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1. Djihad: Der arabische Kampf gegen die Juden Palästinas
ОглавлениеBis zum Ende des Ersten Weltkrieges war Palästina eine abgelegene osmanische Provinz.1 Um die Jahrhundertwende war das Land weder übervölkert noch intensiv genutzt, sondern eher schwach besiedelt; Schätzungen gehen von 400 000 Einwohnern aus. Die große Mehrheit von ihnen waren ethnische Araber. Majoritär handelte es sich um sunnitische Muslime; gerade in den Städten lebte aber auch eine Minderheit von Christen arabischer Herkunft. Konzentriert auf Jerusalem, Hebron, Tiberias und Safed existierte daneben eine meist seit Jahrhunderten ansässige kleine jüdische Bevölkerung hauptsächlich sephardischer Herkunft. Für diesen alten Jischuw – 1870 gerade 25 000 Menschen – galt die Ansiedlung im Heiligen Land als religiöses Gebot; Zionismus als Motiv war ihm fremd.2
Juden aschkenasischer Provenienz kamen verstärkt dann in der Ersten Alijah (Aufstieg) seit 1881 nach Palästina, als die Ermordung des Zaren Alexander II. und die ihr folgenden Pogrome und Restriktionen zu einer Massenauswanderung von Juden aus dem russischen Kaiserreich führten. Der weitaus größte Teil dieses Stromes führte allerdings in die Vereinigten Staaten; nur etwa 70 000 kamen bis 1914 von Osteuropa nach Palästina. Während die ersten von ihnen Flüchtlinge auf der Suche nach einer neuen Diaspora waren, unterschieden sich die Zuwanderer der Zweiten Alijah seit 1905 wesentlich davon.3 Sie waren in der Hauptsache Anhänger eines sozialistisch geprägten Zionismus, die das Zarenreich nach der gescheiterten russischen Revolution von 1905 verließen, um das Land ihrer Vorväter durch eigener Hände Arbeit zu rekultivieren. Dieser neue Jischuw betrachtete sich als Teil eines nationalen Aufbruchs, begeisterte sich für die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft in einem eigenen jüdischen Land, in dem es per se weder Antisemitismus noch Pogrome gab. Obwohl Theodor Herzl, der Vordenker des Zionismus, kaum einen Gedanken an die anwesende arabische Bevölkerung verschwendet hatte, besaß das Projekt mit dem westlichen Kolonialismus in Afrika und Asien keinerlei Gemeinsamkeit. Denn Kolonien erwarb man üblicherweise, um Bodenschätze abzubauen und die Einheimischen auszubeuten. Palästina hingegen war für die zuwandernden Juden ökonomisch eher ein Verlustgeschäft. Es beinhaltete Bewässerung und Urbarmachung, Knochenarbeit und jahrelanges Warten auf Rendite, Verzicht auf relativen Wohlstand und Urbanität. Nur dadurch, so glaubten die jüdischen Pioniere, könnten sie sich vom Ghetto und seiner Mentalität befreien und den historischen Anspruch auf Erez Israel auch in einen moralischen verwandeln.4
Der Erste Weltkrieg machte Palästina zum Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen zwischen britischen und osmanisch-deutschen Truppen. Das anglo-ägyptische Expeditionskorps unter General Sir Edmund Allenby eroberte 1917 unter hohen Verlusten für beide Seiten von Ägypten aus den Sinai, den Negev und den Gazastreifen; am 16. November nahm es Jaffa ein, am 9. Dezember Jerusalem. Das nördliche Palästina aber blieb bis zum Spätsommer 1918 in osmanischer Hand. Erst am 23. September dieses Jahres fiel Haifa, am 1. Oktober Damaskus. Der britisch-osmanische Waffenstillstand von Mudros am 30. Oktober beendete den Krieg in der Levante, ließ Palästina aber in einer höchst ungeklärten Situation zurück.5 Denn die Briten hatten während des Krieges nach drei Seiten hin Versprechungen gemacht, die sämtlich recht vage waren. Um die Araber auf ihre Seite zu ziehen und sie in den Aufstand gegen den Sultan zu treiben, hatte Sir Henry MacMahon, der High Commissioner in Ägypten, Hussein, dem Sherifen von Mekka, ein großarabisches Reich in Aussicht gestellt; ob jedoch auch Palästina darin enthalten sein sollte, wird in dem Briefwechsel mit keinem Wort erwähnt.6 Im Sykes-Picot-Abkommen vom 9. Mai 1916 hatten sich Großbritannien und Frankreich aber auch auf eine Abgrenzung ihrer beiderseitigen Interessen in der Region für die Zeit nach dem Krieg verständigt und sich auf eine Aufteilung der vom „kranken Mann am Bosporus“ zu beerbenden Gebiete geeinigt. Demnach sollte Frankreich den Bereich südlich von Anatolien zwischen Mossul und Akko kontrollieren, das Empire das sich südlich anschließende Terrain von Amman bis Bagdad erhalten, während für Palästina eine internationale Kontrolle vorgesehen war.7
Folgenreicher noch war jene Erklärung, die Außenminister Lord Arthur Balfour am 2. November 1917 gegenüber Lord James Rothschild abgab. Darin versicherte er, die Regierung „views with favour the establishment in Palestine of a national home for the Jewish people, and will use their best endeavours to facilitate the achievement of this object, it being clearly understood that nothing shall be done which may prejudice the civil and religious rights of existing non-Jewish communities in Palestine or the rights and political status enjoyed by Jews in any other country“.8 Diese Geste guten Willens, die die jüdischen Gemeinden in aller Welt zugunsten Londons mobilisieren sollte, bedeutete gewiß einen diplomatischen Durchbruch für den Zionismus, war aber alles andere als eindeutig. „Palestine“ konnte das ganze Land, aber auch nur einen kleinen Teil davon bedeuten. „National home“ war kein völkerrechtlich definierter Begriff und changierte irgendwo zwischen Staatsbildung und Niederlassungsrecht. Und „views with favour“ implizierte keinerlei vertragliche Garantie von seiten des Empire.9 Gleichwohl entschied die Konferenz von San Remo am 25. April 1920, die Balfour-Deklaration in den zu Sèvres geschlossenen Friedensvertrag mit der Türkei aufzunehmen und Großbritannien das Mandat für Palästina zu übertragen. Artikel 2 des damals verabschiedeten Vertrages, der vom Völkerbund am 24. Juli 1922 sanktioniert wurde, stellte das vom britischen Außenminister gegebene Versprechen, eine nationale Heimstätte für die Juden zu schaffen, erstmals auf eine internationale völkerrechtliche Grundlage. Die Problematik der Dehnbarkeit seiner Formulierungen sollte sich aber bald schon erweisen.10
Noch unter Militärverwaltung kam es in Palästina zu mehreren antijüdischen Übergriffen durch Araber. Ende 1919 griffen Beduinen jüdische Siedler in Galiläa an. Im März 1920 gab es erneut acht Tote bei einem Überfall auf Tel Chai. Unter ihnen war Joseph Trumpeldor, ein Zahnarzt und ehemaliger zaristischer Offizier, der neben Wladimir Jabotinsky der Führer der Jüdischen Legion gewesen war, die auf britischer Seite 1917/18 in Palästina gekämpft hatte. Er galt als Inbegriff des zionistischen Pioniers und avancierte seitdem zum nationalen Mythos.11 Weitaus größere Ausmaße nahm die muslimische Gewalt am 4. April dieses Jahres in Jerusalem an. An jenem Tag fielen drei religiöse Feste zusammen: das jüdische Pessah, das christliche Ostern und das muslimische Nebi Musa. Die in die Stadt zur Prozession strömenden Araber wurden von Rednern zum Zusammenschluß mit Syrien aufgefordert, wo Feisal, der Sohn des Sherifen Hussein, gerade ein unabhängiges Königreich proklamiert hatte.12 Und die Muslime riefen: „Palästina ist unser Land, die Juden sind unsere Hunde!“ Als die Pilger das jüdische Viertel durchquerten, kam es zu wüsten Ausschreitungen und Plünderungen. Die Gewalttätigkeiten, die sich bis zum 8. April fortsetzten, kosteten auf jüdischer Seite fünf Tote, 216 Verletzte und 18 Schwerverletzte.13 Wer darin eine „nationale Demonstration für Unabhängigkeit und Freiheit“ erblickt,14 – so ein deutscher Arabist – verschließt die Augen vor antisemitischer Gewalt und glorifiziert den Terrorismus. Laut Oberst Richard Meinertzhagen, einem britischen Nachrichtenoffizier jüdischer Herkunft, hatten leitende Funktionäre der Militärverwaltung die Araber eigens zu den Übergriffen ermuntert, um den Zionismus zu diskreditieren.15 Dafür spricht, daß Jerusalem während jener Tage von britischen Truppen entblößt war und die Menge skandierte: „Die Regierung ist auf unserer Seite.“16
Auch die anschließend verhängten Strafen waren milde. Musa Kazem el-Husseini, bisheriger Bürgermeister von Jerusalem und einer der Agitatoren bei Nebi Musa, wurde abgesetzt und durch Ragheb Nashashibi ersetzt. Haj Muhammad Amin el-Husseini, ein weiterer Hetzer, der vorsorglich nach Syrien geflohen war, erhielt in Abwesenheit zehn Jahre Haft. Absitzen brauchte er davon keinen einzigen Tag. Denn es gehörte zur Tragik der Entwicklung, daß ausgerechnet Sir Herbert Samuel, ein Liberaler jüdischer Herkunft, damals an die Spitze der neu errichteten zivilen Mandatsverwaltung trat und seinen Frieden mit den Arabern zu machen gedachte.17 Dabei verfiel er auf die Idee, die Husseinis und die Nashashibis, die beiden mächtigsten Familien des Landes, die ihre Herkunft beide vom Propheten ableiteten, nach dem Prinzip ‚Divide et impera‘ gegeneinander auszuspielen und so zu neutralisieren. Da ein Nashashibi nunmehr Bürgermeister von Jerusalem war, sollte ein Husseini zur Ausbalancierung der Machtverhältnisse das höchste geistliche Amt bekleiden. Die Wahl von Samuel fiel ausgerechnet auf Amin el-Husseini, den er für einen „moderaten Mann“ hielt.18 Im September 1920 begnadigte er ihn und erlaubte ihm die Rückkehr. Bei den Wahlen zum Mufti (Entscheider) von Jerusalem am 12. April 1921 wurde el-Husseini zwar nur Vierter hinter einer Reihe angesehener Gelehrter aus gleichfalls guter Familie, doch Samuel stieß das Votum um und sprach bereits am 8. Mai dessen Ernennung aus. Damit hatte nunmehr dieser Mann die entscheidende Machtposition erreicht, von der er über Jahrzehnte hinweg wie kein anderer den arabischen Kampf gegen die Juden Palästinas radikalisieren und ideologisch aufladen sollte.19 „Able, ambitious, ruthless, humorless, and incorruptible, he was of the authentic stuff of which dictators are made“, beurteilte ihn ein britischer Historiker.20
Der 1893, 1895 oder 1896 geborene Amin el-Husseini hatte 1912/13 für kurze Zeit an der Al-Azhar-Universität in Kairo studiert und war bereits dort an der Gründung einer antizionistischen Vereinigung palästinensischer Studenten beteiligt. Danach trat er als Offizier in die osmanische Armee ein, schloß sich jedoch 1916 einer arabischen Geheimgesellschaft an, die für die Autonomie eintrat. 1917 desertierte er während eines Krankenurlaubs in Jerusalem, trat zu den Aufständischen unter dem Sherifen Hussein über und zog mit Allenby wieder in seine Heimatstadt ein.21 Trotz seiner eher dürftigen theologischen Ausbildung war el-Husseini als Mufti aufgrund des britischen Votums nunmehr oberster islamischer Rechtsgelehrter in Palästina. Er war damit die einzige und letzte Autorität, die den Koran und vor allem die in der Sunnah zusammengefaßten mündlichen Überlieferungen auszulegen vermochte. Das Instrument der Fatwa, sein auch die Scharia-Gerichtshöfe bindendes Gutachten, machte ihn zur letzten Instanz der privaten und öffentlichen Rechtskontrolle.22 Zudem verschaffte ihm der Vorsitz im Obersten Muslimischen Rat, der im Dezember 1921 wiederum mit britischer Schützenhilfe geschaffen wurde, um die religiösen Stiftungen, den Waqf, zu beaufsichtigen, erhebliche Finanz- und Machtmittel sowie ein ausgefächertes Patronagenetz.23
Unterdessen kam es in Palästina zu einer neuen Revolte der Araber, „die gegen die Ernennung eines Juden zum Hochkommissar aufbegehrten“.24 Ausgangspunkt war Jaffa, wo der Mob am 1. Mai 1921 jüdische Läden und Einrichtungen angriff; sein Ziel war insbesondere ein Einwandererheim, das sowohl Männer wie Frauen beherbergte und daher als Sündenpfuhl betrachtet wurde. Die arabischen Polizisten sahen zu, als man selbst Kinder tötete und manch einem Opfer den Schädel spaltete. Zu den Ermordeten zählte auch der bekannte jüdische Schriftsteller Joseph Chaim Brenner. Nachdem der Aufruhr in Jaffa infolge des verhängten Ausnahmezustandes am 3. Mai abgeklungen war, flammte er vier Tage später in den ländlichen Gebieten auf, wo er allerdings überall auf bewaffnete Gegenwehr stieß. Bis zum 7. Mai wurden 47 Juden und 48 Araber getötet. Wichtigstes Resultat der Unruhen war die Unabhängigkeit von Tel Aviv. Der bisherigen Vorstadt von Jaffa wurde die Autonomie gewährt, und Tausende jüdischer Einwohner von Jaffa flohen nunmehr dorthin.25 Am 2. November 1921 zogen arabische Gewalttäter aus Anlaß des Jahrestages der Balfour-Deklaration plündernd durch das jüdische Viertel in der Jerusalemer Altstadt; fünf Juden und drei Araber kamen dabei ums Leben, letztere durch Sprengsätze, die zur Selbstverteidigung benutzt wurden.26
Trotz dieser überbordenden arabischen Gewalt fiel es der britischen Regierung schwer, die Verantwortlichen zu erkennen. Sir Winston Churchill, der damalige Kolonialminister, bekam bei seinem Besuch in Palästina am 28. März 1921 von Musa el-Husseini zu hören, daß die Juden den Untergang des Zarenreiches und die Niederlage Deutschlands und Österreichs verschuldet hätten.27 Und einige britische Zeitungen äußerten bereits zunehmend Sympathie für die Araber und sorgten sich um die Kosten des Empire bei seinem neuen Engagement in Palästina. Aus beiden Elementen bildete sich seitdem ein Muster britischen Verhaltens heraus, das bis Ende der 1930er Jahre Gültigkeit behalten sollte. In einem Memorandum vom 1. Juli 1922 machte Churchill klar, daß das United Kingdom nicht im Sinn habe, Palästina „so jüdisch werden zu lassen wie England englisch“ ist. Weitere Einwanderung sei zwar erlaubt, aber nicht über das für die Wirtschaft des Landes verträgliche Maß hinaus. Zudem wurde Transjordanien abgetrennt und mit einem Einwanderungsstop für Juden belegt.28
Damit begann sich eine arabische Erpressungsspirale zu etablieren. Nach jedem Ausbruch von Gewalt wurde eine britische Untersuchungskommission eingesetzt, die dessen Gründe erhellen sollte. Die Ursache war laut jeweiligem Abschlußbericht immer dieselbe. Demnach befürchteten die Araber, von den Juden vertrieben zu werden. Um Unruhen zu verhindern, empfahlen die Kommissionen stets das gleiche Mittel in unterschiedlicher Dossierung: Einschränkung jüdischer Einwanderung. Die Angegriffenen waren damit die Schuldigen, und die Araber realisierten, daß sie mit Attacken auf jüdische Menschen das Empire zu Restriktionen zwingen konnten. Jede Drosselung der Einwanderung ermutigte damit die arabische Gewaltbereitschaft. Die für jene Seite völlig unannehmbare Balfour-Deklaration und das auf ihr aufbauende Mandat wurden aufgrund dieses circulus vitiosus auch in Großbritannien zunehmend angefeindet. Parallel dazu bildete sich eine Verweigerungsstrategie der Araber heraus. Da sie die Mandatsmacht ablehnten, boykottierten sie auch die von ihr vorgeschlagenen Selbstverwaltungsorgane und die dazu auf Landesebene vorgesehenen Wahlen.29 Zudem bedingte die arabische Eigenwahrnehmung als doppeltes Opfer von Kolonialismus und Zionismus eine bis in die Gegenwart wirksame Perspektive der Selbstviktimisierung, die jeglichen Zweifel am eingeschlagenen Kurs verhinderte. Damit erschien lediglich der Weg der Gewalt eine Perspektive zu bieten. Diese Konstellation implizierte für die Zukunft eindeutig eher die Gefahr weiterer Eskalation als die Chance eines Abbaus der Spannungen.
Gleichwohl setzte sich die jüdische Einwanderung ungebrochen fort. Die 1919 beginnende Dritte Alijah mit ihren 35 000 Migranten bis 1923 wurde wesentlich durch die Pogrome in der Ukraine 1919/20 ausgelöst und war noch stark von der zionistischen Arbeiterbewegung geprägt. Eine Zählung von 1922 ergab in Palästina eine Gesamtbevölkerung von 752 048 Menschen; davon waren 589177 Muslime und 83 790 Juden. Die 1924 einsetzende Vierte Alijah besaß dann eine deutlich veränderte soziale Zusammensetzung, da die Zuwanderer nunmehr dominant aus Polen kamen und die städtischen Mittelschichten in Palästina entscheidend stärkten. Denn die Vorzeichen hatten sich zwischenzeitlich erheblich verändert. Die Vereinigten Staaten, die bisher das Gros der jüdischen Flüchtlinge aus Ost- und Ostmitteleuropa aufgenommen hatten, führten 1921 und 1924 beträchtliche Gesetzeshürden für die Immigration ein, und die Sowjetunion – bisher Ursprungsland der meisten sozialistisch orientierten Einwanderer – erschwerte die Auswanderung. 1932 betrug die Gesamtbevölkerung in Palästina 1052 872 Menschen; darunter befanden sich 771174 Muslime und 180 793 Juden.30 Die arabische Furcht, von einer jüdischen Welle überrollt zu werden, war angesichts dieser Zahlen völlig unbegründet, da deren Bevölkerung mit ihren viel höheren Geburtenraten schneller als die jüdische wuchs. Doch ausschlaggebend sind nicht die Tatsachen, sondern Wahrnehmung und Deutung der Fakten.
Zwar gestaltete sich das jüdisch-arabische Verhältnis im Palästina der 1920er Jahre keineswegs harmonisch, wurde aber bis zum Ende des Jahrzehnts nicht von weiteren schweren Zusammenstößen überschattet. Erst 1929 spitzte sich der latente Konflikt erheblich zu und ideologisierte sich in neuer Art und Weise. Die Eskalation entzündete sich am Streit um die Klagemauer, dem 28 Meter langen Teilstück, das vom Umfassungsring des herodianischen Tempels übrig geblieben ist. Die Juden, die diesen letzten Rest des Zweiten Tempels als ihr Heiligtum betrachteten, hatten dort seit dem Mittelalter gebetet. Aber auch die Muslime hielten die Mauer für eine verehrenswürdige Stätte. Für sie war sie Teil des „heiligen Bezirks“ (Haram ash-Sharif) mit Al-Aqsa-Moschee und Felsendom, wo der Prophet Mohammed nach islamischer Überlieferung sein Pferd Buraq angebunden hatte, bevor er seine nächtliche Himmelfahrt unternahm. Die dem Waqf und damit dem Mufti unterstehende Klagemauer war für die Juden ihre heiligste Gebetsstätte überhaupt; für die Muslime galt der Haram nach Mekka und Medina als drittwichtigster Ort. Eine symbolträchtigere Reibungsfläche ließ sich kaum finden.31
Der Konflikt eskalierte an Statusfragen. Bereits am 24. September 1928, dem jüdischen Versöhnungsfest (Jom Kippur), kam es an der Klagemauer zu ersten Zusammenstößen, als Gläubige dort eine tragbare Trennwand zwischen Männern und Frauen installierten und Stühle für ältere Menschen aufstellten. Da die Muslime dies als Verletzung des Status quo ansahen, schritt die britische Polizei ein und entfernte die Neuerungen unter dem Protest der Betenden.32 In der Folgezeit streute der Mufti gezielt das Gerücht, die Zionisten planten die Zerstörung der Moscheen und den Wiederaufbau ihres Tempels. Am 16. August 1929, dem Geburtstag des Propheten, wurden die Muslime während des Freitagsgebets zur Verteidigung der heiligen Stätten aufgerufen. Mit Parolen wie „Gott ist groß“, „Die Mauer ist unser“ und „Bringt die Juden um“ strömten anschließend 2000 Gläubige von den Moscheen des Haram zur Klagemauer, verprügelten dort betende Juden und verbrannten Thorarollen.33 Genau eine Woche später, am 23. August, eskalierten die arabischen Ausschreitungen. Tausende von Bauern aus der Umgebung, bewaffnet mit Knüppeln und Messern, begaben sich nach Jerusalem und griffen Einwohner in den jüdischen Vierteln Mea Schearim und Jemin Mosche an. Rasch erfaßte die Gewaltwelle die gesamte Stadt bis hinein in die Vororte.34
Doch dies war nur der Auftakt. Noch am selben Nachmittag erreichte das Gerücht, Juden metzelten Araber in Jerusalem nieder, auch Hebron. Tags darauf ereignete sich dort ein regelrechtes Massaker. 67 Juden wurden getötet, darunter ein Dutzend Frauen und drei Kinder unter fünf Jahren. In Jerusalem setzten sich die Gewalttätigkeiten unterdessen fort und griffen dann auf das ganze Land über. Sechs Kibbuzim wurden völlig zerstört; Araber versuchten sogar, Tel Aviv zu überfallen und ermordeten am 30. August 20 Juden in Safed. In antijüdischen Massakern dieser Art „Unruhen“ zu sehen, „die sich gegen die zionistische Machtpolitik in Palästina richteten“,35 stellt die Tatsachen völlig auf den Kopf. Als die Gewalt infolge britischer Polizeimaßnahmen nach einer Woche schließlich abebbte, waren 133 Juden und 116 Araber ums Leben gekommen, 339 Juden und 232 Araber verletzt. Alle Juden waren Opfer arabischer Aggression geworden, während die meisten Araber aufgrund des britischen Eingreifens verletzt oder getötet wurden.36 Trotz aller bisherigen Gewaltausbrüche besaßen die Ereignisse des August 1929 eine neue Qualität. Sie markierten eine Wende in den Beziehungen zwischen Arabern und Juden in Palästina, die auch die gesamten 1930er und 1940er Jahre überschatten sollte. Die Vorstellung eines friedlichen Mit- und Nebeneinander, die bisher die Hoffnung vieler Juden und Araber gebildet hatte, erwies sich nunmehr als Illusion. Zurück blieben die Einsicht in einen Antagonismus, ein sich verhärtender Selbstbehauptungswille und ein sich zunehmend verfestigendes Denken in militärischen Kategorien. Es war bezeichnend, daß die jüdische Vereinigung „Brith Schalom“, die eine Verständigung zwischen den Ethnien und ein binationales Gemeinwesen anstrebte – zu ihren Gründern hatte 1925 u. a. Martin Buber gehört –, 1933 sanft entschlief, da ihr auf arabischer Seite die Partner für einen Dialog fehlten.37
Die Briten, deren Polizei sich als unfähig erwiesen hatte, die jüdische Minderheit zu schützen, begannen mit einer Reorganisation des Sicherheitsapparates,38 schickten aber auch eine Untersuchungskommission unter Sir Walter Shaw ins Land. Deren Bericht von März 1930 gab den Arabern zwar die Verantwortung an den Massakern, bezeichnete jedoch die jüdische Immigration wiederum als den entscheidenden Faktor für die Instabilität der Region. Auf dieser Basis legte Kolonialminister Lord Passfield am 20. Oktober 1930 ein Weißbuch vor, das die britische Politik in Palästina neu bestimmen sollte. Er sprach sich für eine deutlich restriktivere Kontrolle der Einwanderung aus und definierte die Kriterien für die Aufnahmefähigkeit des Landes neu. Die Quoten sollten sich nicht mehr, wie bisher, hauptsächlich am Zustand der jüdischen Wirtschaft orientieren; vielmehr sollte Immigration nur noch in dem Maße erlaubt sein, wie Araber dadurch nicht vom Arbeitsmarkt verdrängt würden. Dadurch war der schwarze Peter voll der jüdischen Seite zugeschoben worden. Zionistische Proteste brachten das Passfield-Weißbuch schließlich zu Fall. In einem offenen Brief zog Premierminister Ramsay MacDonald es im Februar 1931 zurück.39
Obwohl der Mufti nicht als Verantwortlicher der Pogrome verurteilt wurde, notierte Sir John Chancellor, der High Commissioner von Palästina, damals vorausschauend: „The worst thing that happened to this country was the grant of extraordinary powers to the President of the Supreme Moslem Council from which Haj Amin derived his strength.“40 In der Tat hatte sich el-Husseini vor der Shaw-Kommission auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ berufen, um ein jüdisches Komplott in Palästina zu beweisen, und erklärt: „Das House of Commons ist nichts anderes als ein Rat der Weisen von Zion, von dem wir keine Gerechtigkeit zu erwarten haben!“41 Damit war das wohl zählebigste Dokument des modernen Antisemitismus, eine Fiktion der zaristischen Geheimpolizei von 1903, die die jüdische Weltverschwörung belegen sollte, auch in Palästina diskursfähig geworden, wo es spätestens seit 1921 kursierte.42 Nach 1917 waren die „Protokolle“ zum Bestseller der antisemitischen Internationale avanciert und in Hitlers „Mein Kampf“ ausdrücklich emphatisch gelobt worden: „Denn wenn dieses Buch erst einmal Gemeingut eines Volkes geworden sein wird, darf die jüdische Gefahr auch schon als gebrochen gelten.“43
Neben der fundamentalen Ideologisierung seines Antisemitismus, die ihn gewissermaßen auf ‚höchstes‘ europäisches Niveau katapultierte, bewirkte der Mufti spätestens 1929 eine Islamisierung des Konflikts. Indem er sich selber als Verteidiger der heiligen Stätten und als Vorkämpfer der arabischen Nation profilierte, lancierte er sich ins Rampenlicht der islamischen Aufmerksamkeit. Zugleich schöpfte er damit die religiöse Motivierung der Fellachen-Bevölkerung ab, die bisher weder durch die jüdische Einwanderung beeinträchtigt, noch seiner Familie direkt loyalitätspflichtig gewesen war.44 Arabischer Nationalismus, Antisemitismus und Islamismus gingen seitdem eine kaum noch zu separierende Symbiose ein. Zudem gewann der Mufti 1929 einen neuen Verbündeten, mit dem er wohl kaum gerechnet haben dürfte. Am 16. Oktober dieses Jahres beschloß das Sekretariat des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale eine Resolution über die „Aufstandsbewegung in Arabistan“. Darin interpretierte es die Massaker als Bestätigung für den neuen Ultralinkskurs der Komintern, kritisierte die kleine, jüdisch dominierte Kommunistische Partei Palästinas, sie habe „nicht gemerkt, daß der religiöse nationale Konflikt in eine allgemein nationale, antiimperialistische Bauernaktion umschlägt“, und forderte eine Arabisierung der Sektion „von oben bis unten“.45 Am 26. Oktober 1930 beklagte das Exekutivkomitee in einem offenen Brief die mangelnde Umsetzung dieser Weisung und ernannte ein erstmals arabisch dominiertes Zentralkomitee. Der 7. Parteitag der palästinensischen Kommunistischen Partei, der sich als „Parteitag der Arabisierung“ feierte, fand wegweisende Worte: „In Palästina, als einem Kolonialland, spielt die jüdische nationale Minderheit, die sich unter zionistischem Einfluß befindet, die Rolle einer imperialistischen Agentur zur Unterdrückung der arabischen nationalen Befreiungsbewegung.“46 Damit hatte el-Husseini unverhofft einen treuen Partner gefunden, die Sowjetunion eine Sprachregelung für viele Jahrzehnte.
Am 13. Oktober 1933 brach ein arabischer Generalstreik aus, der sich gegen die Einwanderung richtete. Dabei wurden in Haifa auch Juden und jüdische Einrichtungen angegriffen. Gewalttätige Demonstrationen, bei denen auf arabischer Seite erstmals in größerem Umfang Feuerwaffen und Dynamit zum Einsatz kamen, stießen diesmal auf den entschiedenen Widerstand der Polizei; insgesamt wurden 27 Araber erschossen, die die Briten attackiert hatten.47 Im Januar 1935 verlas el-Husseini in der Al-Aqsa-Moschee eine Fatwa, die anschließend gedruckt im ganzen Land verteilt wurde. Darin erklärte er Palästina zum „anvertrauten Gut“ der Muslime und verurteilte jeden als Verräter und Ungläubigen, der Boden in „diesem heiligen islamischen Land“ an Juden veräußere. Gestützt auf den Koran drohte er ihnen mit gesellschaftlichem Boykott und der Verweigerung eines muslimischen Begräbnisses. Kurz danach folgte die Gründung einer Vereinigung islamischer Religions- und Rechtsgelehrter, der „Zentralen Gesellschaft zur Förderung des Guten und Verhinderung des Verwerflichen“, die die Landverkäufe zu beobachten hatte, sich aber auch unmoralischem Verhalten wie unziemlicher Bekleidung, unerlaubtem Beisammensein von Männern und Frauen sowie anstößigen Szenen in Literatur, Film und Theater widmen sollte.48 Die weitere Islamisierung der arabischen Nationalbewegung schritt damit voran.
Der Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland 1933, aber auch zunehmender Antisemitismus in anderen europäischen Ländern setzten die Fünfte Alijah in Gang. 1933 betrug die Zahl der jüdischen Einwanderer 30 327, 1934 42 359 und 1935 gar 61854. 1937 lebten 1401794 Menschen in Palästina, darunter 883 446 Muslime und 395 836 Juden, die damit etwa ein knappes Drittel der Gesamteinwohnerschaft stellten. Innerhalb von drei Jahren – zwischen 1933 und 1935 – hatte sich die jüdische Bevölkerung somit fast verdoppelt und vor allem zum Ausbau der drei Städte Tel Aviv, Jerusalem und Haifa beigetragen, doch sie lebte nach wie vor verteilt auf miteinander nicht verbundene Enklaven in allen Winkeln des Mandatsgebietes. Infolge britischer Restriktionen gingen die Einwandererzahlen in den Folgejahren jedoch stark zurück; 1936 kamen 29 727 Juden ins Land, 1937 waren es lediglich 10536, 1938 noch 12 868 und 1939 16 405.49 Gerade als seit Mitte der 1930er Jahre ein sicherer Zufluchtshafen für die Juden besonders wichtig gewesen wäre, schlossen sich die Türen in Palästina und anderswo also immer mehr. Die Welt war geteilt, wie Dr. Chaim Weizmann, der Präsident der Zionistischen Organisation, klagte – geteilt in Länder, in denen Juden nicht leben konnten, und in Länder, in die sie nicht einreisen durften.50 Erstmals stieg seit 1933 der Anteil von Immigranten aus dem deutschsprachigen Raum steil an. Während er bis dahin nur etwa 2,5 Prozent der jährlichen Zuwanderung ausgemacht hatte, betrug er 1933 bereits 17 Prozent und stieg bis 1938 auf 52 Prozent.51 Im Gegensatz zu den Juden aus Osteuropa bildete deren vorrangiges Motiv für die Emigration in aller Regel nicht zionistischer Idealismus, sondern die handfeste Bedrohung durch die Nationalsozialisten. Bei der Ankunft in Palästina wurden sie daher häufig mit der ironischen Frage konfrontiert: „Kommen Sie aus Überzeugung oder aus Deutschland?“52
Wie die Einwanderungsrestriktionen belegen, sahen auch die Briten die jüdische Immigration zunehmend kritischer. Viele Angehörige der Mandatsverwaltung erblickten in der Balfour-Deklaration, die in London als Basis britischer Präsenz in Palästina galt, ohnehin das größte Hindernis für die Errichtung einer normalen Kolonialverwaltung. Etliche galten als proarabisch, einige sogar als antisemitisch; mehrheitlich waren sie mit Gewißheit antizionistisch.53 Der Wiener Franz Schattenfroh, Autor des antisemitischen Bestsellers „Wille und Rasse“ und Palästinareisender in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, notierte jedenfalls, daß die „britischen Polizisten, die zu großen Teilen Mosley-Anhänger sind und zum Beispiel vor der Hakenkreuzfahne der deutschen Konsulate gern mit erhobener Hand die Ehrenbezeigung leisten, ob sie nun vorübergehen oder im Auto vorbeifahren. Überhaupt werden viele englische Offiziere und Beamte, die in ihrer Heimat von einer Judenfrage so gut wie nichts wußten, in Palästina überzeugte Antisemiten.“54
Für viele Araber Palästinas galt dies angesichts der Vorgeschichte und der zunächst ansteigenden Zuwanderungswelle erst recht. Seit den frühen 1930er Jahren zeichnete sich dort ein politischer Formierungsprozeß ab, der in Parteienbildungen mündete und somit landesweite Netzwerke schuf, die über die traditionellen Familien- und Klientelstrukturen hinausreichten. Am 4. August 1932 wurde zunächst die panarabisch orientierte „Unabhängigkeitspartei“ (Istiqlal) von Auni Abd el-Hadi gegründet, die zu einer Strategie der Nichtzusammenarbeit und der Steuerverweigerung gegenüber der Mandatsverwaltung aufrief. Im Dezember 1934 folgte die „Nationale Verteidigungspartei“ der Nashashibis, die für eine Kooperation mit den Briten eintrat. Der Mufti antwortete im März 1935 mit der Bildung der „Partei des Arabischen Staatenbundes“, die alle jüdischen Rechte in Palästina negierte. Einen engen Verbündeten fand sie in der im Juni dieses Jahres gegründeten „Reformpartei“ unter Dr. Hussein al-Khalidi. Die Formierung der relativ moderaten Partei „Nationaler Block“ im Oktober 1935 schloß diesen Parteienbildungsprozeß ab. Trotz aller Unterschiede im Detail waren sie sich allesamt einig in ihrer Forderung nach einem arabischen Staat und ihrer Feindschaft gegen den Zionismus.55
Parallel dazu erfolgte eine Radikalisierung der Jugendorganisationen. So entwickelten sich der „Verein Muslimischer Junger Männer“ und die arabischen Pfadfinder zu ausgesprochen militanten Verbänden.56 Und das Motto von „al-Futuwwa“, der im Februar 1936 gegründeten Jugendsektion der Partei des Mufti, lautete: „Freiheit ist mein Recht, Unabhängigkeit mein Ziel, der Arabismus mein Grundsatz, Palästina mein Land allein.“57 Umgekehrt hieß das: kein Existenzrecht für Juden. Zu den neuen Kräften gehörten auch diverse Geheimgesellschaften auf arabischer Seite, die den Djihad als „heiligen Krieg“ propagierten und praktizierten. So trat in Galiläa seit Oktober 1929 die islamische Gruppe „Grüne Hand“ auf, die jüdische Siedlungen angriff, bis sie 1931 von den Briten liquidiert wurde. Im August dieses Jahres bildete sich die Organisation „Heiliger Krieg“ unter der Führung von Abd el-Qadir el-Husseini, eines engen Verwandten des Mufti, die Ende 1934 im Untergrund 400 Jugendliche militärisch trainierte. Andere Gruppen, wie die „Jungen Rebellen“, operierten 1935 im Raum von Nablus und Tulkarm. Sie entstanden gewöhnlich auf Initiative von örtlichen Führern der Istiqlal-Partei oder des „Vereins Muslimischer Junger Männer“. Unklar bleibt, wieweit der Mufti diese Banden bereits damals zumindest im geheimen unterstützte.58
Überaus relevant für diese Prozesse der ideologischen Aufladung und Radikalisierung der Handlungsmuster war auch das Treiben des islamischen Fundamentalisten Izz al-Din al-Qassam – bis heute der Namenspatron jener Kommandos der Hamas, die Selbstmordattentate auf Israelis verüben. Als Imam in Haifa war er 1928 an der Gründung des „Vereins Muslimischer Junger Männer“ beteiligt, erklärte den Djihad zur individuellen Pflicht jedes Gläubigen und verkündete das Ideal des Märtyrers (Shahid), der sich für die Sache des Islam opfert und dafür im Paradies entschädigt wird. Idealer Ausgangspunkt der Agitation und der daraus resultierenden Rekrutierung von Mitstreitern war seine Moschee, deren Innenraum von den Briten gemieden wurde. Im November 1935 entschied al-Qassam, daß die Zeit reif für einen Aufstand sei, und ging mit einem Teil seiner Gruppe in die Berge. Nachdem sie in Nordsamaria einen jüdischen Polizisten ermordet hatten, wurden sie von einer britischen Patrouille gestellt und erschossen. Al-Qassams Beisetzung wurde zum Triumphzug, sein Grab zum Wallfahrtsort.59 Daß ein Terrorist dieses Schlages auch nach dem 11. September 2001 in der wissenschaftlichen westlichen Literatur noch als „Märtyrer“ bezeichnet wird, der „für seinen Glauben und die palästinensische Sache“ Zeugnis abgab,60 kann nur mit einer Mischung aus Blindheit und unkritischer Verliebtheit jener Autoren in ihren Gegenstand erklärt werden. Und auch die Charakterisierung „a deeply religious shaykh anda man of integrity, social concern, and eloquence“ geht meilenweit an der Realität vorbei.61 Denn indem al-Qassam das Konzept des Djihad, das bisher als „gottgefällige Anstrengung“ relativ begriffsoffen gewesen war, auf den Krieg gegen die ‚Ungläubigen‘ reduzierte und diese militante Interpretation zur verbindlichen Auslegung des Koran erklärte, verschloß er die Toleranzpotentiale einer großen Weltreligion und öffnete sie zur spirituellen Bemäntelung jedweder Gewalt. Etliche der übrig gebliebenen Qassamiten sollten in dem bald darauf ausbrechenden arabischen Aufstand konsequenterweise eine wesentliche Rolle spielen.62
Der Zeitpunkt des Beginns dieser eigentlich ersten Intifada war mit Bedacht gewählt. Großbritanniens demonstrative Schwäche in der Abessinienkrise und bald darauf auch in Spanien, der Aufstieg Japans und Deutschlands sowie die sich formierende Achse Berlin-Rom führten die Verletzlichkeit des Empire vor Augen und deuteten auf eine Kräfteverschiebung auch im Nahen und Mittleren Osten hin.63 Daß zudem mit Deutschland erstmals ein westlicher Staat die Juden für vogelfrei erklärt hatte, machte deren Schutzlosigkeit bewußt und setzte zusätzliche Motivationen frei.64 Der eigentliche Anlaß des Aufstandes war geradezu beliebig: Am 15. April 1936 erschossen Araber zwei jüdische Siedler. Zur Vergeltung starben in der folgenden Nacht zwei Araber von jüdischer Hand. Zwischenfälle dieser Art hatten sich bereits dutzendfach ereignet, ohne daß sie zu flächendeckenden Unruhen geführt hätten. Diesmal aber unterschied sich die Reaktion. Am 19. des Monats wurden neun Juden von Arabern in Jaffa getötet,65 und am 25. wurde Sir Arthur Wauchope, Chancellors Nachfolger als High Commissioner, von der Nachricht überrascht, daß sich alle sechs arabischen Parteien zu einem Obersten Arabischen Komitee unter dem Vorsitz des Mufti zusammengeschlossen und den Generalstreik verkündet hätten. Der neue Verbund forderte ein Ende der jüdischen Einwanderung, das Verbot der Landverkäufe an Juden und die Bildung einer arabischen Regierung.66 Die außerhalb dieses islamischen Konsenses stehenden Kommunisten erklärten sofort ihre bedingungslose Unterstützung.67
Daß angeblich „die Angst vor einer massiven Aufrüstung der Juden, der sie selbst nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten“, die majoritären Araber zu diesem Schritt bewegt habe,68 wurde in der Folgezeit eindrucksvoll widerlegt. Auch die Meldung eines deutschen V-Mannes von Ende 1935, wonach nur noch „peripherische Metzeleien an entlegenen Stützpunkten der jüdischen Kolonisation, die weder für die Haganah [die jüdische Verteidigungsorganisation] noch für das Militär in hinreichend schnellem Maße erreichbar sind“, für die Araber möglich seien,69 sollte durch den Aufstand selbst bald überholt werden. Denn der Generalstreik schlug sofort in eine landesweite bewaffnete Revolte mit zunächst antijüdischer, dann zunehmend auch antibritischer Stoßrichtung um. Die muslimischen Funktionäre riefen die Bevölkerung im Namen des Islam auf, sich den Rebellen anzuschließen und zum Aufstand überzugehen. Heckenschützen schossen von strategischen Punkten auf Patrouillen, Passanten und Fahrzeuge. Britische Polizeistationen wurden gestürmt, Telephon- und Telegraphenleitungen gekappt, Straßen und Eisenbahngleise durch Minen zerstört. Die Araber griffen jüdische Siedlungen an, verwüsteten deren Felder und Plantagen, fällten Frucht- und Obstbäume und schlachteten das Vieh ab.70 Verstärkung erhielten die bäuerlichen Banden bald schon durch Guerillas aus Syrien und dem Irak, die unter dem Rebellenführer Fauzi el-Kawukschi in Palästina aktiv wurden.71 Djihad und Paramilitarisierung wurden nunmehr endgültig zum Signum des palästinensischen Nationalismus.72
Als der Generalstreik am 12. Oktober 1936 durch Vermittlung der arabischen Regierungen abgebrochen wurde,73 hatte er 306 Tote und 1322 Verwundete gefordert. Auf die Zivilbevölkerung entfielen 277 Tote: 187 Muslime, 80 Juden und 10 Christen; Militär und Polizei hatten 29 Tote zu beklagen.74 Obwohl Mitte Oktober wieder relative Ruhe in Palästina einkehrte, schien ein Wiederaufleben der Revolte jederzeit möglich. Eine Entwaffnung der Rebellen erfolgte nicht, der Einfluß des Obersten Arabischen Komitees wurde nicht geschmälert, die Position des Mufti blieb unangetastet.75 „Der Waffenschmuggel über die Landgrenzen ist sehr rege und dürfte zu einer reichlichen Versorgung der Bevölkerung führen“, berichtete der deutsche Generalkonsul Dr. Walter Doehle Anfang 1937. „Die Lage in Palästina läßt sich dahingehend charakterisieren, daß in der Zeit seit Abblasen des Streiks die Terrorakte (Überfälle auf den Landstraßen und auf Siedlungen) zu keinem Zeitpunkt ganz aufgehört haben, daß nur bei einem Vergleich mit dem Höhepunkte des Aufruhrs in den Sommermonaten, wo es sich um regelrechte Gefechte handelte, ein Nachlassen zu verzeichnen ist, man aber in der ganzen Zeit von einer Sicherheit im Lande nie sprechen konnte.“76 „Ein bewaffneter Waffenstillstand war die beste Beschreibungsform der Situation“, ironisierte General Sir John Dill, der Oberkommandierende der britischen Truppen in Palästina, die Lage gegenüber dem Kriegsministerium.77
Abb. 1. Abtranport eines von arabischen Terroristen erschossenen Passanten, Tel Aviv 1936.
Es hatte sich herausgestellt, daß die ‚Friedensorganisation‘ der Mandatsmacht, zu der die aus Briten, Arabern und Juden bestehende Palestine Police Force, die Transjordan Frontier Force sowie zwei Infanteriebataillone zählten, bereits damit überlastet gewesen war, Demonstrationen und Ausschreitungen in den Städten zu verhindern. Und jedermann war klar, daß sich die arabische Polizei, die in den dominant arabisch besiedelten Landesteilen das Rückgrat der Sicherheitsorgane stellte, als unzuverlässig erwiesen hatte, weil die Beamten den Repressalien der Rebellen ausgeliefert waren und als ‚Kollaborateure und Verräter‘ bevorzugte Attentatsziele darstellten.78 Zugleich hatte sich al-Qassams Schatten düster über das Land gelegt. Der antijüdische Kampf war zur religiösen Pflicht verklärt und darüber hinaus der Palästinakonflikt in einen panislamischen und panarabischen Kontext gestellt worden.79 Darüber hinaus stand nunmehr die offene Vernichtungsdrohung gegen den Jischuw im Raum: „Solange die Juden ein Nationales Heim in Palästina errichten wollen, ist hier ein friedliches Leben unmöglich“, hatte das Oberste Arabische Komitee erklärt. „Wenn einmal die Engländer die Hand von diesem Lande wegnehmen, werfen und jagen wir sämtliche Juden in einem Ansturme ins Meer hinein!“80
Am 8. August 1936 bestellten die Briten wieder einmal eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz von Lord William Robert Peel, die jedoch wegen der anhaltenden Unruhen erst drei Monate später ihre Reise nach Palästina antreten konnte. Auch ihr gegenüber nahm der Mufti kein Blatt vor den Mund: „Geben Sie uns die Selbständigkeit, und wir werden schon selbst mit den Juden fertig werden!“81 Als er gefragt wurde, ob man diese eingliedern oder assimilieren könne, antwortete er schlicht mit einem „Nein“. Sollten die Juden dann also ausgewiesen oder „irgendwie entfernt“ werden, lautete die nächste Frage. „Das müssen wir alles der Zukunft überlassen“, meinte da der Mufti, und el-Hadi, der Führer der Istiqlal-Partei, antwortete vielsagend: „Dies ist keine Frage, die hier entschieden werden kann.“ Und er zögerte auch nicht, das Dritte Reich als Kronzeugen heranzuziehen: Wenn 60 Millionen Deutsche die Anwesenheit von 600 000 Juden nicht ertragen könnten, wie könne man da von den Arabern erwarten, daß sie sich mit der Anwesenheit von 400 000 Juden in einem viel kleineren Land abfinden sollten?82
Diesen letztlich in Andeutungen zum Massenmord gipfelnden Lösungsvarianten des Konflikts wollte sich die Kommission eingedenk der Balfour-Deklaration nicht anschließen. Statt dessen machte sie in ihrem am 7. Juli 1937 veröffentlichten Bericht einen geradezu revolutionären Vorschlag. Sie erkannte sowohl Juden wie Araber als „nationale Gemeinschaften“ an, deren Gegensatz sich jedoch als unüberbrückbar erwiesen habe. Da eine Einigung in absehbarer Zeit höchst unwahrscheinlich sei, stelle das Festhalten an einem „palästinensischen Staatsbürgertum“ eine „verderbliche Illusion“ dar: „Weder Araber noch Juden haben irgendein Gefühl von Verpflichtung für einen einheitlichen Staat.“83 Eine Kantonisierung nach Schweizer Muster gehe darum nicht weit genug. Frieden sei nur möglich bei einer Teilung Palästinas und der Bildung zweier unabhängiger Staaten, eines jüdischen und eines arabischen. Die Kommission schlug darum die Aufspaltung des Landes in drei Zonen vor: einen jüdischen Staat mit der Küstenebene von Tel Aviv bis Akko sowie Galiläa, ein britisches Restmandatsgebiet mit den heiligen Stätten in Jerusalem und Bethlehem sowie einem schmalen Korridor zum Mittelmeer und schließlich einen arabischen Staat mit Restpalästina und Transjordanien. „Dadurch bekommt keine Partei, was sie will“, schloß die Kommission, „aber jede bekommt das, was sie vor allem anstrebt, nämlich Freiheit und Sicherheit.“84
Der Peel-Plan bedeutete zwar eine radikale Abkehr von den fragwürdigen bisherigen Mustern der Konfliktaustragung, doch er fand nur wenige Freunde. Vor dem Oberhaus brachte der erste High Commissioner in Palästina, nunmehr Viscount Herbert Samuel, jene Argumente gegen ihn vor, die auch von vielen anderen britischen Politikern geteilt wurden: In dem geplanten jüdischen Staat würden neben 258 000 Juden 225 000 Araber leben; umgekehrt gäbe es eine Fülle jüdischer Enklaven im künftig arabischen Teil des Landes. Einen Bevölkerungstausch – wie gut zehn Jahre zuvor zwischen Griechenland und der Türkei – schloß Samuel wegen seiner Härten kategorisch aus. Der Peel-Plan, so prophezeite er pointiert, würde in einem Land von der Größe von Wales de facto ein Saargebiet, einen polnischen Korridor und ein halbes Dutzend Danzigs und Memels schaffen.85 Auf dem 20. Zionistenkongreß Mitte August 1937 in Zürich kritisierte Weizmann die Beschränktheit des jüdischen Territoriums. Er erklärte aber auch, daß die Juden nur eine Wahl hätten: „Entweder eine Minderheit im ganzen Palästina oder eine kompakte jüdische Mehrheit in einem Teil Palästinas zu werden“.86 Signalisierte dies eher zähneknirschende Zustimmung, so lehnten das Oberste Arabische Komitee und der Mufti den Teilungsplan umgehend „auf das schärfste“ ab. Sie kritisierten insbesondere, „daß die Auffassung der britischen Regierung ein großer Fehler ist, nämlich, daß die Araber und Juden zwei streitende Parteien sind, die beide gleiche Rechte haben“.87 Darüber hinaus besaß el-Husseini einen ganz persönlichen Grund für die schroffe Abweisung der Vorschläge. Eine Vereinigung von Restpalästina mit Transjordanien hätte das Ende seiner politischen Macht und den Triumph seines Feindes, des Emirs Abdallah in Amman, bedeutet.
Unmittelbar nach Bekanntwerden des Peel-Planes flammte der Araberaufstand in Palästina wieder auf. Am 26. September 1937 wurde mit Lewis Andrews, dem District Commissioner von Galiläa, erstmals ein höherer britischer Beamter ermordet. Diese Provokation beantwortete das United Kingdom mit einer erheblichen Verschärfung der Gangart. In der Nacht zum 1. Oktober verhaftete die Polizei mit Ausnahme des Mufti sämtliche Mitglieder des Obersten Arabischen Komitees, deportierte sie auf die Seychellen und löste das Komitee samt aller Untergliederungen auf. Zudem wurde el-Husseini, der sich schon seit Juli auf dem Gelände des Haram ash-Sharif versteckt hielt, seiner Position als Präsident des Obersten Muslimischen Rates und des Waqf enthoben; in den Haram indes wagten die Briten nicht einzudringen. Am 12. Oktober floh er als Beduine verkleidet aus Jerusalem in den Libanon und baute im Beiruter Exil neue Kommandostrukturen auf,88 während die dortige französische Mandatsmacht erklärte, der Palästinakonflikt „n’est pas notre affaire“.89 „Es wird jedoch befürchtet, daß nach Verhaftung der bisherigen anerkannten Führer, die teilweise einen mäßigenden Einfluß auf die radikalen Elemente auszuüben versuchten, die Leitung der nationalarabischen Bewegung an lokale Terrororganisationen übergehen wird, die den Kampf gegen Juden und Engländer mit den Mitteln des individuellen Terrors durchzuführen entschlossen sind“, prophezeite der stellvertretende deutsche Generalkonsul Herbert Dittmann damals. „Daß derartige, über wenige, aber zu allem entschlossene Mitglieder verfügende Organisationen bestehen, kann kaum in Zweifel gezogen werden.“90
Kurz zuvor fand vom 8. bis 10. September im syrischen Bludan eine panarabische Konferenz statt, die die Wiederaufnahme der Gewalt befürwortete, entsprechende Waffenkäufe im Ausland organisierte91 und zugleich eine offene Drohung aussprach: Großbritannien müsse wählen zwischen seiner Freundschaft zu den Arabern und der zu den Juden. Es müsse den Teilungsplan zurückziehen, „or we shall be at liberty to side with other European Powers whose politics are inimical to Great Britain“.92 Diese Erpressung, die ein Jahr später auf einer weiteren Konferenz in Kairo wiederholt wurde,93 sollte ihre Wirkung in London nicht verfehlen. Zunächst aber wurden die Briten mit einer seit dem 14. Oktober rapide ansteigenden Gewaltwelle in Palästina konfrontiert, die das Vorjahr noch in den Schatten stellte.94 „Oft verschwinden ganze englische Patrouillen spurlos“, beobachtete Franz Schattenfroh. „Fast auf allen Straßenzügen Palästinas begegnet man immer wieder verkohlten Resten von Autobussen und Kraftwagen aller Art, die durch Schüsse in die Reifen angehalten und sodann mit Mann und Maus verbrannt oder auch durch Bomben gesprengt worden waren.“95 Über die Methoden der „arabischen Freischärler“, wußte Schattenfroh, der diesbezüglich anscheinend intime Kenntnisse besaß, ebenfalls Details zu berichten: „Von diesen Hauptquartieren und den Unterführungen aus werden dann auch alle Überfälle, in letzter Zeit vor allem auf jüdische Hilfspolizisten, organisiert, und es ist bemerkenswert, daß seit drei Jahren auch nicht einer der Attentäter auf frischer Tat ertappt werden konnte. Dabei werden solche Überfälle durchweg am hellichten Tage und mitten im Trubel des Verkehrs durchgeführt. Meist kommt der Täter ganz harmlos daher; ihm folgt eine verschleierte Frau oder ein Bub, die ihm im letzten Augenblick die Waffe reichen, um sie nach Abschuß wieder an sich zu nehmen und zu verschwinden. Bei der nun folgenden Durchsuchung des ganzen Viertels kann so bei keinem männlichen Araber eine Waffe gefunden werden.“96 Vor Leibesvisitationen arabischer Frauen scheuten die Briten zurück, und Kinder konnten sowieso überall durchschlüpfen.97
Abb. 2. Der Philosoph Martin Buber besteigt in Tel Aviv einen gepanzerten Autobus für eine Fahrt ins Landesinnere, 1937.
„Die Politik der harten Hand hat keine Erfolge gezeigt“, berichtete Doehle Ende 1937. Obwohl die Briten das Kriegsrecht verhängten und Häuser sprengten, aus denen geschossen worden war, entwickelten sich die Unruhen „wieder zu Bandenkämpfen“, und der Generalkonsul prognostizierte: „In der arabischen Bevölkerung ist durch das scharfe Vorgehen der Mandatsregierung ein Fanatismus und Haß hochgezüchtet, der noch schwere Folgen haben dürfte.“98 Insgesamt forderte das zweite Jahr des Aufstandes 97 Tote: 32 jüdische Zivilisten, 21 Angehörige der Mandatsmacht und der Sicherheitsorgane sowie 44 arabische Zivilisten, deren Tod mehrheitlich aus Terroraktionen der Guerillas resultierte.99 Zugleich aber begann das United Kingdom vom Peel-Plan abzurücken. In den acht Monaten bis Ende März 1938 wurde die Einwanderungsquote auf 8 000 beschränkt. „Die nach England zurückkehrenden Beamten machen keinen Hehl daraus, daß sie bei Weiterverfolgung der bisherigen Politik keinerlei Lust für eine weitere Mitarbeit im Lande haben, die sie der Gefahr aussetzt, ihr Leben für eine projüdische Lösung aufs Spiel zu setzen“, beobachtete Berlins Vertreter in Jerusalem. Weiter berichtete er: „Aus den Zeitungsmeldungen aus England kann man den Eindruck gewinnen, daß die projüdische Agitation in Parlament und Presse dazu geführt hat, daß sich jetzt auch mehr Stimmen zu Gunsten der arabischen Seite und der Durchführung einer wirklichen Kolonialpolitik bemerkbar machen.“100
Doehle lag mit seiner Voraussage völlig richtig. Noch im Dezember 1937 warf Premierminister Neville Chamberlain seine Autorität zugunsten der Politik des Außenministeriums in die Waagschale. Damit erhielt die neue Kommission unter Sir John Woodhead, die im Januar 1938 damit beauftragt wurde, vor Ort die Peel’schen Teilungspläne zu überprüfen, die Option mit auf den Weg, diese gegebenenfalls gänzlich zu verwerfen. Das Gremium, das sich von Ende April bis Juli in Palästina aufhielt, wurde von den Arabern vollständig boykottiert, war sich der Bedeutung seiner Mission jedoch bewußt. In ihrem am 9. November vorgelegten Bericht konzedierte die Woodhead-Kommission die Unmöglichkeit der Ausarbeitung eines realistischen Teilungsplanes angesichts der arabischen Opposition: Die beiden vorgeschlagenen Staatsgebilde seien zu klein, um wirtschaftlich überleben zu können. Ein jüdischer Staat, der nur wenige Araber inkludieren, zugleich jedoch groß genug sein würde, weiteren Einwanderern Platz zu bieten, könne nicht geschaffen werden. Bevölkerungstransfers würden die Lage nur noch weiter verkomplizieren. Damit hielt die britische Regierung eine vernichtende Kritik des Peel-Planes in Händen.101 In dieser Hinsicht bereits ausreichend vorbereitet, veröffentlichte sie noch im selben Monat ein Weißbuch, in dem eine auf dem Teilungsprinzip basierende Lösung des Palästinakonflikts verworfen und damit eine Position eingenommen wurde, die bis 1947 Gültigkeit behalten sollte. Während die Regierung Chamberlain den Peel-Plan als „impracticable“ ablehnte, erklärte sie gleichzeitig, daß der Friede nur durch eine Verständigung zwischen Juden und Arabern hergestellt werden könne.102
Diese Einsicht von Ende 1938 war um so erstaunlicher, weil gerade das laufende Jahr den Gipfelpunkt des blutigen Terrors gebracht hatte. Damals wurden 206 jüdische Zivilisten getötet, 175 Angehörige der Mandatsmacht und der Sicherheitsorgane sowie 454 arabische Zivilisten.103 Die Briten notierten zusätzlich zu diesen 835 Ermordeten den Tod von 1138 bewaffneten arabischen Guerillas.104 „Mit Ausnahme einzelner Städte, wie Jerusalem, Haifa, Tel Aviv, sind die Aufständischen heute Herren im Lande“, berichtete Dittmann Mitte September 1938 nach Berlin. „Den zunächst zahlenmäßig nicht sehr starken aufständischen Arabern ist es gelungen, mehr oder weniger das gesamte arabische Volk Palästinas auf ihre Seite zu ziehen. Die Mittel, die angewandt wurden, um dieses Ziel zu erreichen, waren entsprechend dem orientalischen Charakter und Fanatismus der Aufständischen oft recht grausam, denn es wurde nicht nur mit der Waffe der Propaganda, sondern in weitem Umfange mit schärfstem persönlichen Terror gearbeitet, der vor Fememorden nicht zurückschreckte. Rücksichten auf Alter, Gelehrsamkeit und frühere Verdienste wurden nicht genommen. Jeder, der sich nicht rückhaltlos auf die Seite der Kämpfer für die Freiheit Palästinas stellte, sondern im Verdacht stand, den Engländern in die Hände zu arbeiten, sei er Beamter im Dienst der Mandatsregierung, sei er mohammedanischer Geistlicher oder ein einfacher Fellach, verfiel dem Femespruch der Aufständischen und wurde ermordet.“ So fand man etwa bei Jaffa zwei tote Araber, „von denen einem das Herz aus dem Leibe gerissen und dem zweiten die Kehle durchgeschnitten und die Zunge durch die Kehle gezogen war“. Beiden waren Plakate angeheftet mit der Inschrift: „So behandeln wir die Verräter an der nationalen Sache.“ Zudem seien Scharia-Gerichte im Untergrund gebildet worden, die über „Straftaten“ in den eigenen Reihen und „über das Schicksal von entführten jüdischen Geiseln entscheiden“. Die Konsequenzen lagen für Dittmann klar auf der Hand: „Diese Mittel haben aber ihren Zweck nicht verfehlt. Die Aufständischen können heute mit Recht behaupten, daß sie nicht fanatische Einzelgänger, sondern Träger einer Volksbewegung sind.“ Und mehr noch: „Die Araber fühlen und erleben an sich zum ersten Mal, daß es einem geeinten, fanatischen Volk möglich ist, auch den bisher für unverletzlich gehaltenen Engländern ihren Willen aufzuzwingen.“105
„Bei den Arabern ist eine gewisse Enttäuschung darüber bemerkbar, daß die Verständigung in München den europäischen Konflikt, auf den sie seit Jahren hofften, friedlich gelöst hat“, kommentierte Doehle einen Monat später die Reaktion auf die Konferenz zur vorläufigen Entspannung der Sudetenkrise im Oktober 1938,106 attestierte jedoch gleichzeitig eine „weitere Verschärfung der Lage“ im Nahen Osten: „Die Aktivität der Aufständischen hat dazu geführt, daß die Mandatsregierung die größte Zahl von Polizeistationen, Verwaltungsstellen und Gerichten im aufständischen Gebiet aufgehoben hat. Ohne Übertreibung kann man behaupten, daß zurzeit die Aufständischen den größten Teil Palästinas beherrschen und sie auch auf die sich im englischen Herrschaftsgebiet befindlichen Araber volle Gewalt ausüb[en]. […] Man spricht von einer Tag- und einer Nachtregierung, wobei aber festzustellen ist, daß die sogenannte arabische Nachtregierung den größten Teil Palästinas auch bei Tag beherrscht und sie selbst in Jerusalem bei Tag Strafmaßnahmen durchführt und durch ihre Beauftragten Verdächtige aus der Stadt herausholt.“107 Der deutsche Konsul in Haifa berichtete einen Monat später, daß „landfremde arabische Banden […] bis vor kurzem abends die hiesigen jüdischen Siedlungen überfielen, brandschatzten und dabei auch Frauen und Kinder niedermachten“. Er erwähnte auch, daß „seit etwa 10 Tagen in Haifa regelmäßig täglich einzelne jüdische Arbeiter auf ihren Arbeitsstätten und auf der Straße niedergeschossen worden [sind], ohne daß ein Täter hätte ergriffen werden können“.108 Während dieser Zeit verheerten die Araber ständig bebautes jüdisches Land; Schätzungen beliefen sich auf 200 000 zerstörte Bäume.109
Abb. 3. Die Frau eines von arabischen Terroristen ermordeten jüdischen Hilfspolizisten vor der Bahre ihres Mannes, 1938.
Trotz ihrer hohen Opfer waren die Juden Palästinas nicht die einzigen Ziele des arabischen Aufstandes. Denn diese suchte man auch in den eigenen Reihen. Während zwischen 1936 und 1939 insgesamt 547 Juden durch den arabischen Terror getötet wurden, fielen diesem gleichzeitig 494 Araber zum Opfer – also eine annähernd gleichgroße Zahl.110 Kompromißbereitschaft gegenüber Juden und Briten, Parteigängerschaft mit den verbreitet als zu moderat abgelehnten Nashashibis, prowestliche Einstellungen, Blutrache oder schlicht Geldgier bildeten dafür die Motivation. „Insbesondere hat die arabische Geschäftswelt in Haifa unter dem Terror der Aufständischen gelitten“, schilderte Dr. Wilhelm Melchers, der dortige deutsche Konsul, beispielhaft die Situation im Norden. „Arabische Kaufleute, an deren Patriotismus nicht zu zweifeln ist, haben Droh- und Erpressungsbriefe von den Aufständischen erhalten, die sie teilweise zu Zahlungen veranlaßten, die über ihre Kräfte gingen. Wehe dem, der nicht zahlt oder rechtzeitig flieht; insbesondere sind diejenigen gefährdet, die als Gläubiger größere Ausstände haben. Sie haben in Mengen Haifa verlassen und sind nach Syrien, Ägypten und Cypern geflüchtet. Alte Fehden und Familienzwistigkeiten werden unter politischem Mäntelchen wieder aufgewärmt und durch Angeberei vor die in den Bergen tagenden Gerichte der Aufständischen gezerrt. Die Verklagten werden dorthin zitiert oder entführt und sind froh, wenn sie mit Geldbußen oder Beiträgen für die Aufständischen davon kommen. Die Zeit hat günstige Gelegenheit zur Erledigung von Blutrache-Aktionen unter politischer Verbrämung geboten.“111 Doehle in Jerusalem sah das ganz ähnlich: „In Palästina dürfte es kaum einen angesehenen Araber geben, der nicht schon von Beauftragten des arabischen Hauptquartiers vernommen worden ist und je nach dem Ausfall der Untersuchung einen Freibrief erhalten oder eine Verurteilung bezw. Verweisung des Landes erfahren hat.“112 Ergänzend berichtete die „New York Times“ zeitgleich: „More than 90 % of the casualties of the last few days have been inflicted by Arab terrorists on Arabs.“113
Auch die deutschen Palästinareisenden jener Jahre bemerkten den innerarabischen Terror und kommentierten ihn begeistert als notwendige Begradigung der eigenen Reihen. „Des weiteren bestehen arabische Gerichte, die ziemlich ungeniert arbeiten und in allen Dingen des nationalen Kampfes und der nationalen Ehre Recht sprechen.“ Beispielsweise gab die Führung der Rebellen „die Losung aus, daß von der arabischen Bevölkerung, ganz besonders dringende Fälle ausgenommen, überhaupt keine Pässe bei der englischen Behörde beantragt werden dürfen. Wer sich an diese Losung nicht hielt, wurde gerichtet und nicht selten am hellichten Tag und mitten auf der Straße erschossen“, hielt Franz Schattenfroh fest.114 Und der Mufti-Biograph Kurt Fischer-Weth schwärmte: „Ein Beamter sitzt trübsinnig im Dunkel der Felsenhöhle, die als Gefängnis benutzt wird. Er hat wichtige Kenntnisse von amtlichen Vorgängen nicht rechtzeitig an die Aufständischen weitergeleitet, weil er um seinen Posten fürchtete. […] Jetzt fürchtet er nicht um seinen Posten, sondern um seinen Kopf … Ein Ladeninhaber sitzt in der hintersten Ecke der Höhle und rechnet, während ihm die Schweißtropfen auf der Stirn stehen. Er hätte früher rechnen müssen. Als die Sammler der revolutionären Armee kamen, speiste er sie mit Redensarten ab.“115 Da lebte wohl der alte SA-Mann im Autor wieder auf und führte die Feder.
Durch den massiven, nach innen gerichteten Terror wurde eine Entwicklung hin zur bürgerlichen Gesellschaft im arabischen Teil Palästinas jäh unterbrochen. Die arabische Sphäre entledigte sich des Rechtsstaats, koppelte sich vom juristischen System der britischen Mandatsverwaltung ab und urteilte nach eigenem Gutdünken mit den Mitteln entgrenzter, schrankenloser Gewalt. Die Aufständischen zwangen der Gesellschaft ihren Willen auf, ersetzten Gesetze durch Willkür und schufen rechtsfreie Räume in den von ihnen ‚befreiten‘ Zonen. Die letzten Reste von Pluralität und Meinungsstreit verkamen und machten Erpressung und Einschüchterung, Zensur und Gesinnungsterror Platz. Eine Überwachungs- und Denunziationsgesellschaft etablierte sich, die Jagd machte auf die ‚Feinde der Revolution‘ und ‚unislamische‘ Abweichler. Politik, Religion, persönliche Feindschaften, Clanfehden und ganz gewöhnliche Kriminalität mischten sich zu einer bunt schillernden Melange.116 Während Rechtssicherheit, Menschenrechte und Individualität somit de facto abgeschafft wurden, triumphierte der Mufti im Exil. Der Aufstand gegen Juden und Briten bot ihm immerhin auch die Gelegenheit, mit all seinen Widersachern im eigenen Lager aufzuräumen, jene Palästinenser auszuschalten, die eine Zweistaatenlösung befürworteten, die nicht auf Juden schießen, sondern mit ihnen verhandeln wollten.117 Arabische Intellektuelle aus Haifa baten el-Husseini damals um eine Fatwa gegen die Morde, doch der lehnte rundweg ab.118
Wie tief der Gleichschaltungsterror griff, demonstriert die im August 1938 gewaltsam erzwungene neue Kleiderordnung für die arabische Bevölkerung. „Es wurde plötzlich die Parole ausgegeben, daß jeder, der sich zur nationalen Sache Palästinas bekenne, die gleiche Kopfbedeckung wie die Aufständischen – Kaffieh und Agal (Kopftuch und doppelte Kordel) – tragen müsse“, berichtete Dittmann im September dieses Jahres. „Diesem Gebot hat sich die gesamte arabische Bevölkerung Palästinas – Mohammedaner wie Christen, Effendis wie Fellachen – gebeugt, so daß heute die jahrhundertealte Kopfbedeckung der städtischen Araber, der Tarbusch, ausnahmslos verschwunden ist und die Städte Palästinas ein äußerlich ganz verändertes Bild bieten.“119 Auch diese Anordnung wurde terroristisch durchgesetzt, wie Fischer-Weth süffisant festhielt: „In einer baumbestandenen Straße der Altstadt von Jerusalem findet sie die Polizei: zwei Araber, mit dem Gesicht auf dem Boden liegend, offenbar durch Schüsse in den Rücken niedergestreckt, die Einschußstelle aber sorgfältig mit jener bekannten Kopfbedeckung verdeckt, die man in Europa ‚Fez‘, im Orient jedoch ‚Tarbusch‘ nennt. Einer der beiden Toten ist ein namhafter Rechtsanwalt, der andere ein wohlhabender Hausbesitzer. Die Kugeln, an denen sie verblutet sind, stammen weder aus jüdischen, noch aus britischen Schußwaffen … Die beiden sind Araber, die von Arabern erschossen worden sind. Sie hatten das Verbrechen begangen, die letzten Anweisungen des Generals der Freischaren unbeachtet zu lassen, die wenige Tage zuvor an allen Ecken Jerusalems zu lesen waren.“120
Parallel dazu erzwangen die Aufständischen von den Araberinnen – selbst von den Christinnen unter ihnen – den Verzicht auf westliche Kleidung und die Verschleierung ihrer Gesichter.121 Frauen, die sich weigerten, wurden als Huren beschimpft, und man riß ihnen die Hüte vom Kopf.122 Zugleich erinnerte sie einer der wichtigsten Führer der Terroristen an die zu erwartenden Strafen, falls sie auf ihrem „verwegenen Leichtsinn“ beharrten.123 Als der deutsche Palästinareisende Leopold von Mildenstein damals durchs Land fuhr, bot sich ihm ein wenig schmeichelhaftes Bild: „Mir gegenüber sitzen einige Araberinnen. Die ganz alten sind nicht mehr verschleiert, obwohl man es gerade bei ihnen begrüßen würde. Die anderen sind oft ein einziger Stoffballen.“124 Die Durchsetzung des Schleierzwangs wird in der westlichen Forschungsliteratur noch 2002 emphatisch verklärt. Gegen „Frauen der Jerusalemer Aristokratie“, die „als Damen der Gesellschaft“ gern „europäisch gewandet und das Gesicht frei“ spazierengingen, wird in geradezu islamistisch anmutender Argumentation eingewandt: „Gegen diese Zeichen der Verwestlichung (die jüdischen Pionierinnen zeigten sich nach konservativem Empfinden halb nackt in der Öffentlichkeit), gegen den Verfall der Sitten, für Moral und Anstand und in diesem Zusammenhang auch für den Schleier sprachen sich islamische Gelehrte und Aktivisten vom Mufti und der ‚Gesellschaft zur Förderung des Guten und Verhinderung des Verwerflichen‘ bis zu Izz al-Din al-Qassam aus.“125 So scheint das nicht unerhebliche Faktum, daß die Aufklärung im Islam bisher schlicht nicht stattfand, bei manchen Arabisten keine Rolle zu spielen.
Zeitgleich zu dieser gewalttätig erzwungenen Unterwerfung unter das islamistische Diktat vergrößerten sich die Risse im britisch-jüdischen Verhältnis. Je näher der Krieg in Europa rückte, um so mehr wuchs in London die Neigung zu einer Appeasement-Politik gegenüber den arabischen Staaten. Im Konfliktfall glaubte man deren Unterstützung oder zumindest deren wohlwollende Neutralität zu benötigen, und man wußte natürlich, daß das britische Vorgehen gegen den Araberaufstand in Palästina dafür das Haupthindernis bildete. Um gute Beziehungen zu den Juden brauchte man sich hingegen nicht zu sorgen. Ihrer war man sich sicher, denn im Kriegsfall blieb ihnen ja nur die britische Seite. Die Option eines Bündnisses mit dem Dritten Reich stand ihnen nicht offen, wohl aber den Arabern. Folglich minimierte sich hier die Rücksichtnahme, während sie gegenüber der arabischen Welt wuchs.126 Natürlich wußte man in London um deren braune Affinitäten. Doch gerade dies förderte ein Entgegenkommen und hemmte es keineswegs. Denn man kannte auch allzu gut die strategische Grundsituation: Die Araber saßen genau auf der zentralen Landbrücke nach Indien, dem Herz des Empire, oder aber am Mittelmeer, dem kürzesten Seeweg dorthin. Genau an dieser Sollbruchstelle mußte ein Zusammenstoß vermieden werden. Die Furcht um die Verteidigungsfähigkeit des Empire im Falle eines neuen Weltkrieges wurde zum alles dominierenden Motiv.127
Als am 7. Februar 1939 im Londoner St. James Palace ein letzter britisch-arabisch-jüdischer Verständigungsversuch zum Palästinakonflikt gestartet wurde, war dies kaum mehr als Kosmetik. Alle Beteiligten wußten, daß der Teilungsplan längst vom Tisch war. Und sie ahnten, daß das in der Balfour-Deklaration gemachte Versprechen ebenso zur Disposition stand wie eine künftige jüdische Einwanderung. Es begann jene Politik, die Chamberlain am 20. April vor dem Palästinaausschuß des Kabinetts folgendermaßen auf den Nenner bringen sollte: „Wenn wir schon eine Seite kränken müssen, dann lieber die Juden als die Araber.“128 Selbst der deutsche Botschafter in London zeigte sich diesbezüglich bei Beginn der Konferenz sehr sicher: „Das Wesentliche ist, daß alle Anzeichen darauf hindeuten, daß das Palästinaproblem mit Unterstützung der Engländer seine Lösung in arabischem Sinne finden wird.“129 Die Araber lehnten direkte Verhandlungen mit den Juden ab, und keine der beiden Seiten zeigte sich an einem binationalen Staat interessiert. Am 15. März bot die britische Regierung den Parteien eine Reihe von endgültigen Vorschlägen an; beide jedoch wiesen diese zurück. Am selben Tag marschierte die Wehrmacht in Rest-Tschechien ein. Zwei Tage später ging die Konferenz ohne Ergebnis zu Ende.130
Am 17. Mai 1939 veröffentlichte His Majesty’s Government das Weißbuch von Kolonialminister Malcolm MacDonald, dem Sohn des ehemaligen Premierministers, das den Palästinakonflikt ultimativ schlichten sollte und während des gesamten Zweiten Weltkrieges offiziell gültig blieb. Diese einseitige Erklärung der britischen Regierung brachte für die Araber den günstigsten Vorschlag seit Beginn des Mandats. Weder eine Teilung noch ein unabhängiger jüdischer Staat waren mehr vorgesehen. Der Aufbau des „national home for the Jewish people“ wurde für abgeschlossen erklärt. Binnen von zehn Jahren sollte ein palästinensischer Staat mit arabischer Mehrheit seine Souveränität erhalten. In den kommenden fünf Jahren durften nur noch 75 000 Juden einwandern. Danach sollte eine weitere Immigration nur noch mit arabischer Zustimmung möglich sein. Zudem wurde jüdischer Landerwerb in den dicht besiedelten arabischen Gebieten verboten. Die Regierung beabsichtige nicht, so der Kernsatz des Weißbuchs, „Palästina gegen den Willen der arabischen Bevölkerung des Landes in einen jüdischen Staat zu verwandeln“.131 Als das Unterhaus am 23. Mai darüber debattierte, erklärte Churchill sein Bedauern, „daß sowohl die Balfour-Erklärung wie auch die Bedingungen, unter denen England das Mandat erhalten habe, durch die Regierungsvorschläge verletzt würden“, und verweigerte darum seine Zustimmung.132 Unterdessen jubelten die Araber in Palästina, und erstmals brannte der Union Jack in Tel Aviv, da man das Weißbuch dort als Kapitulation vor dem arabischen Nationalismus sowie als Belohnung für den dreijährigen Aufstand ansah.133 Gleichwohl schrieb Weizmann am 29. August, am Vorabend des Weltkrieges, an Chamberlain: „Die Juden stehen Großbritannien bei und werden an der Seite der Demokratien kämpfen.“134