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Erstes Kapitel.
Mythen der Kindheit 1906-1914

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... a stone, a leaf, an unfound door; of a stone, a leaf, a door. And of all the forgotten faces.

Thomas Wolfe

La réalité ne se forme que dans la mémoire.

Marcel Proust

Erinnerungen sind aus wundersamem Stoff gemacht – trügerisch und dennoch zwingend, mächtig und schattenhaft. Es ist kein Verlaß auf die Erinnerung, und dennoch gibt es keine Wirklichkeit außer der, die wir im Gedächtnis tragen. Jeder Augenblick, den wir durchleben, verdankt dem vorangegangenen seinen Sinn. Gegenwart und Zukunft würden wesenlos, wenn die Spur des Vergangenen aus unserem Bewußtsein gelöscht wäre. Zwischen uns und dem Nichts steht unser Erinnerungsvermögen, ein allerdings etwas problematisches und fragiles Bollwerk.

An was erinnern wir uns? An wieviel? Nach welchen Prinzipien bewahrt unser Geist die Spuren gewisser Eindrücke, während wir andere in den Abgrund des Unbewußten versinken lassen? Gibt es irgendeine Identität oder authentische Verwandtschaft zwischen meinem gegenwärtigen Ich und dem Knaben dessen Lockenkopf ich von vergilbten Photographien kenne? Was wüßte ich von jenem goldhaarigen Kinde ohne die Andenken und Erzählungen, die vom kollektiven Familien-Gedächtnis – das heißt also von Augenzeugen der älteren Generation – überliefert werden? Wie mag es gewesen sein, die seidige Last dieser Locken zu tragen? Wenn ich versuche, die vergangene Sensation in mir wachzurufen, finde ich mich immer in einem bestimmten Zimmer unseres Münchener Hauses, dem Salon meiner Mutter, den wir Kinder übrigens nur selten betraten. Dort gab es auf einem runden kleinen Marmortisch eine flache Silberschale, in der eine Kollektion alter Photographien aufbewahrt wurde. Es mag unter diesen Familienreliquien gewesen sein, daß ich das Porträt meines ehemaligen Selbst entdeckte. Wahrscheinlich war ich erst sechs oder sieben Jahre alt, als ich, ein pausbäckiger kleiner Narziß, mein eigenes Bildnis zum ersten Male bewunderte. Der Knabe, der Mutters Andenken in der verlassenen Wohnstube durchstöberte, hatte sein goldenes Gelock schon verloren: er trug eine schlichte Pagenfrisur, mit Fransen, die ihm tief in die Stirne hingen. Der Blick, mit dem er das lächelnde Antlitz seiner Vergangenheit betrachtete, war schon von Heimweh erfüllt.

An was also erinnere ich mich? Wer ist der Knabe, den ich im Dämmerlicht jenes Salons wiedererkenne? Ist es der, der die seidenen Locken trug? Oder ist es schon sein »alternder« Bruder, der sehnsüchtig auf eine Lieblichkeit schaut, die einmal die seine war? Erinnere ich mich der Locken oder nur der Erinnerung, die sie im Gemüt des lockenlosen Kindes zurückließen?

Unser Unterbewußtsein reagiert auf gewisse Zeichen, geheime Winke und Stichworte, die herbeigeweht kommen – niemand weiß, woher. Da ist ein Aroma, schwach und doch unverkennbar – ein Gemisch aus Gummi und lackiertem Holz, mit einer ganz leichten Beimischung von Kattun, dem Stoff, aus dem Vorhänge gemacht sind: die Vorhänge eines Kinderwagens. Aber ist es mein Kinderwagen, von dessen sanftem schwingendem Rhythmus ich mich jetzt wieder geschaukelt fühle? Oder täuscht mich die Erinnerung? Was ich jetzt für mein Erlebnis halte, gehört vielleicht in Wirklichkeit meinem jüngeren Bruder Golo. Schon immer hatte ich eine gewisse Neigung, ihm sein Eigentum wegzunehmen – Bonbons, Spielsachen oder die bunten Steine und Schneckenhäuser, die wir aus dem Garten ins Haus schleppten; denn ich war älter und größer als er – so mußte er sich's wohl gefallen lassen. Versuche ich nun, ihm den seligen Schlummer seiner ersten Kindheit zu stehlen? Ich mußte schon aufrecht gehen, mühselig, Schritt für Schritt, als er noch das Vorrecht genoß, herumgefahren zu werden. Kein Zweifel, der Kinderwagen, an den ich mich erinnere, ist eben der, um welchen ich Golo damals beneidete. Wie innig wir uns auch bemühen mögen, uns zurückzuversetzen in das Paradies vollkommener Wunschlosigkeit – das Gefühl, dessen wir uns wirklich entsinnen und welches uns zu jeder Zeit beherrscht zu haben scheint, ist immer nur die Sehnsucht nach einem Glück, das mit dem Beginn unseres bewußten Lebens verlorenging.

Der Kinderwagen ist das verlorene Paradies. Die einzig absolut glückliche Zeit in unserem Leben ist die, welche wir schlafend verbringen. Es gibt kein Glück, wo Erinnerung ist. Sich der Dinge erinnern, bedeutet, sich nach der Vergangenheit sehnen. Unser Heimweh beginnt mit unserem Bewußtsein.

Wie könnte ich jemals das geliebte Bild vergessen, das mir so oft half, Schlaf und Vergessenheit zu finden? Nacht für Nacht beschwor ich den Schatten einer Wiege, mit Segeln versehen – einer Zauberbarke, mich weit forttragend: durch dunkle Wälder, über stille Wasser, geradewegs in die purpurne Tiefe eines unendlichen Himmels. Ich muß wohl die beflügelte Wiege als Kind auf irgendeinem Bild gesehen oder in einem Märchen von ihm gehört haben. Sie verfolgte mich durch Jahre – ein Symbol der Flucht, des seligen Entgleitens. Allmählich jedoch veränderte die Wiege ihre Form; sie wurde länger und enger. Das Schiff, das mich jetzt zum Hafen der Vergessenheit trägt, ist aus härterem Stoff gemacht und von düsterer Farbe. Wiege und Sarg, Mutterschoß und Grab – in unserem Gefühl fließen sie ineinander, werden sich beinah gleich.

Der Schlaf, den wir ersehnen, der vollkommene Schlaf, ist traumlos. Wir werden von Träumen heimgesucht, sobald wir gelernt haben, uns zu erinnern und Reue zu empfinden. Im Alter von fünf oder sogar früher war ich schon vertraut mit dem bösen Geflüster der Albträume. Die Stube, die ich erst mit Erika teilte, dann mit Golo, füllte sich nachts mit Gespenstern. Wie ich ihn verabscheute, den blassen Herrn, der fast jede Nacht meinen Frieden zu stören kam. Manchmal trug er seinen Kopf unterm Arm, als wäre es ein Blumentopf oder ein Zylinder. Mir brach der Angstschweiß aus angesichts dieser weißen Fratze, die in so ungewöhnlicher Position freundlich nickte und grinste. Mein Grauen erreichte schließlich einen solchen Grad, daß ich es nicht mehr für mich behalten konnte. Ich besprach die Sache mit unserer Kinderfrau. Anna mit den blauen Backen. Die Blaue Anna ihrerseits erörterte das Phänomen mit unserem Vater, der der Ansicht war, es sei höchste Zeit, dem kopflosen Ärgernis ein Ende zu bereiten.

Er erschien zur Schlafenszeit in unserem Zimmer – was an sich schon ein ungewöhnliches Ereignis bedeutete – und hielt eine strategische Konferenz mit uns ab. Der enthauptete Gast, so meinte er, war eigentlich gar nicht so sehr fürchterlich – wir sollten uns doch nicht von ihm bluffen lassen. »Schaut ihn doch einfach nicht an, wenn er wiederkommt!« riet der Vater. »Dann wird er wahrscheinlich ganz von selbst verschwinden, weil es doch langweilig und sogar etwas peinlich für ihn wäre, so ganz unbeachtet herumzustehen. Wenn ihr ihn aber auf diese Art nicht loswerden könnt, dann müßt ihr ihn eben mit lauter Stimme darum ersuchen, sich zum Teufel zu scheren. Sagt ihm nur, daß ein Kinderschlafzimmer kein Ort ist, wo anständige Geister sich herumtreiben, und daß er sich schämen sollte. Und wenn das immer noch nicht genügt, so tut ihr gut daran hinzuzufügen, daß euer Vater sehr reizbar ist und häßlichen Spuk in seinem Haus nicht duldet. Dann wird er sich bestimmt aus dem Staube machen. Denn es ist eine in Geisterkreisen wohlbekannte Tatsache, daß ich wirklich sehr schrecklich sein kann, wenn ich einmal die Geduld verliere.«

Wir folgten seinem Rat, und alsbald verging der Spuk. Es war ein durchschlagender Erfolg und bewies uns aufs eindrucksvollste, wieviel der väterliche Einfluß sogar in der Gespenster-Sphäre vermochte. Um diese Zeit begannen wir ihn »Zauberer« zu nennen, zunächst nur unter uns; da wir aber bemerkten, daß der Name ihm nicht mißfiel, kam er bald auch offiziell zur Anwendung.

Das Leben eines Fünfjährigen ist voll von Problemen und Komplikationen, verglichen mit dem seligen Dämmern der Babyzeit. Es scheint jedoch paradiesisch im Gegensatz zu der Fülle von Konflikten und Heimsuchungen, mit denen der Erwachsene fertig zu werden hat. In einem Fall wie dem meinigen wird dieser Kontrast besonders auffallend; denn der verhältnismäßige Friede und die Geborgenheit, deren das Kind im allgemeinen teilhaftig ist, scheint verdoppelt durch das idyllische Wesen der Epoche und des sozialen Milieus. Wenn der Knabe vergleichsweise sorglos ist, sogar inmitten allgemeiner Krise, so muß das Kind, das in einer privilegierten und hochgesitteten Umgebung aufwächst, wohl den Eindruck bekommen, daß unser Universum in der Tat nichts zu wünschen übriglasse und alles in allem eine ganz vorzügliche Einrichtung sei.

Die Beklommenheit des Kindes beschränkt sich auf seltene Stunden und auf jene kurzen Augenblicke des Schauderns zwischen Schlaf und Wachen, wenn plötzlich die Ur-Angst, das Grauen der verlassenen Kreatur die junge Seele anfällt. Aber wie sterbensbange dir auch in dieser dunkelsten Minute gewesen sein mag – der frühe Morgen wird dich wieder heiter finden. Du bist ausgeruht; das kalte Wasser, das du dir ins Gesicht spritzst, läßt dich vor Wonne jauchzen; das Frühstück wird dir zum Fest. Ein neuer Tag! Dein Tag! Deine Sonne! Dein Hunger. Und hier hast du dein Butterbrot, dein Müsli, deinen Apfel, womit du ihn wohlig stillst …

Das Kind ist dem primitiven Menschen verwandt – unschuldig und gierig, ohne Arglist und ohne Gnade, unwissend und schöpferisch. Wie der Mensch der frühlingshaften Urzeit, so wertet und ordnet das Kind alle Phänomene neu, gleichsam zum ersten Male. Naiv und realistisch, immer nur am Nahen und Faßbaren interessiert, errichtet es seine eigene Hierarchie und schafft sich seine Mythen aus dem, was es sieht, hört, schmeckt, berührt. Nichts existiert außerhalb der Sphäre seiner direkten Interessen und unmittelbaren Wahrnehmungen. Wie könnte es an der absoluten Gültigkeit seiner individuellen Erfahrungen zweifeln? Der kindliche Geist vergleicht nicht, sondern nimmt jedes Ding und jedes Ereignis als etwas Einmaliges, Erstmaliges, Absolutes.

Ein Regentag, eine Reise, die physischen Sensationen von Kälte, Hunger, Fieber, Zahnweh oder Müdigkeit; die Wirkung von Melodien oder Liebkosungen – die ganze Skala unseres emotionellen und somatischen Erlebens ist mit Erinnerung belastet. Unvermeidlich kommt der Tag für uns alle – früher vielleicht, als man glauben möchte! – da es keine »neue Erfahrung« mehr gibt, sondern nur noch die Variationen vertrauter Muster. Nach einer langen Zeit intensiven und bewußten Lebens mag man sogar den Punkt erreichen, da man die allgemein menschlichen Charakteristiken in den besonders geprägten Zügen eines geliebten Menschen wiedererkennt. Dann ist man wohl so weit, hinter dem vertrauten Gesicht der eigenen Mutter das Drama und die Schönheit der Mutterschaft zu sehen. Dem reifen, erfahrenen Geist wird der »Typus« wesentlicher als der zufällig-individuelle Repräsentant. Das Kind hingegen verwechselt den zufälligen Vertreter mit der Gattung. Ihm gilt es für ausgemacht, daß alle Mütter seiner Mutter gleichen. Wie der primitive Mensch früher Kulturepochen die Impulse und Elemente, die sein persönliches Leben beherrschten – Liebe, Sturm, Wasser, Krieg, Fruchtbarkeit – personifizierte und deifizierte, so ist es für das Kind die Mutter, der Hund, der Garten, die Milch, die Krankheit.

Sogar die Kosenamen, die das Kind für seine Nächsten erfindet, scheinen ihm die ganze Spezies, den Typ zu bezeichnen. Da wir unsere Mutter »Mielein« nannten, fanden wir es äußerst schrullenhaft von anderen Kindern, sich so ulkiger und ausgefallener Anreden wie »Mutti« und »Mama« zu bedienen. Gibt es irgend jemand, der nicht weiß, wer »Offi« und »Ofey« sind? Man könnte ebensowohl fragen, wer ein gewisser Jupiter war und was er mit einer Dame namens Juno zu tun hatte. Offensichtlich ist Ofey Mieleins Vater, folglich Offis Mann; denn Offi, ganz natürlich, ist Mieleins Mutter, unsere glanzvolle Großmama mit ausdrucksstarker, theatralisch geschulter Stimme, perlendem Gelächter und schönen, kurzsichtigen Augen, vor die sie meist eine Lorgnette hält. Die Lorgnette ist aus goldbraunem Schildpatt und hängt an einer langen Silberkette. Die alte Dame – uns schien sie schon uralt, als sie erst fünfzig war und sich noch sorgfältig die Haare färbte – hat eine unbarmherzige Manier, den Gesprächspartner durch ihre Gläser zu mustern. Nervöse Menschen wurden unruhig unter ihrem durchbohrenden Blick, nicht aber wir. Natürlich nicht! Sie ist ja »unsere« Offi, und die Lorgnette gehört zu ihr wie die Eule zur Pallas Athene oder der Blitz zum Zeus.

Die großen Würdenträger der Hierarchie sind über Kritik erhaben – was aber nicht heißen soll, daß sie Angst und Schrecken einflößen. Sie sind so, wie sie sind und müssen mit schonungsvollem Respekt behandelt werden. Dann kommt man mit ihnen aus. Der Vater zum Beispiel kann sehr generös und scherzhaft sein, wenn man auf seine kleinen Schwächen die gebührende Rücksicht nimmt. Er hat etwas gegen schmutzige Fingernägel und kann es nicht leiden, wenn man sich bei Tische des Daumens zum Aufschieben bedient. »Um Gottes willen, nicht den Daumen!« ruft er dann wohl aus und schneidet eine angewiderte Grimasse. »Wenn schon aufgeschoben werden muß, dann tu's mit der Nasenspitze oder der großen Zehe! Alles ist besser als der abscheuliche Daumen!« Seine Aversionen sind meist von dieser irrationalen und schrullenhaften Art. Von neun Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags muß man sich still verhalten, weil der [Vater] arbeitet, und von vier bis fünf Uhr nachmittags hat es im Hause auch wieder leise zu sein: es ist die Stunde der Siesta. Sein Arbeitszimmer zu betreten, während er dort mysteriös beschäftigt ist, wäre die gräßlichste Blasphemie. Keines von uns Kindern hätte sich dergleichen je in den Sinn kommen lassen. Schon mit geringeren Verfehlungen kann man den Vater erheblich irritieren. Es ist quälend, bei ihm in Ungnade zu sein, obwohl, oder gerade weil sein Mißmut sich nicht in lauten Worten zu äußern pflegt. Sein Schweigen ist eindrucksvoller als eine Strafpredigt. Übrigens ist nicht immer leicht vorauszusehen, was er bemerken und wie er reagieren wird. Die Mutter zankt, wenn man Ungezogenheiten begeht – von der Marmelade nascht, die für die Erwachsenen reserviert ist, oder die frisch gewaschene Matrosenbluse mit Tinte beschmiert. Der Vater ist dazu imstande, so eklatante Übeltaten zu ignorieren, während scheinbar ganz harmlose Irrtümer ihn überraschend verdrießen können. Die väterliche Autorität ist unberechenbar.

Ich schreibe diese traditionellen Formeln hin: »Vater«, »Mutter«, »väterliche Autorität« – und finde sie ungenau, beinah irreführend. Was haben diese Clichés mit einer Wirklichkeit zu tun, die sich aus tausend einmaligen, unwiederholbaren Nuancen zusammensetzt? »Vater« …: das ist die kitzelnde Berührung eines Schnurrbartes; der Duft von Zigarren, Eau de Cologne und frischer Wäsche; ein sinnendes, zerstreutes Lächeln, ein trockenes Räuspern, ein zugleich abwesender und durchdringender Blick. »Vater« bedeutet eine freundliche, sonore Stimme; die langen Bücherreihen im Arbeitszimmer – feierliches Tableau voll geheimnisvoller Lockung! –; der wohlgeordnete Schreibtisch mit dem stattlichen Tintenfaß, dem leichten Korkfederhalter, der ägyptischen Statuette, dem Miniaturporträt Savonarolas auf dunklem Grund; gedämpfte Klaviermusik, die aus dem halbdunklen Wohnzimmer kommt.

Ja, die Musik, mehr als irgendein anderes Attribut, scheint essentiell zu seinem Wesen zu gehören. Früher einmal hat er Violine gespielt; aber das war vor unserer Zeit, in einer prähistorisch-legendären Epoche. Indessen bezweifelt niemand, daß er auch jetzt noch reizend fiedeln könnte, wenn er Lust dazu hätte. Manchmal pfeift er uns ein Liedchen vor. Keine Geige hat einen reineren Klang. Und nach dem Abendspaziergang, vor dem Nachtmahl der Erwachsenen, zieht er sich gerne in den dämmrigen Salon zurück. Dort sitzt er dann am großen Bechsteinflügel, halb versteckt hinter der schweren dunkelroten Samtportiere, und läßt die väterliche Melodie ertönen. Wir hören zu, auf der Diele oder im ersten Stock, wo wir mit dem Fräulein essen.

»Er spielt so schön«, sagt eines von uns vier Kindern. »Übt er an seinem Schreibtisch zwischen neun und zwölf Uhr vormittags?«

Aber das Fräulein lacht. »Er übt überhaupt nicht«, erklärt sie uns, etwas schnippisch. »Er kann eigentlich gar nicht spielen. Er improvisiert nur ein bißchen.«

Aber was er da in der schattigen Einsamkeit des Salons dem Klavier anvertraute oder sich von diesem künden ließ, war kaum als »Improvisation« zu bezeichnen. Es war immer der gleiche Rhythmus, zugleich schleppend und drängend, immer das gleiche chromatische Crescendo, das gleiche Werben und Locken, die gleiche Erschöpfung nach todestrunkener Ekstase. Es war immer »Tristan«.

Wenn es eine schwere und delikate Aufgabe ist, das Wesen des väterlichen Mythos zu definieren, um wie vieles dunkler und zarter ist das Geheimnis der Mutter! Denn sie ist uns näher als der Vater, der dem Sohne ein Fremder bleibt. Sie ist die vertrauteste Figur, die unentbehrliche. Sie lehrt uns, zu beten und zu schwimmen und uns die Zähne zu putzen; sie macht den Speisezettel, kauft die Geburtstagsgeschenke, sieht die Schulaufgaben durch, geht mit uns zum Rodeln und zum Schlittschuhlaufen. Das mütterliche Haar ist weich und dunkel; die mütterlichen Augen sind goldbraun; die mütterlichen Hände sind zugleich zart und tüchtig: sie können das Loch in deinem Hemd stopfen und, wenn es not tut, sogar deine Haare schneiden. Sie können strafen und streicheln, spielen und liebkosen.

Vater und Mutter sind unzertrennlich und doch durchaus verschieden – ein heterogenes Doppelwesen. Der Vater spricht eher langsam, mit einer gleichmäßigen und sonoren Stimme; die Redeweise der Mutter ist geschwind, und ihre Stimme springt vom tiefsten Baß zu überraschenden Höhen. Sie ißt gern die bitterste Schokolade, trinkt den Tee ohne Milch und Zucker; er hat ein Faible für süße Suppen, Reisbrei und Hafergrütze, lauter Dinge, die sie perhorresziert. Mielein ist praktisch, aber unordentlich; der Zauberer ist weltfremd und verträumt, aber ordentlich bis zur Pedanterie. Der Mutter macht es nichts aus, wenn man sie um drei Uhr morgens stört, aber sie ärgert sich, wenn man die neuen Handschuhe verliert oder zu spät zum Zahnarzt kommt; der Vater weiß nicht einmal, daß man Handschuhe besitzt und daß unsere Zähne ärztliche Behandlung nötig haben, aber er mißbilligt es, wenn wir beim Essen schmatzen oder den schönen neuen Treppenläufer mit schmutzigen Schuhen betreten.

Sie sind so, wie sie sind – sehr liebenswert, sehr gewaltig, aber nicht ohne ihre kleinen Grillen und Tücken. Der Vater, zum Beispiel, legt Wert darauf, daß man ihn ab und zu auf ausgedehnten Spaziergängen begleitet, was um so lästiger ist, als wir bei solchen Gelegenheiten paarweise vor den Eltern wandeln müssen. Die Mutter hat eine sehr unangenehme Art, einen am Ohrläppchen zu ziehen, wenn sie findet, daß man ernstliche Strafe verdient – es tut fast ebenso weh wie die Bohrmaschine des Doktor Cecconi.

Zahnarzt Cecconi (übrigens der Gatte der deutschen Dichterin Ricarda Huch, was uns aber damals keinen Eindruck machte) nimmt in der Hierarchie keine unbedeutende Stellung ein, wenngleich er natürlich nicht zu den zentralen Mythen gehört, wie etwa die Affa. Muß ich wirklich erklären, wer die Affa ist? Ja, es empfiehlt sich wohl in Anbetracht der allgemeinen Uneingeweihtheit, um nicht zu sagen Unbildung. Die Affa also ist die Perle, das Faktotum, das muntere Zimmermädchen mit dem roten, lachenden Gesicht, dem stolzen Busen und den flinken Fingern. Beim Servieren trägt sie ein weißes Spitzenschürzchen; wenn Gäste da sind, schmückt sie sich mit einem steifen Häubchen. Je mehr Besuch kommt, desto animierter erscheint die Affa. – »Sie ist eine geborene Festordnerin«, sagt der Zauberer von ihr. Wenn die Eltern verreist sind, ist es die Affa, die den Haushalt führt; sie hat eine »Vertrauensstellung«. Sie gehört zur Familie. Köchinnen kommen und gehen (sie heißen meistens Fanny, aber es sind doch immer wieder andere); Hausmädchen kündigen. Aber die Affa bleibt. Es hat sie immer gegeben. Sie ist seit Menschengedenken bei uns. Fast so lang wie der Motz.

Wie, auch der Motz darf nicht als bekannt vorausgesetzt werden? Es ist peinlich, einer erwachsenen Leserschaft die Grundtatsachen des Lebens explizieren zu müssen. Der Motz ist eine Grundtatsache. Er hat ein schwarzes, seidiges Fell mit einem hübschen weißen Flecken auf der Brust. Die Erwachsenen sagen, er sei ein schottischer Schäferhund, ein »Rassetier«, etwas überzüchtet. Aber das sind lauter Redensarten. Der Motz ist eben der Motz, ein unentbehrlicher, gar nicht wegzudenkender Bestandteil des Kosmos, wie Zauberer, Mielein und Offi.

Das Seltsame an Kindern ist, daß sie die Notwendigkeit und Richtigkeit der Erscheinungen, die sie umgeben, niemals in Frage stellen, dabei aber alles ungemein komisch finden. Onkel Cecconi ist komisch, weil er mit einem fremden Akzent spricht und Grimassen schneidet. Affa ist zum Totlachen mit ihren grünen, glitzernden Augen, ihrer dynamischen Tüchtigkeit und den imposanten Linien ihrer Figur. (»Die Affa hat so eine große, weiche Brust«, bemerkte ich als Fünfjähriger. Woraufhin man mich fragte, ob ich das schön oder garstig fände. »Schön find ich's grad nicht«, erwiderte ich sinnend. »Aber ich seh's gern.«)

Der Motz ist über alle Begriffe drollig, wenn er sich in einen tobenden Teufel verwandelt, was fast immer geschieht, wenn man sich mit ihm auf die Straße wagt. Sanft und folgsam zu Hause, fängt er draußen prompt zu rasen an, erregt vom Geruch der Freiheit. Es ist ein wahres Delirium, in das er verfällt; er geifert, heult, tanzt, springt, dreht sich krampfhaft im Kreise, außer Rand und Band, von Sinnen vor Wonne oder vor Wut – wer weiß es.

Wir sind eine Sensation, wenn wir uns mit dem Motz in der Öffentlichkeit zeigen; übrigens fallen wir auch ohne ihn auf, allerdings nicht so heftig. Gassenkinder haben eine gewisse Neigung, uns Unartigkeiten nachzurufen. »Langhaarete Affen!« oder »Narrische Bagasch!« Erwachsene hingegen bleiben stehen und lächeln, was auf seine Art auch recht lästig ist. Sie meinen es wohl nicht schlecht; manchmal bieten sie uns sogar etwas an, einen Apfel oder ein Stück Schokolade. Dagegen hätten wir an sich nichts einzuwenden, wenn die Spender nur den Mund halten wollten! Leider traktieren sie uns nicht nur mit Süßigkeiten, sondern auch mit Geschwätz. »Was für niedliche kleine Racker ihr seid!« schwätzt die alte Dame, die sich im Englischen Garten unaufgefordert auf der Bank neben uns niederläßt. »Alle vier so drollig und apart! Wer ist denn euer Pappi?«

Natürlich antworten wir nicht, sondern kichern nur und zucken die Achseln. »Na, was gibt's denn da zu lachen, mein Junge?« Die Urschel, ein wenig pikiert, wendet sich mit ihrer Frage an das größte Kind – nämlich an Erika, die sie, in echt urschelhafter Verblendung, für einen Buben hält. Dies kleine Mißverständnis scheint uns dermaßen ulkig, daß uns gar nichts anderes übrigbleibt, als jubilierend davonzulaufen.

Noch ganz atemlos vor Heiterkeit gesellen wir uns zu unserem Fräulein, das inzwischen, mit einer Kollegin plaudernd, voranspaziert ist. Wir bestürmen sie mit erregten Fragen. Warum will die fremde Urschel wissen, wer unser Vater ist? Und warum nennt sie ihn »Pappi«, wo er doch Zauberer heißt? Und wie, um Gottes willen, kommt sie dazu, uns »niedlich« und »apart« zu finden? Was bedeutet »apart«? Ist es ein Schimpfwort oder das Gegenteil?

»Eher das Gegenteil«, bedeutet uns das Fräulein. »Die Dame wollte nur sagen, daß ihr ein bißchen anders ausseht als die andren Kinder.« Sie prüft uns mit nachdenklichem Blick, um dann, mehr für sich selbst, hinzuzufügen: »Es liegt wohl vor allem am Haarschnitt und überhaupt an der künstlerischen Aufmachung.«

Unsere »künstlerische Aufmachung«, das sind die Leinenkittel mit den hübschen Stickereien aus den Münchener Werkstätten. Mielein hat sie selber ausgesucht, rote Kittel für die Buben, blaue für die Mädchen, wie es sich gehört. Was soll daran nun »apart« sein? Und warum verhöhnen uns die Gassenkinder, wenn wir uns in unseren schmucken Wämsern auf der Straße zeigen, zwei adrette Pärchen (Erika und ich; Golo und Monika), gefolgt von der Gouvernante, beschützt vom hysterisch kreiselnden Schäferhund?

Wie töricht die Fremden sind! Begreifen sie denn nicht, die frechen Buben und verschrobenen Urscheln, daß wir durchaus in Ordnung sind, weder »apart« noch »narrisch«? Zugegeben, Monika ist noch ein bißchen klein und unbeholfen; aber so gehört es sich eben für das jüngste Schwesterchen. Was den Golo betrifft, ein Jahr älter als Monika, so ist er auch nicht viel größer, aber entschieden ernster und gesetzter, fast gravitätisch. Ohne Frage, der Golo ist das Muster und Vorbild eines kleinen Bruders, das Brüderchen par excellence. – Was gibt es da zu lachen? Oder lassen die fremden Toren es sich gar einfallen, die beiden »Großen«, Erika und mich, ridikül zu finden? Das wäre ja noch schöner! Das ahnungslose Pack sollte sich doch lieber der eigenen eklatanten Dummheit schämen, anstatt über uns die Nase zu rümpfen! Denn schließlich, wir sind »echt«, sind »wirklich«, während die Wirklichkeit der anderen problematisch bleibt. Die anderen sind nur »Leute«; wir sind – wir.

Unser Leben ist vorbildlich, comme il faut, da es eben einfach Leben ist, das einzige, das wir kennen. Das Leben bedarf keiner Rechtfertigung, keiner Erklärung. Was bliebe denn übrig von der Welt, wenn es »unsere« Welt nicht gäbe? Ein Nichts, ein Vakuum …

Glücklicherweise können die Fremden uns nichts anhaben mit ihrem Unverstand. Wir brauchen sie nicht; was hätten sie uns zu bieten? Sie sind »affig«, »blöd«, »falsch« und »eingebildet«. Wir kommen ohne sie aus; in unserem eigenen Bereich finden wir alles, was uns wichtig ist. Wir haben unsere eigenen Gesetze und Tabus, unseren Jargon, unsere Lieder, unsere willkürlichen, aber intensiven Vorlieben und Aversionen. Wir genügen uns; wir sind autark.

Die Fanny kocht die Suppe, die Affa deckt den Tisch. Die Fanny ist weniger wichtig als die Affa, aber beide sind unentbehrlich. So auch die dritte Magd, das Hausmädchen. Sie mag noch so häufig kündigen: die kosmische Ordnung sorgt für eine Nachfolgerin, die mit der Vorgängerin fast identisch scheint. Es ist immer das gleiche plumpe Ding vom Lande, aus Passau oder Ingolstadt, die unsere Betten macht. Sie hat große, rote, etwas aufgesprungene Hände, wäßrige, helle Augen und eine niedrige, trotzig gebuckelte Stirn. Ihre wichtigste Funktion in unserem Hauswesen besteht darin, uns Kindern volkstümliche Lieder beizubringen. Ob das Hausmädchen nun Liesbeth heißt oder Therese, ob sie aus Niederbayern stammt oder aus dem Fränkischen, sie ist eine Sängerin und Gesangspädagogin. Von ihr lernen wir all die schönen, rührenden Balladen von verlassenen Bräuten, treulosen Matrosen, gebrochenen Schwüren und Herzen. Wir verstehen nicht ganz, worum es sich eigentlich handelt, aber die Augen werden uns doch naß, wenn wir dem Hausmädchen mit feierlichen Mienen nachsingen: »Mariechen saß weinend im Garten – im Grase lag schlummernd ihr Kind; – mit ihren schwarzbraunen Locken – spielt' leise der Abendwind …« Wie süß und traurig tönt Mariechens Klage! Sie beschwert sich darüber, daß der Liebste nie schreibt. Hat er sie ganz vergessen? Ja, das hat er wohl, und da die Schwarzbraune es sich nun eingesteht, zieht sie auch gleich die einzig logische Konsequenz – kurz entschlossen, ohne übrigens viel Aufhebens davon zu machen. Hinein in den See mit dem Bankert! – Und hinterdrein springt die gelockte Mama.

Wir finden den Schluß etwas jäh, vor allem tut es uns um das Baby leid: was kann das arme kleine Ding dafür, daß der Matrose so vergeßlich ist? Aber dieses etwas irritierende Detail kann uns doch nicht die Freude an dem schönsten Lied verderben. Wir singen es im Chorus, zweistimmig, mit Gefühl.

»Ich verstehe wirklich nicht, warum meine Tochter ihren Kindern erlaubt, so greuliches Zeug zu singen!« Dies ist Offis Stimme: sie ist zum Tee gekommen, nun unterhält sie sich mit dem Kinderfräulein. Das Kinderfräulein, man weiß ja, wie sie sind, ist nur zu entzückt, Offi beipflichten zu können. »Wie recht Frau Geheimrat haben!« ruft sie schrill. »Es ist das Hausmädchen, die Luise, eine ganz ordinäre Person, die gnädige Frau sollte einschreiten, aber auf mich wird hier ja nicht gehört …«

Mielein ist in solchen Fällen geneigt, unsere Partei zu ergreifen. Nicht zu offen natürlich. »Ihr dürft dem Fräulein Betty nicht widersprechen!« ermahnt sie uns etwas vage. »Es kann ja sein, daß sie gerade etwas nervös war. Wahrscheinlich, weil sie sich so viel über euch ärgern muß … Singt uns das Lied doch mal vor, nur, damit wir uns ein Urteil bilden können. Wenn es ein garstiges Lied ist, sollt ihr es nicht mehr singen.«

Mariechen ist ein durchschlagender Erfolg; Mielein und der Zauberer ersticken fast vor Lachen. Endlich bringt der Vater hervor, daß dies, seiner Meinung nach, ein ungewöhnlich rührendes Lied sei; wir sollten es jedoch nicht zu häufig vortragen, teils aus Rücksicht auf Fräulein Bettys Nerven, teils weil die Ballade wirkungsvoller bleiben würde, wenn wir sie für besondere Gelegenheiten aufsparten. Weihnachten wäre vielleicht eine solche Gelegenheit, schlägt einer von uns vor; und die Eltern stimmen lachend bei.

Fräulein Bettys Miene ist säuerlich, um nicht zu sagen bitter, da wir sie von dem elterlichen Entscheid unterrichten.

Das Fräulein kann uns nicht viel anhaben, solange Mielein da ist, um unsere natürlichen Rechte zu schützen. Aber die Lage wurde alarmierend, als die Mutter einen Winter in Davos verbringen mußte, wegen des Hustens und weil sie oft ein bißchen Fieber hatte. Sie schrieb uns drollige und lange Briefe, was es im Sanatorium zu essen gebe, und wie langweilig es für sie sei, jeden Tag so viele Stunden auf dem Balkon zu liegen. Sie schrieb uns, daß sie Sehnsucht nach uns habe und daß wir brav sein sollten. Es waren sehr schöne Briefe, aber doch kein Ersatz für Mieleins Gegenwart. Wenn sie nicht da war, hatten wir niemand, der abends mit uns betete (denn vor dem Fräulein mochten wir unsere Gebete nicht sagen); niemand, der zur Spitze der Hierarchie und zugleich zu uns gehörte, Affa, Fanny, das Hausmädchen, der Motz und wir vier waren schon recht; aber es fehlte uns an Macht und Würde. Der Zauberer und Offi hatten zwar sehr viel Macht; aber letztere erschien doch nur für kurze Inspektionsvisiten, während ersterer, obwohl er mit uns lebte, an unserem alltäglichen Leben kaum Anteil nahm. Wir waren dem Fräulein ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb. Sie hatte beinah unumschränkte Machtbefugnis; ihre Herrschaft nahm vorübergehend den Charakter einer Diktatur an.

Das Kinderfräulein ist eine der Hauptmythen meiner Kindheit. Sie ist empfindlich, hochmütig und launenhaft, zuweilen liebenswert, dann wieder erschreckend. Wenn sie sich ärgert oder Kopfweh hat, erstarrt ihr Gesicht zu einer aschfarbenen Maske; aber sie kann auch strahlen. Alle scheinen sich ein wenig vor ihr zu fürchten, sogar die Eltern. Ihre vorwurfsvolle Miene gemahnt uns daran, daß sie im Hause des Baron Tucher wie eine Prinzessin gehalten wurde, die Zöglinge folgten aufs Wort, dort war das Fräulein glücklich. Der Baron (er war blind, wie das Fräulein sich mit respektvoller Rührung erinnert) verzog mit seinen Mustersöhnchen nach Kanada nicht ohne die unschätzbare Gouvernante aufs herzlichste zum Mitkommen aufzufordern. »Wär ich doch mit den Tuchers gegangen!« seufzt sie nun. Wir haben es wohl wieder einmal an der nötigen Ehrerbietung fehlen lassen. »Dann müßt ich mich nicht so viel kränken …« Sie weint ein bißchen, und auch uns werden die Augen feucht. Wir begreifen, daß die Gute uns ein großes, schweres Opfer bringt, indem sie auf Kanada verzichtet und bei uns bleibt »in diesem saloppen Künstlerhaushalt«. Keine andere würde es bei uns aushalten. – Dies wird uns immer wieder aufs eindrucksvollste versichert. »Wenn ich einmal nicht mehr da bin«, sagt das Fräulein (man weiß nicht ganz, ob sie an ihren Hintritt denkt oder nur an einen Stellungswechsel), »dann werdet ihr ja sehen, was aus euch wird. Die nächste hält es hier keine vierundzwanzig Stunden aus. – Oder sie sorgt dafür, daß ihr Disziplin lernt. Dann ist Schluß mit der Schlamperei! Ihr werdet Augen machen …« Uns wird bange ums Herz. Wir flehen das Fräulein an, uns doch bitte ja nicht zu verlassen. Sie ist mild und weise; ihre Nachfolgerin wäre vielleicht ein Drache, ein wahrer Ausbund an Tücke und Grausamkeit …

Sie waren sich alle gleich. In imposanter Parade folgten sie einander, von der legendären Blauen Anna bis zu jenem hochbeinigen, spleenigen Geschöpf, das wir »Betty-Lilie« nannten, wegen ihres delikaten Teints und Charakters. Die Chronik unserer Kindheit ließe sich in fünf bis sechs Perioden einteilen, nach den wechselnden Regimes der Gouvernanten; man könnte von einer »Blauen-Anna-Periode« oder einer »Betty-Lilie-Ära« sprechen wie von der Elisabethanischen Zeit oder der Victorianischen Epoche. Natürlich unterschieden sich die hohen Frauen in Einzelheiten voneinander, aber was sie gemeinsam hatten, war tiefer und wesentlicher. Alle schwelgten sie in der Erinnerung an einen idealen Haushalt, dem sie einst in führender Stellung angehört hatten, das Palais eines ehrwürdigen Barons oder Kommerzienrates, wo es zugleich sittsam und lustig zugegangen war. Alle bemerkten sie mit demselben gönnerhaften Lächeln, daß unsere Eltern »sehr interessante Menschen« seien, wobei sie diskret auf den Unterschied anspielten, der zwischen unserer Bohemewirtschaft und dem tadellosen Haushalt des Kommerzienrates nun einmal leider bestand. »Andere Kinder« waren kräftig, brav und wahrheitsliebend, im Gegensatz zu uns wilden und heuchlerischen Schwächlingen. »Andere Kinder« verstanden Spaß und wußten eine Tracht Prügel einzustecken; sie putzten sich die Zähne mindestens dreimal täglich, gingen zur Kirche, aßen angebrannten Grießbrei ebenso gern wie Schokoladentorte und waren ihrem Fräulein zärtlich-ehrerbietig zugetan.

Wir konnten andere Kinder nicht leiden. Es war erst viel später, als ich etwa zwölf Jahre alt war, daß wir anfingen, Freunde zu haben. Anfangs hatten wir durchaus an uns selbst genug.

Erika und ich wurden in eine Privatschule geschickt – ein etwas prätentiöses kleines Etablissement von altmodisch-muffiger Gediegenheit, wo die Sprößlinge der Münchener beau monde die Kunst des Lesens und Schreibens erlernten. Schule, in diesem vorbereitenden Stadium, bedeutete weder Spaß noch viel Plage. Das bißchen Wissenschaft – Alphabet, Einmaleins, die Geschichte vom Herrn Jesus – war leicht genug zu begreifen. Die Lehrerin, eine alte Jungfer mit glattem grauem Scheitel und säuerlich-pedantischer Miene, konnte als komische Figur aufgefaßt werden. Was unsere Mitschüler betraf, so hatten wir nur wenig Kontakt mit ihnen. Sie waren nicht eingeweiht in die Geheimnisse unserer Spiele; sie schienen eine andere Sprache als wir zu sprechen.

Unsere Spiele waren komplizierter als die Fibel, aufregender als die groben Belustigungen, die unter Kindern sonst wohl üblich sind. Es waren eigentlich keine »Spiele«; vielmehr handelte es sich um eine großangelegte, sorgfältig ausgesponnene Phantasmagorie, ein mythisches System innerhalb des Kindheitsmythos. Es beruhte auf zwei verschiedenen Sagenkreisen, die ineinander griffen und allmählich miteinander verschmolzen. Der erste Kreis umfaßte unsere eigene Welt – das Haus, den Garten, die Eltern, das Kinderfräulein –, während der zweite das Reich der Puppen und der Hunde in sich schloß.

Das erste Spiel ging auf einen sentimentalen Schmöker zurück, den Fräulein Betty uns einmal vorgelesen hatte. Das Buch – es hieß »Kapitän Spieker und sein Schiffsjunge« – machte uns einen so tiefen und nachhaltigen Eindruck, daß wir heute noch lange Stellen daraus auswendig wissen. Es war nicht so sehr die abenteuerliche Handlung, die uns bezauberte, wie das Milieu, in dem die Geschichte sich zutrug – die zugleich romantische und mondän-luxuriöse Sphäre des großen Ozeandampfers. Das Schiff, in das sich unser Haus und Garten verwandelten, war genau dem Kapitän-Spiekerschen Modell nachgebildet. Affa und die anderen Mädchen wurden in unserer Phantasie zu rüstigen Matrosen; Mielein war eine Art von eleganter Hausdame oder Oberaufseherin, während dem Zauberer natürlich das Amt des Kapitäns zufiel, der sich meistens im Heiligtum der »Betriebskabine« verborgen hielt. Es gab nur vier Passagiere – zwei kapriziöse Damen, Prinzessin Erika und Mademoiselle Monika, und zwei Herren von hohem Rang und unermeßlichem Reichtum, die Steinrück und Löwenzahn hießen. Es machte Golo und mir großen Spaß, diese zwei großartigen Weltenbummler zu personifizieren und das eigene Benehmen ihrem pompös-spleenigen Stil anzupassen. Sie waren keine frivolen Draufgänger, unsere reisenden Millionäre; vielmehr handelte es sich um zwei Herren gesetzten Alters, die eine schwere Last von Verantwortlichkeiten und väterlichen Sorgen zu tragen hatten. Kurze, aber inhaltsschwere Radiogramme informierten sie über die beunruhigenden Schwankungen an der Börse; atemlose Geheimboten überbrachten furchtbare Bulletins, das Betragen der fernen Söhne betreffend. Diese jungen Leute – typische Repräsentanten frivol-sybaritischer jeunesse dorée – verschwendeten Millionen für grandiose Ankäufe von Karamelbonbons und Schokoladentorten, worüber die geplagten Väter, nebeneinander auf dem Promenadedeck spazierend, sorgenvoll die Köpfe schütteln mußten.

Mein Sohn Bob war eine hübsche Puppe aus Zelluloid, sehr süß und albern, mit aufgerissenen, lachenden blauen Augen und schelmischen Grübchen in den rosa Backen. Ich liebte ihn heiß und hätte um die Welt nicht eine Nacht ohne ihn geschlafen. Seine Funktionen in meinem Leben waren mannigfacher und komplexer Art. Erstens war er mein geliebtestes Spielzeug und höchst geschätzter Besitz; zweitens gehörte er zu den Hauptfiguren, nicht nur in der »Gro-Schi« (Großes Schiff)-Welt, sondern auch in dem anderen Legendenkreis, den wir durch die Jahre hindurch entwickelten und weiterspannen. In diesem zweiten Mythos erschien der Zelluloid-Adonis als Sohn und Retter des greisen Königs Motz, dessen Leben und Reich von einer feindlichen Koalition bedroht war – dem grimmen Heere der Amazonen, als deren Anführerin unser Fräulein figurierte, und der Kohorte böser Gassenjungen, die uns auf dem Spaziergang zu belästigen pflegten.

Leider war Prinz Bob nicht so tugendhaft wie mutig. Nach gewonnener Schlacht erging er sich gerne in allerlei üppigen Zerstreuungen, unter denen der übermäßige Genuß von Cremetörtchen die kostspieligste und unmoralischste war. Kurzum, der strahlende Held und Erbe war zugleich ein rechtes Sorgenkind und ein leichtsinniger Taugenichts, der eine Menge skandalöser Unkosten verursachte. Und es war eben in dieser Eigenschaft – in seiner Rolle als schlemmerischer Prinz Charming – daß mein Zelluloid-Bob in der eleganten Sphäre des Passagierdampfers Zutritt fand. Seine liebenswürdige, wenngleich korrupte Persönlichkeit verband die beiden Regionen, den mondänen Dampfer und das kriegerisch-heroische Traumland.

Der blutige Zwist zwischen den edlen Puppen und den garstigen Amazonen schien ebenso unabsehbar wie die ziellose Wasserfahrt unseres Hauses. Die Intrigen und Abenteuer der beiden phantastischen Welten gingen mehr und mehr ineinander über. Golo und ich, die zwei gequälten Magnaten, hatten uns nicht nur über das jähe Auf und Ab der Wertpapiere Sorge zu machen, sondern auch über die strategische Lage an der Motzfront.

»Haben Sie das gelesen, Hochwürden?« fragte ich Golo, der antwortete: »Nein, Durchlaucht. Was gibt's denn Neues?«

»Zehntausend Babys gefallen«, verkündete ich düster. »Sonst nichts. Und zwei Millionen süßer Hündchen gefangengenommen. Vielleicht ist alles verloren, und König Motz muß abdanken – es sei denn, Prinz Bob verzichtet auf seine Kirschkuchen und vollführt einen seiner famosen Streiche.«

»Zu spät! Zu spät!« klagte mein würdiger Begleiter. »Wehe uns! Es ist aus mit dem guten König. Dort drüben naht sich, kichernd vor Schadenfreude, das Schauerweib, die Amazonenvettel!«

Und er deutete auf Fräulein Betty, die sich vom Hause her hastig näherte.

Spiele und Leben bilden eine Einheit – magisch ineinander verwoben. Die Spiele nehmen die kräftige Farbe der Wirklichkeit an, die Wirklichkeit hat den schillernden Zauber der Phantasien. Die Zeit der Kindheit scheint mir jetzt, in der Erinnerung, eine glänzende Reihenfolge heiterer Zeremonien und zeremonieller Freuden.

Es gibt immer etwas, dem man erwartungsvoll entgegensieht. Am Vormittag freut man sich auf das Mittagessen; während man die Suppe löffelt, träumt man schon vom Pudding. Von September bis Dezember wartet man auf Weihnachten – die wundervolle Minute im dunklen Zimmer, wo wir die feierlichen Lieder singen, bevor die Flügeltüre sich öffnet und den glitzernden Anblick des Zauberbaumes enthüllt; Weihnachten, wenn jeder sich mit gefülltem Gänsebraten und Marzipan überißt; das schöne Wiegenfest des Jesusknaben, der strahlende Höhepunkt des Kinderjahres. Die folgenden Wochen sind noch von Weihnachtserinnerungen erleuchtet, die allmählich in die Erwartung des Osterfestes übergehen. Freilich kann der Ritus der bunten Eier es nicht mit der großen Freude des geschmückten Tannenbaumes aufnehmen; aber Ostern ist auf seine Art doch auch eine große Sache – der heitere Beginn des Frühlings, das Versprechen des Sommers. Denn nun sind ja die warmen Monate schon nahe – der blühende Juni (in den der Geburtstag des Zauberers fällt), der sonnendurchwärmte Juli (der Mieleins Geburtstag als seinen Höhepunkt bringt), der schon etwas überreife, faule, satte August. Es sind diese Monate, die wir in Tölz verbringen eine pittoreske kleine Stadt im Isartal, am Fuß der Alpen.

Wir haben ein Haus in Tölz, das Tölzhaus, und einen großen Garten, wo man Spiele spielen kann, für die es anderwo nicht genug Platz gäbe. Die Ferienwochen sind lang, zunächst nehmen sie sich beinah endlos aus, aber schließlich gehen sie doch zu Ende. Der Sommer liegt erschöpft und seiner selbst ein wenig überdrüssig auf den Wiesen, deren Grün die erste Frische längst verloren hat. Die Spiele im großen Garten werden fade, wenn die Chrysanthemen ihre reife Pracht in den Blumenbeeten entfalten. Man ist froh, daß der Winter vor der Türe steht, mit Schneeballschlachten und Rodeln und den regelmäßigen Sonntagsessen im Hause der Großeltern.

Ofeys kostbarer Renaissance-Palast verlor nie seinen erregenden geheimnisvollen Zauber und war doch auch der vertrauteste Ort, das Kindheitsschloß, das große Haus der Erinnerungen. Es existierte immer, hat nie aufgehört zu sein. Die bescheidene Wohnung in Schwabing, in der ich geboren wurde, ist längst verblichen: wir verließen sie, als ich noch ein Baby war. Unser zweites Heim war in einer Gegend vorstädtischen Charakters gelegen, in Bogenhausen, nahe der Isar. Es muß ein geräumiges und angenehmes Appartement gewesen sein, aber es gewann nie die Würde des Mythischen; in meiner Erinnerung scheint die Wohnung in der Mauerkircher Straße nur ein komfortabler Warteraum, wo wir einige Jahre zubrachten, während das neue Haus im Entstehen war. Was dieses betrifft, eine stattliche Villa am Flußufer, so beherrscht sein Bild den größten Teil meiner Jugend. Und doch bleibt es »das neue Haus« für mich, da ich schon acht Jahre alt war, als wir 1914 einzogen.

Vier Jahre später, 1918, gaben wir das Landhaus in Bad Tölz auf – das geliebte Idyll so vieler Sommer. Tölz ist das Herz, die Quintessenz des Kindheitsmythos; aber seine Realität ist irgendwie fragwürdig, schattenhaft geworden. Ich habe das Haus nicht betreten seit dem Tage, da wir es verließen. Freilich erinnere ich mich noch der Anordnung der Zimmer, der Form und Farbe der Möbel, des weiten Blickes, den man von der Terrasse über das Tal zum Gebirge hatte. Aber alle Details sind verwischt und verwandelt zu tief durchtränkt von Heimweh mythisch-glücklicher Vergangenheit.

Der einzige Ort, dessen legendäre Würde es mit derjenigen von Tölz aufnehmen konnte, war Großvater Ofeys prächtige Residenz in der Arcisstraße, im Zentrum der Stadt München. Aber die »Arcissi«, wie das großelterliche Haus bei uns hieß, war noch intakt, noch gegenwärtig, als das Tölzhaus sich längst jener wunderbaren Metamorphose unterzogen hatte, die Tapeten, Fenster, Öfen und Terrassen in die geisterhaft zarte und unzerstörbare Substanz des Mythos verwandelt. Wenn ich versuche, mir das erste Eßzimmer vorzustellen, wo ich in der Gesellschaft der Erwachsenen aufrecht bei Tische sitzen durfte, so ist es der große Speisesaal des Pringsheimschen Hauses, der mir in den Sinn kommt – reich geschmückt mit Gobelins, schönem Silbergerät und den langen Reihen von Ofeys schillernden Majolikas. Unsere ganze Kindheit hindurch bedeutete uns diese Sammlung den Inbegriff von kostbarer Zerbrechlichkeit. Denn man hatte uns eingeschärft, daß jeder dieser bunten Teller, Schalen und Krüge ein Vermögen wert sei: ein Kind, das einen solchen Wunderteller berühren oder gar zerbrechen wollte, machte sich eines unverzeihlichen Verbrechens, einer wahren Todsünde schuldig, es wäre noch schlimmer als Mord oder »Schöpfen«. Das will viel bedeuten, denn es war uns aufs strengste verboten, den Partner beim Raufen zu »schöpfen« (will sagen, an den Haaren zu ziehen), eine unfaire Taktik, die, nach Ansicht der Blauen Anna, eine krebsartige Erkrankung der Kopfhaut fast unvermeidlicherweise verursachte. Ofeys Schätze jedoch waren noch heiliger als die Locken und der Skalp unseres Nächsten. Es war ein gräßlicher und dabei doch auch lustvoller Gedanke, daß man etwa durch einen bösen Zauber gezwungen sein könnte, die ganze Pracht des Ofey-Hauses zu zerstören – die Majolikas im Speisesaal und in der großen Diele, die empfindlichen Samtbezüge in Offis »gutem Salonzimmer« (wie sie ihr exquisites Boudoir stets mit warnendem Nachdruck nannte), die schlanken Bronze-Statuetten in der Bibliothek, die delikaten Atlaskissen, welche die Bänke im Musiksaal bedeckten. Was für ein infernalischer Spaß das wäre! – auf den dicken Perserteppichen mit kotigen Stiefeln herumzutrampeln, die Gemälde von Lenbach und Hans Thoma von den Wänden zu reißen, und das Chaos, die Anarchie selbst in den ersten Stock zu tragen, wo die großelterlichen Schlafgemächer gelegen waren. Offi würde silbrig kreischen und sich ihr schönes kastanienbraunes Haar raufen. Und Ofey? Hier weigerte sich unsere blutrünstige Phantasie, weiterzugehen. Der cholerische kleine Herr könnte sich in seinem Zorn zu Racheakten von wahrhaft alttestamentarischer Furchtbarkeit hinreißen lassen … Man malte es sich lieber nicht zu genau aus. In Anbetracht von so gefährlicher Reizbarkeit schien es ratsam, die vandalischen Impulse zu überwinden und zivilisiert zu bleiben.

Sie waren charmante Leute, unsere Großeltern, solange man ihre Kostbarkeiten in Ruhe ließ und sich überhaupt hübsch artig bei ihnen aufführte. Offi war anmutig und majestätisch, Ofey steckte voll bizarrer Einfälle und kleiner Spaße, von denen viele »nichts für Kinder« waren. Wir verstanden sie ohnedies nicht, lauschten aber gerne seiner knarrenden Stimme. Seine Stimme krächzte wie keine zweite; sein bedeutend gewölbter Schädel war von exemplarischer Kahlheit. Er war der glatzköpfige kleine Mann mit den flinken Augen und dem reizbaren Temperament. Er war der Großvater.

Ein zweiter Großvater war undenkbar; Ofey vereinigte alle Charakteristiken und Würden der Großvatergattung in seiner pittoresken und dynamischen Persönlichkeit. Aber Offi hatte eine Rivalin in Omama – der zweiten, und auch etwas zweitklassigen, Repräsentantin des großmütterlichen Mythos. Denn im Gegensatz zu der brillanten Selbstbewußtheit und Eleganz von Mieleins schöner Mama wirkte die alte Senatorin Mann glanzlos und bescheiden.

Eine bleiche, aschgraue Färbung eignete ihrer Stimme, ihrem Teint, ihren Kleidern, ihrer schlichten Wohnung und selbst ihrer ängstlichen Rede. Immer schien sie gequält von abergläubischen Ahnungen und hypochondrischen Sorgen. Wenn wir in ihrer überfüllten Stube den Tee nahmen, was drei- oder viermal im Laufe des Jahres geschah, verabreichte sie uns Berge von staubigem Gebäck und, gleichsam als obligatorische Dreingabe, große Dosen doppelkohlensauren Natrons. Dabei unterhielt sie uns mit schaurigen Geschichten über scheinbar harmlose Krankheiten, die sich ganz plötzlich als unheilbar herausstellen konnten; über »kalte Blitze«, die in Form von durchsichtigen Kugeln auftreten und zunächst ganz reizend anzusehen sind, wenn sie vom Dache abwärts durchs Haus schweben, von Stockwerk zu Stockwerk, bis sie den Keller erreichen, wo sie explodieren und alles verwüsten; oder über Kinder, die die Angewohnheit hatten, häßliche Gesichter zu schneiden und gerade dabei waren, sich eine neue, besonders abscheuliche Grimasse einzuüben, als die Uhr schlug – woraufhin ihre Züge für immer verzerrt blieben.

Wir wußten die Geschichten zu schätzen wie auch die etwas fahlen Leckereien und das heilsame Natron. Auf ihre schlichtere Art, so empfanden wir, war Omama eine fast ebenso vorzügliche Ahnfrau wie Offi.

Beide Großmütter – so unendlich verschieden voneinander – wurden von grausamen Schicksalsschlägen getroffen, die sich seltsam ähnelten und übrigens beinahe gleichzeitig eintrafen, wenn auch ohne ursächlichen Zusammenhang. Trotzdem werden die beiden Tragödien in meinem Gedächtnis stets aufs engste miteinander verbunden bleiben – eine doppelte Heimsuchung, die unserer sonst eher heiteren Familienchronik eine Nuance des Düster-Schrecklichen gibt.

Die Persönlichkeiten der beiden Opfer sind in meiner Erinnerung ganz verblaßt. Ich könnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob ich Mieleins ältesten Bruder, den Onkel Erik, jemals mit eigenen Augen gesehen habe, ehe er sich nach dem fernen Land Argentinien einschiffte, wo er den Tod finden sollte, diesen exotischen, wilden Tod in der Prärie, in der Wüste. Auch Tante Carla, Omamas jüngste Tochter, habe ich kaum gekannt. Man erzählte uns von ihr, sie sei plötzlich einem Herzschlag erlegen. Von Onkel Erik hieß es, er sei »vom Pferde gestürzt«. Das paßte gut zu der Photographie, die auf Mieleins Schreibtisch stand und den Onkel im Reitkostüm auf einem Schimmel zeigte. Seine Miene war energisch und etwas übellaunig – ein rechtes Reitergesicht –, während die arme Tante Carla immer lächelte. Ihr Porträt schmückte das väterliche Arbeitszimmer. Sie hielt das lächelnde Gesicht über einen Blumenstrauß geneigt, dessen Parfüm sehr stark und sehr bezaubernd sein mußte. Das schöne Antlitz der Tante mit den schweren, halbgeschlossenen Augenlidern und den geöffneten Lippen sah aus, als sei sie im Begriffe, vor Wonne in Ohnmacht zu fallen.

Das Drama in Argentinien ereignete sich vor der makabren Szene, der Omama im eigenen Hause beiwohnen mußte; es mag sogar sein, daß Eriks Tod einige Monate oder ein Jahr vor Carlas Selbstmord stattfand. Aber die chronologischen Details sind nebensächlich; in meiner Erinnerung fließen die beiden Katastrophen ineinander. Ich höre den Aufschrei der Offi: »Mein Erik! Mein Sohn! Mein Reitersmann! Ermordet – von einem Pferde –! Verblutet im fernen Land Argentinien!« – ein Ausbruch, bei dem ich natürlich in Wirklichkeit nicht zugegen war, aber den ich mir so oft und so intensiv vorstellte, daß er schließlich für mich zur Realität wurde. Und während Offis theatralisches Wehklagen das Haus in der Arcisstraße erfüllte, schallte aus einer trübseligen Mietswohnung gerade um die Ecke Omamas herzzerbrechende Klage. »Carla! O Carla!« seufzt Omama. »Erik! O Erik!« gellt Offis Ruf.

Schließlich verlassen die beiden trauernden Mütter ihre Behausungen, getrieben von ihrem Jammer und von dem verständlichen Wunsch, der schwesterlichen Nachbarin das furchtbare Ereignis mitzuteilen. Von schwarzen Schleiern umweht, mit schwarzen Handschuhen, schwarzem Regenschirm und der schwarzumrandeten Depesche winkend, eilen sie tragisch beflügelten Ganges die Straße hinunter, jede nähert sich hastig dem Logis der anderen. Sie begegnen sich genau auf halbem Wege zwischen ihren Häusern, ja, sie stoßen beinahe zusammen, rennen einander fast über den Haufen. Beide blind vor Kummer und natürlicher Kurzsichtigkeit.

»O Julie, Liebste!« ruft Offi. »Welch ein Trost, dich zu sehen! Du wirst nie erraten, was mir soeben widerfahren ist!«

» Dir?« fragt Omama atemlos, nicht ganz ohne Pikiertheit. »Wovon sprichst du, Hedwig, Liebste? Schließlich war Carla mein Kind!«

Das Mißverständnis zieht sich eine Weile hin und produziert Effekte von grauser Komik. Schließlich verstehen sie einander und brechen in erneute, verdoppelte Klagen aus. Die zwei kummervollen Matronen, die hehre Offi und die demütige Omama, umarmen sich, vereint in Schmerz und Verlust.

»Meine betroffene Schwester!« flüstert die eine der anderen ins Ohr. Ihre Tränen und Trauerschleier fließen ineinander, da sie in verzweifelter Zärtlichkeit umklammert stehen. Unversehens, ganz in ihr Leid vertieft, sind sie auf einen der Marmorsockel gestiegen, deren es in der Kunststadt München so viele gibt. Von einem steinernen Helden aus dem Hause Wittelsbach ritterlich bewacht, stehen die beiden, ihrerseits versteinert, mitten auf dem Karolinenplatz, eine zweiköpfige Niobe von schwarzem Crêpe umwallt, ein Doppelmonument der Verzweiflung.

Habe ich jemals den Geschichten Glauben geschenkt, die uns über den jähen Tod unserer Verwandten erzählt wurden. Dies ist eine heikle Frage, die uns tief hinein ins Labyrinth der kindlichen Psyche führt, einer Psyche, in der Leichtgläubigkeit und Skepsis so wunderlich nahe beieinander wohnen. Nein, es kam mir wohl nicht in den Sinn, die »Bearbeitung für die Jugend«, in der das Familiendrama uns präsentiert wurde, eigentlich anzuzweifeln, was aber keineswegs sagen will, daß ich diese schonende Version wirklich glaubte. »Glauben« setzt einen positiven Impuls voraus, ist eine Handlung, etwas, das man bewußt und vorsätzlich tut; »Nicht-Bezweifeln« ist ein Negativum, Ausdruck einer passiven Haltung, ein Verzicht eher als eine Aktion. Man unterläßt es, vielleicht nur aus Trägheit oder aus Höflichkeit, der Wahrheit nachzuforschen, oder vielleicht einfach, weil man fühlt, daß es nicht gut wäre, alles zu wissen.

Kinder, bis zu einem gewissen Alter, sind höflich und behutsam. Ihre instinktive Neugier wird durch die ebenso instinktive Ahnung in Zaum gehalten, daß die Wahrheit störend, ja unter Umständen verderblich sein kann. Außerdem wäre es peinlich, die Erwachsenen auf Lügen zu ertappen. Lieber »glaubt« man weiter ans Christkind, das am Weihnachtsabend emsig die Geschenke verteilt, an den Klapperstorch, der die Babies bringt, und an das wilde Pferd, von dessen Rücken der arme Onkel Erik sich zu Tode stürzte.

Indessen unterschieden wir doch, wenn auch nur unbewußt, zwischen unbedenklichen Geschichten, bei denen man gern verweilte und die man sich immer wieder erzählen ließ, und jenen unheimlich vagen, schaurig ungenauen Überlieferungen, die man besser nicht zu oft erwähnte. Omamas große Erzählung vom »kalten Blitz», der durch die Decke schwebte, war phantastisch, aber doch plausibel: die schillernde Kugel (wir stellten sie uns wie eine besonders wohlgeratene Seifenblase vor) und die Explosion im Keller gaben stets ein anheimelnd-grusliges Gesprächsthema ab. Aber wenn die liebe Alte von dem Herzschlag sprach, dem unsere Tante Carla angeblich erlegen war, dann klangen ihre Worte irgendwie hohl und unzulänglich, und uns Kindern wurde bang zumut.

»Wie ist es denn passiert?« fragten wir wohl, ohne aber eine befriedigende Antwort zu erwarten. »Hat sie sich erkältet und ging dann ohne Mantel in die kalte Abendluft?«

Omamas gutes Gesicht wurde seltsam starr und ausdruckslos. »Nein, mit einer Erklärung hatte es nichts zu tun«, sagte sie leise, wobei ihr gequälter Blick an uns vorbei, durch uns hindurch ins Leere zu gehen schien. »Es war ihr Herz. Nur ihr Herz brach … Weiter nichts. Nun, Kinder, wie wär's mit noch einem Stück von diesem leckeren Sandkuchen?«

Offis Reaktion war noch erschreckender, wenn wir gelegentlich auf jenes verhängnisvolle Pferd in Argentinien zu sprechen kamen. Sie wandte nur ihr schönes, weißes Gesicht zur Seite und saß für eine Weile reglos, wie versteinert. Nach einer langen, fürchterlichen Stille murmelte sie, daß nicht nur die Pferde gefährlich seien in diesen fernen Landen und daß niemand seinen Sohn dazu zwingen sollte, sich in solcher Wildnis anzusiedeln …

Zweifellos hatte es irgendeine nicht geheure, düstere Bewandtnis mit dem jähen Herzschlag und dem ungebärdigen Hengst. Hier handelte es sich wohl um Geheimnisse, an die man nicht rühren durfte. Wir begriffen dies und achteten das Tabu.

Man entdeckt keine Wahrheit, nach der man nicht erst gesucht hat. Das Forschen ist an sich schon beinah die Entdeckung. Man findet immer, wenn man innig genug sucht; auf jede dringlich gestellte Frage kommt schließlich die Antwort. Oft zu unserem Schmerz.

Das fleißige und generöse Christkind wird von der Flut der Weihnachtsreklamen hin weggeschwemmt werden; an Stelle des Storchenschnabels, der die Neugeborenen durch die Lüfte trägt, tritt ein anderes Symbol. Und eines Tages – nur Geduld, es wird nicht lange währen! – wirst du auch all die melancholischen Details über Tante Carlas Selbstmord erfahren: wie sie das Gift im Hause ihrer Mutter schluckte und dann mit lauwarmem Wasser gurgelte, um die Höllenpein in der verätzten Kehle zu lindern. Ihre Mutter, unsere beklagenswerte Omama, rüttelte indessen von draußen an der Tür und beschwor die Schauspielerin-Tochter zu öffnen. Aber diese, von Sinnen vor grausamem Stolz, physischer Pein und Verzweiflung, fuhr fort zu gurgeln und zu sterben. Wie allein sie war, wie furchtbar verlassen in ihrer verriegelten Todeskammer! Allein wie ein Tier im Käfig, nein, isoliert wie eine Tragödin auf erhellter Bühne spielte sie ihre letzte Szene, hin und her schreitend, den engen Raum schwankenden Ganges durchmessend, die flache Hand auf den verbrannten Mund gepreßt, die begeisterten, trostlosen, todessüchtigen Augen ins Leere gerichtet. So gut war sie nie gewesen. In keiner der Provinzstädte, wo sie hatte agieren dürfen, war ihr eine so schöne Rolle jemals anvertraut worden. Aber da war niemand, um dieser glanzvollen Nummer, dieser grandiosen Pantomime der Agonie gebührend Beifall zu klatschen. Niemand wohnte der hinreißenden Abschiedsvorstellung bei. Nur die Mutter, deren Wimmern nicht mehr gehört ward von der Sterbenden.

Auch in die traurigen Umstände von Onkel Eriks Tod sollten wir schließlich eingeweiht werden. Er war ein hochfahrender und eigensinniger Herr, unser Onkel Erik, rücksichtslos, impulsiv, ein Kavalier und Verschwender. Als seine Spielschulden die bestürzende Höhe von zweihunderttausend Mark erreicht hatten, gab es großen Krach in der Arcisstraße: dem Ofey riß die Geduld, wutschnaubend kaufte er dem unbeherrschten Sohn eine Farm in Argentinien. Dorthin mußte der trotzige Kavalier sich nun begeben. Es war die Verbannung. Die Details der Tragödie, die sich in so furchtbarer Ferne, gleichsam in einer anderen Welt ereignete, waren nicht mehr zu eruieren … er wurde ermordet oder in den Selbstmord getrieben.

Bezähme deine Neugier, solange du irgend kannst! Versuche nicht, den Geheimnissen der Erwachsenen auf den Grund zu kommen! Es ist aus Scham und Erbarmen, daß sie dir ihre Geschichten verbergen, ihre finsteren, schmutzigen, verworrenen Geschichten … Genieße die wolkenlosen Himmel der Unwissenheit! Höre nicht auf die Schlange, die dir zuflüstern will, wie die Kinder gemacht werden und was dem verlorenen Onkel in seinem Farmhaus geschah! Wissen ist unfruchtbar: es bringt kein Glück. Aber was du verscherzest, ist kostbarer als alles, ist unwiederbringlich: das Paradies der Unschuld.

Das Paradies hat den bittersüßen Duft von Tannen, Himbeeren und Kräutern, vermischt mit dem charakteristischen Aroma des Mooses, das von der Sonne durchwärmt ist, der großen, mächtigen Sonne eines Sommertages in Tölz. Die Lichtung, wo wir den Morgen mit Beerenpflücken verbringen, liegt mitten in dem schönen, großen Wald, der gleich hinter unserem Hause beginnt. Gibt es irgendwo auf der Welt noch andere Wälder, die sich mit diesem vergleichen ließen? Gewiß nicht; denn unser Wald ist durchaus einzigartig, der Wald par excellenze, der mythische Inbegriff des Waldes, mit der Tempelperspektive seiner schlanken, hohen, säulenhaft glatten Stämme, mit seinem feierlichen Zwielicht, seinen Düften und Geräuschen, den hübschen Bildungen seiner Pilze und Sträucher, mit seinen Eichhörnchen, Felsen, schüchternen Blumen und murmelnden Wasserläufen.

Und hier sind die vier Kinder mit dem Hund und mit der Mutter, die ein Sommerkleid trägt, ein dekoratives Gewand aus schwerem, rauhem Leinen mit weiten, gepufften Ärmeln und reicher Stickerei: wir nennen es »das Bulgarische«, weil einer der Onkel es einmal aus dem Balkan mitgebracht hat. Die Mutter ist ohne Kopfbedeckung; ihr üppiges, dunkles Haar glänzt im Sonnenlicht. Sie sitzt auf einem Baumstumpf, neben ihr liegt der Motz, dem eine elegant geformte, spitze, hellrote Zunge aus dem geifernden Maule hängt. Er hat im Walde nach Mäusen und Vögeln gejagt, es muß äußerst genußreich für ihn gewesen sein. Noch fliegt sein Atem, aber die schönen, bernsteinfarbenen Hundeaugen sind voll Frieden und Dankbarkeit. Der Motz lacht ein bißchen. Ja, wir können ganz deutlich sehen, daß er still in sich hineinlacht, während Mielein ihm mit zerstreuter Zärtlichkeit den seidigen Nacken liebkost.

»Pfui, Kinder! Wie furchtbar ungezogen ihr seid!« Dies ist ihre scherzhaft scheltende Stimme. »Ihr sollt doch nicht die Himbeeren jetzt schon essen! Wir pflücken sie zu einem bestimmten Zweck! Das wißt ihr doch! Die Affa spielt bekanntlich mit der Idee, höchstpersönlich einen Himbeerkuchen zum Abendessen zu backen. Sie wird fuchsteufelswild, wenn wir ihr nicht genug Beeren in die Küche bringen. Ihr werdet es ja sehen: sie zerplatzt vor Zorn!«

Sie spricht so geschwind und gebraucht so drollige Worte, daß wir lachen, anstatt erschreckt zu sein. Besonders der Gedanke, daß die Affa vor Entrüstung zerplatzen könnte, kommt uns unwiderstehlich komisch vor. Sogar Mieleins Drohung, daß sie sich beim Zauberer über uns beschweren werde, macht uns nur wenig Eindruck. »Er wird euch höchstwahrscheinlich umbringen«, verheißt sie uns und muß selber lachen. Sie weiß so gut wie wir, oder besser daß der Zauberer sich wegen der fehlenden Himbeeren kaum sehr alterieren würde, sogar wenn Mielein es sich einfallen ließe, bei ihm Klage zu führen.

»Haben sie wirklich all die kleinen Beeren verschmaust?« würde er mit einem geistesabwesenden Lächeln sagen, um dann mit hochgezogenen Augenbrauen hinzuzufügen: »Ich hoffe nur, es waren keine giftigen darunter!«

Er ließ es sich oft angelegen sein, uns vor giftigen Beeren und Pilzen zu warnen, ganz besonders vor den gefährlichen Tollkirschen. »Waldmännchen hat Kirschen ohne Stein«, mahnte er uns mit erhobenem Zeigefinger, und es war höchst rührend und sonderbar zu beobachten, wie seine Miene in solchen Augenblicken derjenigen seiner Mutter, unserer Omama, ähnlich wurde. Das besorgte Gesicht des Vaters schien sich in die Länge zu ziehen, als ob es von einem Zerrspiegel reflektiert würde, indes die Augen unter den hochgezogenen Brauen kleiner und dunkler wirkten, als wir sie sonst kannten. Wir waren uns nie ganz darüber klar, ob er bei Unterhaltungen dieser Art seine Mutter absichtlich imitierte, um uns zum Lachen zu bringen, oder ob er sich der Ähnlichkeit überhaupt nicht bewußt war und ganz unabsichtlich die omamahaften Züge annahm, während er uns ganz im Geist und Stil der Omama, vom gefleckten Fliegenpilz und dem unzuträglichen Schierlingskraut erzählte.

Er erschien Punkt zwölf am Rande der Waldeslichtung, um Mielein und uns zum Baden abzuholen. Der moorige Teich, in dem wir schwimmen lernten, der sogenannte »Klammerweiher«, lag etwa eine Viertelstunde von unserem Haus und unserem Wald entfernt. Es war eine eher ermüdende Wanderung in der schwülen Mittagsstunde auf dem schattenlosen, geschlängelten »Wiesenweg«, der querfeldein zum Badeplatz führte. Aber was für ein Pfad! Was für eine Landschaft! Es gibt keine andere, die mir ebenso liebenswert schiene …

Ja, dies ist Sommer: Wir sieben – zwei Eltern, vier Kinder und ein tanzender, wirbelnder Motz – auf dem Wiesenweg, langsamen Schrittes marschierend, dem Klammerweiher entgegen. Der Grund, auf dem wir gehen, ist weich und elastisch, es ist sumpfiger Boden: daher die Üppigkeit der Vegetation, das tiefe Grün des saftig wuchernden Grases, das flammende Gold der Butterblumen, der reiche Purpur des Mohns.

Dies ist der Sommerhimmel: in seinem Blau schwimmen weiße, flockige Wolken, die sich zwischen den alpinen Gipfeln zu barocken Formationen ballen. Die Luft riecht nach Sommer, schmeckt nach Sommer, klingt nach Sommer. Die Grillen singen ihr monotonhypnotisierendes Sommerlied. Zu unserer Rechten liegt das Sommer-Städtchen, Tölz mit seinen bemalten Häusern, seinem holprigen Pflaster, seinen Biergärten und Madonnenbildern. Um uns breitet sich die Sommerwiese; vor uns ragt das Gebirge, gewaltig getürmt, dabei zart, verklärt im Dunst der sommerlichen Mittagsstunde.

Seht, und da ist unser Sommer-Weiher, ein kleiner, runder Teich mit hohem Schilf am Ufer. Weiße Wasserrosen, beinah tellergroß, schwimmen auf seiner regungslosen, dunklen Fläche. Das Moorwasser, es ist gold-schwarz in meiner Erinnerung, atmet einen kräftig-aromatischen, dabei etwas fauligem Geruch. Es ist von seltsamer Substanz, das Wasser des Klammerweihers, sehr klar trotz seiner dunklen Färbung, von fast öliger Weichheit, und so schwer, daß man das eigene Gewicht kaum spürt, solange man sich seiner goldenen Tiefe anvertraut. Trotzdem hat ein Bäckergeselle aus dem benachbarten Dorf es fertiggebracht, in unserem Teich zu ertrinken. Wir haben seine Leiche gesehen, schön säuberlich aufgebahrt zwischen Blumen und Kerzen.

Es kam gar nicht selten vor, daß wir abends einen Spaziergang zum Friedhof unternahmen, besonders seitdem unsere frühere Köchin, die dicke Marie, den Herrn Schmiedl von der Friedhofsgärtnerei geheiratet hatte. Die Inschriften auf den Grabsteinen kamen uns komisch vor. Was für kuriose Namen die Toten hatten! Sie hießen »Der ehrbare Jüngling Xaver Hinterhuber« und »Das fromme Mägdelein Annastasia Bierdotter«. Die Nähe der Verwesung ängstigte uns nicht. Wir lasen, daß »der ehrbare Jüngling« und »das fromme Mägdelein« hier »in Frieden ruhten«, aber wir konnten uns nichts drunter vorstellen. Der Tod hatte keine Realität für uns; er war eines jener Geheimnisse der großen Leute, um die man sich besser nicht kümmerte, eine »Erwachsenen-Sage«.

Warum führte uns die Affa, zufällig – wie sie später behauptete – in jene abgelegene Kapelle, wo der ertrunkene Bäcker unter einem Berg von weißen Blüten zur Schau lag? Erst begriffen wir nicht, daß es ein Toter war, dem wir da gegenüberstanden. Wir hielten ihn für ein Gebild aus Marmor oder Wachs, ein frommes Kunstwerk, bestimmt zum Schmucke eines Grabes oder der Kapelle. Aber die Affa klärte uns eilig auf. Ihre Stimme zischte vor Erregung. Erkannten wir es nicht, das Zischen der argen Schlange, da sie uns flüsternd verriet, was es auf sich hatte mit der »Wachsfigur«: daß es der Bäckergeselle war aus dem nächsten Dorf, und daß er nach einem Biergelage hatte schwimmen wollen im Klammerweiher, wobei ihn denn sein Schicksal ereilte. »Ersoffen ist er, jämmerlich ersoffen!« raunte die Affa. »Und wißt ihr auch, warum er die schwarze Binde um den Mund hat? Weil seine Lippen ganz blau sind und geschwollen! Man kann sie gar nicht anschauen, seine Lippen, ohne daß einem übel wird …«

Aber was man von ihm anschauen konnte, war nicht häßlich, sondern schön. Von einer fremden, spröden, beunruhigenden Schönheit. Was für empfindliche, edle Hände er hatte! Hände wie ein Prinz: wie kam der Bäckergeselle dazu? Und sein elfenbeinfarbenes Antlitz! Wie vornehm es schien, ja wie majestätisch mit seiner glatten Stirn, den für immer geschlossenen Lidern!

Worauf tat er sich denn so viel zugute, der Schweigende dort zwischen den Blumen und Kerzen? Hatte er denn eine Heldentat vollbracht, indem er im Klammerweiher ertrank? Oder war es die bloße Tatsache, daß er tot war, die ihn so prinzlich und so kostbar machte? Aber die Erwachsenen behaupteten doch, daß wir alle sterben müssen … Wie konnte der Tod also eine besondere Auszeichnung sein? Warum war sein Anblick so furchtbar und so schön?

Wir standen reglos, versunken in das Bild dieser unbegreiflichen Hoheit, als Affas Stimme uns mahnte: »Zeit zum Nach-Hause-Gehen, Kinder! Jetzt habt ihr ihn ja gesehen …«

Ja, nun hatten wir ihn gesehen, den Toten, feierlich zur Schau gestellt in der Grabkapelle. Wir würden ihn nicht vergessen. Ewig jung, in vornehm bleicher Verklärung, gesellte sich der Bäckergeselle zu den Mythen der Kindheit.

Der Wendepunkt

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