, kaum ein junger Mensch meiner Generation, der als Kind oder als Kleinkind nicht Gewalt und existenzielle Ängste der Eltern erlebt hat. Kaum einer, der nicht wusste, was es heißt, in zerstörten Gegenden aufzuwachsen. Und kaum einer, der nicht wusste, was deutsche Soldaten angerichtet hatten. Trotzdem war es sinnvoll und wichtig in der jungen Bundesrepublik, eine Armee aufzubauen, die Bundeswehr. Für mich stand außer Frage, Teil der Bundeswehr zu werden.
Natürlich wollte ich dabei sein. Wir waren vom Ostblock bedroht. Der Kalte Krieg trat in eine immer wieder beängstigende Phase. Und für mich wie für einen Teil meiner Generation war die Bundeswehr eine Aufgabe zur Stärkung der Demokratie. Vielleicht wollten wir diesem Land auch etwas wie Würde zurückgeben. Anders als viele meiner Altersgenossen sah ich im Militär nichts Verwerfliches. Einem antimilitaristischen Kurs konnte ich mich nicht anschließen, auch wenn ich das Spannungsfeld Mensch und Technik, gerade im militärischen Bereich sehr sensibel betrachtete.
Aber: Einfach nur Dagegensein, das schien mir zu wenig. Auf der anderen Seite sah ich in der Technikverliebtheit des Militärs durchaus eine Gefahr. Gern und selbstverständlich setzte ich mich schon damals zwischen die Stühle – ohne mich dabei wirklich unwohl zu fühlen.
Mit der Bundeswehrzeit verbinde ich aber vor allem die frühe Erfahrung, das zu erkennen, worauf es ankommt: auf die kleine Lösung. Und sei es im Zusammenhang mit einem noch so gewaltigen Flugzeug, wie zum Beispiel dem Starfighter.
»Der Starfighter war der spektakulärste Kampfjet der Sechziger: Kein anderes Flugzeug war so schnell und stieg so hoch wie die F-104«, schrieb der Spiegel im Jahr 2009 zum 50. Jubiläum des Starfighters. Es gibt Zahlen, die sind recht imponierend: Er flog damals jedem anderen Kampfflugzeug davon, und zwar mit 2,2-facher Schallgeschwindigkeit.
Es gibt aber auch andere Zahlen. Denn der Starfighter war nicht nur eine Erfolgsgeschichte. Ganz und gar nicht. Die Starfighter-Story war sogar eine jener betrüblichen Episoden der Bundesrepublik.
Als die neu gegründete Bundeswehr in den späten 1950er Jahren auf der Suche nach einem Abfangjäger und Allwetter-Jagdbomber war, entschied man sich für die amerikanische Lockheed F-104, den sogenannten »Starfighter«. Warum man ihn wählte, warum nicht ein anderes Flugzeug, das sollen die Geschichtsbücher klären. Ich will gar nicht in die Diskussion einsteigen. Es gab Probleme, man bekam sie nie richtig in den Griff.
Die Probleme mit dem Starfighter bekam man nie richtig in den Griff.
Schlagen Sie ein Geschichtsbuch auf, lesen Sie im Internet, googeln Sie »Starfighter«, Sie finden wirklich erschreckende Zahlen: 292 Maschinen stürzten ab, 116 Piloten verloren ihr Leben. Über diesen Abfangjäger, den die Bundeswehr ab Ende der 1950er einsetzte, lesen Sie in der Tat nicht nur Gutes. Vor allem aber war die Debatte um den Starfighter eine der großen Krisen der jungen Republik. Bis 2004 war er in der NATO im Einsatz.
Auch wenn es nur eine Mutter ist
Für mich persönlich hat das Kampfflugzeug trotz allem eine wichtige Bedeutung. Oder besser gesagt: Mich hat die Arbeit innerhalb der Bundeswehr für den Starfighter einen wichtigen Punkt gelehrt: Es kommt auf die Logistik an – und zwar immer.
Das war eine – wenn nicht die prägende – Erkenntnis, als ich in einem Jagdbombergeschwader stationiert war und mich als angehender Offizier um den Nachschub bei den Kampfflugzeugen kümmern musste beziehungsweise um die Flugzeuge, die wegen fehlender Ersatzteile nicht starten konnten. Das Detail muss stimmen, wenn es für das Ganze wichtig ist.
Und das stimmt nur, wenn auch die Logistik stimmt. Und wenn es dabei nur um eine Mutter geht, die zum Beispiel 3000 Grad aushalten muss. Denn wenn die fehlt, steht ein kompletter Starfighter im Wert von zwölf Millionen Euro nach heutiger Kaufkraft am Boden, kann nicht abheben – bloß weil ein winziges Detail fehlt.
Das relevante Detail findet man oft in der Logistik.
Wie gesagt: Viel beim Militär hat mit Logistik zu tun. Das zieht sich durch die gesamte Militärhistorie. Wenn es nicht mehr gelingt, den Nachschub zu organisieren, Material, Werkzeuge, Treibstoff, sieht es schlecht für die Truppe aus. Wenn Nachschub nicht garantiert ist, dann sind die Schlachten verloren. Meist sind es gar nicht die militärstrategischen Entscheidungen, die über Sieg oder Niederlage entscheiden, oft sind logistische Überlegungen entscheidend.
Das ist etwas, was mich schon immer fasziniert hat und was mich von da an immer faszinieren sollte. Ich war hochinteressiert, als ich lernte, welche logistischen Pläne es für den Fall eines (atomaren) Angriffs auf die Bundesrepublik gab. Dass man Brücken sprengen würde und welche und dass es im ganzen Land verteilt geheime Nachschublager gab. Außerdem gab es konkrete Pläne, wie man die deutschen Autobahnen nutzen wollte, wie man zivile Lkw und Supermärkte im Kriegsfall einsetzt und so weiter. Alles war nur eine Frage des Nachschubs.
Zwölf verschiedene Muttern von zwölf Zulieferern
Ich war also angehender Offizier bei den Starfightern und für kritische Fälle des Nachschubs verantwortlich. Und da hatten wir ein Problem: Es gab Muttern im Nachbrenner der Turbinen, die einer Betriebstemperatur von 3000 Grad nicht standhielten und mit dem Gewinde verschmolzen. Natürlich Zollgewinde und nicht metrisches Gewinde. Ein Problem, das nicht unbedingt zu Abstürzen geführt hatte. Aber wenn man beim Check vor dem Abflug verschmolzenes Material findet, kann die Maschine nicht starten, gibt es keine Startfreigabe. Ohne eine Mutter, die 3000 Grad aushält, kein Start.
Die Mutter musste 3000 Grad aushalten und ein Zollgewinde haben.
Die Herausforderung lag in folgender Tatsache: Es gab zwölf verschiedene Muttern von zwölf verschiedenen Zulieferern, darunter auch vier amerikanische. Und keiner wusste, welches die anfälligen Muttern sind, welche Muttern die Hitze aushalten und welche nicht. Es ging nur um eine kleine Mutter, ein kleines Detail. Daraus ergab sich ein großes Problem für den Flieger.
Als Verantwortlicher für Logistik machte ich mich also auf die Suche nach den richtigen Muttern. Rund 10 000 Ersatzteile waren für den Starfighter gelistet, allerdings nicht im Computer, so etwas wie ein IT-System gab es nicht.
Damals in den frühen 1960er Jahren waren alle Daten auf Karteikarten geschrieben. Jedes einzelne Ersatzteil hatte eine Karte. Ich sehe den Raum noch vor mir, ein großer Raum, etwa 300 Quadratmeter groß, vollgestellt mit Kisten und Karteikarten, auf denen sämtliche uns verfügbaren Ersatzteile des Starfighters abgeheftet waren. Heute würde dafür vermutlich ein USB-Stick reichen. Und dann habe ich gesucht. Unter Druck. Nach einer einzigen Mutter.
Sie musste nur die Temperatur aushalten
Ich besuchte geheime Nachschublager, verglich aus den Schadensberichten, welche Mutter bei welchem Einsatz verschmolz und welche nicht. Ich prüfte, wo und warum welche Mutter verschraubt war. Ich meldete mich bei den Herstellern, fragte nach Eigenschaften und Herstellungsverfahren. So unbedeutend das Ding an sich war, nach dem ich suchte, so fasziniert war ich von dem Gedanken, eine Lösung für das »Mutter-Problem« zu finden. Nach einigen Tagen war ich so weit: Vier Muttern hielten der Temperatur stand, acht Muttern nicht. Also wurde gesucht, wo die acht Mutter-Typen eingesetzt wurden – und man tauschte sie aus.
Es ging nicht darum, aus welchem Material die Muttern beschaffen sind, auch nicht um deren Form, auch nicht um das Herkunftsland. Der Preis spielte auch keine Rolle. Nein, die Muttern mussten einzig und allein die Schrauben fest- und die Temperatur von 3000 Grad aushalten. Das war ihr Zweck. Es ist zweitrangig, wie sie gestaltet sind, welches Material für sie verwendet wird. Es ist wichtig, dass sie das Ganze möglich machen.
Die Wirkung des Details auf das Gesamtsystem – darauf kommt es an.
Damals begann ich ein Gespür für das Detail zu entwickeln. Und für den Zusammenhang zwischen einem relevanten Detail und dem Ganzen. Ich weiß, es ist verführerisch, das Detail optimieren zu wollen. Das habe ich auch später oft genug erlebt. Techniker können da eine ganz besondere Leidenschaft entwickeln. Was ich aber meine, ist das Gespür für das Detail im Zusammenspiel mit dem Ganzen. Bei der Suche nach der richtigen Mutter habe ich genau das verstanden.
Doch nicht nur auf der sachlichen Ebene hat mich die Zeit bei der Bundeswehr geprägt – sondern auch auf der emotionalen. Denn auch im Umgang mit Menschen darf man das Detail nicht aus den Augen verlieren. Auch da kommt es auf die Wirkung des Details auf den Gesamtzusammenhang an. Man läuft schnell Gefahr, das Ganze aufs Spiel zu setzen.
Ist schimmeliges Brot ein Problem?
Als angehender Offizier unterstanden mir Gefreite. Ich achtete auf Sauberkeit. Regelmäßig inspizierte ich ihre Stuben und die Spinde. Ja, ich war da sehr ungemütlich. Ich war noch jung, mir fehlte es an Reife, angemessen mit Fehlverhalten von Menschen umzugehen. Im Spind eines Soldaten machte ich eine wenig angenehme Entdeckung: Er hatte völlig verschimmeltes Brot in seinem Spind. Es lag dort und schimmelte vor sich hin im Kreise anderer Essensreste. Dem Soldaten war es offenbar nicht aufgefallen, es hatte ihn wohl nicht weiter gekümmert, obwohl am Freitag genug Zeit fürs Stubenputzen eingeplant war. Es gab aber einen, den das sehr kümmerte: mich.
Bei der Zimmerkontrolle. Ich sah den Schimmel sofort.
Ich tobte, machte den Soldaten zur Schnecke. Was er sich erlaube, was das mit Sauberkeit zu tun habe – und strich ihm die Heimfahrt am Wochenende. Statt in seine Heimatstadt zu fahren, seine Frau und Kinder zu sehen, sollte er die Stube noch mal reinigen und vor allem seinen Spind. Er war deutlich älter als ich, und ich hielt mein Verhalten für eine Demonstration der Stärke in meiner Stellung als angehender Offizier. Vielleicht fühlte ich mich tatsächlich stark. In Wahrheit gefährdete ich unseren Auftrag.
Heute weiß ich, dass ich alles falsch gemacht habe, was man nur falsch machen kann. Ich habe das Ganze gefährdet. Ich habe mich hinreißen lassen. Gott sei Dank hatte ich einen guten Chef, der mich am darauffolgenden Montag früh zu sich bestellte und mit der Frage konfrontierte: »Sind Sie sicher, dass Ihre disziplinarische Maßnahme vom Freitag unserem Auftrag dient?« Ich stutzte. Was für eine Frage? Und dann kam ich ins Nachdenken.
Die Aufgabe war nicht, die sauberste Kaserne zu haben.
Die Aufgabe unserer Einheit war es, dafür zu sorgen, dass die Kampfflugzeuge im Ernstfall einsatzbereit sind. Unsere Aufgabe war nicht, die saubersten Spinde der Kaserne zu haben. Das ist zwar schön, wenn alles sauber ist und nirgends Lebensmittel vergammeln. Für die nationale Sicherheit hatte es hingegen weniger Bedeutung. Zudem habe ich durch meine Strafe das Vertrauen des Mannes missbraucht, habe seine Motivation ordentlich gedämpft – und habe Zorn gesät. Und wozu?
Ich begann zu verstehen: Die Kernaufgabe und damit der Kernprozess, anders ausgedrückt: der Aufgabenkernprozess bestand darin, dass Kampfflugzeuge einsatzbereit waren. Alles andere waren Nebenprozesse, und die hatten Priorität zwei.
Kleinkriege als Machtdemonstrationen
Das sind Situationen, bei denen ich mich heute frage: War das notwendig? War das nicht gefährlich? Sind es nicht genau diese vermeintlichen Kleinigkeiten, die eine verheerende Wirkung entfalten können?
Es ist nicht wichtig, ob das Brot schimmelt, es ist wichtig, dass die Flugzeuge startklar sind. Dazu muss ich meine Truppe auf meiner Seite haben. Mit diesen Kleinkriegen, die doch nichts anderes sind als Machtdemonstrationen, gefährde auch ich als Vorgesetzter das Ganze. Dieses Verhalten finden Sie häufig, auch in Unternehmen und Verbänden ist mir das begegnet, wenn Vorstände oder Geschäftsführer an einer Kleinigkeit ein »Exempel statuieren«, noch dazu an einer ungeeigneten Kleinigkeit. Empfehlenswert ist das nicht.
Der Pilot hatte das Bewusstsein verloren
Das Militär war, wie gesagt, eine in vielerlei Hinsicht prägende Erfahrung. Wir waren die Verteidigungsarmee mitten im Kalten Krieg, der jederzeit eskalieren konnte. Im Grunde war es immer ein Ritt auf der Rasierklinge. Deshalb war die Lage auch häufig angespannt. Die Nervosität war auf allen Seiten spürbar.
Ich selbst war mit einer Gruppe von Tankwagenfahrern für die Betankung der Flugzeuge verantwortlich, wenn alle Flugzeuge in der Luft waren. Man holte die Maschinen einzeln wie bei einem »Boxenstopp« herunter und betankte sie. Dann starteten sie wieder. Und die Tankwagen holten das Kerosin aus den unterirdischen Lagern in der Nähe unseres Standorts.
Mir fällt da ein Beispiel ein, das ich bis zum heutigen Tag nicht vergessen kann: Ich komme zum Frühstück ins Offizierskasino. Irgendetwas war an diesem Tag anders, die Stimmung schien gedrückt. Ich fragte meinen Nachbarn: »Was ist los?« Er sagte: »Gestern früh ist ein Jagdflugzeug mit einem Ölleck am Fußboden entdeckt worden. Es war beim Alarm mit Massenstart vorgestern dabei und gehörte zu der Gruppe von Fliegern mit Atomsprengköpfen, Angriffsziel XY, Sie wissen schon: immer vier Maschinen gleichzeitig von unserem Standort, in der Summe mit achtfachem Overkill.«
»Und, wo ist das Problem?«, fragte ich. »Das Problem ist, dass die Maschine gestern untersucht wurde und es sich herausgestellt hat, dass sie völlig verzogen ist und nicht mehr eingesetzt werden kann. Es ist ein Wunder, dass Major Meier, der die Maschine geflogen hat, sie noch auf den Boden bekommen hat. Komisch ist nur, dass er nichts gemeldet hat. Heute wird geklärt, warum …«
Als ich einige Tage später dem Vorgang noch einmal nachging, stellte sich heraus: Jener Major Meier hatte die Maschine bei einem Abwärtsmanöver so sehr beschleunigt, dass er dabei offensichtlich das Bewusstsein verloren hatte. Das ging aus dem Flugdatenschreiber ziemlich eindeutig hervor. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte er die Maschine aufgefangen und sicher zu Boden gebracht. Er hatte aber keine Erinnerung mehr daran, dass er zwischendurch einige Sekunden »weg« gewesen war.
Mich beschäftigte dieser Vorgang tagelang. »Was wäre passiert, wenn?« Ich überlegte: Wie können wir weltpolitisch und militärisch verantworten, dass mehr als einmal im Monat Alarm ausgelöst wird und rund 20 Flugzeuge in die Luft müssen, weil die Gegenseite einen Angriff gegen den Westen »übt« und dann kurz vor der Grenze abdreht?
Drei Minuten würden nach Grenzübertritt bleiben, um die eindringenden Flugzeuge zu zerstören, oder die Flugzeuge würden ihre tödlichen Ziele in der Bundesrepublik erreichen. Wahrscheinlich hatten wir als westliche Seite das auch »geübt« – ich weiß es bis heute nicht.
Das Schicksal der Welt am seidenen Faden
Aber eines wurde mir klar. Unsere Welt hing damals am seidenen Faden einer militärischen nuklearen Katastrophe, die uns jeden Tag erreichen konnte. Sie hätte vor allem auch durch Missverständnisse versehentlich ausgelöst werden können. Durch Kleinigkeiten. Durch ein winziges Detail. Oder durch Zufall. Oder durch Schicksal. Machte das alles Sinn? Ich kam zu dem Ergebnis: Nein.
Wenn es uns nicht gelingt, die Geschwindigkeit und Komplexität der militärischen Angriffe und Verteidigungsprozesse global zu reduzieren, ist das Risiko eines versehentlichen atomaren Weltkrieges unverantwortbar.
So kann es nicht weitergehen!
Damals wusste ich noch nichts von Dynaxity, der Kombination aus Komplexität und Dynamik, und wusste auch nicht, dass es eine besonders schwierige Aufgabe ist, Systeme aus dem chaotischen Zustand in einen »nur« turbulenten Zustand zurückzubringen. Ich wusste auch noch nicht, ob und wie man das hinbekommt. Ich wusste nur: So kann es nicht weitergehen. Ein Grundstein meines Lebensweges war gelegt.