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Zwei Nationen und ein überraschender Krieg

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»Kaum waren wir vom Tische aufgestanden, als ein neues Telegramm meldete: Nach Verzicht des Prinzen machte Benedetti weitere Forderungen und wurde abgewiesen. Kriegerische Ereignisse bevorstehend. […] In Stolp wird die Mobilmachungsordre heute Nacht noch erwartet. Wir saßen bis 1 Uhr zusammen, ganz starr vor Schrecken, Wut und Erstaunen.«

Tagebuch der Baronin Hildegard von Spitzemberg vom 14. Juli 187065

Frankreichs martialische Rhetorik und seine Kriegserklärung vom 19. Juli 1870 überraschten die Menschen überall in den deutschen Staaten. Für viele war es wie ein Schlag aus heiterem Himmel, nachdem der Streit um die spanische Thronkandidatur doch bereits durch Prinz Leopolds Verzicht glücklich beigelegt schien. Von Bismarcks abenteuerlichen Winkelzügen ahnten die wenigsten etwas, aber dass er seine Hand im Spiel hatte, stand für die meisten Politiker fest.66 Als die ersten Nachrichten von den offenen französischen Kriegsvorbereitungen über den Rhein gelangten, machte sich vielerorts Entrüstung und Zorn über den alten Feind aus der Zeit der Revolutionskriege breit. Der Nachbar jenseits des Rheins galt in Deutschland seit den Tagen des Dreißigjährigen Krieges als Europas notorischer Störenfried und Unruheherd.67 Nicht nur in Preußen solidarisierte man sich spontan mit dem preußischen Monarchen, an dessen aufrichtigem Friedenswillen auch außerhalb Preußens kaum jemand zweifelte. Während Wilhelms Rückfahrt von Bad Ems nach Berlin kam es an allen Bahnhöfen selbst in Städten wie Kassel und Göttingen, die erst vier Jahre zuvor und keineswegs freiwillig preußisch geworden waren, zu anhaltenden Jubelszenen. Auf dem Potsdamer Bahnhof erwarteten schließlich Tausende von Berlinern, so Theodor Fontane in seiner Geschichte des Krieges von 1870/71, den in seine Hauptstadt heimkehrenden König. Unter dem nicht enden wollenden Hurra einer rasch wachsenden Menschenmenge war vereinzelt auch schon ein zorniges »Nieder mit Frankreich« zu hören.68 Ob die Berliner allerdings, wie es in Paris am selben Tag vor der Botschaft Preußens geschah, auf die Grundstücksmauer kletterten, um ihrerseits franzosenfeindliche Parolen der hiesigen Gesandtschaft zu Gehör zu bringen, ist nicht überliefert.69

Fontane war allerdings nicht Augenzeuge der Berliner Ereignisse. Der spätere Chronist des alten Preußens war erst wenige Tage zuvor aus der Hauptstadt in die Sommerfrische nach Warnemünde aufgebrochen. Zuvor hatte er den zweiten Band seiner Geschichte des Krieges von 1866 endlich beenden können. Fontanes ältester Sohn Georg besuchte damals als Offizieranwärter die Kriegsschule in Hannover und musste jetzt mit seinen Kameraden binnen zweier Tage das Fähnrichsexamen ablegen. Schon am 27. Juli rollte sein Regiment in Richtung Rhein. Man werde den »Pflaumenscheißern« schon zeigen, was eine Harke ist, schrieb er übermütig an seinen Vater, der sich selbst in dem beschaulichen Ostseebad vor dem Lärm der Hauptstadt nicht mehr sicher fühlen konnte.70

Dem ersten patriotischen Überschwang folgte rasch eine gewisse Ernüchterung. Die schon am nächsten Tag in Berlin und in ganz Preußen herausgehenden Einberufungen bedeuteten für viele Reservisten und Angehörige der Landwehr die Trennung von ihren Familien und das abrupte Ende ihres bürgerlichen Daseins. Vielen wurde plötzlich bewusst, dass sich mit Ergebenheitsadressen an den König allein kein Krieg gewinnen ließ. Es würden wohl schmerzliche Opfer erbracht werden müssen. Als »fest, energisch und einig« schilderte dann auch der liberale Historiker Johann Gustav Droysen dem Heidelberger Kollegen Heinrich Treitschke die Stimmung am 16. Juli in der preußischen Hauptstadt.71 In ähnlichem Tenor beschrieb der britische Militärattaché, Oberst Charles Walker, die an der Spree vorherrschende Gefühlslage. Auch in anderen Städten der Monarchie war die Stimmung ambivalent. Als in Köln anlässlich eines Militärkonzerts der von Bismarck gekürzte Text der Emser Depesche öffentlich verlesen wurde, herrschte zunächst betroffene Stille. Erst das »Hoch« des Kapellmeisters auf den König überwand unter den anwesenden Bürgern den Schock und die Menge stimmte nun befreit in die Nationalhymne ein.72 Bei der Ankunft König Wilhelms auf dem Kölner Bahnhof am 31. Juli 1870 auf der Fahrt an die Front wollte nach einem Bericht der konservativen Kreuzzeitung das Singen der »Wacht am Rhein« um den ganzen Dom auch nach einer Dreiviertelstunde nicht enden.73

In London wiederum hatte der »Deutsche Turnverein« bereits am 16. Juli eine »enthusiastische Kundgebung« veranstaltet und an Bismarck telegrafiert, dass seine Mitglieder bereit seien, »die Ehre Deutschlands wie ein Mann mit Aufwendung aller Kräfte und Mittel wahren zu helfen.«74 Dies schienen keine leeren Worte zu sein.

Als sich am nächsten Tag der Korrespondent der Daily Mail und ehemalige Kavallerieoffizier Archibald Forbes beim Londoner Konsulat des Norddeutschen Bundes um ein Visum bemühte, wunderte er sich über die lange Reihe von Deutschstämmigen, die sich in ihrer alten Heimat freiwillig zum Kriegsdienst melden wollten. Unter den jungen Männern herrschte eine ausgelassene Stimmung. Wie Forbes herausfand, hatten sich etliche von ihnen bereits respektable berufliche Positionen im Inselkönigreich erworben. Kein Wehrgesetz zwang sie nach Preußen zurück, aber das alte »Vaterland«, so der britische Zeitungsmann, ging ihnen über alles. Auf der anschließenden nächtlichen Überfahrt nach Ostende traf Forbes noch mehr Deutsche, darunter sogar zwei junge Männer aus New York, die unbedingt am Krieg gegen Frankreich teilnehmen wollten und gegenüber dem Briten erklärten, dass ihnen noch viel mehr Gleichgesinnte aus der neuen Welt folgen würden.75 Als Bismarcks Pressemann Moritz Busch Anfang August 1870 mit der Bahn von Berlin ins große Hauptquartier nach Homburg reiste, begleitete ihn der Londoner Bankier Adolph Deichmann. Der nach Großbritannien emigrierte Geschäftsmann und Spross einer reichen Kölner Familie wollte von Kriegsminister Albrecht von Roon persönlich die Erlaubnis erbitten, sich als Freiwilliger einem der preußischen Kavallerieregimenter anschließen zu dürfen. Die benötigten Pferde hatte er bereits dabei.76 Mit seinem Unterfangen sollte er freilich kein Glück haben. Der nüchterne Roon lehnte seine Dienste ab. Kriegsfreiwillige ohne militärische Ausbildung empfand man in der Armee eher als Belastung und witterte zudem eine Bedrohung des wohlgeordneten militärischen Gefüges durch die Außenseiter.

Nicht nur die Öffentlichkeit in den preußischen Städten schien darin einig, dass König Wilhelm in unakzeptabler Weise von den Franzosen beleidigt worden sei und dass sich Napoleon leichtfertig, ja sogar frivol verhalten habe. Aus der alten Welfenhauptstadt Hannover schrieb am 7. August der Frauenarzt und Sozialist Louis Kugelmann an Karl Marx nach London: Er wüsste niemanden, außer der bornierten Welfenpartei, der nicht Bonaparte den Untergang wünschte.77 Doch selbst der Vorstand des Hannoverischen Wahlvereins, das Sprachrohr der welfischen Bewegung, sah im Vorgehen Frankreichs eine gegen ganz Deutschland gerichtete Aggression und forderte am 29. Juli in einem Rundschreiben von seinen Mitgliedern, vorläufig alle Aktivitäten einzustellen, die den Interessen des Vaterlandes zuwiderliefen.78 Auch wer wie etwa die Redakteure der Frankfurter Zeitung Bismarcks Politik von jeher mit Skepsis begleitet hatte und peinlich bemüht gewesen war, jede antifranzösische Agitation zu vermeiden, zeigte sich jetzt entschlossen, für die Sache der Freiheit und des Deutschtums jedes Opfer zu bringen.79 Auch die Sozialisten stellten ihre Vorbehalte gegen den preußischen Obrigkeitsstaat zunächst zurück. Ein Braunschweiger Arbeiterkomitee verurteilte am 16. Juli grundsätzlich den Krieg, und besonders den dynastischen Krieg, erklärte aber, dass Napoleon und die Majorität der sogenannten Vertreter des französischen Volkes »frivole Friedensbrecher und Ruhestörer Europas« seien. Ihnen entgegenzutreten, ist die »erste Pflicht«.80 Mit gleicher Haltung bezeichneten Augsburger Arbeiter nur zwei Tage später den französischen Kaiser, an die Umstände seiner Machtergreifung erinnernd, als den »Dezembermann« und den »Mörder aller Volksfreiheiten«, dem nun unbedingt Einhalt geboten werden müsse.81

Auf der Gegenseite glaubte die Pariser Arbeiterschaft laut Auskunft eines von der Polizei eingeschleusten Informanten, dass der kommende Krieg zwar ein Unglück sei, aber Preußen mit seiner Anmaßung Frankreichs Ehre beschmutzt habe. Man äußerte vielfach auch die Zuversicht, dass es wieder zu Kriegsdemonstrationen wie schon 1859 kommen werde.82 Tatsächlich versammelten sich auf den Pariser Straßen und Plätzen seit dem 14. Juli über mehrere Tage hinweg Tausende von Menschen, um stundenlang patriotische oder gar chauvinistische Parolen zu skandieren. Sie übertönten mühelos die wenigen Kundgebungen gegen den Krieg, die radikale Republikaner oder die äußerste Linke veranstalteten.83 Der lautstarken Kraftmeierei der Hauptstädter folgten jedoch kaum Taten. Die Zahl der jungen Pariser, die sich freiwillig zum Militärdienst meldeten, war eher dürftig. Statt der von Kriegsminister Lebœuf erwarteten 100.000 Freiwilligen meldeten sich bis Ende Juli gerade einmal 4000 Kandidaten. Auch die am 17. Juli herausgegangenen Einberufungen zu der neuen mobilen Nationalgarde, ein bis dahin unerhörter Vorgang, sorgten in ganz Frankreich für Überraschung oder gar Bestürzung. Etliche Präfekten berichteten danach von einem drastischen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung. Zu Tausenden gingen Anträge auf Unabkömmlichkeit in den Bürgermeisterämtern ein.84 In Deutschland wiederum herrschte Kriegsbegeisterung vor allem an den Universitäten, wo Historiker wie Theologen als Propheten des Nationalismus auftraten und die Studentenschaft nachhaltig beeinflussten. Stolz meldete etwa die Universität Kiel, dass alle Immatrikulierten als Kombattanten oder als freiwillige Krankenpfleger zur Front abgegangen seien.85 In Leipzig habe sich die dortige Studentenschaft sehr um die Förderung einer »deutschen Gesinnung« in der Stadt verdient gemacht, konstatierte der Vorsteher der Stadtverordneten anlässlich einer Feier am 22. Juli in der Universitätsaula.86

Adel und höheres Bürgertum verabschiedeten ihre Söhne und Väter oft mit Begeisterung oder wenigstens demonstrativer Entschlossenheit. Kriegsminister von Roon brach sogar in Tränen aus, als er erfuhr, dass sein ältester Sohn, Hauptmann Bernhard von Roon, wieder nur zur Festungsartillerie kommen sollte. Das sei schon der dritte Krieg in sechs Jahren und »sein armer Junge« solle immer zu Hause bleiben, bemerkte der verzweifelte General während einer Bundestagssitzung zu Prinz Kraft von Hohenlohe-Ingelfingen, dem Kommandeur der Gardeartillerie.87 Dagegen verursachte der Ruf zu den Fahnen bei der einfachen Bevölkerung vielfach Beklemmung und Sorge.88 Das Abschiednehmen sei ernst und schwül gewesen, erinnerte sich der Abenteurer und Publizist Ludwig Pietsch in seinen Kriegsbildern. Auf den Berliner Bahnhöfen habe man Anfang August nur wenige lachende Gesichter gesehen und in allen Mienen sei in tausendfacher Variation die bange Frage nach dem Wiedersehen gestanden.89 Wegen der allgemeinen Wehrpflicht betraf die Mobilmachung fast jede Familie in Preußen. Selbst die älteren Jahrgänge mussten zur Landwehr einrücken und ihre Angehörigen der kärglichen Unterstützung der Heimatgemeinden überlassen. Der letzte, wenn auch siegreiche und kurze Krieg gegen Österreich lag erst vier Jahre zurück und hatte finanzielle Verluste und oft große persönliche Opfer gefordert. Viele Soldaten wollten unbedingt noch vor ihrem Abrücken zur Grenze heiraten, um im schlimmsten Fall für ihre Frauen bescheidene Versorgungsansprüche zu erwerben.90 Der britische Journalist Forbes, der am 19. Juli in Köln eingetroffen war, registrierte bei den einfachen Leuten der Stadt, mit denen er in näheren Kontakt getreten war, einen gewissen Fatalismus. Man schien den Krieg gegen Frankreich in diesen politikfernen Kreisen wie einen Hagelsturm oder ein Hochwasser hinzunehmen. Lamentieren half da nicht. Ein auswanderungswilliger Kölner namens Max hatte sogar schon sein Ticket für die Überfahrt nach New York in der Tasche, als ihm der Gemeindediener den Mobilisierungsbefehl überbrachte, was er, an seiner Pfeife ziehend, mit einem brummigen »Donnerwetter« quittierte.91

Doch nicht allein die Sorge vor dem Verlust geliebter Menschen oder vor der Gefahr wirtschaftlicher Einbußen bestimmte die Gemüter. Viele glaubten auch nicht so recht an den Erfolg der preußischen Waffen. Trotz des Sieges von 1866 galt Frankreichs Armee noch immer als beste der Welt. Vor allem in den linksrheinischen Grenzgebieten rechnete die Bevölkerung fest mit einer Invasion der Franzosen und etliche Alte erinnerten sich nur zu gut an die Übergriffe der französischen Soldateska unter dem ersten Napoleon. Der in Ludwigshafen erscheinende Pfälzische Kurier beschrieb am 28. Juli die Stimmung in der Region als von »banger, dumpfer Sorge« geprägt,92 und aus dem Bezirk Trier machten sich so viele Menschen auf den Weg zu dem von der Regierung bestimmten Fluchtpunkt bei Neuwied, dass man sie dort kaum noch unterbringen konnte.93 Im badischen Karlsruhe beschrieb eine Fünftklässlerin in einem Schulaufsatz die damalige Stimmung in der Stadt: Man habe stündlich den Einbruch der bei Straßburg versammelten französischen Heeresmassen erwartet.94 Auf dem Bahnhof der Landeshauptstadt stand in diesen Tagen eine Lokomotive unter Dampf, um notfalls den Großherzog und seine Minister nach Wertheim, den nordöstlichen Zipfel des Landes, zu bringen.95 Erst der Einsatz einer gemischten »fliegenden Kolonne« aus Ersatztruppen, die im südlichen Schwarzwald und im Rheintal zumindest für eine symbolische militärische Präsenz sorgte, vermochte die badische Bevölkerung halbwegs zu beruhigen.96 Die Bewohner der norddeutschen Küstenregionen wiederum fürchteten angesichts der Überlegenheit der feindlichen Flotte eine Landung französischer Truppen und deren Zusammengehen mit Dänemark.97

Auf französischer Seite dagegen sah die Bevölkerung der Grenzgebiete dem Krieg mit erstaunlicher Zuversicht entgegen. In dem nordelsässischen Dorf Fröschweiler reagierten nach den Erinnerungen des protestantischen Dorfpfarrers Karl Klein die Bauern auf den Feldern auf die Nachricht von der Kriegserklärung mit großer Ausgelassenheit. Alle hegten einen unbezähmbaren Hass auf die Preußen und zeigten sich äußerst siegesgewiss.98 In Straßburg versuchten Nachbarn den württembergischen Reservisten Johannes Birkmeyer, der sich dort einen gut gehenden Schusterbetrieb aufgebaut hatte und sogar zum Armeelieferanten aufgestiegen war, von seiner Rückkehr über den Rhein abzuhalten. »Gegen die unübertrefflichen Schassepot-Gewehre [sic] und die Mitrailleusen könne Deutschland nichts machen.«99 Der Präfekt des Departements Bas-Rhin meldete stolz schon am 10. Juli nach Paris, dass der Patriotismus der Bevölkerung mit jedem Tag zunehme und der vorherrschende Wunsch, den maßlosen Ehrgeiz der Preußen zurechtzustutzen, die Sorge vor den verheerenden Folgen eines Krieges überwiege.100

Auch auf deutscher Seite flaute die anfängliche Beklommenheit der gewöhnlichen Bevölkerung ab, nachdem der erste Schock überwunden war und die scheinbar reibungslos ablaufende Mobilisierung das allgemeine Vertrauen in Armee und Monarchie gefestigt hatte. Der Brite Archibald Forbes konnte über die ruhige Gleichförmigkeit und Effizienz der preußischen Militärmaschine nur staunen und wusste nicht, was er mehr bewundern sollte.101 Auch die Gewissheit, dass die süddeutschen Staaten nun tatsächlich auf deutscher Seite kämpfen würden, trug zur Milderung der ärgsten Ängste bei. Plötzlich galten die Preußen auch südlich des Mains als Fels in der Brandung. In München hatte sich am 27. Juli, so notierte General Leonhard Graf von Blumenthal in seinem Tagebuch, eine unabsehbare Menschenmenge beiderseits der Straße vom Bahnhof bis zur Residenz eingefunden, um die Ankunft des preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm in der bayerischen Hauptstadt zu feiern. Der öffentliche Jubel verdeckte allerdings die Tatsache, dass das bayerische Kabinett noch am 15. Juli mit Ausnahme des Kriegsministers Sigmund Freiherr von Pranckh für eine Neutralität des Landes eingetreten war. Erst König Ludwig, der Pranckhs Ansichten zuneigte, hatte den Befehl zur Mobilisierung erteilt.102 Jubelnde Menschen gab es auch einen Tag später am Pforzheimer Bahnhof, wo der mit der Schwester des Kronprinzen verheiratete Großherzog Friedrich von Baden den zukünftigen Oberbefehlshaber seiner einzigen Division empfing. »Unbeschreiblichen Enthusiasmus« beobachtete Blumenthal auch in Karlsruhe, von wo aus der preußische Kronprinz sodann in sein neues Hauptquartier nach Speyer reiste.103

Einigkeit war nun das Gebot der Stunde und so betonte der Regierungspräsident von Magdeburg bereits in seinem Bericht vom 22. Juli an den König, dass die »großen und erhebenden Bewegungen der letzten Tage« alle Parteibestrebungen verwischt und den »gesunden Kern des Volkes« mit »überzwingender Macht« habe hervortreten lassen.104 Damit war, noch ehe überhaupt der erste Schuss des Krieges an der fernen Grenze gefallen war, im Inneren eine neue Front aufgebaut. Gegner an dieser neuen Heimatfront waren alle Skeptiker, die nicht in das, wie Karl Marx es verächtlich nannte, »Löwengebrüll des deutschen Patriotismus« einstimmen wollten und folglich auch nicht zum »gesunden Kern des Volkes« zu rechnen waren. Manche Blätter, wie etwa die Kaiserslauterer Zeitung aus der Pfalz, veröffentlichten sogar Listen von Merkmalen und Verhaltensweisen, anhand derer sich angeblich »Undeutsche« sicher erkennen ließen, und resümierten: »Die Buben und Verräter scheuen das Tageslicht«.105 Widerspruch gegen die Maßnahmen der Obrigkeit oder gar Verrat dürfen nicht mehr geduldet werden, erklärte die regierungsnahe Neue Hannoverische Zeitung in einem Artikel vom 3. August 1870.106 Wenn dies auch noch als Appell an die örtlichen Behörden zum konsequenten Durchgreifen gegen Nörgler und Abweichler gemeint war, so nahmen etwa in Dresden schon etliche Studenten die Dinge selbst in die Hand und schlugen einem als preußenfeindlich bekannten Journalisten die Fensterscheiben seiner Wohnung ein. Auf Druck der Öffentlichkeit wurde der Mann, der es gewagt hatte, öffentlich zu fragen, ob sich die Sachsen jetzt auch totschießen lassen müssten, sogar verhaftet. Sein Blatt stellte das Erscheinen einstweilen ein.107 Passanten, die sich in der Öffentlichkeit gegen den Krieg auszusprechen wagten, liefen Gefahr, von einem patriotischen Mob auf der Straße misshandelt zu werden.108 Selbst wer, wie vielleicht sogar die Mehrheit, seine Besorgnisse wegen des Krieges nicht offen zu äußern wagte, konnte dem öffentlichen Druck erliegen. Viele zunächst skeptisch gestimmte Bürger – wie etwa der lutherische Pfarrer Martin Schall – meldeten sich jetzt auch freiwillig zum Militärdienst, weil sie um ihre soziale Stellung fürchteten, wenn sie angesichts der »großen nationalen Bewährungsprobe« einfach zuhause blieben.109 Als Ersatzhandlung der Zurückgebliebenen etablierte sich für kurze Zeit auch die Jagd auf vermeintliche feindliche Spione, deren subversives Treiben sich wunderbar in das beliebte Stereotyp vom hinterhältigen Franzosen einpassen ließ. Eine amtliche Akte mit sämtlichen gemeldeten Verdachtsfällen von Spionage aus dem Landkreis Lüneburg zeigte jedoch, zumindest für diesen Teil des alten Königreiches Hannover, die Haltlosigkeit sämtlicher Anschuldigungen.110

Auch in Frankreich setzte sich in den meisten Departements, folgt man den monatlichen Berichten der Präfekten, in der zweiten Julihälfte eine wachsende Kriegsbegeisterung durch. Niemals sei das Nationalgefühl und der Patriotismus der Bevölkerung in allen Belangen mit einem derartigen Enthusiasmus zum Ausdruck gebracht worden, hieß es etwa aus dem normannischen Departement Orne. Überall habe die Menge die Truppen an den Bahnhöfen begeistert verabschiedet.111 Selbst die als »Turkos« bezeichneten schwarzafrikanischen oder arabischen Soldaten wurden in Paris von einer riesigen Menschenmenge enthusiastisch gefeiert, als eines ihrer Bataillone am 25. Juli von der Bonaparte-Kaserne zum Gare de l’Est marschierte.112

Grundsätzlich neigten die Franzosen in den kleineren Städten und ländlichen Regionen zum Frieden, doch dem »unersättlichen Ehrgeiz der Preußen« müsse besser jetzt als später, so war nun vielfach zu hören, eine deutliche Grenze gesetzt werden. Selbst Händler und Fabrikanten, die zuvor noch eine Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage durch den Waffengang mit Preußen befürchtet hatten, wechselten ins Lager der Kriegsbefürworter und glaubten nun sogar an eine Belebung ihrer Geschäfte durch den Krieg.113 In den Städten und Ortschaften, die von Truppentransporten passiert wurden, versammelte sich regelmäßig eine jubelnde Bevölkerung an den Bahnhöfen und versorgte die Soldaten freigiebig mit Getränken, Kuchen, Brot und anderen Lebensmitteln. Überall in Frankreich und selbst in den fernen Pyrenäen boten die Gemeinden und Städte zu Hunderten Pflegeplätze für Verwundete an.114

Zugleich befiel die Menschen ein Nachrichtenhunger, der gelegentlich schon groteske Züge annahm. Wie auf der anderen Seite der Grenze sorgte sich die Bevölkerung des elsässischen Departement Haut-Rhin schon in den ersten Tagen nach der Mobilmachung, dass noch nicht genügend eigene Truppen zur Verteidigung ihrer Region eingetroffen seien, und selbst im aquitanischen Cahors entstand am 17. Juli eine Panik unter den Bewohnern, als plötzlich Gerüchte von einem Vorstoß der Preußen auf französisches Gebiet aufkamen. Erleichtert feierten daher die Bewohner von Nancy am 27. Juli den Einzug des kaiserlichen Gardekorps, das in vortrefflicher Ordnung durch ihre Straßen zog.115 Niemand unter ihnen ahnte, dass kaum zwei Wochen später bereits preußische Ulanen an die Türen ihrer Häuser pochen würden. Die letzten Julitage verstrichen somit in kaum noch erträglicher Spannung. Als sich dann am 3. August die Nachrichten von der Einnahme Saarbrückens im Lande verbreiteten und die offizielle Verlautbarung des Pariser Hofes aus der begrenzten Operation einen großen Sieg unter Beteiligung des kaiserlichen Prinzen machte, erreichte die nationale Begeisterung in Frankreich ihren Höhepunkt. Niemals in zwei Dekaden schien die Zustimmung zu Napoleons Regime größer gewesen zu sein. Die folgende Ernüchterung war umso brutaler.116

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