Читать книгу Der Wendepunkt - Клаус Манн - Страница 5
Zweites Kapitel.
Krieg 1914–1919
ОглавлениеEs gab kein blutiges Schwert am Himmel. Aber daß unser Vater die Schwert-Erscheinung ankündigte, war seltsam und bedrohlich genug.
Unser Sommer in Tölz war besonders nett dieses Jahr. Drei lustige Cousinen, Eva-Marie, Rose-Marie und Ilse-Marie, bewohnten das Nachbarhaus gemeinsam mit ihrer zarten Mama, unserer Tante Lula, und ihrem lebhaften kleinen Vater, unserem Onkel Jof, einem bayerischen Bankier. Die drei Mädchen waren gute Kameraden – sehr brauchbar und gefügig. Wir sieben – vier Mannkinder und drei Löhrmädchen – bildeten eine unternehmungslustige kleine Gesellschaft, unermüdlich beschäftigt mit dem Erfinden immer neuer Spiele und Streiche.
Ein Mummenschanz, auf Mitte August festgesetzt, sollte den Höhepunkt der Saison bilden. Wir beabsichtigten, die Erwachsenen mit einer Theateraufführung großen Stils zu überraschen einem wirklichen Fest-Spiel voll Spannung und buntem Zauber. Eva-Marie, die Älteste, leitete die Proben, die in unserem Garten unter dem Kastanienbaum stattfanden. Alles ging glatt, wir konnten schon unsere Rollen, die Affa war mit der Herstellung der Kostüme beschäftigt; da gab es einen störenden kleinen Zwischenfall.
Erst dachten wir, es handle sich nur um eine bedeutungslose Laune des Kinderfräuleins. Es sah ihr so recht ähnlich, unsere künstlerische Arbeit zu unterbrechen, gerade als Eva-Marie dabei war, ihren schönsten Monolog zu rezitieren. Die Miene des Fräuleins schien uns blaß und verzerrt vor Bosheit, als sie uns mit ominöser Höflichkeit bedeutete, daß gerade jetzt kaum jemand sich für unser Schauspiel interessieren würde. »Ihr laßt es wohl besser sein«, sagte sie spitzig.
Was das heißen solle, fragten wir, bebend vor Erregung. »Wollen Sie uns wirklich zumuten, unser großes Unternehmen aufzugeben, nur weil Sie einmal wieder schlechter Laune sind?«
Sie zuckte die Achseln voll spöttischer Überlegenheit. »Mit meiner Laune hat dies nichts zu tun«, stellte sie trocken fest. Und, mit höhnischem Triumph: »Dem deutschen Reich und unserem österreichischen Bundesgenossen ist soeben der Krieg erklärt worden.« Nach einer eindrucksvollen Pause fügte sie noch hinzu: »Der Kaiser hat persönlich das Oberkommando von Armee und Flotte übernommen«, als ob diese strategische Einzelheit die Absurdität unseres theatralischen Planes endgültig bewiese. »Aber ihr seid ja noch viel zu jung, um die Größe solcher historischen Begebenheiten zu begreifen.« Dabei wandte sie sich schon zum Gehen.
In der Tat, wir waren viel zu jung. Wir saßen im Gras und staunten. Keiner von uns hat die leiseste Idee, was die Mitteilung des Fräuleins bedeutete. Konnte der Kaiser, in seiner neuen Stellung als Oberbefehlshaber, einfach unsere Vorstellung verbieten? Offenbar war dies ein Problem von entscheidender Wichtigkeit. Wir besprachen es lange, bis wir uns schließlich dahin einigten, daß es sich in einem so heiklen Falle empfehle, die Eltern zu Rate zu ziehen. Es war am späten Nachmittag – die Stunde, da die Eltern meist nach dem Tee noch etwas auf der Terrasse saßen. Dort fanden wir sie, aber der Teetisch war nicht gedeckt. Mielein saß, etwas in sich zusammengesunken, auf einem der Liegestühle mit einer riesigen Zeitung vor sich ausgebreitet wie eine Landkarte, die sie mit zusammengezogenen Brauen studierte; der Vater stand am anderen Ende der Veranda, ziemlich weit von Mielein entfernt, feierlich vertieft in den Anblick von Bergen und Himmel. Es war ein Sonnenuntergang von ungewöhnlicher Pracht, beinah beängstigend großartig, der flammende Horizont verschwenderisch in purpurne, bläuliche und silberne Töne getaucht. Die zackigen Kurven der Bergspitzen hoben sich in eisiger Klarheit von diesem fiebrig belebten Hintergrunde ab.
Der Vater wandte seinen Kopf nicht gegen Mielein, auch bemerkte er unsere Gegenwart nicht, als er mit gesenkter, ernster Stimme sagte: »Nun wird auch bald ein blutiges Schwert am Himmel erscheinen.«
Danach hatten wir nicht mehr den Mut, unsere Fragen zu stellen. –
Krieg schien aufregender als jedes andere Spiel, das uns bisher vorgekommen war. Der große Spaß bestand darin, daß die Erwachsenen mit hektischem Enthusiasmus an dieser neuen Lustbarkeit teilnahmen. Jedermann schien von der Stärke der Koalition geschmeichelte, die sich gegen unser Vaterland zusammengetan hatte. Offenbar war das Hauptziel dieses Spieles, sich so verhaßt wie möglich bei den anderen Völkern zu machen. »Viel Feind, viel Ehr!« Der Schlachtruf klang lustig und siegesgewiß. Die Tölzer Ladenbesitzer und Bauern amüsierten sich über die vielen Kriegserklärungen. Jetzt auch noch Rumänien! So ein Glück! Alle wollten gegen Deutschland kämpfen! Nun, unser Kaiser hatte Schneid genug, es mit der ganzen feigen Bande aufzunehmen.
Frau Holzmeyer vom Kolonialwarengeschäft äußerte sich verächtlich über das dekadente Frankreich und das perfide Albion; Frau Pöckel von der Drogerie legte besonderen Wert darauf, den russischen Bären bald geschlagen zu sehen. Was den Apotheker um die Ecke betraf, so hatte er aufsehenerregende Nachrichten von seinem Sohn, der als Oberfeldwebel bei den Ulanen diente. Diesem eingeweihten jungen Mann zufolge war Paris vollkommen unterminiert und konnte jeden Augenblick in die Luft gesprengt werden – es hing nur von unserem Kaiser ab, den entscheidenden Wink zu geben.
Die kleine Stadt schwirrte von Gerüchten und Prophezeiungen. Düstere Geschichten über feindliche Geheimagenten wurden eifrig auf dem Marktplatz diskutiert. Der Mann vom Telegraphenamt erging sich in alarmierenden Andeutungen, chiffrierte Depeschen betreffend, die über seine Funkstation gegangen waren und klar anzeigten, daß das Trinkwasser in Tölz und den benachbarten Orten vergiftet war. Eine ältere Dame, die seit mehreren Wochen im Gasthaus zum Goldenen Hirschen logierte, wurde beinahe vom Pöbel gelyncht, weil sie mit einem fremdländischen Akzent sprach und überhaupt einen verdächtigen Eindruck machte. Die Züge waren überfüllt, die Hotels verödet. Die Sommerfrischler hasteten zum Bahnhof, als ob Tölz und das benachbarte Bad Krankenheil dazu bestimmt seien, über Nacht zum Kriegsschauplatz zu werden.
Auch unsere Verwandten – die Löhrs sowohl wie die Manns eilten nach München, um verschiedenen Vettern und Brüdern Lebewohl zu sagen. Mielein mußte Offi trösten, die wegen Onkel Peter in aufgelöstem Zustand war. Dieser weilte zufällig als Gast eines wissenschaftlichen Kongresses in Australien, was offenbar eine große Unannehmlichkeit bedeutete, da auch Australien uns mutwillig den Krieg erklärt hatte. Onkel Peter war Physiker und, nach Onkel Eriks Tod, Mieleins ältester Bruder. Einen Onkel hatten wir schon im fernen Argentinien eingebüßt; sollte uns nun noch ein zweiter im ebenso entlegenen Australien kaputtgemacht werden? Der Gedanke hatte etwas Empörendes; aber man kam nicht recht dazu, sich um Onkel Peter so ausführlich und intensiv zu sorgen, wie er es wohl verdient hätte. Es gab zu viele Aufregungen – jeden Tag etwas anderes.
Das Fräulein sagte, daß in solch großen, wundervollen Tagen niemand an sich selber denken dürfe: »Die ganze Nation muß Opfer bringen!« Was sie betraf, so tat sie sich viel auf einen Cousin zugute, der Kapitän in der Kriegsmarine war. Wenn ihr Bräutigam noch am Leben gewesen wäre, hätte sie ihn gerne der Infanterie überlassen; leider jedoch war er vor einigen Jahren bei einem Automobilunfall umgekommen. Affa, die mit dem Kinderfräulein in der Frage des Opferbringens übereinstimmte, fiel durch besonders blutrünstigen Enthusiasmus auf. Sie unterhielt sich vortrefflich, wenn sie Bier und belegte Brote an die Soldaten verteilte, deren Zug auf dem Weg nach München in Tölz Station machte. Sie mußte viel kichern und erröten über die derben Komplimente, mit denen die jungen Vaterlandsverteidiger den berühmten Affa-Busen belachten. »Nur gut, daß es die Kinder nicht verstehen!« flüsterte sie dem Fräulein zu, deren Gesicht vor Neid mager und gelblich wurde. »Haben Sie das gehört? So was Freches! Aber man muß es sich gefallen lassen. Krieg ist Krieg …«
Wenn ich versuche, die Atmosphäre von 1914 wieder einzufangen, so sehe ich flatternde Fahnen, graue Helme mit possierlichen Blumensträußchen geschmückt, strickende Frauen, grelle Plakate und wieder Fahnen – ein Meer, ein Katarakt in Schwarz-Weiß-Rot. Die Luft ist erfüllt von der allgemeinen Prahlerei und den lärmenden Refrains der vaterländischen Lieder. »Deutschland, Deutschland über alles« und »Es braust ein Ruf wie Donnerhall …« Das Brausen hört gar nicht mehr auf. Jeden zweiten Tag wird ein neuer Sieg gefeiert. Das garstige kleine Belgien ist im Handumdrehen erledigt. Von der Ostfront kommen gleichfalls erhebende Bulletins. Frankreich, natürlich, ist im Zusammenbrechen. Der Endsieg scheint gesichert: die Burschen werden Weihnachten zu Hause feiern können.
Man diskutierte, welche Länder und Kolonien der Kaiser für das Vaterland annektieren würde. Fräulein Betty versprach uns China und Afrika, als handle es sich um Spielzeug. Affa strahlte, ständig von einer kleinen Armee uniformierter Stiefbrüder, Vettern und überraschend wohlerhaltener Onkel umgeben. Der fröhliche Lärm ihrer Abschiedsfeste widerhallte durch das ganz Haus. Mielein überlegte sich manchmal, ob sie nicht vielleicht doch einschreiten sollte, entschied sich aber dagegen. Krieg ist Krieg, und lange würde es wohl sowieso nicht dauern …
Unser blendender Kaiser, ebenso kapriziös wie heroisch, schob den Endsieg hinaus, wahrscheinlich um den lustigen Posten des Oberbefehlshabers etwas länger behalten zu können. Das war etwas ärgerlich wegen der Nachspeise, die vom täglichen Speisezettel gestrichen worden war. Wir hatten diese Maßregel als ein patriotisches Opfer vorübergehender Natur tapfer hingenommen, aber auf die Dauer wirkte das Fehlen von Pudding und Strudel sich ungünstig auf unsere Stimmung aus.
Unser Leben unterlag anderen Veränderungen, von denen einige erfreulich waren. Mielein klärte uns darüber auf, daß dies nicht nur große, sondern außerdem recht schwierige Zeiten waren. Das neue Stadthaus, das wir gerade noch vor Ausbruch des Krieges bezogen hatten, war geheimnisvoll belastet mit einer Art von Makel oder Fluch, der »Hypothek« hieß. Eine gewisse Knappheit an barem Geld schien sich aus diesem unheimlichen Zustand irgendwie zu ergeben. Zwei mächtige Greise, Ofey und der Verleger S. Fischer in Berlin, wurden in diesem Zusammenhang oft erwähnt – manchmal mit Hoffnung, dann auch wieder mit einer gewissen Bitterkeit. Sowohl der Großvater in seinem Schloß als auch der Berliner Freund des Zauberers, Herr Fischer mit der dicken Unterlippe, verhielten sich irgendwie störrisch und unzugänglich, wahrscheinlich unter dem Einfluß der allgemeinen patriotischen Hochspannung und Nervosität. Was immer die psychologischen Hintergründe und Zusammenhänge, jedenfalls lief es darauf hinaus, daß die beiden alten Herren plötzlich überhaupt kein Geld mehr hergeben wollten. Der Zauberer, vornehm zerstreut, schien dies kaum zu bemerken, aber Mielein war um so besorgter, sie entließ eines der Mädchen und das Kinderfräulein. Erstere vermißten wir kaum, und, wie sich denken läßt, waren wir nur zu froh, letztere los zu sein.
Das ungebundene Leben ohne Fräulein und süße Speise hatte entschieden seine amüsanten Seiten, brachte aber auch Härten mit sich. Mieleins nächste Sparmaßnahme bestand darin, uns von dem exklusiven Reichenschülchen in die gewöhnliche Volksschule in der Nachbarschaft zu versetzen. Erika und ich wurden getrennt. Sie etablierte sich schnell als eine Art von Anführerin und Häuptling unter den Mädchen, während meine Position in der Bubenklasse irgendwie unsicher blieb. Erstens konnte ich, im Gegensatz zu Erika, den Münchener Dialekt nicht sprechen; irgendwie wollte es mir nicht gelingen, auch nur ein Wort des landesüblichen kehlig-rauhen Idioms glaubwürdig hervorzubringen. Meine Klassengenossen hielten mich deshalb für einen »Saupreußen«, was fast ebenso schlimm war wie ein feindlicher Ausländer. Außerdem nahmen sie mir meine künstlerische Aufmachung und meine Abneigung gegen Raufereien übel. Kurz und gut, ich wurde nicht ganz ernst genommen, was übrigens nicht heißen soll, daß ich eigentlich unbeliebt gewesen wäre. Man hielt mich zwar für leicht übergeschnappt, aber weder für einen Spielverderber noch für einen gewöhnlichen Dummkopf. Die Schulkameraden behandelten mich mit ironischer Höflichkeit, interessierten sich aber nicht genug für mich, um sich etwa tätlich an mir zu vergreifen.
Es gab viel sadistische Roheit, nicht nur unter den Schülern, sondern auch bei den Lehrern. Die Prügelstrafe war damals noch als ein gesundes oder sogar unentbehrliches pädagogisches Prinzip in Deutschland anerkannt. Unser Herr Lehrer, ein untersetzter, stämmiger Mann mit sehr kleinen Augen und einem riesigen Schnurrbart, galt als ein Meister in der Kunst des »Überlegens«. Die letzte Warnung, die er dem Übeltäter zuteil werden ließ, war subtil-psychologischer Natur: der Rohrstock wurde dem zitternden Knaben mehrere Minuten lang unter die Nase gehalten – »damit du weißt, wie er riecht«, wie der Herr Lehrer mit drohender Scherzhaftigkeit bemerkte. Wenn auch das nicht half, gab's keine Gnade mehr. Dem Opfer wurde befohlen, sich mit dem Gesicht nach unten auf die vorderste Bank zu legen, die eigens für solche Gelegenheiten freigelassen war. Ehe der Ärmste dieser unheilverkündenden Aufforderung nachkam, pflegte er eine herzzerbrechende Szene aufzuführen. Das wurde von ihm erwartet und gehörte zum rituellen Ablauf der Zeremonie. Mit großem Aufwand von Tränen und dramatischen Gebärden versuchte das arme Sünderlein das Herz seines Richters zu rühren, obwohl er sich im Grunde über die Aussichtslosigkeit solchen Beginnens völlig im klaren sein mußte.
Die peinliche Prozedur wurde mit grausiger Feierlichkeit durchgeführt; fünfzig oder sechzig Jungen, atemlos vor Wonne und Entsetzen, sahen dem Schauspiel zu. Das Gewimmer des Delinquenten begann, noch ehe der erste Schlag gefallen war: er krümmte sich und stöhnte, während der Herr Lehrer sein Folterinstrument noch durch die Luft schnellen ließ, als wolle er die Geschmeidigkeit des schlanken Rohres prüfen. Und wenn dann erst die Hiebe niederpfiffen, so steigerte sich das Jammern ins Hysterisch-Konvulsivische. Nachher gab es noch eine Art von tragikomischem Epilog – auch dieser gehörte zum Ritus. Es wurde von dem Opfer erwartet, daß er noch eine Weile vor dem Katheder hin und her sprang, wobei er sich das Hinterteil zu reiben hatte. Wenn es sich um einen schauspielerisch auch nur halbwegs begabten Jungen handelte, so verstand es sich fast von selbst, daß er seine Mitschüler auch noch mit einer drastischen Beschreibung seiner Qualen unterhielt. »Mein Hinterer brennt wie's höllische Feuer«, erzählte er der erschauernden Klasse. Der Lehrer sah schmunzelnd zu, um schließlich dem Spektakel mit gebieterischem Wink ein Ende zu machen. »Jetzt langt's«, entschied er, befriedigt wie ein Löwe nach blutigem Mahl. »Du kannst auf deinen Platz zurückgehen.«
Ich habe mir oft überlegt, ob die Züchtigung wirklich so furchtbar weh getan haben mag, wie die Aufführung des Opfers zu bekunden schien. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Geprügelten ihre Schmerzen dramatisch übertrieben, sei es um den Lehrer zu schnellerem Aufhören zu bewegen, sei es auch nur aus Gründen der schönen Konvention und um den Kameraden ein eindrucksvolles Schauspiel zu bieten. Aber selbst wenn die Strafe wirklich so schmerzhaft war, wie es den Anschein hatte – das Zuschauen war schlimmer. Mein Herz stockte bei jedem niedersausenden Schlag, mein Unbehagen, ja mein Grauen wuchs mit jedem Schrei, den der Gequälte hören ließ. Wie gerne hätte ich die erniedrigende Strafe einmal selbst erduldet, anstatt immer nur die Leiden der anderen in meiner Einbildung mitzumachen! Indessen ist mir das Erlebnis körperlicher Mißhandlung bis heute erspart geblieben. Niemals wurde mir das Folterbänkchen zugemutet; nicht einmal den Geruch des Stöckchens kannte ich aus persönlicher Erfahrung. Geheimnisvoll beschützt von einem rühmlichen oder schimpflichen Tabu – ein »Unberührbarer« gleichsam – lernte ich nur eine Qual immer tiefer und gründlicher kennen: das Mitleid.
Wenn die Abendgebete verrichtet waren und das Schlafzimmer verdunkelt, war es süß und schmerzhaft, an all das blutige Geschehen draußen in den Schützengräben zu denken. Wie schrecklich mußte es gewesen sein, als Hunderttausende von Russen in jenen mörderischen Sümpfen umkamen, in deren Schlamm die inspirierte Kriegskunst des Marschalls von Hindenburg sie verlockt hatte. Vor dem Einschlafen hörte ich das dumpfe Gebrüll ihrer Wut, ihrer Todesnot. Oder ich suchte mir die ausgefallenen Martern vorzustellen, mit denen die wilden Australier unserem armen Onkel Peter zusetzen mochten. Wahrscheinlich erging es ihm etwa ebenso gräßlich wie den bemitleidenswerten Negern in der Geschichte von Onkel Toms Hütte. Würde ich solche Pein jemals am eigenen Leib erfahren? Armer Onkel Peter! Arme Russen! Armer General Hindenburg! Es war gewiß nicht leicht, so furchtbare Taten zu vollbringen. Arme Generäle, die unmenschlich werden mußten aus beruflicher Pflicht und patriotischer Überzeugung! Arme Soldaten, die von unmenschlichen Generälen aufgeopfert wurden! Mein Herz füllte sich mit Mitleid bis zum Rande. Schon halb im Schlafe gesellte ich mich zu den braven, unbeholfenen Russen, durch den australischen Dschungel gejagt vom erbarmungslosen Marschall von Hindenburg, der seinerseits bittere Tränen über die eigene Brutalität vergoß. Die Rolle, die ich selbst bei dieser Schreckensszene zu spielen hatte, war die eines tapferen Samariters, der manchem Soldaten – einerlei ob Feind oder Verbündeter – das Leben rettet und schließlich vom Kaiser das Eiserne Kreuz mit doppelten Rubinen zum Lohn für sein Heldentum verliehen bekommt.
Mein Eifer, an den blutigen Ereignissen teilzunehmen, hatte nichts mit Patriotismus oder Ehrgeiz zu tun. Es waren andere Impulse, die mich bewegten: Neugier, Masochismus, Erbarmen, Eitelkeit und Angst. Tatsächlich mag die Angst der bestimmende Faktor in diesem Gefühlskomplex gewesen sein. Nicht, daß ich es schrecklich gefunden hätte, mich um einer großen Sache willen aufzuopfern – im Gegenteil, solches Martyrium schien mir köstlich und erstrebenswert, eine riesenhafte, überwältigende, bittersüße Wonne. Es gab nur etwas, wovor ich wirklich Angst hatte – nur eine Gefahr, vor der mir graute: ausgeschlossen zu sein vom kollektiven Abenteuer, nicht teilzuhaben am Gemeinschaftserlebnis. Es gibt keine demütigendere, keine traurigere Rolle als die des Außenseiters. So stark ist der Herdeninstinkt im Menschen, daß er jedes Leid den Martern der Einsamkeit vorzieht. Es war diese tiefe Angst vor moralischer und physischer Isolierung, die meine kriegerischen Träumereien inspirierte. Ich träumte von heroischen Verbrüderungen, da ich mich im Grunde meines Herzens zu Prüfungen sehr anderer Art bestimmt und ausersehen wußte. In kindlichen Phantasien versuchte ich, das wahre Gesetz meiner Natur zu verleugnen, das mir für immer verbietet, der bemitleidenswerten, beneidenswerten Mehrheit anzugehören.
Kann eine gewisse psychologische Disposition zu organischen Störungen führen? Gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen der beinah tödlichen Krankheit, die ich im Jahre 1916 durchmachte, und der nationalen Kalamität jener historischen Stunde? Die Schwingen des Todes, von denen so viele meiner unbekannten älteren Brüder berührt wurden, beschatteten auch meine kindliche Stirn.
Blinddarmentzündung nahm in unserer Familie den Charakter einer Epidemie an, in verwirrendem Widerspruch zu allen medizinischen Erfahrungen und Prinzipien. Erst mußten die beiden »Kleinen« binnen achtundvierzig Stunden operiert werden; dann kam Mielein an die Reihe, und zuletzt wurden Erika und ich mit akuter Entzündung in die Klinik eingeliefert. In den vier anderen Fällen wurde die Operation gerade noch rechtzeitig ausgeführt; der Krankheitsverlauf war normal und befriedigend. Bei mir jedoch nahm die Sache eine beunruhigende Wendung. Es gab einen »Durchbruch« in meinem Inneren, irgendeine furchtbare interne Explosion, an der man eigentlich stirbt. Mit erschreckender Genauigkeit erinnere ich mich der endlosen Fahrt von unserem Hause zur Privatklinik des Hofrat Krecke, die am entgegengesetzten Ende der Stadt gelegen war. Mein Eingeweide brannte, tobte, revoltierte, schien im Begriff zu bersten. Das Sanitätsauto, eine Hölle auf Rädern, trug mich viel zu langsam durch entfremdete Straßen, über verödete Plätze, einem Ziel entgegen, dessen dunklen Namen ich nicht kannte, aber hätte erraten können, angesichts von Mieleins bebender Spannung und mühsam beherrschter Angst.
Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß meine schwere Krankheit – die Tatsache, daß »der arme Klaus fast gestorben wäre« eine Familienlegende größten Stiles werden sollte. Mir ist oft erzählt worden, und ich ward es nie müde, derlei rührenden Berichten zuzuhören, wie ich geschrien habe in meinem Schmerz und wie erschreckend abgezehrt ich war, ein wahres Skelett, nachdem ich vier oder fünf Operationen hatte über mich ergehen lassen. Es war eine »durchgebrochene Blinddarmentzündung mit Komplikationen« – was entschieden großartig und schrecklich klang. Mein Bauch mußte der Länge nach geöffnet werden, damit Hofrat Krecke Gelegenheit hatte, das völlig in Unordnung geratene Gekröse auf einem kleinen Rost zu entwirren und neu zu sortieren. Von diesen mythischen Heimsuchungen ist mir freilich nichts im Gedächtnis geblieben außer einer einzigen Empfindung – dem Gefühl eines fast unerträglichen Durstes. Das rasende Verlangen nach Wasser hat alle anderen Bilder der Qual aus meiner Erinnerung verdrängt. Von der ganzen Krankheitsepisode ist nichts übriggeblieben als ein flüchtiger Albtraum von erstickender Finsternis und dörrender Hitze. Er beginnt im schaukelnden Sanitätsauto und endet scheinbar am nächsten Morgen in unserem Tölzer Garten. Der Schrecken ist vorüber; der Tod hat mich entlassen; der fiebrige Durst ist gestillt. Ich halte ein großes Glas Orangensaft in meiner Hand. Ausgestreckt auf einem Liegestuhl im Schatten des Kastanienbaums atme ich die schwere, duftgesättigte Luft von Sommer und Genesung.
Ich war ein Held, denn ich hatte überlebt. Meine Umgebung – Familie, Personal und Nachbarn – waren offenbar voll Anerkennung für die Seelenstärke, die ich bewiesen hatte, indem ich dem lockenden Ruf des Todes widerstand. Kein Wunder, daß ich begann, auf meine ordinären Geschwister ein wenig herabzublicken; denn sie »lebten« ja nur, was kein besonderes Verdienst bedeutet, während ich – ein viel interessanterer Fall! – am Leben geblieben war, aller Wahrscheinlichkeit und allen Prognosen zum Trotz. Natürlich wurde ich verwöhnt und bekam alle Leckerbissen, die eine geplagte Hausfrau damals noch auftreiben konnte. Der Herr Hofrat hatte ja gesagt, daß ich unbedingt zunehmen müßte. Man redete mir zu, so viel zu essen, wie ich irgend konnte. Während die täglichen Rationen der übrigen Hausbewohner schon recht fühlbar zusammenschrumpften, schien es allgemeine Freude zu erregen, wenn ich mich gnädig dazu hierbeiließ, noch ein belegtes Brot oder ein Stück Kuchen anzunehmen.
Aber dieser wonnige Zustand der Rekonvaleszenz konnte nicht ewig dauern. Meine Privilegien verringerten sich im genauen Verhältnis zum Fortschritt meiner Erholung. Als der Sommer vorüber war, hatte ich fast mein normales Gewicht und meine ganze Vitalität zurückgewonnen. Ich war gesund genug, den Alltag wieder auszuhalten, den strengen Alltag des dritten Kriegswinters in Deutschland.
Der Krieg hatte längst aufgehört, abenteuerlich oder erhebend zu sein; für uns Kinder wie für die Masse des Volkes bedeutete er vor allem: nicht genug zu essen. Je mehr die Lebensmittellage sich verschlechterte, desto ausschließlicher konzentrierte sich das allgemeine Interesse auf daß Eßproblem. Schließlich sprach man überhaupt von nichts anderem mehr. Der uneingeschränkte U-Boot-Krieg, die Kriegserklärung der Vereinigten Staaten, all das war weniger wichtig, weniger erregend als eine Lieferung von markenfreien Gänsen oder die Reduzierung der wöchentlichen Margarine-Ration. Das »Hamstern« war nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch ein Sport, beinahe eine Sucht. Hausfrauen waren immer auf der Suche nach neuen Milch- und Honigquellen. Man unternahm ausgedehnte Entdeckungsfahrten aufs Land, von denen man mit diskret verhüllten Körben voller Kaninchen und Kartoffeln zurückkehrte. Die Witzblätter und die Kriminalanzeigen wimmelten von krassen Geschichten über die phantastischen Tricks, deren sich die Eier-, Schinken- und Butterjäger bedienten.
Die Jagd nach dem Futter war manchmal nicht ohne einen gewissen abenteuerlichen Reiz, meistens aber monoton und deprimierend. Ich werde nie den Wintermorgen vergessen, an dem Erika und ich in einem plötzlichen Anfall von Edelmut beschlossen hatten, Mielein mit einem unerwarteten Geschenk von sechs frischen Tafeleiern zu beglücken. Irgendwo in der Vorstadt hatten wir einen winzigen Laden entdeckt, in dem solche Kostbarkeiten zu haben waren, vorausgesetzt, daß man genug Zeit und Geduld hatte, um von sechs Uhr morgens bis zur Mittagsstunde anzustehen. Eben das taten wir – er köstliche Preis schien jedes Opfer wert. Wir bekamen die Eier. Wie glatt und appetitlich sie sich anfühlten! Sechs zerbrechliche Kleinode, ein halbes Dutzend zarter Talismane … Glückstrahlend machten wir uns auf den Heimweg. Ich trug die Eier in meiner Pelzkappe, da der Ladenbesitzer uns eine Papiertüte verweigert hatte. Aber meine bloßen Hände waren starr vom Frost. Das Schreckliche, das Unvermeidliche geschah: die sechs Eier rollten aus der Mütze, die ich ungeschickt hielt, und zerbrachen vor unseren entsetzten Augen. Es war unbeschreiblich traurig, ja, es war wirklich zum Weinen, die schönen Dottern zu sehen, die – ein gelblich seimiges Bächlein – zwischen den Pflastersteinen versickerten. Wir brachen denn auch prompt in Tränen aus. Mir scheint es jetzt, daß unsere Tränen zu Eis erstarrten, während sie unsere Wangen hinunterliefen. Nie ist mir die Welt wieder so kalt, so unfaßlich hart und grausam vorgekommen.
Es wäre eine Übertreibung zu behaupten, daß wir wirklich darbten; aber die schlichte Wahrheit ist, daß wir immer hungrig waren. Kein Zweifel, eine so tiefe und intensive Erfahrung wie der Hunger hinterläßt gewisse Spuren in der körperlichen und seelischen Konstitution eines Menschen. Man nimmt Wohlstand und Fülle nicht mehr als etwas Selbstverständliches hin, wenn man einmal erfahren hat, was es bedeutet, von einem Butterbrot wie von einer himmlischen Delikatesse zu träumen. Essen, Kleider, Schuhe, Kohle, Seife, Schreibpapier, alles, was wir berührten, rochen oder schluckten, war Ersatz, erbärmliches, schundiges Zeug. Es muß eine schwere Zeit für unsere Mutter gewesen sein, viel schwerer für sie als für uns. Vier gierige Kinder und einen heiklen, delikaten Mann unter so abnormen Umständen durchzufüttern, war gewiß keine Kleinigkeit. Sie machte ihre Sache vortrefflich, eine Leistung, die um so bewundernswürdiger scheint, wenn man Mieleins Herkunft und Vergangenheit bedenkt. Die Märchenprinzessin, die wir aus »Königliche Hoheit« kennen, mußte nun mit sehr harten und prosaischen Problemen fertig werden. Wir Kinder wollten nicht nur essen, sondern mußten auch Kleider haben. Die bestickten Kittel und hübschen Matrosenanzüge, die man uns im Jahre 1914 gekauft hatte, waren um 1917 längst fadenscheinig und ausgewachsen. Und nun gar die Schuhe! Leder war ja fast ebenso knapp wie Butter. Eine Zeitlang trugen wir schwere Holzsandalen, die bei jedem Schritt ein furchtbares Geklapper vollführten; aber wir wurden ihrer bald überdrüssig und zogen es vor, einfach barfuß zu gehen.
Die Tradition der Sonntagsessen im großelterlichen Hause wurde auch im Kriege aufrecht erhalten. Aber das festliche Menü bestand nun meist aus einem ausgemergelten Vogel – einer Art Reiher von penetrant tranigem Geschmack – und einem scheußlichen rosa Ersatzpudding. Es war nur die gediegene Pracht des Speisesaales und Offis unverwüstliche Würde, welche diese Zusammenkünfte vor dem Abgleiten in völlige Armseligkeit bewahrten. Tatsächlich blieb die Haltung der Gastgeberin so majestätisch-nonchalant, daß die Gäste geneigt waren, den reduzierten Stil des Hausstandes als eine elegante Laune hinzunehmen. Die melancholische Tatsache, daß wir unser eigenes Brot mitbringen mußten, schien eine amüsante Komödie dank Offis heiter überlegener Haltung. Ihr Lachen perlte so herzlich wie eh und je, wenn wir dem alten Butler unsere bescheidenen Rationen, in Zeitungspapier verpackt, überreichten.
»Wenn ich bloß von allen meinen Gästen verlangen könnte, daß sie sich ihre Stullen selber mitbringen!«, scherzte sie und fügte nicht ohne Genugtuung hinzu, während sie den Tee in die zarten chinesischen Tassen goß: »Mit dem Tee wenigstens werde ich durchhalten. Schließlich kann der Krieg ja nicht ewig dauern …«
Würde er wirklich einmal zu Ende gehen – der große, lange, altvertraute Krieg? War es möglich, sich eine Welt ohne ihn vorzustellen? Eine Welt mit Genug zu essen und ohne Siegesfeiern? Wir glaubten nicht mehr ganz, daß Dinge wie Schlagrahm im Frieden wirklich existierten; sie gehörten ins Reich der Fabel. Manchmal fragten wir Mielein nach jenen sagenhaften Tagen, die es angeblich einmal gegeben hatte und die – angeblich – einmal wiederkommen sollten.
»Wie ist das eigentlich – Frieden?« forschten wir. Ißt man im Frieden wirklich jeden Tag Fleisch und Mehlspeise? Verdirbt man sich denn nicht den Magen, wenn es so viel zu essen gibt? Wird es bei uns auch jeden Tag Rehbraten und Schokoladenschichttorte geben, wenn Deutschland gewinnt? Warum haben wir nicht schon gewonnen? Unsere Armee ist doch die beste, und die anderen haben keine so guten Generäle wie Ludendorff, Mackensen und Hindenburg. Unser Professor sagt, daß wir wahrscheinlich noch dieses Jahr gewinnen werden. Er spuckt immer ein bißchen, wenn er aufgeregt ist. Heute hat er besonders viel gespuckt, als er uns vom deutschen Sieg erzählt hat. Glaubst du, daß wir noch vor Weihnachten gewinnen werden?«
Aber Mielein schien seltsam herabgestimmt. »Niemand weiß es«, sagte sie, vage und betrübt. »Vielleicht hat er recht, dein Professor. Vielleicht auch nicht. Der Krieg kann dreißig Jahre lang dauern jetzt, wo die Amerikaner auch noch gegen uns sind …«
»Aber der Professor sagt, es macht nichts aus«, insistierten wir. »Amerika oder nicht, sagt er, wir werden sie alle schlagen!«
»Kann schon sein, daß er recht hat«, wiederholte Mielein, immer noch mit dem gleichen sinnenden und zerstreuten Ausdruck. »Aber ich glaub's eigentlich nicht. Nein, ich kann's nicht mehr recht glauben …« Ihrem illusionslosen Realismus setzte der Vater eine gewisse eigensinnige Zuversicht entgegen. Nicht, als ob es zwischen ihnen jemals Streit gegeben hätte. Es fiel nie ein lautes Wort in unserer Gegenwart. Aber wir waren aufgeweckt genug, um die Unterschiede zwischen ihren Ansichten zu bemerken. Mielein hatte ihren Glauben an den deutschen Sieg schon verloren, als der Zauberer noch von unvermindertem Optimismus schien. Hatte er keine Ahnungen, keine Zweifel? Doch wohl; aber er verbarg sie vor seiner Umgebung und vielleicht auch vor sich selbst.
Wie seltsam fremd und entfernt er scheint, dieser Kriegsvater. Wesentlich verschieden von dem vertrauten Zauberer der Friedensjahre. Das väterliche Antlitz, dessen ich mich aus dieser Epoche erinnere, hat weder die Güte noch die Ironie, die beide so essentiell zu seinem Charakter gehören. Die Miene, die vor mir auftaucht, ist gespannt und streng. Eine empfindliche, nervöse Stirn mit zarten Schläfen, ein verhangener Blick, die Nase sehr stark und gerade hervortretend zwischen eingefallenen Wangen. Sonderbarerweise ist es ein bärtiges Antlitz, ein langes, verhärmtes Oval, von einem harten, stacheligen Bart gerahmt. Tatsächlich ließ er sich damals zeitweilig den Bart stehen, allerdings nur ein paar Wochen lang, auf dem Lande. Diese kriegerische Laune muß uns Kinder sehr beeindruckt haben. Der Kriegsvater ist bärtig. Seine Züge, zugleich stolz und gequält, ähneln denen eines spanischen Edelmannes, dem irrenden Ritter und Träumer, Don Quichotte.
Ich sehe ihn sein Arbeitszimmer verlassen, sehr aufrecht in einer straffen uniformierten Jacke aus grauem Stoff. Seine Lippen sind gleichsam versiegelt über einem düsteren Geheimnis und der sinnende Blick geht nach innen. Er sieht müde aus; der Morgen am Schreibtisch muß ungewöhnlich anstrengend gewesen sein. Welch unheimlicher Zauber ist es, der ihn dazu zwingt, sich jeden Vormittag von neun Uhr bis zum Mittagessen in seine Bibliothek einzuschließen? Gerade wie das Aschenbrödel stets um Mitternacht den Ball verlassen muß, so ist mein Vater gezwungen, sich nach beendetem Frühstück unverweilt zurückzuziehen – fort ist er, ehe man's gedacht. Während im Eßzimmer noch der vertraute Duft seiner Morgenzigarre hängt, sitzt er schon bei der Arbeit, ein gewissenhafter Zauberer, versunken in seine sonderbaren Erfindungen und Gesichte. Diesmal jedoch hat er sich offenbar auf ein besonders heikles und anspruchsvolles Stück: Hexerei eingelassen. Es ist nicht eine seiner schönen Geschichten, die ihn jetzt in den Morgenstunden beschäftigt, sondern etwas Abstraktes, Schwieriges, Geheimnisvolles. Er scheint leicht geniert, wenn Besucher ihn nach der Beschaffenheit des neuen Werkes fragen. »Es ist eben ein Buch«, sagt er, mit einem seltsamen schweifenden Blick. »Nein, kein Roman. Es hat mit dem Krieg zu tun.«
Es klang, als ob er sich in seinem Arbeitszimmer mit der Erfindung neuer Waffen oder unerhörter strategischer Listen abgäbe. Hatte er die heitere Sphäre seiner Erzählungen verlassen und sich der schwarzen Magie zugewendet?
Es war erst viel später, lange nach Kriegsende, daß ich das eigentümliche Produkt jener schlimmen Jahre, die »Betrachtungen eines Unpolitischen«, zum ersten Male las. Vielleicht kann man dieses Buch – seine stupenden Irrtümer sowie seine problematische Schönheit – nur begreifen, wenn man die Umstände kennt, unter denen es geschrieben wurde. Die grausame Spannung jener Tage, die Vereinsamung und trotzige Melancholie des Autors, sein völliger Mangel an politischem Training, sogar die unzulängliche Ernährung und die frostige Temperatur in seinem Studio während der Wintermonate, all dies wirkte zusammen, um die sonderliche Stimmung zu erzeugen, die verwirrende Mischung aus Aggressivität und Schwermut, aus Polemik und Musik, die für die »Betrachtungen« charakteristisch ist.
Es ist ein Dokument höchst eigenartiger, ja einzigartiger Natur, dies lange, leidvolle Selbstgespräch des vom Kriege zerstörten Dichters: literarisch beurteilt, ein Meisterstück, ein glanzvoller tour de force; vom politischen Standpunkt, eine Katastrophe. Der ironische Analytiker komplexer Emotionen wagte sich hier zum erstenmal aus seiner eigentlichen Sphäre in das fremde und gefährliche Gebiet politisch-sozialer Probleme. Das neue Interesse am Politischen manifestierte sich paradoxerweise zunächst als ein gereizter, bitterer Protest gegen die Politik. Der Schüler Goethes, Schopenhauers und Nietzsches hielt es für seine vornehmste Pflicht, die tragische Größe germanischer Kultur gegen die militant-humanitäre Haltung der westlichen Zivilisation zu verteidigen. Er verwechselte die brutale Arroganz des preußischen Imperialismus mit den reinen Offenbarungen des deutschen Genius von Dürer und Bach bis zu den Romantikern und zum Zarathustra. Tristans tödliche Verzückung, die verspielte Unschuld des Eichendorffschen »Taugenichts«, die strenge Melancholie des »Palestrina« von Hans Pfitzner, all dies wurde ihm zum Argument für die pangermanische Expansion und den uneingeschränkten Unterseebootskrieg. Indessen fehlt diesen fragwürdigen Schlußfolgerungen jegliche Überzeugungskraft; sie scheinen auf eine seltsam zögernde Art vorgebracht, mit schlechtem Gewissen gleichsam, als ob der Autor sich im Grunde der Bedenklichkeit seiner eigenen Position nur zu gut bewußt wäre.
Die ganze umfangreiche Abhandlung ist eigentlich nichts als ein großes Rückzugsgefecht, mit verzweifelter Bravour und bitterem Scharfsinn exekutiert. Die Werte und Gesinnungen, die hier gepriesen werden, sind von der Geschichte, sind vom Leben verurteilt; der Verteidiger weiß dies oder ahnt es doch. Man glaubt nicht an eine Sache, die man selbst als unlöslich verbunden mit Verfall und Tod beschreibt. Das Todgeweihte mag faszinierend, sogar liebenswert sein; aber offenbar gehört ihm nicht die Zukunft. In den »Betrachtungen« verschwendet ein adliger Kämpfer sein Talent, seine Kräfte im Dienst einer fixen Idee. Er meint, eine edle Dame, »Kultur« genannt, zu verherrlichen und zu beschützen, während er in Wahrheit für recht unedle Interessen und Kräfte eine wohlgeschärfte Lanze bricht. Wie gleicht er dem Don Quichotte in seiner hochherzigen Verblendung! Wo er die gefährlichsten Feinde sieht, sind nur Windmühlen.
Der Windmühlenfeind, gegen den das schwere Geschütz der »Betrachtungen« aufgefahren wird, ist eine mysteriöse Figur – der »Zivilisationsliterat«. Sein Name bleibt ungenannt, aber diese Anonymität ist nur eine scheinbare. Denn die langen Passagen, die aus den Schriften des Widersachers zitiert werden, stammen wörtlich aus einem Essay von Heinrich Mann. Seine biographische Studie über Emile Zola war im ersten Kriegsjahre erschienen, als die Wogen des Chauvinismus am höchsten gingen. Während die ganze Nation sich an den Heldentaten unserer unbesiegbaren Armee begeisterte, wagte Heinrich Mann, dem unbesiegbaren Geist des französischen Kämpfers und Dichters ein literarisches Denkmal zu setzen. Wer nicht gut wegkommt in diesem Panegyrikus, das sind jene französischen Intellektuellen, die damals der Sache des Hauptmanns Dreyfus, und also der Sache der Wahrheit und des Rechtes, verräterisch in den Rücken fielen. Mit ihnen wird aufs unbarmherzigste abgerechnet. Aber richten Heinrich Manns schwungvolle Invektiven sich wirklich nur gegen die französischen Militaristen und Obskurantisten des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts? Waren seine Anwürfe nicht auch auf gewisse Zeitgenossen gemünzt? So jedenfalls empfand es der reizbare Verteidiger der unpolitisch-musikalisch-pessimistischen Kultur. Die anspielungs- und beziehungsreiche Zola-Beschwörung des Bruders traf und verletzte ihn wie ein persönlicher Angriff.
Das Verhältnis zwischen den beiden hatte sich seit dem Ausbruch des Krieges wesentlich getrübt. Heinrich war Pazifist; der Krieg bedeutete für ihn ein ruchloses Abenteuer, dazu bestimmt, das deutsche Volk in äußerstes Unglück zu stürzen. Er versuchte, » au-dessus de la mêlée« zu bleiben, wie einige seiner französischen Kollegen unter der Führung von Romain Rolland. Dem Autor der »Betrachtungen« aber wollte es scheinen, daß der Bruder keineswegs wirklich über den Parteien, sondern einfach auf der anderen Seite stand, ein militanter Anhänger der »Entente Cordiale«, ein unduldsam selbstgerechter Vorkämpfer des westlichen Zivilisationsgedankens. Das politisch-weltanschauliche Zerwürfnis erreichte bald einen solchen Grad von emotioneller Bitterkeit, daß jeder persönliche Kontakt unmöglich wurde. Die beiden Brüder sahen einander nicht während des ganzen Krieges.
Heinrich Mann, der bis dahin nur in den Kreisen der literarischen Avantgarde eine gewisse Rolle gespielt hatte, wurde nun so etwas wie der Repräsentant einer politischen Bewegung. Als im Jahre 1914 die deutsche Intelligenz fast ausnahmslos in den Chorus der Kriegsbegeisterten einstimmte, gehörte er zu den sehr wenigen, die klarsichtig und besonnen blieben. Zwei Jahre später fingen seine Warnungen an, auf weitere Kreise zu wirken, noch nicht auf die Masse, aber doch auf eine sich allmählich vergrößernde intellektuelle Elite. Die pazifistische Opposition, anfangs dezentralisiert und führerlos, begann sich mit größerer Entschiedenheit und Klarheit kundzutun. Eine Gruppe von deutschen Schriftstellern, von denen die meisten in der neutralen Schweiz Zuflucht gefunden hatten, wagten es nicht nur, die atavistische Monstrosität des modernen Massenkrieges im allgemeinen zu verwerfen, sondern auch die Schuld des deutschen Militarismus im besonderen anzuprangern. Der junge Dichter Klabund, im Fieber seines weltumarmenden Enthusiasmus und einer schweren tuberkulösen Infektion, richtete ein leidenschaftliches Manifest an Kaiser Wilhelm, in dem er die sofortige Beendigung des Krieges und übrigens auch die Abdankung des Monarchen forderte. Der Satiriker Carl Sternheim entlarvte mit ikonoklastischer Schnoddrigkeit die Lüge der nationalen Phrase. Es war Stefan Zweig, der es im Jahre 1918 unternahm, den Anti-Kriegs-Roman von Henri Barbusse, »Le Feu«, in einer Wiener Zeitung zu preisen. Der Elsässer René Schickele, ein glänzender Stilist und tapferer Kämpfer für die Sache des Friedens, trat als Gründer und Herausgeber der »Weißen Blätter« hervor – der besten literarischen und politischen Revue dieser Epoche.
Der durchschnittliche deutsche Untertan wußte kaum etwas von diesen geistigen Vorgängen und Tendenzen, die für ihn einfach ins Gebiet des Kriminellen gehörten. Der Untertan glaubte immer noch an den Sieg und an die Rechtlichkeit der deutschen Sache. Indessen läßt der Geist der Wahrheit und der Vernunft sich doch niemals ganz unterdrücken; er sickert durch verborgene Kanäle und teilt sich schließlich dem Bewußtsein der Nation, dem Kollektivgewissen mit.
Ich war noch nicht ganz acht Jahre alt, als der Krieg begann, und gerade zwölf, als er endete. Aber selbst mein unerfahrener Sinn blieb nicht unberührt von jenen noch halb geheimen, noch unterirdischen Strömungen, die zu der offiziellen Kriegsideologie in so verwirrendem und erregendem Widerspruch standen. Zuerst war es nur eine leichte Beunruhigung, eine Ahnung, die sich allmählich in mir vertiefte und festere Formen annahm. Der langsame Prozeß dieses intellektuellen Erwachens wurde beschleunigt durch die Lektüre eines Buches, welches mir unsere Offi, ihrerseits entschieden pazifistisch eingestellt, zum Weihnachtsfest des Jahres 1917 überreichte. Berta von Suttners klassischer Anti-Kriegs-Roman »Die Waffen nieder« ist gewiß kein literarisches Meisterwerk; aber wie sentimental und platt seine Handlung und sein Stil auch sein mögen, das starke und echte Pathos dieses innig empfundenen Appells wirkte mächtig auf meinen empfänglichen, empfangsbereiten Geist. Es war teilweise oder größtenteils dank dem eloquenten Zuspruch der Berta von Suttner, daß ich damals anfing, gewisse fundamentale Tatsachen zu begreifen und gewisse primäre Fragen zu stellen. Konnte es sein, daß unsere Lehrer und die Zeitungen und sogar der Generalstab versucht hatten, uns dreieinhalb Jahre lang an der Nase herumzuführen? Tag für Tag, seit August 1914, war uns versichert worden, daß der Krieg erstens etwas Schönes und Erhebendes, zweitens etwas Notwendiges sei. Die österreichische Pazifistin aber überzeugte mich von der Abscheulichkeit und von der Vermeidbarkeit des organisierten Massenmordes. Mir wurde klar, daß die Katastrophe hätte verhindert werden können, wenn unser Kaiser etwas weniger schneidig und draufgängerisch gewesen wäre. Die Verantwortung lag also nicht ausschließlich bei unseren Feinden, wie man uns so oft versichert hatte. Vielleicht waren diese Feinde auch in anderer Hinsicht weniger schlimm, als die nationalistische Propaganda sie darstellte? Vielleicht waren sie in Wirklichkeit gar keine Bestien und Untermenschen, sondern einfach nur – Menschen?
Solche Gedanken waren gewagt bis zum Blasphemischen. Sie stellten alles in Frage, was uns bis dahin als Axiom gegolten hatte, das ganze System der anerkannten Prinzipien und Ideale. Denn wenn es sich so verhielt, daß die Menschen überall menschlich waren, in welchem Lande sie auch leben mochten – wer hatte sie dann gegeneinander aufgehetzt? Wer hatte den Krieg gewollt und sich an ihm bereichert? Wo saßen die Kriegsverbrecher?
Wir hörten wirre und erregende Geschichten von einer Revolution, die irgendwo weit weg, in Rußland, stattgefunden haben sollte. Das Volk dort hatte seinen Zaren umgebracht und sich der Generäle entledigt. Wenn solche Ungeheuerlichkeiten überhaupt möglich waren – konnten sie sich nicht anderswo wiederholen? Wie, wenn das deutsche Volk es sich einfallen ließe, dem russischen Beispiel zu folgen und mit unserem gar zu schneidigen Kaiser ebenso zu verfahren wie jene mit ihrem Zaren?
»Revolution! Lastwagen voll Soldaten rasen durch die Straßen; Fensterscheiben werden eingeschlagen; Kurt Eisner ist Präsident … Es klingt alles so phantastisch, so unglaubwürdig. Und doch ist es irgendwie schmeichelhaft, sich vorzustellen, daß die Leute später über unsere bayerische Revolution mit demselben Ernst sprechen werden wie über Danton und Robespierre. Leider konnten wir die Vorstellung des Zauberkünstlers Uferino nicht besuchen. Das war eine Enttäuschung. Aber sonst war der Geburtstag sehr schön. Ich besitze jetzt die Gesammelten Werke von Kleist, Grillparzer, Körner und Chamisso. Eigentlich schon eine ganze Menge.«
Dies sind die Eröffnungszeilen eines Tagebuches, das ich von 1918 bis 1921 mit bemerkenswerter Gewissenhaftigkeit führte. Das hübsche ledergebundene Büchlein wurde mir am 9. November 1918 als Geburtstagsgeschenk überreicht. (Der 9. November ist eigentlich Erikas Geburtstag; aber während unserer ganzen Kindheit feierten wir unsere Geburtstage zusammen, wie Zwillinge. In Wirklichkeit bin ich ein Jahr und neun Tage nach meiner Schwester geboren.)
Die nächste Eintragung, vom 11. November, lautet folgendermaßen: »Der Waffenstillstand ist unterzeichnet. Endlich Frieden! Aber was jetzt? Wir treiben einer Katastrophe entgegen. Die Schule hat wieder angefangen. Unser Professor wurde furchtbar wütend, weil so viel Lärm war und weil Deutschland mit seinen ruchlosen Feinden Frieden schließen muß. Gestern abend las Mielein uns eine sehr komische Geschichte von Gogol vor. Ich las das Trauerspiel ›Sühne‹ von Theodor Körner. Erbärmliches Zeug.«
Erstaunliches geschah. Unser Kaiser floh in Nacht und Nebel über die Grenze, nach Holland. Auch der große Ludendorff und andere Helden machten sich aus dem Staube. Es war alles sehr überraschend und nicht ganz leicht zu verstehen. Deutschland war geschlagen, und doch auch wieder nicht. Unser Professor sagte, es läge nur am »Dolchstoß«, für den die Juden und die Spartakisten verantwortlich seien. Die waren unserem Kaiser in den Rücken gefallen, gerade als alles zum besten stand und wir den Endsieg gleichsam schon in der Tasche hatten. Für den Professor gab es keine deutsche Niederlage, ebensowenig wie eine deutsche Republik. Auch diese war nur ein israelitisch-bolschewistischer Trick, teuflisch ersonnen, um das Vaterland endgültig in den Ruin zu treiben …
Etwas stimmte nicht mit dem Frieden; niemand schien sich seiner zu freuen, die Leute sahen eher noch verdrossener aus als während des Krieges. Auch der Schlagrahm, lang erhofftes Friedenssymbol, trat zunächst nicht in Erscheinung. Das Essen war im Winter 1918/19 mindestens ebenso schlecht wie während der letzten Kriegsjahre.
Und warum wurde immer noch so viel geschossen? Vor dem Waffenstillstand hatte man nur »draußen« gekämpft, im Schützengraben; jetzt aber knallte es in bedrohlicher Nähe.
Am 21. Februar 1919 wurde gerade um die Ecke von unserem Schulgebäude der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner erschossen. Meine Tagebuchnotizen, diesen Vorfall betreffend, zeichnen sich durch ein etwas unbeholfenes Pathos aus. Es heißt da, daß ich um den Ermordeten »bittere Tränen« vergossen hätte, eine Behauptung, die etwas übertrieben gewesen sein mag, aber kaum so völlig aus der Luft gegriffen, wie die Meinen vermuteten. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, daß gerade diese Aufzeichnung im Familienkreise bekannt wurde (ich hielt mein Tagebuch meist sorgfältig versteckt); aber ich erinnere mich, daß ich wegen der »bitteren Tränen« viel geneckt wurde. Was mich zu diesem rhetorisch-stilisierten Erguß veranlaßt hatte, war wohl nicht so sehr mein Kummer über Eisners Tod, wie mein Ekel vor dem Zynismus, mit dem die Münchener Spießer, einschließlich meine Lehrer und Klassengenossen, die Todesnachricht begrüßten. Der Ministerpräsident, ein salbungsvoller Intellektueller mit Schlapphut und Christusbart, war nicht populär gewesen; man freute sich, den »artfremden« Weltverbesserer und Menschheitsfreund los zu sein. Der Mörder, ein Kavalier aus dem gräflichen Hause Arco, wurde von den Massen als ein Held bejubelt, während dem Opfer nur von der radikalen Linken gehuldigt ward. Einer von Eisners Freunden, Heinrich Mann, schloß seine Grabrede mit der Bemerkung, daß der Tote den Ehrennamen eines »Zivilisationsliteraten« verdiene.
Das hektische Zwischenspiel der kommunistischen Diktatur in Bayern war eine unmittelbare Folge des Eisner-Mordes. In meiner Erinnerung wird diese kurzlebige »Räte-Republik« zur wüsten Farce. Ein grelles, klirrendes Tohuwabohu von schreienden Plakaten, Steinwürfen, Menschenansammlungen, improvisierten Rednertribünen, roten Fahnen und offenen Lastwagen voll verwegener Gestalten mit roten Armbinden. Die ganze Sache hatte einen Beigeschmack von wilder »Gaudi« (um den Münchener Dialektausdruck zu benutzen, der hier besonders am Platze scheint), etwas Unernstes, Karnevalistisches. Freilich ging es bei diesem exzessiven Fasching nicht ganz ohne Terror ab; alle respektablen Bürger gerieten in einen Zustand von hysterischer Panik. Man erzählte sich Schauriges über geplünderte Banken, vergewaltigte Frauen und mißhandelte Kinder. In unserer Nachbarschaft wurden die Villen nach illegalen Waffen durchsucht; die erschreckten Inhaber ergingen sich nachher in den phantasievollsten Beschreibungen all des Furchtbaren, das sie durchgemacht. Was erstaunlich schien, war vor allem die Tatsache, daß menschliche Wesen so viel Grauen überleben konnten. Unsere Nachbarsleute waren samt und sonders noch ganz gut beisammen, obwohl die Spartakus-Bestien ihnen doch so gräßlich mitgespielt hatten.
Unser Haus übrigens blieb von den Regierungstruppen verschont. Wir hielten es zunächst für einen glücklichen Zufall, erfuhren aber später, daß die Patrouille angewiesen war, das Heim Thomas Manns in Frieden zu lassen. Zwar machte das Haus einen verdächtig kapitalistischen Eindruck und die Gesinnungen des Hausherrn waren vom marxistischen Standpunkt durchaus nicht einwandfrei; aber die revolutionären Führer, die von ihren Gegnern als eine Bande blutrünstiger Vandalen hingestellt wurden, waren in Wirklichkeit Männer, die das Talent und die Integrität eines Schriftstellers respektierten, sogar wenn sie mit seinen politischen Ansichten nicht übereinstimmten. Viele dieser Amateur-Jacobiner beschäftigten sich im Neben- oder Hauptberuf mit Literatur. Ein Dichter und Enthusiast des Schönen wie Ernst Toller, der in der Räte-Republik eine Rolle spielte, hätte nicht zugelassen, daß man dem Autor der »Buddenbrooks« und des »Tod in Venedig« zu nahe trat.
Mein Tagebuch berichtet unter dem Datum des 13. April: »Am Morgen gab es Gerüchte, die bolschewistische Regierung sei gestürzt worden. Levin und Toller sollen geflohen sein. Levin, heißt es, hat eine halbe Million Mark mit in die Schweiz genommen. Erich Mühsam ist verhaftet worden. Ich ging vormittags ins Nationalmuseum, um mir die Sammlung mittelalterlicher Waffen noch einmal anzuschauen. Ziemlich interessant. Besser als Schule.«
Die Gerüchte waren verfrüht; die Roten hielten sich noch eine Weile. Unsere Stadt befand sich in einem regelrechten Belagerungszustand. Es kam zu ziemlich ernsthaften Schlachten zwischen der revolutionären Miliz und dem Freikorps des Generals Epp. Für uns bedeutete der Bürgerkrieg nur ein entferntes Donnerrollen, das unsere Spiele begleitete. »Vor dem Mittagessen spielten wir Deutschball und hörten dabei das Geräusch der Geschütze«, notiere ich mir am 2. Mai. »Die Roten und die Weißen kämpfen in der Nähe von Dachau. Später schauten wir uns das große Maschinengewehr an, das die Roten auf dem Kufsteiner Platz aufgestellt haben. Es gibt überhaupt kein Brot. Die Fanny hat statt dessen eine Art Fladen gemacht. Schmeckt ganz gut. Las eine schöne Geschichte von Walter Scott.«
Am 5. Mai, als die Truppen des Generals schon in die Stadt eingedrungen waren, ging ich aus, um mir ein Exemplar von Gogols Geschichte »Der Mantel« zu kaufen, und fand die Stadt »von Soldaten wimmelnd«. Drei Tage später wurde der Bürgerkrieg offiziell als beendet erklärt, und das tägliche Leben nahm seinen langweiligen Gang wieder auf. Aber überall gab es Erinnerungen an die blutigen Geschehnisse der letzten Wochen. Tagebucheintragungen vom 8. Mai 1919: »Wieder in der Schule – leider! Der Professor erzählt uns, daß ein sehr berühmtes Regiment im Wilhelmsgymnasium einquartiert gewesen ist – dieselben Soldaten, sagt er, die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin umgebracht haben. Mir gefiel die Art nicht, wie er das sagte – als ob es etwas Schönes wäre. Vorgestern sind fünf Spartakisten in unserem Schulhof hingerichtet worden. Einer von ihnen war erst siebzehn. Er wollte sich die Augen nicht verbinden lassen. Der Professor sagt, das beweist, wie fanatisch er war. Aber ich finde es bewundernswert.«
Revolution und Bürgerkrieg, Friedensverhandlungen und Klassenkämpfe all diese großen Umwälzungen und Konflikte, die ich so naiv kommentierte, berührten mein wirkliches Leben nur sehr wenig und indirekt. Ich war aufgeweckt und ehrgeizig genug, mich für diese Dinge zu interessieren, für deren entscheidende Wichtigkeit mir das Gefühl nicht ganz abging; aber irgendwo, in der tiefsten Schicht meines Wesens, war ich doch noch geneigt, an der Realität und Relevanz dieser »Erwachsenen-Welt« zu zweifeln.
Mein intellektueller Zustand um diese Zeit glich demjenigen gewisser Generationen, deren Schicksal es war, an der Wende zwischen zwei kulturellen Epochen zu leben, etwa zwischen dem ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Renaissance. Diese problematischen Geschlechter trugen in sich einen doppelten Begriff von Gott und Welt. Ihr Geist war schon berührt und bewegt von der Verheißung einer neuen Freiheit, eines neuen Wissens, während ihr Herz doch noch mit frommem Eigensinn an den Riten und Idealen der ablaufenden Ära hing. So lebten sie in zwei Welten, mit der einen Hälfte ihres Seins noch auf der unbeweglichen, vom Himmelsdache überwölbten Scheibe, als die unsere Erde sich dem mittelalterlichen Menschen darstellte, mit der anderen schon im dynamisch-revolutionären Kosmos des Kopernikus. Das alte Weltbild hat für sich die Würde der Tradition, die Autorität des von den Vätern Ererbten; aber das neue appelliert mit unwiderstehlicher Macht an die Neugier, den Ehrgeiz, die Lust zum Wagnis und zum Abenteuer.
Der Knabe auf der Stufe der beginnenden Pubertät befindet sich in einer sehr ähnlichen psychologischen Lage. Mein unreifer Sinn war hin und her gerissen zwischen zwei sich widersprechenden Gefühls- und Interessensphären: auf der einen Seite die anspruchsvollen, wirren Abstraktionen der Erwachsenen-Welt, auf der anderen die wohlgeordnete, nahe, greifbare Hierarchie der Kindheit. Wie sehr das Neue, Fremde, Schwere mich auch locken mochte, ich zögerte doch, den Göttern und Bildern der frühen Jahre ganz die Treue zu brechen. Die kindlichen Mythen waren noch nicht tot.
Affas mythischer Rang blieb intakt; keine Pubertäts-Renaissance konnte ihr etwas anhaben. Sie war immer bei uns gewesen, was sie an sich schon achtens- und liebenswert machte. Sie hatte uns auf den Knien gewiegt, als wir Babys waren; sie hatte uns die wackeligen Milchzähne aus dem Munde entfernt, mittels einer feinen seidenen Schnur, die sie geschickt um den Zahnhals zu schlingen wußte; sie hatte den Christbaum geschmückt und Mielein bei der Auswahl von Köchinnen und Abendkleidern beraten, und als Mielein im Sanatorium war und der Zauberer eine Herrengesellschaft gab (ein mythisches Ereignis von großer Signifikanz, zumal auch Doktor Cecconi zu den Gästen gehörte!), da war es Affa, die darauf bestand, daß es Ochsenschwanzsuppe und Fürst-Pückler-Eis gab, völlig neuartige, leicht bizarre Gerichte, und gerade deshalb so geeignet für eine maskuline Soirée. Affa kannte sich aus. Affa war große Klasse.
Freilich läßt sich nicht leugnen, daß sie im Lauf der Jahre immer selbstherrlicher und kapriziöser wurde. Der Krieg tat Affa irgendwie nicht gut; ihr Lachen klang jetzt oft beängstigend schrill, dazu kamen noch die grünen Glitzerblicke. Die anderen Mädchen beklagten sich über sie. »Mit der Josepha kann man gar nicht mehr auskommen«, jammerte die Köchin. (Affas wirklicher Name war »Josepha«, aber es gehörte sehr viel Gehässigkeit oder Unbildung dazu, sie so zu nennen.) »Die hat ja den reinen Größenwahn hat ja die!« Affa ihrerseits traute den Kolleginnen das Schlimmste zu. Wenn immer Mielein irgendeinen Gegenstand vermißte – und es geschah nicht selten, daß ihr etwas abhanden kam: ein Paar Handschuhe, ein Stück Seife, ein Regenschirm –, gleich war die Affa zur Stelle, um ihr zuzuzischeln: »Die Fanny hat's genommen, wer denn sonst? Schmeißen Sie sie doch naus, gnä' Frau! Gar nicht erst lang reden mit ihr, die leugnet ja doch bloß alles! Einfach kündigen!«
Mielein tat, wie ihr geheißen. Die Fanny ging; die nächste war noch schlimmer. Diesmal waren es Zauberers beste Manschettenknöpfe, die mysteriös verschwanden. Wir waren alle empört; am meisten regte sich die Affa auf. »Die Manschettenknöpfe? Die schönen goldenen vom Herrn Professor?« Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Da hört sich doch aber alles auf!« Und nach kurzer Pause, mit heroischem Entschluß: »Wenn's keine anständigen Madeln mehr gibt heutzutage, dann mach ich eben von jetzt ab die ganze Arbeit allein! Die Fanny muß aus dem Haus, die Diebin, die ganz gemeine!«
Aber diese Fanny, eine kleine Brünette mit gelblich-hagerem Gesicht und fanatischen schwarzen Augen, ließ sich nicht so leicht fortschicken wie ihre Vorgängerinnen, Sie wehrte sich, sie wagte den Gegenangriff. »Mich geht's ja nichts an«, sprach die Tollkühne (alle Chronisten stimmen darin überein, daß eben dies ihre Worte waren). »Mich geht's ja nichts an, gnä' Frau, aber einmal müssen Sie's ja doch erfahren, wer die Diebin ist hier im Haus. Ich bin's nicht, gnä Frau!« Und, mit einem langen, hageren Zeigefinger weisend: » Die da ist's! Ihre Perle! Ihre Affa! Die Josepha, das Luder!«
Die Szene muß furchtbar gewesen sein, vergleichbar nur den legendären Auftritten zwischen Brunhilde und Kriemhilde, Maria Stuart und Elisabeth. Aber trotz der elementaren Heftigkeit von Affas Wutausbruch und der wütenden Intensität von Fannys Gekeife hätte die ganze Affäre, wie so mancher andere Domestiken-Skandal, im Sande verlaufen können, wenn sich nicht der Zauberer in höchsteigener Person eingemischt hätte. Irritiert von dem höchst unzivilisierten Lärm, stieg er ins Kellergeschoß hinab, was seit Menschengedenken nicht geschehen war. Der Effekt, den sein bloßes Erscheinen machte, war derartig, daß sogar Affa vorübergehend außer Fassung geriet.
Als der Vater ihr in gemessenen Tönen befahl, die verschlossene Tür zu ihrem Zimmer zu öffnen – »und sei es auch nur, um die erstaunlichen Anschuldigungen der Köchin zu widerlegen!« –, ward keine Widerrede von Affas Seite gehört: sie gehorchte. Die Chronik vermerkt, daß ihr Gesicht sehr bleich war, während sie sich langsam der Türe näherte, und daß sie hörbar mit den Zähnen knirschte. Schon mit der Hand auf der Klinke, rief sie noch, den rechten Arm feierlich erhoben, wie zu einem Schwur: »Ich bin unschuldig! Dem Herrn Professor wird's noch einmal leidtun, daß er mich jetzt verdächtigt!« eine Bemerkung, die fast wahnsinnig in ihrer Absurdität erscheint, angesichts der gehäuften Schuldbeweise, die meine Eltern hinter der mysteriösen Tür erwarteten.
Da waren sie, Schrank und Kommode füllend, in Pappkartons verstaut, in Winkeln aufgeschichtet: all die Gegenstände, die man vergeblich gesucht und schließlich verloren geglaubt hatte: Regenschirm und Seife, die guten Handschuhe, die Manschettenknöpfe, ach, und was sonst noch alles! Gummischuhe und Salatschüsseln, Spitzentücher und Cervelatwürste, Puppen und Aschenbecher, Juwelen und alte Fetzen: nichts war Affas rasender Raffsucht zu gering oder zu kostbar gewesen. Offenbar, es war der Raub von Jahren, vielleicht von Jahrzehnten, der sich hier in wirrem Durcheinander stapelte. Was tat die Kleptomanin mit ihren Schätzen? Vergnügte sie sich damit, nachts in Haufen von gestohlenen Krawatten, silbernen Teelöffeln und französischen Luxusausgaben zu wühlen? Schmückte sie sich allein vor dem Spiegel mit dem goldenen Kettchen, das Erika zur Taufe von Omama bekommen hatte und das in grauer Vorzeit rätselhaft verschwunden war?
»All das gehört mir!« behauptete Affa schrill, während die Eltern noch starr und sprachlos vor Entsetzen standen. »Alles mein Eigentum!« Wobei sie das Zimmer samt seinem phantastischen Inhalt mit einer weit ausholenden, wilden und gierigen Geste an sich zu ziehen schien. »Rühren Sie mir nichts an, gnä' Frau! Hände weg, Herr Professor!«
Sie stritt um jeden einzelnen Gegenstand, eine Megäre mit grün flammendem Blick. »Das ist mein Spazierstock!« kreischte sie. »Der Herr Professor hat vielleicht einmal einen ähnlichen gehabt, aber dieser da ist mir heilig, ein Andenken von meinem Cousin … bei Verdun gefallen … so eine Gemeinheit … jetzt will man mir den Stock von meinem seligen Xaver nehmen … meinem Bräutigam … an der Ostfront umgekommen … das einzige, was mir von ihm geblieben ist …«
Der Vater vergaß den Spazierstock, da er unter einem Haufen bestickter Tischtücher drei Flaschen seines lieben Burgunderweines entdeckte, die gute Friedensmarke, die es schon so lang nicht mehr gab! »Mein Burgunder!« rief er, herzlich bewegt, wie beim Wiedersehen mit einem alten Freunde.
» Mein Burgunder!« heulte die Affa. »Ein Geschenk meines verstorbenen Onkels …«
Es war anläßlich des Streites um den roten Wein, daß Affa die Hand gegen den Vater hob. Ja, das Ungeheuerliche geschah: sie schlug nach ihm mit geballter Faust und hätte ihm vielleicht das Nasenbein zertrümmert, wäre er nicht mit überraschender Geistesgegenwart beiseite gesprungen. Immerhin traf sie seine linke Schulter, woraufhin er, nach übereinstimmendem Bericht aller Chronisten, vernehmlich: »Au!« sagte. Einige Historiker wollen wissen, daß er nach kurzem Nachdenken auch noch hinzufügte: »Da hört sich aber wirklich alles auf!«
Ganz entschieden, Affa war zu weit gegangen. Nicht nur die Eltern spürten es, sondern auch Fanny, die Köchin. Diese schlich sich zum Telephon und flüsterte der Polizei die schreckliche Kunde ins Ohr: »Eine ganz gefährliche Kriminelle im Haus vom Herrn Doktor Mann … unsere Josepha … ja, die Affa … sie schlägt um sich … Lassen Sie sie nur gleich abholen … ja … man ist ja seines Lebens nicht mehr sicher … Der Herr Professor liegt schon in seinem Blut …«
Affa hatte sich am Herrn des Hauses vergriffen! Es war das Äußerste, die Katastrophe. Es war Revolution …
Affa – blasphemisch aufgeputzt in Mieleins schönstem Hut, glitzernd mit Offis Schmuck, trunken von Ofeys Wein, Zauberers Spazierstock schwingend: so endet eine Welt, so bricht eine Ordnung zusammen, so beginnt die Apokalypse …
Nachträglich stellte sich heraus, daß Affa nicht nur eine Diebin gewesen war, sondern auch eine Messalina. Wir wurden bombardiert mit Telephonanrufen und anonymen Briefen. Die ganze Nachbarschaft hatte sich über unsere Langmut gewundert. Jede Nacht ein anderer Soldat! Wie konnten wir so skandalöses Treiben dulden?
Eine ehrbare Witwe, tragisch und imposant im altmodischen Trauerkostüm, ließ sich bei Mielein melden und erfüllte den Salon mit ihren Klagen. Affa hatte den Gatten der Witwe erst korrumpiert, dann in den Selbstmord getrieben. »Die hat's faustdick hinter den Ohren«, konstatierte die Matrone, nicht ohne gramvolle Anerkennung.
Ich begann, Affa zu bewundern. So viel Verderbtheit war eindrucksvoll. Einen schlechten Menschen kann man verurteilen und verachten; aber für das Symbol aller Schlechtigkeit, den Ausbund aller Laster empfindet man eine Art von bestürztem Respekt, in welches sich Mitleid mischt.
Ja, man empfindet auch Mitleid. Denn man begreift, oder ahnt es doch, daß Affa ein Opfer der allgemeinen Auflockerung und Erschütterung, daß sie ein Kriegsopfer ist. Ihr moralisches Gleichgewicht war nicht stark genug, um der Woge von Korruption und Roheit zu widerstehen, die über den Kontinent hinging und seine sittlichen Grundlagen unterminierte. Warum sollte sie nicht jede Nacht den Geliebten wechseln, da er doch vor dem nächsten Rendezvous getötet werden konnte? Warum sollte sie nicht stehlen und lügen und Unzucht treiben, da die göttlichen Gebote offenbar außer Kraft gesetzt waren? Wäre sie in eine friedliche und ordentliche Welt hineingeboren worden – wer weiß, sie hätte vielleicht geheiratet und ein vernünftiges Leben geführt. Aber dies war eine fürchterliche Zeit, und so ward unsere Affa fürchterlich.
Es schien nicht ohne Logik, wenngleich doch auch wieder überraschend, daß die Richter sie freisprachen von jeder Schuld. Denn so geschah es: Affa gewann den Prozeß. Sie repräsentierte die unterdrückte Klasse, das Proletariat; sie log mit Schwung und großer Überzeugungskraft. Der Gerichtssaal war bezaubert von ihrem derben Witz, ihrer volkstümlichen Schlagfertigkeit. Sie beherrschte die Szene, glitzerte und triumphierte, Mielein und Zauberer wären am liebsten in den Erdboden versunken, da Affa auf den Burgunder zu sprechen kam. Mit rührender Eloquenz beschrieb sie, wie man versucht hatte, sie des Rotweins zu berauben: »nur drei kleine Flascherln – das einzige Andenken, wo ich hab von meinem Stiefbruder, dem seligen Fregattenkapitän, und da kommen diese Preußen daher, diese Ausbeuter, diese Großkopfeten, und wollen mir die drei Flascherln auch noch nehmen, wo's doch den ganzen Keller voll haben von Schampus und Schnaps und was s' alles saufen …« Aus dem Publikum kamen Rufe des Abscheus, des Protestes. Je mehr die armen Eltern in sich zusammensanken, desto sieghafter strahlte Affa.
Sie trug eine knapp anliegende Bluse aus grünem Atlas, unter dessen straffer Glätte ihr bedeutender Busen sich besonders schön profilierte; dazu funkelnde Ohrgehänge und einen hohen spanischen Kamm in der sorgsam gewellten Frisur. Merkwürdigerweise ward diese pompöse Aufmachung allgemein als ein natürliches Attribut ihrer revolutionären Würde akzeptiert. Sogar die Köchin, die doch als erste Affa bezichtigt hatte, fand nun nicht den Mut, ihre Beschuldigungen öffentlich zu wiederholen. Es war ein vollkommener Triumph für die Angeklagte, der köstlichste Augenblick ihres Lebens. Von ihrer festlich erhitzten Stirn kam ein Leuchten, da sie sich nun erhob, zugleich Siegerin und Märtyrerin. Erhobenen Hauptes, mit eindrucksvoll geblähtem Atlasbusen verließ sie die Anklagebank und schritt auf den Ausgang zu – nicht ohne, von der Tür her, noch einen schrecklichen Blick auf das mausgraue Paar zu schleudern, das mit verdutzten Mienen zurückblieb.
War dies der letzte Akt von Affas Drama? Leider nicht. Es sollte noch ein trübes Nachspiel geben. Ihre Glorie verging, so schnell wie sie entstanden war. Sie wurde ein Spuk, der die Familie heimsuchte, zu der sie sich einst hatte rechnen dürfen. Zur Stunde der Dämmerung, wenn Himmel und Dinge blaß werden, sahen wir die Affa durch die Straßen unseres Viertels streifen. Je näher der Abend kam, desto näher wagte sie sich an unser Haus. Sie umkreiste den Garten, in dem sie Blinde Kuh mit uns zu spielen pflegte. Aus sicherem Verstecke sahen wir ihr zu, wie sie schwankte und lallte, ihre wüsten Geheimnisse der verödeten Allee anvertrauend.
Wie heruntergekommen sie aussah! Ihr Gesicht blieb halb verborgen hinter einem mißfarbenen, zerfetzten Schal. Aber wir erkannten, nicht ohne Schaudern, die berühmte grüne Atlasbluse, einst das Zeichen von Affas Triumph, nun so traurig glanzlos und abgetragen. Die Gestalt, deren solide Üppigkeit das Entzücken bayerischer Regimenter gewesen war, schien jetzt eine schlaffe, formlose gedunsene Masse, durchnäßt, vollgesogen, aufgeweicht von vielen Regengüssen, vielen Tränen, vielen Trinkgelagen.
Sie verweilte vor unserer Haustüre, als ob sie noch bei uns lebte und eben von einem harmlos-vergnügten Ausgang zurückkehrte. Wonach suchte sie in ihrem schwarzen Beutel? Nach einem Schlüssel? Aber sie hatte keinen! Trotzdem kramte sie noch eine Weile, bis ihr schließlich das Unsinnige ihres Treibens zum Bewußtsein kam. Da wurde sie zornig. Wir sahen, wie sie eine schwingende Bewegung mit dem Oberkörper vollführte, eine Gebärde des Wahnsinns, nicht ohne absurde Schönheit. Dabei spuckte sie aus, gerade auf unsere Schwelle.
Was nun geschah, war noch beängstigender. Irritiert durch die Unauffindbarkeit des Schlüssels und die Flüchtigkeit ihrer irdischen Erfolge, erhob sie beide Fäuste und murmelte eine Verwünschung. Wir konnten die Worte nicht verstehen, aber sie müssen grauenvoll gewesen sein: der zischende Laut ihrer Stimme genügte, uns erstarren zu lassen. Noch furchtbarer war ihr Gesicht, nun enthüllt, da der Schal herabgeglitten war. Leicht zurückgelehnt bot es sich in obszöner Nacktheit dem fahlen Licht der Straßenlaterne dar, eine entmenschte Grimasse, schwärzlich und gedunsen unter der wüsten Krone des zerzausten Haares. Haß und Elend hatten ihr Gesicht befleckt, entstellt, zerfressen wie eine Pest. Der Mund klaffte, zu stummer Klage geöffnet, während die Augen, glasig vor Trunkenheit, blicklos zum Himmel starrten.
So stand sie minutenlang – eine Ewigkeit, wie uns scheinen wollte –, versteinert in der Geste des Fluches: bis sie endlich die Arme sinken ließ, plötzlich müde, ernüchtert. Ihr Körper, ihre Züge, sogar ihr Gewand schienen zusammenzusacken, während sie sich langsam abwandte und das Haupt wieder im abgetragenen Schal verhüllte. Es war ein kühler Abend; Affa fror. Die Schultern zusammengezogen, fröstelnd in ihr leichtes Tuch gewickelt, ging sie davon, ohne sich noch einmal umzuschauen. Wir blickten ihr nach, in [beklommenem] Schweigen. Endlich rief einer von uns: »Affa!« Es war Monika, die Kleinste. Aber keine Antwort kam auf ihren schwachen Ruf. Affa war im Dunkel verschwunden.