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4. Urgroßmutter, Holunderfee und die Entscheidung

Nach genau elf Tagen war sie zurück. Da sie keine Zeit verlieren wollte, ging Urgroßmutter direkt zum Haus des Leitwolfes. Überglücklich nahmen die Eltern des jungen Wolfes Urgroßmutter in ihre Läufe. Schnell war Kaffee bereitet und auch der leckere Kirschlikör fehlte nicht. Und nachdem man sich mit einem Willkommensgläschen zugeprostet hatte, setzten sie sich an den großen Holztisch in der Küche. Wolf und seine Frau platzten fast vor Spannung und Neugierde, aber aus Höflichkeit gegenüber Urgroßmutter wagten beide kaum etwas zu sagen oder zu fragen. Schließlich waren sie gut erzogen und wussten genau, was sich gehörte. Urgroßmutter hatte das erste Wort. Außerdem waren sie sicher, dass Urgroßmutter sowieso gleich mit dem Erzählen beginnen würde. Dann war es endlich soweit!

»Zuerst soll ich euch ganz fest und ganz herzlich von Holunderfee grüßen«, begann sie und ihre Augen leuchteten vor Freude und Zufriedenheit. Kein bisschen konnte man ihr die Strapazen der langen und beschwerlichen Reise anmerken. Immerhin war sie ja auch nicht mehr die Jüngste. Aber wer Urgroßmutter jetzt beim Erzählen erlebte, musste glauben, eine junge Wölfin vor sich zu haben, die gerade einen riesigen Schatz gefunden hatte.

»Viele Stunden haben Holunderfee und ich zusammengesessen, meistens bis in die Nächte hinein«, fuhr sie fort. »Immer habe ich zuerst von eurem guten Sohn erzählen müssen, ehe sie etwas dazu gesagt oder nachgefragt hat. So erzählte ich von seiner großen Leidenschaft, in dem alten Buch über die große Leitwölfin Emma zu lesen. Ich schilderte ihr, dass er alle fremden und unbekannten Dinge kennen lernen will und dass er bei jeder Gelegenheit die Tiere im Wald und auf dem Feld beobachtet, um zu erfahren, wie sie sich zum Beispiel bei Gefahr verhalten. Auch habe ich erwähnt, dass er gar nicht so häufig mit seinen Freunden aus der Klasse zusammen sein will, sondern sich viel lieber inmitten seiner vielen Bücher in seinem Zimmer verkriecht.«

So verging über eine Stunde wie im Flug und die Eltern des jungen Wolfes konnten nicht genug bekommen, Urgroßmutter zuzuhören.

Als die Eltern des jungen Wolfes erkannten, dass Urgroßmutter wohl erst einmal das Wichtigste berichtet hatte und vielleicht eine Pause machen wollte, schauten sie sich an, nickten sich zu, als wenn sie sich ein verabredetes Zeichen geben wollten. Wolf atmete schwer, fasste sich ans Herz und begann ganz vorsichtig die für ihn so entscheidende Frage zu stellen: »Und, liebe Urgroßmutter, wie hat sich denn Holunderfee geäußert und was würde sie uns raten wollen?«

Urgroßmutters Stimme klang beruhigend, als sie fortfuhr: »Macht euch keine Sorgen, euer Sohn hat die besten Voraussetzungen, ein großer Leitwolf zu werden. Holunderfee hat mir von vielen anderen Wolfsfamilien berichtet, deren Söhne sich ähnlich verhalten hatten wie euer Sohn und später dann sehr tüchtige Leitwölfe geworden sind. Außerdem wird in den uralten Geschichten und Legenden, die sich die Wölfe immer wieder erzählen, von Leitwölfen berichtet, die am liebsten alleine unterwegs waren.«

Da erinnerte sich der Vater des jungen Wolfes an die Zeit, als er selbst jung und noch nicht Leitwolf war. Auch er schlich in jenen Jahren am liebsten alleine durch die Wälder, suchte sich im Unterholz Verstecke, von denen er ungestört die Holzfäller und Jäger sicher und unbemerkt beobachten konnte. Immer wieder hatten seine Eltern ihn gewarnt, ja nicht alleine loszugehen und erst recht nicht nachts. Doch meistens hatte er das gemacht, was er für richtig hielt. Vielleicht, so dachte er in diesem Augenblick, muss ein Wolf, der einmal Leitwolf werden will, vieles alleine ausprobieren und auch ein bisschen ein Einzelgänger sein.

Nach einem weiteren Gläschen Kirschlikör kam Urgroßmutter auf diese so wichtige Frage zurück. Vorsichtig begann sie zu sprechen, wusste sie doch genau, dass der Plan von Holunderfee und ihr nicht sofort die Zustimmung der Eltern des jungen Wolfes finden würde. Doch dann sagte sie mit festen und sicheren Worten: »Das Beste ist, wenn euer Sohn für ein halbes Jahr zu Holunderfee in die Ausbildung geht. Dort wird er alles das lernen, was ihm noch fehlt. Und ihr werdet sehen, dass auch du großer Wolf dann sagen wirst, wir haben einen würdigen Nachfolger für mich gefunden.«

Nach diesen Worten war es ganz still. Urgroßmutter sagte nichts. Sie wusste genau, die beiden Eltern müssten erst einmal darüber nachdenken. Man konnte das schwere Atmen des Leitwolfes hören. Dessen Gedanken rasten im Kopf hin und her. Auf der einen Seite wollte er, dass sein Sohn der beste Leitwolf wird, und auf der anderen Seite würde es ihn traurig machen, seinen Sohn ein halbes Jahr nicht sehen zu können, denn er liebte ihn sehr. Noch manche Atemzüge blieb es so still.

Da stand plötzlich die Mutter des jungen Wolfes auf und sagte, indem sie sich die Tränen aus den Augen wischte: »Haben wir eine Wahl? Ich glaube nicht! Die Entscheidung ist doch schon gefallen!« Und ihr liebenswürdiger Blick richtete sich auf Urgroßmutter. »Urgroßmutter, du bleibst doch hoffentlich zum Essen, bitte. Es gibt Spaghetti mit roter Ameisensoße und als Nachtisch Kastanienpudding mit Waldbeerenkompott. Es ist das Lieblingsessen unseres Sohnes.« Genau in diesem Moment betrat der junge Wolf die Küche.

Emma der Wolf

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