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Utopie I: Das Ende der Arbeit
ОглавлениеArbeit, die ewige Last, ohne die alle übrigen Lasten unerträglich würden. Klaus Mann
So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; Genesis
I
Adam lebt um zu leben. Alles was er braucht und je brauchen wird, ist ihm schon in die Wiege gelegt worden. Wie viele ist er dazu auserkoren nichts zu tun – sein ganzes Leben lang. Er ist frei. Die Welt steht ihm offen. Er kann gehen, wohin er will und sich die Zeit vertreiben, womit er möchte. Doch er braucht nichts zu tun – denn alles wird für ihn getan.
Wenn Adam am Morgen erwacht, dann hat er nur wenige Gründe aufzustehen. Trotzdem tut er es. Er murmelt seinen Frühstückswunsch und schon nach wenigen Minuten stehen Orangensaft, frisches warmes Weißbrot und ein 3-Minuten-Ei für ihn bereit. In der Dusche hat Adam das Bedürfnis nach Musik. Er wünscht sich ein Lied und schon bald kann man in allen Zimmern seiner Wohnung die Beatles hören. Manche Texte alter Lieder haben längst ihren Sinn verloren. Manche nicht.
Adam ist Herr seiner Räumlichkeiten. Seine Sprache ist voller Zaubersprüche. Fast jede Speise kann er sich wünschen und bald darauf wird sie serviert. Bei manchen dauert es freilich länger, da die Zutaten nicht in den Wänden lagernd sind. Aber inzwischen sind die Einheiten in den Zubringerkanälen glücklicherweise so schnell geworden, dass man den Unterschied kaum noch merkt. Doch Adams Macht reicht weit über seine Ernährung hinaus. Alle Lieder kann er sich wünschen, fast alle Filme, die je gedreht worden sind. Möchte er einen bestimmten Duft in seiner Nase haben, so ist das Zimmer bald davon erfüllt. Er muss es nur sagen.
Während er sein Frühstück einnimmt, erscheinen an einer Wand die Neuigkeiten der Stunde. Viel Neues ist aber nicht dabei. Auf der anderen Seite der Welt hat es gerade einen Unfall gegeben. Zwei Vehikel sind miteinander kollidiert. Kein Wunder, denn die Fahrzeuge werden dort noch von Menschen gesteuert. Es gibt auch Gutes zu berichten. In Adams Heimatstadt geht eine neue Einheitenfabrik in Betrieb. Sie wird gewährleisten, dass es künftig keinen Engpass bei der Wartung und dem Austausch alter Einheiten mehr gibt. Bis auf einen im Grunde überflüssigen Kontrolleur, der alle paar Wochen einmal durch die Fabrikshallen geht, gibt es dort sonst keine einzige menschliche Arbeitskraft. Zum Schluss erscheinen noch ein paar allgemeine Fakten. Die Bevölkerungszahlen sinken weiter. Der Wohlstand und die Selbstmordrate steigen gemächlich an.
Nach seinem Morgenmahl geht Adam nochmals ins Bad und betrachtet sich im Spiegel. Was er sieht, gefällt ihm nicht. Er setzt sich in einen Stuhl und lässt sich an der Wand zeigen, wie er mit verschiedenen alternativen Haarstilen aussehen würde. Nachdem er eine Wahl getroffen hat, wird sein Kopf von einer Einheit erfasst und sanft mit der gewünschten Haartracht versehen. Das Ergebnis ist sehr zufriedenstellend.
Adam kleidet sich an und verlässt seine Wohnung. Rasch bringt ihn der Fahrstuhl nach unten. Im Erdgeschoss riecht es heute nach Vanille. Irgendeine klassische Melodie liegt in der Luft. Draußen vor der Tür singen Vögel. Es sind sogar echte. Man kann sie in den Bäumen sehen, wo sie geschäftig ihre Nester bauen. Der Himmel ist blau und es ist Frühling. Ohne Hast wandert Adam durch die menschenleeren Straßen. Sein Ziel ist der Stadtpark. Ein Wort würde genügen und eine Transporteinheit brächte ihn in wenigen Sekunden dorthin. Doch wozu die Eile? Entlang seines Weges flitzen einige Fahrzeuge an Adam vorbei. Obwohl er mitten auf der Straße geht, wird er von keinem erfasst. Es fällt sehr schwer sich vorzustellen, wie die Welt war, als Fahrzeuge noch von Menschen gesteuert wurden. Musste man damals nicht ständig Angst haben?
Adams Gedanken kreisen und versuchen sich die Vergangenheit vorzustellen. Es muss eine Zeit gewesen sein, in der es viel gab, wovor man sich fürchten konnte. Vor zwei Jahren hat sein Badezimmer ihm eines Morgens gesagt, dass sich Adams Blinddarm binnen Stunden entzünden würde. Eine Operationseinheit kam und löste das Problem rasch. Allein die Vorstellung, ein menschlicher Arzt würde an ihm herum schnipseln, jagt Adam schon kalte Schauer über den Rücken. Den Einheiten kann er vertrauen. Den Menschen nicht.
Nach einem kurzen Spaziergang erreicht Adam den Park. Dort sieht er zum ersten Mal an diesem Tag andere Menschen. Viele kommen hierher und beginnen den Tag inmitten der von vielen Einheiten gepflegten Grünflächen. Man füttert Tauben und Eichhörnchen und erfreut sich an den Farben der vielen Blüten.
Adam ist fast jeden Tag hier. Früher war das anders. Noch vor zehn Jahren sah sein Leben viel unruhiger aus. Er hatte damals das Bedürfnis alles auszuprobieren. Sämtliche Extremsportarten hat er gekostet. Er ist gereist von einem Ort zum andern, hat dies und das versucht. Ihm schien es damals, als sei er auf der Suche nach etwas, als müsse er etwas finden, dem er sein Leben widmen konnte. Doch er fand nichts. Jede selbstauferlegte Aufgabe verlor mit der Zeit ihren Reiz. Überall sah es gleich aus. Schließlich beruhigte sich Adams Leben und er lernte den stillen Müßiggang zu genießen. Nicht alle können das.
Die warme Vormittagssonne steht schon hoch, als er Helena erblickt. Sie sitzt auf einer Bank unter einer Linde und hat wie immer ein Buch in Händen, ein echtes physisches Buch aus Papier und Karton. Es gibt nur mehr wenige, die es vorzogen heute noch auf diese Art und Weise zu lesen, da es doch so viel schnellere und effizientere Wege gab. Doch Helena ist immer eine von wenigen gewesen, egal ob es sich um Bücher handelt oder um etwas Anderes. Erst als er sich bis auf zwei Schritte genähert hat, wird sie auf Adam aufmerksam und begrüßt ihn freundlich. Man kennt sich gut, hat sogar eine Zeit lang gemeinsam gelebt, bis unterschiedliche Interessen die beiden Leben wieder auseinander trieben. Helena scheint froh zu sein ihr Buch kurz weglegen zu können. Sie lädt Adam ein sich neben sie zu setzen.
Ohne zu reden verharrt man eine halbe Minute. Man genießt die bloße Nähe und ist dankbar dafür, dass einstige Vertrautheit und tiefe Kenntnis des anderen das Äußern von Höflichkeitsfloskeln unnötig machen. Man versteht sich. Trotzdem rechnet Adam nicht mit dem, was Helena ihm nun anvertrauen wird.
„Was liest du denn gerade?“, fragt er.
Lesen ist Helenas Leidenschaft. Sie liebt Geschichten. Während Adam in seiner Jugend gereist und körperlich an seine Grenzen gegangen ist, hat sie pausenlos gelesen. Auch jetzt noch. Sie liest ihr Leben lang. Dies ist auch ein Grund gewesen, warum eine Beziehung zwischen ihnen auf Dauer nicht halten konnte. Helena schien oft fern zu sein und durch ihre Bücher mehr in anderen Welten zu leben, als in dieser. Adam hat sich für Literatur nie besonders interessiert. Hin und wieder gönnt er sich einen guten, spannenden Film aus dem Action- oder Horrorgenre. Doch lesen ist ihm zu anstrengend.
„Ich lese ein Buch von Charles Dickens. Es heißt David Copperfield. Das wird dir nichts sagen.“
„Nein, nicht wirklich. Und wie ist es?“
„Üppig. Man sieht wie voll und reich ein Leben sein kann, trotz vielen Elends. Und man sieht, wie leer unser Leben im Gegensatz dazu ist.“
Sie blickt ihm tief in die Augen und Adam erkennt, dass es weder Sarkasmus noch Humor ist, der ihre Worte formt, sondern tiefer, wahrer Kummer. Er will sie aufheitern, doch er weiß nicht wie.
„Ach, komm. Alles scheint anders, als es ist. Ich wette, hättest du damals gelebt, du hättest dir nichts sehnlicher gewünscht als in der Welt von heute zu leben.“
Sie antwortet nicht, sondern sieht ihn nur stumm und traurig an. Während er sprach, hat ihr Adam seine Hand auf das Knie gelegt. Nun legt sie ihre Hand auf die seine. Ihr Gesicht ist ganz nah und er spürt, wie ihr Blick zwischen seinen beiden Augen unruhig hin und her wechselt. Zittert ihre Hand? So hat Adam sie noch nie erlebt. Ist es die Sehnsucht nach dem, was zwischen ihnen war, welche sie plötzlich so unruhig macht?
„Du weißt“, sagt er „solltest du mich brauchen, ich bin für dich da. Du kannst jederzeit vorbeikommen.“
Immer noch schweigt sie.
„Wollen wir gemeinsam ein Eis essen gehen?“
Immer noch schweigend gibt sie seine Hand wieder frei, wendet sich ab und greift nach ihrem Buch.
„Nun sag mir doch, was los ist, Helena.“
Endlich spricht sie. Ein trauriges Lächeln ziert ihr Gesicht.
„Danke. Kein Eis. Ich muss diese Geschichte noch zu Ende lesen, weißt du? Es die letzte, die ich lesen werde.“
„Wieso? Steigst du dann auf Filme um?“ Adam hat gesprochen, noch bevor er gedacht hat. Nun erst dämmert ihm, was sie sagen möchte.
„Dein letzten Buch?“
„Ja. Meine Entscheidung steht fest. Versuch also nicht mich umzustimmen. Morgen Abend gehe ich zur Grünbaumgasse“
Adam erhebt sich und blickt in die Ferne. Plötzlich packt ihn der Ekel. Er weiß, dass es heutzutage viele gibt, die am Leben scheitern und in die Grünbaumgasse gehen, doch von Helena hätte er dies nie gedacht. Wie kann sie, die einst so lebensfroh gewesen ist, nun einfach aufgeben? Die Grünbaumgasse – wenn es ein Tabuwort in der heutigen Gesellschaft gibt, dann dieses. Ein jeder kennt es, doch niemand spricht davon. Ein jeder weiß, dass es ein Problem mit der Selbstmordrate gibt, doch es schickt sich nicht darüber zu reden. Um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, wurde vor Jahren ein spezieller Ort eingerichtet, wohin man gehen kann, wenn man diese seltsame, doch nicht mehr seltene Entscheidung getroffen hat – die Grünbaumgasse.
Ob es Ekel ist oder Angst, Adam hält es plötzlich nicht mehr neben Helena aus. In schnellen Schritten und ohne sich umzudrehen sucht er das Weite. Er hört sie rufen, dass es ihr leid tue. Doch er will sie nicht rufen hören. Er will gar nichts mehr hören. Vielleicht ist es nicht sosehr der Ekel, der ihn forttreibt, sondern vielmehr die Angst, sie könnte ihn auf ähnliche Gedanken bringen. Er will sie nicht fragen, warum sie es tut. Was, wenn er selbst keine Argumente mehr findet? Was, wenn ihre Antworten auch zu seinen Antworten werden? Nein. Am anderen Ende des Parks lässt Adam sich von einer Einheit ein Eis reichen und versucht diese furchtbare Begegnung so schnell wie möglich zu vergessen.
Doch es gelingt nicht. Immer wieder kehren seine Gedanken zu Helena zurück, die ihn mit großen, traurigen Augen anstarrt. Was, wenn sie recht hat? Immer schon ist sie die Klügere gewesen. Aber warum sich umbringen? Leben sie nicht beide im Paradies? Alles ist da. Man muss es sich nur wünschen. Natürlich ist es nicht leicht, damit fertig zu werden, dass man nur lebt um zu leben, dass es kaum Aufgaben, kaum wirkliche Lebensinhalte mehr gibt. Doch warum kann man sich denn nicht einfach zurück lehnen und genießen?
An diesem Nachmittag versucht Adam eben dies zu tun. Nach einem guten Mahl lässt er sich in seiner Wohnung auf das Sofa fallen, wünscht sich einen guten alten Film und versucht zu genießen. Doch sie lässt ihn nicht. Immer wieder blicken ihn Helenas Augen an. Ihre Worte hallen noch immer in seinen Ohren. Sie sprach von morgen Abend. Noch lebt sie, noch atmet sie, doch bald schon nicht mehr. Ein furchtbarer Gedanke.
Der Film zieht unbemerkt an Adams Augen vorbei. Es gelingt ihm nicht, ihn wirklich wahrzunehmen. Anstatt an Helena denkt er nun an sein eigenes Leben, denkt daran, dass niemand ihn vermissen würde, wenn dieser Tag auch sein letzter wäre. Was hat er denn erreicht? Nichts. Es gibt nichts zu erreichen. Es gibt nichts mehr, wofür man kämpfen könnte.
Adam weiß, dass solche Gedanken Gift sind. Als der Abend kommt, lässt er sich wie manches Mal eine Schlaftablette reichen und versinkt schon bald in traumloser Stille. Die letzten Gedanken des Tages gelten seinem Leben. Keine Bürden. Keine Lasten. Keine Arbeit. Alle Wünsche gehen in Erfüllung. Adam ist im Paradies. Es geht ihm besser, als allen Menschen, die jemals zuvor gelebt haben. Es ist das Paradies. Doch wieso wird man dort nicht froh?
II
Mit langsamen Schritten durchquert Samantha Chatman die großen, grauen Produktionshallen. Was sie sieht, gefällt ihr. Arbeit wird verrichtet. Waren werden geschaffen. Alles funktioniert – ein jedes Teil, ein jedes Glied, eine jede Einheit. Im Grunde ist die ganze Fabrik in ihren riesigen Ausmaßen nichts anderes als eine einzige große Einheit, in welcher alles seinen Zweck erfüllt, alles Förderliche maximiert, alles Störende minimiert wird. Funktion. Effizienz. Schön.
Nur eine Sache ist hier überflüssig und diese Sache ist sie selbst. Es gibt keinen Grund für Samantha hier zu sein. Dennoch ist sie hier. Es gefällt ihr dabei zuzusehen, wie alles seine Wege geht. Ohne menschliches Zutun, wie in einem großen Uhrwerk werden ständig neue Einheiten erzeugt. Und dies geschieht in einer großen Vielfalt von Formen und Funktionen. Die Fabrik ist frei von Makeln. Keine Menschen, keine Arbeiter, kein Schweiß. Keine Emotionen, keine Müdigkeit, keine Fehler. Keine Ärgernisse, keine Pausen, keine Probleme.
In der Vergangenheit war es anders. Samantha weiß das. Wie alle hat sie die Geschichte der Welt im Kopf und wie manche kann sie damit auch etwas anfangen. Sie hat die Bilder gesehen. Sie weiß, wie es gewesen ist. Damals musste der Mensch arbeiten oder sterben. Fabrikshallen voll schmutziger Menschen. Emotionen. Fehler. Ineffizienz. Das ist vorbei.
Es ist noch Zeit. Samantha muss erst um zehn Uhr bei der Konferenz sein. Tief in Gedanken lehnt sie sich an ein metallenes Geländer und sieht zu, wie unter ihr ein Dutzend kleiner Einheiten in eifriger Geschäftigkeit an einer großen Kraneinheit arbeitet. In Windeseile werden die Teile aneinandergefügt.
Während sie zusieht, denkt Samantha an die Geschichte der letzten Jahrhunderte und lächelt dabei. Sie glaubt alles durchschaut zu haben und zu verstehen. Wenn es ein globales Problem gab, das die Menschheit zu Beginn des neuen Jahrtausends geißelte, so war dies die Arbeitslosigkeit. Sie zerrüttete und zerstörte die Gesellschaft, sowohl in erster, wie auch dritter Welt. Doch obwohl das zunehmende Schwinden von entlohnter Beschäftigung damals in aller Munde war, gab es nur wenige, die sich der wahren Tragweite dessen bewusst waren. Immerzu sprachen Obrigkeiten aller Welt von der Schaffung neuer Arbeitsplätze, ja gar vom Mythos der Vollbeschäftigung. Indes standen immer mehr Menschen ohne Arbeit da. Ihre Zahlen stiegen ständig und diese Entwicklung war nicht aufzuhalten. Es fehlt an Einsicht, wenn man glaubte, dass der Fortschritt ebenso viele Berufe, Tätigkeiten, Arbeitsdomänen schafft, wie er zu tilgen vermag. Täglich gab es weniger zu tun für den Menschen. Doch wollte man das nicht? Ja, man wollte es so. Und es war auch gut so.
Samantha ist mit der Zukunft sehr zufrieden. Ist es denn nicht seit Urzeiten ein menschliches Bestreben, sich das Leben leichter zu machen? Was heißt dies anderes, als Mittel und Wege zu finden, um mit weniger und immer weniger Eigenarbeit, weniger Schweiß, seine Bedürfnisse zu stillen? Das war seit jeher das Ziel. Musste das Wort Arbeitslosigkeit zwingend von negativer Bedeutung sein? Nein, ganz und gar nicht. Es ist doch letztlich das, was der Mensch sich wünscht.
Doch welches sind nun die Mittel und Wege, die man ersann um sich den Schweiß zu ersparen? Lange ist es her seit jenes Affenwesen, das einst zum Menschen werden würde, einen Stein, einen Knochen, einen Ast mit seinen behaarten Fingern ergriff und somit das Werkzeug erfand. Große Erleichterungen im täglichen Leben hat die Menschheit seither erfahren. Arbeit, einst härtester Natur, wurde zum Drücken eines Knopfes. Viel hat sich getan und dieser Stein, den einst der Affe hob, dieser Stein konnte bald schon für sich selbst denken und beinahe selbstständig seine Arbeit tun. Stets wendiger, geschickter, wissender wurden des Menschen Vorrichtungen, des Menschen Maschinen, welche der Erleichterung des Lebens dienten. Ihr Anwendungsbereich wuchs und wuchs und erstreckte sich bald in alle Bereiche der Gesellschaft. Allmählich wurde sich der Mensch der Tatsache bewusst, dass die Industrielle Revolution erst der Anfang gewesen ist. Die wirkliche Wende stand erst noch bevor. Es dämmerte das Zeitalter der Einheiten.
Für Samantha liegt diese Wende bereits weit in der Vergangenheit. Sie hat sich sehr schnell ereignet. Leider nicht immer friedlich, denn die sozialen Umwälzungen waren groß. Aber schließlich hat sich die neue Gesellschaftsstruktur fast überall durchgesetzt. Kein Schweiß mehr. Es ist schwer geworden, die Menschen der Vergangenheit zu verstehen. Besonders Marx. Es gibt keine Arbeiter und Bauern mehr. Kein Mensch pflügt mehr Felder. Doch auch sonst tut er nicht viel. Er ist frei.
Samantha stellt sich im Geiste all die heute oft archaisch klingenden Tätigkeiten vor, mit denen ihre Vorfahren einst ihr tägliches Brot verdienten. Das Errichten von Gebäuden, das Stehen an Fließbändern, Feldarbeit, das Sortieren von Büchern, Transport, das Verkaufen von Waren in Geschäften und Supermärkten, die es gab, bevor die Zubringerrohre in Betrieb gingen – all das und noch viel mehr ist längst vorbei. Der Mensch kann endlich ruhen. Die Einheiten haben ihn abgelöst. Zuerst ergänzten sie ihn, dann ersetzten sie ihn. Und sie machen ihre Sache tausendmal besser als er in all seinen Fehlern. Wer würde sich heute noch getrauen, sich bei Krankheit von einem menschlichen Arzt operieren zu lassen? Maschinenhände sind tausendmal sicherer. Wer würde sich schon zumuten, etwas zu essen, das von Menschenhand zubereitet ist? Kocheinheiten sind weitaus besser und sicherer.
Erst spät hat man erkannt, dass diese Entwicklung kommen musste. Dabei war es doch so einfach vorherzusehen. Die Menschen am Anfang des Jahrtausends hätten sich nur eine Frage stellen sollen. Welche Tätigkeit, welcher Beruf, welche Arbeit kann denn nicht genauso gut oder gar besser von Maschinen und künstlichen Intelligenzen verrichtet werden? Etwa das Steuern von Fahrzeugen? Heutzutage werden in weiten Teilen der Welt sämtliche Automobile, Flugzeuge und andere Fortbewegungsmittel von Einheiten gesteuert. Die Fortbewegungsmittel sind daher selbst nichts anderes als Einheiten. Seit ihrer Einführung gibt es kaum Unfälle. Maschinen sind weit bessere Fahrer, weit bessere Köche und Hirnchirurgen. Maschinen können Menschen pflegen, können Straßen bauen und Lager verwalten. Nur wenig bleibt für den Menschen zu tun. Nur wenige Menschen tun noch etwas.
Samantha ist eine davon. Immer noch lehnt sie an der Brüstung und beobachtet den Fortschritt an der nun fast fertigen Kraneinheit. Sie ist fast sechzig, am Höhepunkt ihres Lebens. Und sie ist mit sich zufrieden. Sie und andere haben die Entwicklung, den Fortschritt, haben die Evolution vorangetrieben. Samantha hat dazu beigetragen, dass die menschliche Arbeitskraft fast restlos von der Erde verschwunden ist. Einheiten fällen Bäume, fertigen Möbel, ernten Getreide, backen Brote, scheren Schafe, nähen Kleider, bauen Chips, bauen andere Einheiten, bauen alles. Sie transportieren, produzieren, unterrichten, verwalten, kommunizieren. Und vor allem funktionieren sie. Weit besser als der Mensch es tut.
Es wird Zeit für sie zu gehen, denn Samantha darf bei der Konferenz nicht fehlen. Sie geht durch Türen und Korridore. In einer perfekten Welt gäbe es hier keine Türen mehr. Dies ist kein Ort für Menschen und man könnte den verfügbaren Platz noch effizienter nützen, wenn man auf den Luxus von menschlichen Arealen in Fabriken völlig verzichtet. Bald hat Samantha die Produktionshalle IV verlassen und tritt hinaus in eine neblige Nacht. Schon vor einer Minute hat sie ein mentales Signal ausgesandt. Eine Transporteinheit wartet bereits auf sie. Samantha lässt sich auf einen weichen Sitz fallen und wünscht sich schottische Volksmusik und einen Kaffee. Beides geht rasch in Erfüllung, während ihr Fortbewegungsmittel durch die Landschaft fegt.
Hinter den transparenten Wänden der Transporteinheit sieht Samantha das riesige Areal der Fabrik vorbei gleiten. Dann folgen Wälder und schließlich die künstlichen Grünflächen der Stadt. Der Nebel verschlingt alles, das weiter als zehn Meter entfernt liegt. Die Straßenlaternen sind machtlos dagegen. Samanthas Gedanken kreisen wieder. Als Kind hat sie einst eine Schwäche für die klassische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts gehabt. Am besten gefiel ihr stets Isaac Asimov mit seinen seltsamen Utopien. Schon damals hat er die wachsende Bedeutung der Einheiten erahnt und doch verkannt. Da ist eine Begebenheit in seinen Geschichten, die Samantha nie verstanden hat. Warum mussten seine Robots – wie er sie nannte – menschliche Gestalt haben? Dies ist doch völlig unnötig. Niemand würde heute eine Einheit konstruieren, die dem Menschen ähnelt. Zum einen ist dieser Körper völlig unpraktisch, wenn es verschiedenster Fertigkeiten bedarf, zum anderen ist der Gedanke dieser äußerlichen Angleichung von Mensch und Maschine irgendwie beunruhigend. Es gibt keine Robots, nur Einheiten, Einheiten von millionenfacher Form und Gestalt, wovon keine dem Menschen gleich sieht. Ein anderer Mythos des späten zwanzigsten und vor allem des einundzwanzigsten Jahrhunderts hat Samantha immer amüsiert: die Dämonisierung der Maschine. Es gibt genug Werke in Film und Schrift, in denen sich die künstliche Intelligenz der Einheiten gegen ihren Schöpfer wendet. Heute klingt dies lächerlich. Allein der Gedanke, dass eine Einheit etwas anderes tun sollte, als das, wozu sie konstruiert wurde, scheint absurd. Und doch... Ein Satz Asimovs geht ihr nicht aus dem Kopf: „Es gab immer schon Geister in den Maschinen.“ Es stimmt. Manche Dinge bleiben ungeklärt.
Es dauert nicht lange und das Vehikel bleibt stehen. Die Stadt ist zwar groß geworden, doch mit fünfzig Metern in der Sekunde ist fast jedes Ziel schnell erreicht. Samantha steigt aus, betritt eine Glaspyramide und durchquert einige Korridore. Türen schieben sich auf und sie betritt einen kleinen Saal. An einem kreisrunden Tisch haben sich bereits einige Personen eingefunden. Man erhebt sich als Zeichen der Höflichkeit. Man nickt freundlich. Samantha setzt sich hinzu.
Nicht jeder ist körperlich anwesend, obwohl die 3D-Projektionen fast den Anschein erwecken. Bald sind alle eingetroffen. Hier sitzen sie, die letzten Menschen, die noch gebraucht werden. Die Entscheidungsträger. Die Führer. Sie haben die Kontrolle. Sie sind nur zufällig die, die sie sind. Am Ende eines langen Selektionsprozesses waren eben nur diese übrig geblieben. Die Elite. IQ-Titanen ohnegleichen. Nicht, dass ihre Tätigkeiten besonders anspruchsvoll sind, doch die Besten sind eben besser als andere. Niemand wird mehr aus Ambition wichtig. Ambitionen sind überflüssig. Samantha spricht als erste.
Meistens sind Konferenzen dieser Art recht ereignislos. Auch diesmal ist es so. Man berichtet von neuen Techniken, die die Maschinen noch intelligenter und somit den Menschen noch unnützer machen. Immer gibt es weniger Fälle, in denen ein menschliches Eingreifen nötig wäre. Einheiten bauen, warten und reparieren sich gegenseitig. Wenn jemand den Stecker zieht, so stecken sie ihn selbst wieder ein. Ein jedes Problem kann von ihnen erkannt, analysiert und gelöst werden. Manche Einheiten sind auch gute Wissenschaftler, die selbst nach Mitteln und Wegen suchen, um die Prozesse der künstlichen Intelligenz zu verfeinern. Natürlich wird der menschliche Geist noch für lange Zeit nicht nachgebaut werden können, doch dies ist nicht erforderlich. In vieler Hinsicht übertreffen die Chips der Einheiten ohnehin schon lange das menschliche Gehirn. In anderen Dingen, wie zum Beispiel auf der Ebene der Emotionen, ist es nur gut, dass die Einheiten dem Menschen eben nicht nachkommen. Nur emotionslose Einheiten sind fehlerlose Einheiten.
Hans Grahm, ein alter Freund Samanthas, hat an diesem Abend einiges zu berichten. Neue Verbesserungen der neuronalen Schnittstelle bahnen sich an. Ein anderer Kopf der Konferenz berichtet von Fortschritten in der Raumfahrt. Eine unbemannte Sonde ist auf dem Jupitermond Io gelandet. Die Technologie ist hoch genug entwickelt um auch einen Menschen dorthin zu schicken, doch niemand greift diesen Gedanken auf. Man hat schon längst kein Interesse mehr am bemannten Raumflug. Der Mensch hat sich mit der Erde zufrieden gegeben. Die einst recht dicht bevölkerten Kolonien auf dem Mars sind wieder leer geworden. Nur Einheiten sind noch dort und fördern Rohstoffe. Einst träumten die Menschen davon, das Sonnensystem zu kolonialisieren, doch man hat dieses Vorhaben rasch aufgegeben. Durch das Ende der Arbeit ist die Erde zu einem seltenen Paradies geworden. Niemand sucht mehr die Ferne.
Und doch ist nicht alles perfekt, wie Christian Vidocq eben berichtet. Samantha hört ihm nur halb zu. Sie hat die vielen Berichte über die steigenden Selbstmordraten satt und hegt eine tiefe Verachtung gegenüber all jenen, die diesen Weg beschreiten. Wo liegen die Gründe für die Mutlosigkeit vieler? Geht die Entwicklung zu schnell voran? Für Samantha geht sie nicht schnell genug. Irgendwo in Asien gibt es immer noch Orte, wo alte, dumme Maschinen von Menschen gesteuert wurden. In den Anden verstecken sich Rebellen, die einen alternativen Lebensstil praktizieren. Dies sind die wahren Probleme. Jene, die für die Zukunft nicht reif sind, sollen ruhig aus dieser Welt scheiden.
Samantha äußert ihre Meinung nicht laut, da sie weiß, dass sie damit auf Widerstand stoßen wird. Nach einigen fruchtlosen Diskussionen endet die Konferenz und man vertagt sich. Aber wozu? Im Grunde sind auch diese Zusammenkünfte fast schon zwecklos geworden. Der Ball rollt bereits und er wird immer weiter rollen. Man muss ihn nicht mehr anstoßen. Das Uhrwerk ist fertig und tickt unentwegt. Es muss nicht gewartet und neu aufgezogen werden. Auch das geht von selbst. Samantha ahnt es. Bald werden auch diese Konferenzen ihr Ende finden und die letzten arbeitenden Menschen werden sich zurückziehen. Eines Tages wird man den Maschinen alles übergeben, denn sie machen ihre Sache gut. Die Aufgaben sind klar definiert: dem Menschen ein möglichst schönes Leben schaffen und seine Wünsche erfüllen. Was will man mehr?
Als Samantha etwas später wieder in einer Transporteinheit sitzt, lässt sie das Fahrzeug auf dem Heimweg bei der Grünbaumgasse vorbeifahren. Etwa zwanzig Menschen sieht sie dort stehen. Einer nach dem anderen verschwindet. In Unverständnis schüttelt Samantha den Kopf. Gerne hätte sie sich einen der Unglücklichen in den Wagen geholt und ihn ausgefragt, warum er hier ist, doch irgendetwas lässt sie vor diesem Schritt zurückschrecken. Rasch weist sie dem Vehikel an, sie nach Hause zu bringen.
III
Li ist verzweifelt. Er sitzt bei sich zu Hause und starrt eine Wand an. Schon wieder ist ein Tag vergangen, doch morgen wird er ihn vergessen haben. Es sind ja doch alle Tage gleich und das Führen von Tagebüchern verlor schon lange jeden Sinn. Man kann nicht einfach so durchs Leben gehen ohne dafür zu kämpfen, dass man leben kann. Man braucht etwas zu tun. Viele Menschen malen, viele dichten heutzutage. Doch es sind zu viele. Da es sonst nichts mehr gibt, wollen sie nun alle Poeten sein, wollen alle die Muse küssen. Das Ergebnis ist, dass die Kunst verkommt, da es zu viele Künstler gibt. Menschen, die in früheren Zeiten nie Feder oder Pinsel in die Hand genommen hätten, tun dies nun. Manche schaffen wahrlich Wunderbares, doch in der Sturmflut von neuen Werken, größtenteils Belangloses, sind diese Funkelsteine nicht zu sehen. Welch Unsinn doch jeden Tag geschrieben wird. Schon längst ist die Lust zu lesen Li vergangen, zumindest die Lust neue Bücher zu lesen. Gern verliert er sich in der Geschichte und den alten Werken, doch irgendwann kommt stets der Zeitpunkt, an dem er ein Buch weglegen muss, da er es nicht mehr erträgt weiter zu lesen. Er wünscht sich nichts sehnlicher als in die Vergangenheit zu reisen. Viel reicher und froher erscheint ihm doch das Gestern im Gegensatz zum Heute.
Sein Lampenschirm fragt ihn, was er zum Abendessen wünscht. Li ist ratlos. Vorschläge fordert er. Diese kommen. Schließlich wählt er Butterbrote. Schmeckt ja doch alles gleich. Bald darauf steht das Essen auf dem Tisch. Unwillig blickt Li auf die Brote herab. Wenn er sagen könnte, er habe sie sich verdient, dann wäre dies schon etwas Neues, dann hätte er vielleicht sogar Appetit. Doch verdient hat Li nichts. Weder die Butterbrote, noch seine Wohnung, noch das Recht am Leben zu bleiben. Er hat überhaupt nichts verdient. Niemand hier hat etwas verdient.
„Dennoch haben wir alles und leiden darunter“, murmelt Li halblaut vor sich hin.
Er lässt die Brote stehen und tritt an die leere Wand, welche er schon seit Stunden fast ununterbrochen anstarrt. Er bittet um die Bilder seiner Ahnen und sie erscheinen vor ihm. Da sind sie, die Alten. Doch es gibt auch Aufnahmen aus ihrer Jugend. Die ältesten Bilder sind sogar noch zweidimensional. Nicht viele haben zweidimensionale Bilder ihrer Vorfahren. Ihre Namen stehen darunter. Daneben Geburts- und Sterbejahr. Auch der Beruf ist dort zu lesen. Li überfliegt die altbekannten Daten mit den Augen. Jonathan Henzel - Maurer. Dieser ist im letzten Krieg aufgewachsen. Krieg muss eine seltsame Sache gewesen sein. Und Maurer ist er gewesen. Maurer. Jakob weiß nicht, was das ist, doch es klingt beeindruckend. Maurer. Das klingt nach Kraft, nach selbst erarbeitetem Brot im Schweiße seines Angesichts. Es muss schön gewesen sein ein Maurer zu sein. Und ungesund. Nur 64 Jahre alt ist Jonathan geworden. Miranda Fried – Chirurgin. Diese war Lis Ururgroßmutter, wenn er nicht irrt. Eine Chirurgin. Das ist schwer vorstellbar für Li. Menschen, die trotz all ihrer Fehleranfälligkeit an anderen Menschen herumbasteln. Auch Fahrzeuge wurden damals von Menschen gelenkt. Li findet es immer wieder erstaunlich, dass andere tatsächlich so viel Vertrauen hatten, sich in ein Fahrzeug zu setzen, das von Menschenhand gesteuert wurde. Es muss Unfälle gegeben haben, damals. Viele Unfälle. Miranda Fried starb bei einem Flugzeugabsturz. Wurden Flugzeuge damals etwa auch von Menschen gesteuert? Wohl ja. Sonst hätte es kaum Unfälle gegeben. Welch Wahnsinn! Mutige Vergangenheit.
Ein anderer Vorfahre: Herbert Fried. Ein Lehrer. Was das war, weiß Li. Er hat es einst gelernt. Nicht von einem Lehrer, versteht sich, denn die gibt es ja schon lange nicht mehr. Die letzten zweiundvierzig Jahre seines Lebens hat dieser Lehrer in Rente gelebt. Etwa so wie Li sein ganzes Leben lebt. Doch Herbert hat sich dies verdient. Li nicht. Noch einer. Theodor (Ted) Grün - sein Großvater, ein Techniker. Dieser hat schon die Anfänge der Langeweile gesehen. Auf den älteren Bildern, auf denen er ergraut ist, sieht er stets so traurig aus. Nicht so auf den jüngeren. Seltsam war die Kleidung des vergangenen Jahrhunderts. Bis auf diese ähnelt Li seinem Großvater sehr. Nur die Augen sind anders und besonders deren Ausdruck. Li hat nie so fröhlich in die Welt geblickt.
Wie sagte seine Freundin Mia heute Mittag? „Es geht uns besser als allen anderen Menschen, die es je gegeben hat.“
„Geht es uns wirklich besser?“, denkt Li.
Man lebt länger. Man ist gesünder, man hungert nicht, man friert nicht. Niemand quält einen. Kein Krieg. Man ist frei. Es muss den Menschen wirklich besser gehen. Doch warum scheinen die Gesichter auf den alten Fotos dann immer so froh, so glücklich zu sein? Was hatten sie Grund zu lachen, zu lächeln, zu schmunzeln, zu grinsen, zu strahlen, wo es ihnen doch so viel schlechter ging, als ihm, Li Grün, hier und heute?
Die Butterbrote verschwinden wieder. Genug von den Geistern. Manchmal sieht Li die Alten gern – wie sie lebten, wer sie waren. Wer ist er? Einer von vielen ohne Besonderheiten. Sein Lampenschirm fragt, ob er etwas zu trinken wünscht. Er bestellt ein hochprozentiges Getränk und leert das Glas in einem Zug. Seine Kehle brennt. Das leere Glas verschwindet wieder.
Li würde gerne Menschen sehen. Er spielt mit dem Gedanken außer Haus und in die Nachtviertel zu gehen, wo viele Leute tanzend in den Straßen lachen. Doch ihr Lachen ist hohl. Wie sein eigenes, wenn er lachen würde. Hohl und nicht von Dauer. Öd und grau. Er will sich ins Vergnügen stürzen, doch der Sprung gelingt ihm nicht. Zu oft schon hat er sich auf diese Art vergnügt. So oft, dass es längst kein Vergnügen mehr ist. Denn wenn auch das Vergnügen zur Routine wird, dann ist Vergnügen kein Vergnügen mehr. Alles ist Routine. Nichts geschieht. Nichts verändert sich. Man wartet einfach nur, dass man altert und stirbt. Doch wieso warten?
Li verlässt seine Wohnung. Stundenlang wandelt er durch die nächtlichen Straßen der Stadt – aber nicht planlos. Er hat ein Ziel, dem er sich stetig nähert. Zum ersten Mal seit langer Zeit, hat er ein Ziel. Natürlich könnte er sich von einer Transporteinheit hinbringen lassen, doch das wäre falsch. Nicht zu diesem Ziel. Man muss dorthin einfach zu Fuß gehen, auf eigenen Beinen. Li hat schon lange geahnt, dass er diesen Pfad, den er heute beschreitet, einst wählen würde. Nun ist es soweit. Es ist gut, dass es Nacht ist. Man muss bei Dunkelheit dorthin. Es ist falsch bei Tageslicht an jenen Ort zu gehen. Nichts spricht dagegen es am Tage zu tun, doch es ist falsch. Ein Instinkt sagt nein. Man stirbt in der Nacht.
Li weiß, wo die Stelle ist. Sie wird nicht beworben wie die Bars und die Tanzlokale. Für sie gibt es keine Lichter und Leuchtzeichen. Man spricht und schreibt nicht gerne davon, doch jeder weiß, wo der Ort sich befindet. Er braucht keine Wegweiser. Grünbaumgasse 37. Nicht das Haus, sondern die unbenannte Nische daneben. Ein jeder kennt diese Adresse. Das ist nicht verwunderlich, denn es gibt sie schon seit vielen Jahren und fast alle Menschen erwägen die Möglichkeit früher oder später einmal dort hinzugehen. Grünbaumgasse 37. Diese Worte klingen magisch in den Ohren der Stadt, die Li seine Heimat nennt. Grünbaumgasse 37. Man muss dies flüstern, darf es nicht laut sagen. Man ehrt die Bedeutung dieser Stelle. Es ist egal, wer Grünbaum war, oder ob dort einst ein grüner Baum gestanden hat. Dies interessiert niemanden. Dies weiß kaum jemand mehr. Es gibt viele alte Straßennamen, doch nichts gleicht jenem Ort. Grünbaumgasse 37. Li ist auf den Weg dorthin.
Er biegt gerade in eine neue Straße ein – noch mehrere Häuserblöcke von seinem Ziel entfernt – als er Schritte hinter sich hört. Im ersten Augenblick der Wahrnehmung kommt ihm der Gedanke, dass jemand kommt, um ihn zu hindern, um ihn zu halten; um ihn zu retten, wie sie sagen. Doch ein weiterer Gedanke verscheucht dieses Hirngespinst. Es ist ihnen egal. Sie sind sowieso machtlos. Wer auch immer da hinter ihm naht, es droht wohl keine Gefahr. Li blickt nicht zurück. Die Schritte kommen näher, verlangsamen sich dann und bleiben auf konstanter Entfernung hinter ihm. Dies bleibt so drei Minuten lang. Dann erklingt eine unbekannte Stimme.
„Sie sind auf dem Weg zur Grünbaumgasse?“ Es ist zwecklos es zu leugnen. Und geschmacklos. Warum jetzt noch lügen?
„Ja“, sagt Li, den Blick immer noch starr nach vorne gerichtet.
„Dann haben wir denselben Weg.“ Sein Verfolger holt ihn mit schnellen Schritten ein. Man bleibt stehen und betrachtet sich. Li ist vierunddreißig, glattrasiert und blond. Die Haare trägt er kurz, nur bis zu den Schultern. Sein Gegenüber sieht jünger aus, doch das ist schwer zu sagen. Es scheint indianischer Abstammung zu sein und hat ein Gesicht feiner Züge. Keine Angst ist in seinen Augen. Man geht weiter.
„Endgültige Entscheidung?“, fragt der Hinzugetretene.
„Ja. Endgültig.“
„Lange gezögert, oder schnell entschieden?“
„Ich wusste schon lange, dass es dazu kommt. Es war nur eine Frage der Zeit. Bei Ihnen?“
„Spontan. Ganz spontan. Gestern dachte ich noch an Übermorgen. Heute wurde mir klar, dass ich dieses Übermorgen nicht brauche.“
Sie schweigen. Ein Tier in der Seitengasse. Offene Fenster. Irgendwo Musik.
„Ich hoffe, wir müssen nicht zu lange warten“, sagt der Indianer.
„Stimmt es denn, was man sich erzählt?“
„Dass man dort jetzt Schlange steht? Oh ja. Ich bin oft daran vorbeigegangen. So ganz zufällig. Es sind viele geworden. Mehr jede Nacht.“
„Wir leisten unsern Beitrag.“
„Ja.“
Eine Zeitlang schweigen sie beide. Li stellt sich im Geiste eine Schlange von Menschen vor – alle mit demselben Gedanken, mit demselben Ziel. Keiner hat mehr Hoffnungen und Perspektiven.
„Traurig irgendwie, dass es so viele sind.“, sagt er.
„Traurig? Ich weiß nicht. Es geschieht einfach. Ich finde es gut, die Wahl zu haben.“
„Diese Wahl hatten sie alle. Immer schon.“
„Ja. Doch heute macht es Sinn. Mehr Sinn denn je.“
„Sinn?“ Li hat nie viel über den Sinn seiner Handlungen nachgedacht. Er hat die Dinge einfach nur getan.
„Ja, Sinn“, bestätigt der Indianer. „Nennen Sie doch zum Beispiel Ihre Gründe dorthin zu gehen.“
„Nennen Sie mir doch Gründe nicht dorthin zu gehen.“
„Eben. Es ist... Es ist…“
„Ich weiß, was Sie meinen.“
„Wir sind gleich da.“
Grünbaumgasse 37. Schon von Weitem sieht man sie, die vielen Menschen, die dort Schlange stehen. Einer nach dem anderen dringt langsam vor, hinein in die dunkle Seitengasse. Keiner kommt wieder.
„Da sind wir also“, stellt Lis Begleiter fest.
„Da sind wir.“
Schweigen. Füße auf hartem Grund. Atmen. Ungeduld. Schweigen. Man blinzelt und geht einen Schritt weiter.
„Wie heißen Sie eigentlich?“
„Li Grün.“
„Elijah Richardson. Freut mich.“
Ein Handschlag. Ein Lächeln. Man versteht sich. Schweigen. Man blinzelt und geht einen Schritt weiter.
„Sagen Sie, Li, ich weiß nicht, ob Sie es schon mal gehört haben, aber es gibt da so einen Satz von einem dieser Philosophen des 19. oder 20. Jahrhunderts - ich bin mir nicht sicher. Jedenfalls sagte der: Wer ein Warum zu leben hat, der erträgt fast jedes Wie.“
„Aha.“ Li hat sich nie viel mit Philosophie beschäftigt. Elijah fährt fort.
„Unser Wie ist wunderbar. Wir haben alles, was wir brauchen und viel mehr. Wir können essen, soviel wir wollen, haben Zeit, haben alles, was man sich nur wünschen kann. Alles ist frei. Für nichts muss man etwas geben, nur nehmen und haben. Das Wie des modernen Menschen ist das Wie des Paradieses dieser alten Kinderschreck-Geschichten. Noch nie war das Wie so wunderbar.“
„So wunderbar?“ Die Welt scheint Li alles andere als wunderbar. Sonst wäre er wohl kaum hier.
„Ich spreche nur vom Wie. Denn leider, leider ging irgendwo am Weg zu diesem wunderbaren Wie das Warum verloren. Man hat es fallen und liegen lassen. Im Staub.“
„Im Schlamm“
„Im Abgrund.“
„Und?“
„Wer ein Warum zu leben hat, der erträgt fast jedes Wie. Wer kein Warum zu leben hat, dem ist auch jedes Wie ein Graus, sei es noch so wundervoll.“
Schweigen. Menschen kratzen sich am Kopf. Ein Schritt nach vor. Gemurmel. Schweigen. Zwei Schritte nach vor. Hinein in die Seitengasse.
„Viele scheinen aber doch zufrieden zu sein“, sagt Li.
„Das scheinen sie, ja. Doch die Schlangen werden länger. Ich frage mich wirklich, Li, war es immer so? Waren die Menschen vor zweihundert Jahren wirklich so arm und unglücklich, wie die Geschichten uns berichten? Natürlich gab es Krankheiten damals und Kriege und all die andern Dinge. Man musste ein Leben lang schuften und dann sterben. Und dennoch, eins versteh ich nicht. Wenn die Menschen früherer Zeiten wirklich so ein hartes Leben hatten, warum sehen sie dann auf all den alten Bildern so verdammt fröhlich aus. Was haben sie denn Grund zu lachen. Heute lacht niemand. Haben Sie je darüber nachgedacht, Li?“
„Ja, eben heute Abend als ich die Bilder meiner Vorfahren betrachtete.“ Er schweigt kurz und fügt dann hinzu: „zum letzten Mal betrachtete.“
„Dann wissen Sie, was ich meine.“
„Ja. Wir sind bald dran.“
Das Ende der Seitengasse markiert ein schwarzes Loch in der Wand. Man verschwindet darin. Schnell und schmerzlos. Li weiß darüber Bescheid. Man muss keine Angst haben. Man wird keinen Schmerz spüren. Augenblicklicher Bewusstseinsverlust. Schnelle Verarbeitung. Fischfutter.
Noch stehen acht Menschen vor Li und Elijah. Einer nach dem anderen ist fort. Manche zögern lange, andere verschwinden augenblicklich. Ein kleiner alter Mann ist an der Reihe. Er wartet. Stimmen von hinten. Wieso geht’s nicht weiter? Mach schon, alter Mann. Er macht es nicht. Kehrtwendung und zurück ins Licht. Blicke der Verachtung treffen ihn. Er wird wiederkommen, denkt Li.
Noch drei vor ihm. Ein Mädchen. Jung. Vielleicht vierzehn. Sie springt sofort. Der nächste folgt ihr ohne Zögern, als hätte er Gefallen an ihr gefunden und wollte sie auf der anderen Seiten einholen.
Noch eine vor Li. Eine Schönheit. Sie dreht sich um. Augen blicken in Augen. Unerwartet küsst sie Li lange und leidenschaftlich, macht einen Schritt rückwärts und ist dann fort. Eine Stimme von hinten.
„Wollen Sie zuerst, Li? Oder gewähren sie mir den Vortritt?“
Ein süßer Geschmack liegt auf seinen Lippen. Er will ihn noch auskosten.
„Nach Ihnen, Elijah.“
Der Indianer legt ihm im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter und sagt: „Es war recht nett, gelebt zu haben, doch nicht des Lebens wert.“ Dann lächelt er und ist verschwunden. Natürlich muss er etwas Seltsames, etwas Philosophisches sagen, bevor er geht. Typisch Elijah, Bekanntschaft einer Stunde und doch schon alter Freund.
Jetzt ist Li an der Reihe. Elijah ist tot. Die Schönheit ist tot. Das Mädchen ist tot. Alle sind sie tot. Alle sind sie fort. Li folgt. Er hat keine Angst.
Ein Schritt.
Stille.
Dunkelheit.
Donner.
Und ewiger traumloser Schlaf.
IV
Eva schließt die Augen und weiß Bescheid. Vor einer Minute hat sie rein gar nichts von Physik verstanden. Nun kennt sie alles, was darüber bekannt ist. Ohne es jemals gelernt zu haben, ohne jemals ein Buch zu diesem Thema gelesen zu haben, ist sie nun informiert über alle Fragen und Ergebnisse dieser Wissenschaft. Ohne lange zu überlegen kann sie jede noch so komplizierte Formel auf ein Blatt Papier schreiben und erklären, was die Zeichen bedeuten. Wofür andere viele Jahre lang studiert haben, ist ihr innerhalb von Sekunden geschenkt worden. Aber dieser Vorgang ist inzwischen längst zur Routine geworden.
Eine neue Art der neuronalen Schnittstelle macht es möglich. Bis zu ihrer Entwicklung ist es lediglich machbar gewesen die Sinneseindrücke eines Menschen zu manipulieren und ihn so zum Beispiel in virtuelle Welten zu versetzen. Nun kann man direkt auf die Erinnerung zugreifen und somit jedes beliebige Wissen importieren. Das war das Ende einer uralten Tradition. Endlich hat der Lehrer – ob Mensch oder Maschine – ausgedient.
Eva ist neun Jahre alt und spricht fließend drei lebendige und zwölf tote Fremdsprachen. Wenn sie etwas schreibt, so findet man niemals einen Rechtschreibfehler. Nie wird ein Wort in falscher Bedeutung verwendet. Ihre Sprache ist klar, präzise und reich an Fachausdrücken. Eva artikuliert meisterhaft.
Ein jedes Kind, das heute geboren wird, bekommt schon bald nach der Geburt eine halborganische neuronale Schnittstelle in den Hinterkopf implantiert. Es ist dies eines seiner wichtigsten Organe. Schon zu Beginn enthält dieses Implantat das Grundwissen für ein gelingendes Leben. Nach langen Diskussionen hat man sich auf folgende Basisinhalte geeinigt: Ein Neugeborenes verfügt nach Implantation über den Gesamtwortschatz der drei wichtigsten Sprachen, mitsamt den präzisen Definitionen und allen grammatikalischen Regeln. Außerdem beinhaltet der Chip die gesamte bekannte Geschichte des Kosmos und des Menschen. Soziale Regeln und die Strukturen der modernen Gesellschaft sind natürlich auch enthalten.
Seit sie denken kann, weiß Eva schon über alle Höhen und Tiefen Bescheid, die der Mensch im Laufe seiner bewegten Geschichte durchwandert hat. Es dauerte, bis sich ihr Gehirn vollständig entwickeln konnte und in der Lage war, den darin enthaltenen Reichtum zu erfassen. Doch dann ging es sehr schnell. In Windeseile lernte Eva das Sprechen. Mit vier Jahren schon verstand sie das Elend des Krieges und den Zauber der Wissenschaft.
Durch das Ende des Lernens wurde das Ende der Arbeit erst vollkommen. Lernen ist schließlich auch nur Arbeit. In der Vergangenheit ist die Schule der erste Arbeitsplatz des Menschen gewesen. Von Anfang bis Ende des Lebens hat der Mensch gelernt, hat Jahre bis Jahrzehnte seiner Zeit damit verbracht, sich erst einmal all jenes Wissen anzueignen, das er für seine Lebenslaufbahn brauchen würde. Das alles ist nun vorbei.
Eva ist nie Kind gewesen. Nie hat sie die Unschuld der Unwissenheit gekannt, welche wesentlich ist für eine echte Kindheit. Mit all den vielen Daten im Kopf hat ihr das Spiel nie richtige Unterhaltung bieten können. Es gibt Kampagnen, welche fordern, die Menschen erst später im Leben mit dem Basiswissen zu versorgen. Andere meinen, dies wäre nur eine Vergeudung von Ressourcen. Denn desto früher der Mensch alles weiß, was er braucht, umso weiter kann er in seinem Denken gelangen. Außerdem macht eine frühe Versorgung mit Wissen den Prozess der Erziehung, welcher schließlich auch Arbeit ist, um ein Vieles leichter und bringt so große Entlastung für die Eltern. Es hat sich nicht gezeigt, dass das Fehlen einer klassischen Kindheit dem Menschen objektiv irgendwelche Nachteile bringen würde. Eine direkte Verbindung zwischen früher Wissensimplantation und dem Anstieg der Selbstmordrate kann nicht festgestellt werden.
Als sie sieben Jahre alt wurde, hat Eva den Wunsch geäußert alles über das Fliegen wissen zu wollen. Innerhalb von Minuten wusste sie alles. Nach einigen anderen Gebieten hat sie nun auch alles über die Physik gelernt. Es ist ganz leicht. Jedes beliebige Fachgebiet kann schnell beschafft und importiert werden. Natürlich gibt es auch Menschen, die einfach alles wissen wollen.
Es ist eine Zeit angebrochen, in welcher es nach vielen Jahrhunderten endlich wieder so etwas wie Universalgelehrte gibt. Die Geschichte zeigt, dass wohl irgendwann gegen Ende des Mittelalters der Zeitpunkt erreicht wurde, da der gesamte Wissensschatz der Menschheit so groß geworden war, dass ein Mensch allein sich unmöglich all dieses Wissen aneignen konnte. Es kam daher zu vielen Spezialisierungen. Naturphilosophen spalteten sich auf in Physiker, Mathematiker, Biologen, Chemiker und andere. Jene spalteten sich weiter auf. All diese Gebiete wurden ihrerseits bald so umfassend, dass ein Mensch allein sie unmöglich überschauen konnte. Es kam schließlich so weit, dass die meisten Forscher durch intensives Lernen nur so weit gelangten, eine einzige kleine Säule des riesigen Palastes der Wissenschaft zu kennen. Auf diese Art und Weise wurden viele neue Einsichten erst sehr spät oder gar nicht gewonnen, da man weit mehr sehen kann, wenn man den Wald kennt, anstatt nur einzelne Bäume. Und der Wald war längst unsichtbar.
Mit der neuronalen Schnittstelle ist dieses Problem gelöst worden. Es gibt wieder Universalgelehrte, solche, die über alles bekannte Wissen verfügen und es in geschickter Kombination dazu nutzen können Neues zu finden.
Beseitigt wurde damit auch jene Ungerechtigkeit, dass ein Talent über alle anderen Talente bestimmt. Wenn man zu früheren Zeiten zum Beispiel ein guter Physiker gewesen wäre, aber keine Begabung für das Lernen hatte, so wurde man nicht Physiker. Viele konnten ihre Talente nicht nutzen, da ihnen das Talent fürs Lernen fehlte. Auch das ist heute anders.
Eva weiß nicht, was sie in ihrem Leben tun möchte. Es gibt auch nicht viel zu tun. Obwohl die neuronale Schnittstelle viele Möglichkeiten bietet, werden diese nicht wahrgenommen. In einer Welt, in welcher maschinelle Einheiten den Menschen alle Sorgen zu nehmen versuchen, fehlt der Ehrgeiz, fehlt der Ansporn neue Theorien zu entwickeln. Wozu denn?
Als Eva zehn Jahre alt wird, muss sie schließlich erkennen, dass sich die Welt nicht mehr für das Wissen interessiert. Es gibt keine Physiker mehr. Nirgendwo wird noch geforscht. Alles ist Zeitvertreib geworden. Ohne die neuronale Schnittstelle wäre ihr diese Erkenntnis wohl erst Jahre später gekommen. Aber zum Glück gibt es ja noch Geschichten.
Schon immer haben sich die Menschen Geschichten erzählt. Sie haben gewaltige Epen geschrieben und sich auf der Bühne und im Film die faszinierendsten Leben zurechtgelegt. Als Eva diese Welt der Fiktion entdeckt, ist sie begeistert. In ihrem Kopf befindet sich nur die eine, die wahre Geschichte. Bisher hat sie nicht geahnt, dass es so viel mehr davon gibt. Alle will sie kennen. Sie will mit jedem Helden kämpfen, jeden Drachen töten, jede Liebe lieben und mit jedem Entdecker in die Ferne reisen. Doch das Lesen geht ihr viel zu langsam. Auch Filme brauchen zu viel Zeit. Eva will die Geschichte gleich und so intensiv wie möglich fühlen. Die neuronale Schnittstelle macht es möglich.
Romane, Filme, jede nur mögliche vom Menschen erdachte Welt der Fiktion wird in Evas Gehirn importiert. Sie muss nur den Wunsch dazu äußern. Eine Einheit ist gekommen und bringt ihr alles mit, wonach ihr dürstet. Geschichte um Geschichte fließt in ihren Kopf, wird dort erfasst, wird dort erlebt und dann gespeichert. Eva genießt es sehr. In einer Welt, in welcher alles zur Routine geworden ist, in der es nichts mehr gibt, was man tun kann, in der man lebt nur um zu leben, was bleibt da noch, als sich in Geschichten zu versenken? Doch irgendwann ist es plötzlich vorbei.
Was tut der Mensch, wenn er alles weiß, wenn er alle Geschichten kennt, wenn alles für ihn getan wird und nichts mehr bleibt, wofür er kämpfen muss? So und nicht anders sieht das Paradies der alten Märchen aus. Es ist dem Menschen gelungen diese Wunschvorstellung endlich zu erreichen. Die Arbeit von Jahrtausenden hat sich gelohnt und das Paradies auf Erden ist geschaffen. Kein Schweiß mehr, keine Sorgen, keine Krankheiten. Jedes beliebige Vergnügen ist jedem frei zugänglich. Man kann alles wissen, was man zu wissen wünscht. Wahrlich, der Mensch von heute lebt tatsächlich im Paradies. Doch was tut der Mensch im Paradies? Er bringt sich um. Denn so ein Paradies ist für viele nur eine Hölle mit Maske.
Im Alter von vierzehn Jahren steht Eva in der Grünbaumgasse 37. Der alte Mann vor ihr zögert und läuft schließlich weg. Eva weiß zu viel um noch zu zögern. Nachdem sie verschwunden ist, springt ein Mann namens Adam. Vielleicht gibt es doch ein Leben nach dem Tod und er findet seine Freundin Helena wieder. Die Schönheit hinter ihm will noch nicht sterben ohne einen letzten Kuss. Sie dreht sich um und schenkt dem Fremden hinter ihr diese letzte Ehre. Dann ist sie fort. Li Grün lässt Elijah den Vortritt und folgt ihm gleich darauf. Samantha Chapman fährt im Fahrzeug langsam vorbei und schüttelt den Kopf.