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Utopie II:Das Ende der Realität

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Wenn die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen, werden dann die Träume real oder wird die Realität zum Traum? Benjamin Stramke

Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes. Salvador Dali

I

Mr. Kamiya ist sein ganzes Leben lang Farmer gewesen. Am Ende eines heißen Tages bringt er die Ochsen zurück in den Stall, mit deren Hilfe er eben einen Teil seiner Felder gepflügt hat. Es sind gute Tiere, die ihm stets Folge leisten. Er hat noch nie Probleme mit ihnen gehabt. Nach des Tages harter Arbeit setzt sich Kamiya in einen Lehnstuhl auf der Veranda seines Hauses, wo er noch die letzten Strahlen der Abendsonne auskosten möchte. Es ist schön endlich zu rasten. Er hat Durst und ruft nach seiner Frau. Sie soll ihm eine Flasche Bier bringen. Der kühle Trunk tut seiner rauen Kehle gut. Er stellt die Flasche neben sich hin und lehnt sich zurück. Dabei fällt sein Blick auf seine Hände. Plötzlich, ganz kurz nur, fühlt er eine leichte Irritation, ganz so, als ob alles nicht wirklich sei, als ob er jemand anderes wäre. Schnell weicht dieses seltsame Gefühl wieder. Ein frischer Wind fegt über die Felder und lässt das Getreide tanzen. Kamiya stellt wieder einmal fest, wie gerne er doch lebt. Seine Frau gesellt sich zu ihm und gemeinsam betrachten sie die Sonne, wie sie langsam hinter dem Horizont versinkt. Als es schließlich Nacht ist und er ausgetrunken hat, kehren die beiden den Feldern den Rücken und ziehen sich in ihre Hütte zurück.

Als Kamiya durch die Tür tritt, endet es. Das Haus, die Felder, das Farmerleben, alles ist wie weggeblasen. Mr. Kamiya sitzt in einem bläulich gestrichenen Büro mit Aussicht auf die Großstadt. Ihm gegenüber, auf komfortablen Stühlen, wie auch unter ihm selbst einer ist, sitzen zwei Menschen, die ihm bekannt sind. Dr. Shatow und Mr. Murakami, deren Gesichter ein triumphierendes Lächeln tragen. Sie blicken Kamiya an. Als sie das Wort an ihn richten und seine Sekretärin Tee bringt, da weiß der Direktor plötzlich wieder, wer er ist. Noch nie in seinem Leben hat er so gestaunt.

„Wie fanden Sie es, Herr Direktor?“, fragt Murakami.

Kamiya richtet sich in seinem Stuhl auf. Es geziemt sich nicht für einen Mann wie ihn vor seinen Angestellten zusammen gekauert und mit schief hängendem Kopf in einem Sessel zu sitzen. Er richtet seine Krawatte und blickt auf die Uhr.

„Wie lange bin ich fort gewesen?“, fragt er. Es tut gut seine eigene Stimme zu hören.

„Nur etwa eine Minute, Herr Direktor. Aber wie fanden Sie es? Würden Sie sagen, dass wir es geschafft haben?“

reflektiert nochmals das Geschehene. Er versucht, Gefühltes und Gedachtes nachzuvollziehen. Desto mehr er sich des Erlebten wieder bewusst wird, so erstaunter wird er. Nachdenklich betrachtet er das Kabel, welches eben noch mit seinem Kopf verbunden war. Endlich gibt er Antwort.

„Das wirft viele Fragen auf“, sagt er. Murakami scheint sich etwas anderes erwartet zu haben.

„Fragen? Welche Fragen, Herr Direktor?“

„Nun, es schien real.“

„Real? Das sollte es doch. Darauf haben wir hingearbeitet. Das Nachempfinden der Realität war doch unser Ziel.“

Ist es Entrüstung darüber, dass sich der Direktor nicht sofort begeistert zeigt und ihn lobt, welche Murakami derart in Rage bringt, sodass er in dieser Lautstärke mit seinem Vorgesetzten zu sprechen wagt? Doktor Shatow, der seit der geistigen Rückkehr des Direktors noch kein einziges Wort gesagt hat, bleibt ruhig. Ein leichtes Lächeln liegt immer noch auf seinem Gesicht.

„Ich wusste nicht mehr, wer ich bin“, sagt Direktor Kamiya. Hierauf antwortet der Doktor mit dem gewohnt starken Akzent in seiner Sprache.

„Das war so beabsichtigt. Ein elektrisches Signal hemmt die Erinnerung. Es ist eine Funktion, die man beliebig an- und abstellen kann.“

„Man kann also wählen, ob man mit oder ohne Erinnerung an die Realität spielen möchte?“

„Im Prinzip, ja“, sagt Shatow. Der Direktor fährt fort.

„Es war mir nicht mehr möglich zu erkennen, dass es nicht die Wirklichkeit war. Ich habe Bier getrunken. Ich hasse Bier. Ich habe Ochsen in einen Stall gebracht. Ich hatte das Gefühl ein langes Leben hinter mir zu haben.“

Der Doktor lächelt.

„Als Ersatz für die fehlende Erinnerung erfinden wir natürlich eine neue, die mit unserem Spiel im Einklang ist. Das ist vergleichsweise einfach.“

Der Direktor versucht in Shatows Augen zu erkennen, wie ernst ihm das Ganze ist. Versucht man ihn hereinzulegen, oder ist wirklich alles so, wie man ihm sagt.

„Wenn ich nicht mehr weiß, ob das Spiel die Wirklichkeit ist, wie kann man dann noch entscheiden, ob ich aufhören oder weiterspielen möchte?“ Hierauf weiß Murakami eine Antwort.

„Das ist einfach. Wir bauen in die fertige Konsole eine Option ein, dass man entweder mit Erinnerung spielt, oder einfach vor Spielbeginn eine Zeitdauer eingeben muss, nach welcher das Spiel automatisch endet.“

Der Direktor lehnt sich zurück und lässt seinen Blick durch das Fenster hindurch über das Häusermeer der Großstadt schweifen. Ihm ist etwas unwohl zu Mute. Murakami scheint überhaupt nicht klar zu sein, welche Konsequenzen eine Entwicklung wie diese haben könnte. Das ist nicht einfach nur ein neues Spiel. Das ist viel größer, viel ernster, vielleicht auch viel gefährlicher. Ist sich Shatow dessen im Klaren? Es gibt niemanden, der so undurchschaubar ist, wie dieser geniale Erfinder. Kamiya vermutet, dass sich Shatow einerseits all dessen sehr wohl bewusst ist. Andererseits ist es ihm völlig egal, was seine Erfindung anrichten könnte. Der Direktor muss mehr wissen.

„Herr Doktor, mir ist noch nicht ganz klar, wie ihre Methode funktioniert. Ich bin kein Wissenschaftler wie sie, doch ich habe die Debatten über das Thema in den letzten Jahrzehnten verfolgt. Ich weiß, wie man mit der neuen Technik selbst die kleinsten Hirnströme messen kann. Doch wie haben sie es geschafft, sie derart präzise zu manipulieren?“

„Ich habe ein Muster entdeckt“, sagt Shatow mit starkem Akzent. „Die Sprache der elektrischen Ströme im menschlichen Gehirn ist äußerst komplex, doch wenn man erst einmal ihre Grammatik erkannt hat, dann lässt sich vieles formulieren. Die Ströme müssen das Gehirn an den richtigen Stellen durchfluten. Ob ihre Quelle aber außerhalb oder innerhalb der Schädeldecke ist, ist einerlei.“

„Kann es schädlich sein?“, unterbricht der Direktor.

„Nein. Wir sprechen hier von sehr niederenergetischen Signalen. Sie können anregen, aber gewiss nicht zerstören.“

„Und man kann auf diese Art und Weise jedes Szenario, jede Welt, jede Geschichte erlebbar machen, als wäre sie real?“

„Der Inhalt des Signals kann alles Mögliche sein. Das ändert nichts an der Methode.“

„Jede mögliche Welt?“

„Ich sagte: alles Mögliche.“

„Was ist, wenn man im Spiel stirbt?“

„Nichts weiter. Das Spiel endet. Entweder sind sie wieder in der Wirklichkeit, oder sie werden einfach wiedergeboren zu einer neuen Runde. Kein Problem.“

Shatow scheint nicht im Geringsten erregt zu sein. Der Direktor kommt zunehmend aus der Fassung. Als Murakami einwirft, dass es das erfolgreichste Spiel aller Zeiten werden wird, fährt er ihn an:

„Nennen Sie es nicht Spiel.“

Shatow lächelt.

Kamiya braucht Zeit zum Nachdenken. Er heißt Murakami und den Doktor gehen. Sie werden noch früh genug eine Antwort bekommen. Der Direktor bleibt allein in seinem Büro zurück. Die Luft ist stickig und er öffnet ein Fenster. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Buch, das ein guter Freund geschrieben hat. Es trägt den Titel „Die Geschichte des Video-Spiels“. Es hat alles so harmlos begonnen. Nur eine Alternative zum Brettspiel und nichts weiter. Doch dann sind die ersten virtuellen Konsolen aufgetaucht. All die vielen Firmen, die in der Sparte Videospiel beteiligt sind, alle haben sie immer nur ein Ziel gehabt: die vollkommene Illusion. Mit Tricks und Zauberstaub will man den Käufern mit einem farbenfrohen Spektrum von Produkten die Realität rauben. Nun hat man es fast geschafft. Längst sind die verschiedensten Konsolen auf dem Markt, die mit der neusten Technik das Gefühl versprechen, gänzlich in einer anderen Welt zu sein, mit den eigenen Händen dort zu tasten und zu töten, mit den eigenen Füßen um sein Leben zu laufen oder Fußball zu spielen. Es ist ein Milliardengeschäft. Die hervorragendsten Illusionen sind in den Läden dieser Welt erhältlich, doch nichts davon kann mit dem mithalten, was Kamiya eben erlebt hat. Shatows neue Technik ist einzigartig. Unter all den vielen Spielen, die es für den Kunden zu kaufen gibt, ist bisher nichts zu finden, das in irgendeiner Weise der Wirklichkeit gleich kommt. Die Realität fühlt sich immer noch anders an, ist echter, ist reicher als jede Illusion.

Doch nicht mehr. Dass Kazuyoshi Kamiya, langjähriger Direktor eines multinationalen Konzerns, heute für eine Minute als biertrinkender Farmer im Sonnenuntergang auf einer Veranda gesessen hat, das ist für ihn ebenso real gewesen wie der Rest seines Lebens. Vielleicht sogar noch eine Spur realer. Ebendies macht Kamiya Angst. Er hat ein Gewissen und er denkt an Dinge, die Leuten wie Murakami gar nie einfallen würden. Wenn das Spiel realer ist als die Realität, welchen Grund gibt es dann noch, die Realität dem Spiel vorzuziehen? Der Inhalt dieses Spiels kann immer so gewählt werden, dass er angenehmer, schöner, abenteuerlicher, besser in welchem Sinne auch immer ist, als die Wirklichkeit. Im Spiel kann ich sein, wer ich will. Dort kann ich meine verborgensten Fantasien ausleben. Was bietet mir im Gegensatz dazu die Realität?

Kamiya weiß, dass seine Unterschrift diese neue Entwicklung auf den Markt bringen kann. Was tut er den Menschen damit an? Fluch oder Segen. Steht er kurz davor die Büchse der Pandora zu öffnen?

Lange sitzt der Direktor da und blickt auf die Stadt hinab. Man hat den Zauber des Video-Spiels stets unterschätzt. Die Menschheit hat nie die Tragweite dessen erkannt, was es bedeuten kann, dem Einzelnen eine andere Welt anzubieten. Die Schwierigkeit liegt darin, diese Welt so echt wie möglich zu machen. Mit Shatow ist diese Schwierigkeit überwunden.

Kamiyas Sekretärin betritt das Büro. Sie fragt, ob sie nach Hause gehen darf. Es ist schon spät. Der Direktor schickt sie heim. Er braucht im Moment nur sich und seine Gedanken. Der Sonnenuntergang lenkt ihn ab. Durch sein Fenster beobachtet er, wie hinter der Stadt der Feuerball versinkt. Es ist nicht besonders aufregend. Wie viel echter hat dasselbe Phänomen heute Nachmittag von seiner Veranda aus gewirkt. Kamiya fühlt plötzlich das starke Bedürfnis wieder dorthin zu wollen, wieder dieser Farmer zu sein. Er erschrickt. Ohne sich sicher zu sein, fühlt er, dass der Verkauf dieses Produktes die schlimmsten Folgen haben wird. Andererseits ist es ein Milliardengeschäft, doch das spielt keine Rolle. Nicht für Kamiya, denn Kamiya hat ein Gewissen. Ihm ist das Wohl der Menschen wichtiger als ein Geschäft.

Doch andererseits sind ihm die Hände gebunden. Es wäre Einbildung, wenn er glauben würde in seiner Position tatsächlich das Unausweichliche verhindern zu können. Was, wenn er Nein sagen würde, wenn er einfach Murakami anrufen und ihm sagen würde, dass Shatows Idee auf keinen Fall weiter entwickelt werden sollte? Es würde nichts ändern. Der Doktor könnte sich einfach der Konkurrenz anbieten und würde von dieser mit offenen Armen empfangen werden. So oder so, die Entwicklung ist unausweichlich. Kamiya hat gar nicht die Macht, irgendeine Büchse der Pandora zu öffnen. Das ist längst geschehen. Die einzige Entscheidung, welche bleibt, ist lediglich, ob er das Geschäft damit machen wird oder die Konkurrenz. Hier fällt die Antwort nun doch nicht allzu schwer.

Wenige Minuten später erhält Murakami einen Anruf, welcher ihn zufrieden stimmt. Schon bald wird ein neues Spiel die Welt erobern. Man muss sich nur noch irgendeinen netten Namen dafür einfallen lassen. Auch Direktor Kamiya wird sich dieses Spiel kaufen. Schon eine Minute hat ihn süchtig gemacht. Es ist ein schönes Spiel. Das Problem ist nur: Es ist kein Spiel.


II

Jane Valentine ist fünfzig Jahre alt und nicht mehr allzu attraktiv. Sie arbeitet als Aufsichtsperson in einer Fabrik für Fahrräder. Ihre Kollegen sind fast alles Maschinen. Die Tage verbringt sie damit durch menschenleere Hallen und Korridore zu schlendern um da und dort eine Wartung vorzunehmen oder den Produktionsablauf für ein neues Produkt zu initialisieren. All dies ist nicht besonders anstrengend, aber auch nicht sehr aufregend. Jane ist keine Fahrradfabriksaufsichtsperson aus Leidenschaft. Folglich muss sie den Sinn ihres Lebens in ihrer Freizeit suchen. Früher hat sie in dieser viel gelesen, sich ab und zu auch mit Bekannten getroffen, oder ist in die Berge wandern gegangen. Sie hat einen guten Freund. Manchmal lädt er sie zu sich ein, manchmal sie ihn zu ihr. Dann gibt es noch ihre Katze Carla, um die sie sich liebevoll kümmert.

Außer einer Reise jedes Jahr hat Janes Leben bis heute aus nicht viel mehr als diesen Dingen bestanden. Nun allerdings tritt etwas Neues hinzu. Eine Freundin bringt Jane auf den Gedanken. Sie klang im Gespräch ungewohnt enthusiastisch. Die VRIII habe ihr Leben verändert. Sie könne an gar nichts anderes mehr denken, so schön sei es. Da Jane ihrer Freundin glaubt, geht sie tags darauf nach der Arbeit in einen Laden und kauft sich ebenfalls eine VRIII. Das V steht für virtuell, das R für Realität. Der Aufdruck auf der Verpackung verspricht ein neues Leben. „Ob das nicht wohl zu viel verspricht?“, denkt Jane. Es ist nicht gerade billig, dieses neue Leben. Man muss tief in die Tasche greifen.

Zu Hause macht Jane sich gleich daran die VRIII in Betrieb zu nehmen. Alles in allem besteht das Gerät nur aus einem kleinen schwarzen Kasten und vielen Kabeln. Manche dieser Kabel verbinden sich zu einer Art Haube, die Jane auf ihren Kopf setzen muss. Soweit so gut. Es bleibt nur eine Taste zu drücken und das Gerät wird beginnen das zu tun, wozu es da ist – was immer das sein soll. Jane macht sich keine allzu großen Hoffnungen. Sie verspricht sich einen kleinen Spielspaß und nicht mehr. Was soll schon passieren? Ein neues Leben? Sicherlich nicht. In der Bedienungsanleitung steht, man solle es sich bequem machen. In ihrer Wohnung steht ein großer Fauteuil-Sessel, in welchen sich Jane nun sinken lässt. Dann schaltet sie die VRIII ein.

Zuerst spürt sie ein leichtes Schwindelgefühl. Dann ist die Welt um sie verschwunden. Ihre Wohnung ist fort. Jane Valentine steht in einer schwarzen Unendlichkeit. Diese währt nicht lange. Es ertönt ein Tosen und plötzlich wird die Unendlichkeit mit Wasser geflutet. Ein Ozean bildet sich und ehe Jane noch wirklich begriffen hat, was geschieht, da befindet sie sich schon an Deck eines Piratenschiffes, das die Ozeane befährt. Ein frischer Wind zieht auf. Man ist eifrig dabei die Segel auszurichten. Jane erkennt, dass sie plötzlich einen schweren Mantel trägt. Auf ihrem Kopf befindet sich ein schwarzer Hut mit Feder. Auf ihrer Schulter sitzt ein Papagei. Sie fühlt den Wind im Gesicht. Es ist alles so real. Ist sie wirklich hier? Was kann sie alles tun? Um sie herum sind viele halbnackte Seemänner. Kann sie mit ihnen sprechen? Jane tritt auf einen jungen kräftigen Matrosen zu und berührt ihn leicht an der Schulter. Dieser fährt herum und salutiert, als er sie erblickt.

„Aye Kapitän, was steht zu Befehl?“, sagt er. Jane antwortet vorerst nicht. Das Spiel gefällt ihr schon jetzt. All das ist so echt. Immer noch spürt sie den Wind. Sie fühlt, wie ihr Mantel im Luftstrom flattert.

„Wollen Sie etwas von mir, Frau Kapitän?“, fragt der Mann. Jane überlegt, was sie sagen soll. Schließlich fragt sie:

„Wo fahren wir hin?“ Der Seemann lacht.

„Ach, sie wollen mich testen. Sie wissen es doch selbst am besten. Nach Westen und immer weiter nach Westen, bis zu den glücklichen Inseln segeln wir. Denn dort harren unser das schöne Volk der Zarus und ihr gewaltiger Goldschatz.“

„Gut. Sie kennen sich aus.“, lobt Jane. Als sie sieht, dass der Matrose sie immer noch ansieht, fügt sie ein „Weitermachen“ hinzu. Der junge Mann wendet sich wieder seiner Arbeit zu.

Jane ist begeistert. Es ist wirklich so, als würde man mit einem echten Menschen reden. Sie steigt nach vor zum Bug, wo sie vor sich fast nur mehr die See sieht und blickt dem rauen Fahrtwind entgegen. Dieser macht ihre Augen wässrig. Einmal mehr ist sie von der Authentizität dieser Welt überrascht. Es ist keines dieser plumpen alten Spiele. Sie ist wirklich hier. Und sie hat die Macht. In ihrem Kopf fühlt Jane die Option, jederzeit zurück in ihre Wohnung zu können, doch vorerst ist diese Welt um einiges interessanter. Es gibt noch eine weitere Option. Sie kann wählen, ihre Erinnerung an zu Hause kurzzeitig zu vergessen, um sich wirklich wie ein Kapitän zu fühlen. Dazu muss sie allerdings eine Zeitspanne festlegen, wann die VRIII sie aus diesem Zustand wecken soll. Dies klingt verlockend, doch vorerst will Jane einfach so weiter spielen wie jetzt. Sich von der See abwendend überblickt sie das rege Treiben an Deck. Sie hat auf diesem Schiff die Befehlsgewalt. Würde die Mannschaft alles tun, was sie befiehlt? Wie weit kann sie gehen?

Plötzlich entdeckt sie etwas anderes. Ihr ist bisher nicht bewusst geworden, dass sie weiß, wer sie ist. Neben der Erinnerung an ihr Leben zu Hause trägt sie noch die Bilder eines anderen Lebens in sich. Sie ist Kapitän Jane und befährt die Weltmeere. Ihr Schiff heißt „Wagemut“. Sie hat es vor über fünfzehn Jahren erstanden, nachdem ihr alter Kutter, die „Dominanz“ in einem Sturm gesunken war. Jane erinnert sich an ihre Jugend in einer armen Hafenstadt, an ihre erste Heuer auf einem großen Handelsschiff, an ihre erste Meuterei. Wie lang vergessene Erinnerungen leuchten all diese Eindrücke in ihr auf. Sie ist eine Freibeuterin, eine Piratin. Viele Schiffe hat sie mit ihren Männern – alle haben Namen, die Jane nun kennt – gekapert und versenkt. Viele Goldschätze sind errungen worden. Und nun geht es auf die Reise zu den glücklichen Inseln, wo der Schatz der Schätze sich verbirgt. Was wird sie dort erwarten? Jane freut sich auf ein Abenteuer, das bereits begonnen hat.

Der Schiffsjunge meldet, dass unter Deck eine Schlägerei im Gange ist und Kapitän Jane macht sich auf, den Streit zu beenden. Sie weiß bereits, wie es unter Deck aussieht bevor sie dort hinkommt. Schließlich ist sie dort schon hunderte Male zuvor in ihrem Leben gewesen.


Drei Stunden später kehrt Jane in ihre Wohnung zurück. Alles dort ist trist und farblos. Sie verspürt den heißen Wunsch gleich weiter zu spielen. Ein anderes Schiff hat das Feuer auf die „Wagemut“ eröffnet. Man muss sich wehren. Andererseits hat Jane noch nicht zu Abend gegessen. Außerdem muss sie die Katze füttern, welche sicher schon lange an Janes Bein geleckt hat ohne Beachtung zu finden. Schnell verrichtet Carlas Frauchen all die nötigen Tätigkeiten. Es ist erst neun Uhr abends. Um elf geht Jane für gewöhnlich schlafen. Das bedeutet noch fast zwei Stunden Abenteuer. Sie kann es kaum erwarten in jene andere Welt zurückzukehren. Diesmal wählt sie den Modus ohne Erinnerung und reist abermals in eine andere Welt. Ein paar Minuten weniger Schlaf können auch nicht schaden. Sie setzt als Zeitspanne die vollen zwei Stunden fest.

Als Jane einhundertzwanzig Minuten später auf ihrem Sessel wieder zu sich kommt und realisiert, wer und wo sie ist, da fühlt sie sich tief betrübt. Ihr Leben ist eine Enttäuschung im Gegensatz zu dieser anderen Realität. Sie hat geglaubt, sie wäre wirklich Kapitän Jane. Sie hat geglaubt, es wäre echt. Und nun sitzt sie hier – alt und fett, wie sie ist – und es ist schon nach elf. Sie muss schlafen gehen. Sie muss morgen zur Arbeit. Wie ihr davor graut. Kann sie nicht einfach weiterspielen? Die Verlockung ist groß. Die Möglichkeit ist da. Doch nein. Der Schlaf ruft.

In der Fabrik denkt Jane am nächsten Tag fast ständig an das Spiel. Sie kann das Ende ihrer Schicht kaum erwarten. Eigentlich hat sie ja für heute Abend eine Verabredung mit ihrem alten Freund Peter, doch sie sagt ab. Peter kann mit ihrer Mannschaft von zweiundzwanzig kräftigen Männern nicht mithalten. Als sie endlich nach Hause kommt, lässt Jane alles stehen und liegen und kehrt in eine bessere Wirklichkeit zurück. Heute werden sie die glücklichen Inseln erreichen.

Die Tage vergehen und Janes Freizeit ist nur mehr für die VRIII da. Es gibt nichts anderes mehr. Schwer ist jedes Mal der Moment des zu Bett Gehens. Schön ist es von der Arbeit nach Hause zu kommen und zu spielen. Am Tag, da arbeitet Jane, aber am Abend, da lebt sie. Sie lebt in einer anderen Welt, wo alles besser, wo alles sogar ein wenig wirklicher ist, als hier. Seit dem ersten Mal spielt sie nun ständig ohne Erinnerungen an das Hier. Dies steigert die Intensität um ein Vielfaches. Sie ist wirklich da. Sie lebt und atmet auf See und auf glücklichen Inseln. Es gibt noch viele andere Szenarien für die VRIII. Von Kriegen bis Familiendramen, von erotischen Spielen bis Extremsport ist alles da, was man begehren kann. Jane aber ist vorerst mit ihrem Schiff zufrieden. In Gedanken dankt sie ihrer Freundin tausendmal dafür, dass diese sie darauf hingewiesen hat.

Jane schläft immer weniger. Das erste Wochenende nach Kauf der VRIII ist sie fast durchgehend auf See. Ebenso die nächsten Wochenenden. Sie verkürzt ihre Schlafenszeit auf nur vier Stunden. Zwar ist sie so am Arbeitsplatz stets etwas angeschlagen, doch im Spiel bleibt sie immer wach und munter.

Ihre Bekannten beklagen sich, dass Jane kaum noch Zeit mit ihnen verbringt. Auch Carla, die Katze, würde wohl einiges an Beschwerden vorbringen, wenn sie nur sprechen könnte. Jane kümmert sich nicht darum. Sie verliert immer mehr den Bezug zu ihrem wirklichen Leben. Es gilt ihr bald nur mehr als Last, als böser Albtraum zwischen der Zeit, in welcher sie bei ihrer VRIII sitzt.

Vier Wochen nach Kauf der VRIII – man hat die glücklichen Inseln schon längst hinter sich gelassen und wählt sich andere Ziele – bemerkt Jane, dass ihre Katze gestorben ist. Sie ist verhungert. Jane hat sie aus Versehen im Abstellraum eingesperrt und mehrere Tage lang nicht an Carla gedacht. Der Tod des Tieres tut ihr weh. Sie tröstet sich im Spiel mit ihrem Papagei, welcher Jakob heißt und im Grunde viel interessanter ist als Carla.

Das Leben unter ihrer Mannschaft ist so schön. Jane verspürt den heißen Wunsch für immer dort zu bleiben, doch es geht nicht. Hin und wieder muss sie essen, hin und wieder schlafen. Und auch arbeiten muss sie. Doch jeder Besuch in der Realität wird bald zur schmerzvollen Erfahrung. Es ist alles so hässlich dort. Besonders Janes Wohnung ist hässlicher geworden, hat sie doch keine Zeit mehr um zu putzen. Es gibt Wichtigeres. Einmal fällt ihre Schicht am Freitag aus und Jane spielt gleich zwanzig Stunden ununterbrochen von Freitag Abend bis Samstag Nachmittag. Als sie in ihrem Sessel zu sich kommt, fühlt sie sich schrecklich. Ihre Kehle brennt vor Durst. Ein Blick in den Spiegel lässt sie erschaudern.

Dann hört sie von einer neuen Möglichkeit. Inzwischen sind viele Menschen in ihrer Umgebung der VRIII verfallen und einigen geht es ähnlich wie Jane. Man will nicht mehr in die Wirklichkeit zurückkehren aufgrund unwichtiger Banalitäten wie Essen, Trinken und Schlafen. Jane macht es also wie die anderen. Sie besorgt sich die nötigen Utensilien, sticht sich eine Nadel in den Arm und wird so künstlich ernährt und mit allen nötigen Vitaminen versorgt. Endlich kann sie ungestört leben.

Was bleibt, ist die Arbeit. Schon oft hat Jane gerechnet. Wenn sie kündigen würde, dann könnte sie von ihren Ersparnissen fast ein Jahr leben. Ein ungestörtes Jahr auf See mit ihren Männern. Das klingt himmlisch. Doch was dann? Soll sie es einfach tun, sich einfach keine Sorgen machen, einfach die Taste drücken und wählen: „365 Tage ohne Erinnerung“? Es wird einst der Tag kommen, an dem sie erwacht...

Aber es gibt noch andere Möglichkeiten. Jane kann ihre Wohnung verkaufen. Es gibt billige Einzimmer-Apartments. Das reicht. Es braucht nicht viel um glücklich zu sein: ein Bett, künstliche Ernährung, eine Pflegerin, die die Fläschchen auffüllt und die Urinbeutel entleert; und die VRIII. Jane hat gehört, dass es dergleichen Arrangements gibt. Viele Leute tun Ähnliches. Wenn sie alles verkauft, was sie besitzt, dann wird sich Jane fast fünf Jahre lang ein solches Leben leisten können. Ununterbrochenes, wunderschönes, wirkliches Leben. Sie lechzt danach. Und sie beschließt es zu tun. Sie beschließt sich keine Sorgen um die Zeit nach dem Erwachen zu machen. Das ist erst in fünf Jahren. Bis dahin wird sie lebendiger sein als je zuvor. Sie schaltet die Realität einfach ab. So wie ihr geht es vielen. Das Spiel ist schöner als die Realität geworden, wirklicher und wahrer als die Realität. Also fort mit ihr.


III

Hermann hat es nie versucht. Irgendeine innere Stimme hat ihn davon abgehalten. Er hat die anderen dabei beobachtet, ist auch neugierig geworden, doch gewagt hat er es nie. Im Nachhinein ist er unendlich dankbar für diese innere Stimme. Er ist ein Beobachter und er hat gesehen, was aus den Menschen geworden ist.

Es gibt heutzutage riesige Gebäude mit endlosen Korridoren und tausenden Türen. Hinter jeder Tür eine Kammer, in jeder Kammer ein Mensch. Scheinbar leblos liegen sie da, angestöpselt an ein paar Schläuche zur Versorgung des Körpers und an eine VRIII oder ähnliches. Maschinen halten sie am Leben. Es bedarf dazu keines menschlichen Personals mehr. Wo immer diese Träumenden im Geiste auch sind, viele von ihnen kehren nie mehr von dort zurück. Sie bleiben dort. Sie sterben dort. Und es sind immer mehr.

Hermann kann sich noch an die Straßen seiner Jugend erinnern. Wie belebt sie waren. Viele Menschen bevölkerten die alte und die einzige Welt. Heute ist sie leer geworden. Zwar gibt es zahlenmäßig mehr Menschen als in Hermanns Jugend, doch sie leben nicht mehr. Sie spazieren nicht mehr durch die Straßen, sprechen nicht mehr miteinander. Sie essen nicht in dieser Welt. Sie schlafen nicht in dieser Welt. Und ihr Geist ist ganz woanders. Kann man da noch von Leben sprechen?

Hermann, welcher sechzig Jahre alt ist und durch die menschenleeren Straßen humpelt, weiß es nicht. Er hat nur Angst und ihm ist kalt ums Herz. Er ist allein. Er hat niemanden mehr in dieser Welt. Seine einstigen Bekannten sind entweder tot oder irgendwo in fernen Welten. Ihr Körper mag ja noch hier sein, hinter irgendeiner Tür irgendeines Korridors, doch ihr Geist ist weit, weit weg. Für Hermann könnten sie ebenso gut tot sein. Es macht keinen Unterschied.

Manchmal denkt Hermann über sein Schicksal nach und lächelt. Es war nicht seine Weisheit, die ihn davon abgehalten hat, jemals einen Ausflug in eine virtuelle Welt zu machen. Nicht seine Vorsicht, seine Umsicht oder Voraussicht. Er ist einfach seit seiner Jugend schon jemand gewesen, der gerne gegen den Strom schwimmt. Wenn etwas in Mode war, dann ist dies für ihn stets Grund gewesen dasselbe zu meiden. Wäre die VRIII damals ein unbeliebtes Außenseiterprodukt gewesen, er hätte keine Scheu gehabt sie auszuprobieren. Die Dinge sind aber anders gekommen. Mit der Zeit traten auch andere Gründe hinzu, die Hermann die virtuelle Welt, in welcher er nie gewesen ist, verleideten. Er sah, was sie aus den Menschen macht. Immer mehr wandten sich gänzlich ab von der Wirklichkeit. Sogar solche hat Hermann gekannt, die einst lautstark vor der Gefahr, die von der VRIII ausgeht, gewarnt hatten, und dann selbst ihrem Zauber erlagen.

Friedrich ist ein solcher gewesen. Hermann hat ihn ein halbes Leben lang gekannt. Zusammen haben sie oft und lange gegen die modernen Entwicklungen gewettert, haben davor gewarnt und die alten Zeiten gepriesen. Beide sind sie sehr einsam gewesen. Friedrich lebt auch jetzt noch. Sein einstiger Freund weiß nicht genau wo. Er liegt sicherlich hinter irgendeiner Tür in irgendeinem Korridor. Wo auch sonst? Er ist gefallen. Er hat es versucht und wieder versucht und schließlich nicht mehr damit aufgehört. Die virtuelle Welt ist ein stärkeres Suchtmittel als alle Drogen dieser Welt. Sie macht abhängig und ist ansteckend. Sie stiehlt dem Mensch die Wirklichkeit. Sie gaukelt ihm eine andere Welt vor. Sie zerstört, zersetzt und vernichtet. Irgendwann stirbt man dann ohne je richtig gelebt zu haben.

Etwa zwanzig Jahre liegt es zurück. Damals gestand Friedrich seinem Freund Hermann, dass er es einmal versucht hat und wieder versuchen wollte. Ganz enthusiastisch schien er. Der alte Mann weiß die Worte von damals auch heute noch.

„Stell dir eine Welt vor, in der du alles tun kannst. Es gibt keine Grenzen. Du kannst sein, wer du willst, sein wer du bist. Dort kannst du dein Leben lieben. Alle Wege stehen dir offen. Es ist ein weiter Ozean der Möglichkeiten, kein enges Tal wie unsere Welt. Alles ist möglich. Wünscht du dir ein bestimmtes Erlebnis, dann erlebe es einfach. Deine wildesten Fantasien kannst du dort ausleben. Vergiss einfach die Wirklichkeit. Lehn dich zurück und lebe. Es ist echt. Echter als die Wirklichkeit. Es fühlt sich viel intensiver, viel realer an. Tu mir den Gefallen und probier es aus. Du wirst schon sehen.“

Hermann tat ihm den Gefallen nicht. Sein Gefasel hätte ebenso gut einem der damaligen Werbespots entnommen sein können. Dort sagten sie genau das gleiche. Alle sagten sie das gleiche. Gerade deshalb wollte Hermann nicht hören.

Heute gibt es keine Werbespots mehr. Wer würde denn noch hinsehen? Das hat längst aufgehört. Alles hat längst aufgehört. Die Menschen schwinden und mit ihnen schwindet ihre Welt. Zurück bleibt nur Hermann, der schwer atmend durch die Straßen humpelt. Vor zwei Wochen verletzte er sich am Bein. Die Wunde hat sich inzwischen entzündet. Hermann kann nichts dagegen tun. Es gibt keine Ärzte mehr, zu denen er gehen kann. Es gibt kaum mehr etwas.

Heute hat Hermann noch keinen anderen Menschen gesehen. Es werden immer weniger und allmählich hört alles auf. Mit den Menschen sind auch ihre Institutionen verschwunden. Wie sollten sie denn bestehen, wenn doch niemand mehr zur Arbeit geht? Alles ist ruhig geworden. Die ganze Welt ist eingeschlafen. Vor Monaten hat ein Unwetter die alte Brücke am Hafen beschädigt. Hermann hat es gesehen. Aber es ist niemand mehr da um sie zu reparieren. Wer verlässt schon gerne sein selbst gewähltes Paradies um im kalten Wind einen Baukran zu bedienen?

Auch mit der Politik ist es vorbei. Wer geht denn schon noch wählen? Wer lässt sich denn noch wählen und wofür? Es ist doch alles sinnlos geworden. Die Menschen haben diese Welt verlassen. Die einzig echten Sorgen sind, dass irgendwann der Strom ausfällt und viele zurück in die Wirklichkeit gerissen werden. Es gibt Maschinen, die dafür sorgen, dass so etwas nicht geschieht.

Manchmal spielt Hermann mit dem Gedanken Saboteur zu werden. Er könnte ein paar Menschen aufwecken, sie aus ihren Welten reißen. Aber wozu? Man hat sie damals nicht überzeugen können. Man kann sie auch jetzt nicht mehr überzeugen.

Hermann weiß nicht, wie es weitergeht. Was wird geschehen? Oft denkt er an die alte Zeit und ist traurig. Es gab so viel, das es nun nicht mehr gibt. Die Musik, das Theater, die alten Filme. Neue Filme gibt es nicht mehr. Es gibt überhaupt keine Kunst mehr. Nicht in dieser Welt jedenfalls. In den anderen mochten sie ja komponieren, seine schlafenden Mitbürger.

Es gibt auch keine Kinder mehr. Dies ist wohl das stärkste Indiz dafür, dass die Menschen bald verschwinden werden. Wer hat denn noch das Bedürfnis in die Wirklichkeit zurück zu kehren und hier unter Anstrengung und Schmerz Kinder zu schaffen? Eine Familie kann man auch in den virtuellen Welten haben, ohne je zu merken, dass alles nur Schein ist, ohne je zu begreifen, dass man dort der einzig echte Mensch ist. Besseren Sex gibt es in den künstlichen Welten sowieso. Die Wirklichkeit hat alle ihre Vorzüge verloren.

Alles stirbt und stagniert. Auch das Wissen wird verloren gehen. Die Datenträger werden leer, da niemand sie erneuert. Bücher altern und zerfallen zu Staub. Es werden keine neuen Geschichten mehr geschrieben.

„Dabei ist hier doch die Wirklichkeit“, murmelt Hermann zu sich selbst. Er hatte den Park erreicht, der allmählich wieder zum Urwald wird. Alles wuchert. Die Natur erobert sich ihr Territorium zurück und der Mensch merkt es nicht einmal. Wenigstens sind die Bäume echt. Alles hier ist echt. Hermann ist echt. Er tritt auf einen Baum zu und betastet seine raue Rinde. Ja, hier ist Leben. Dieser Baum existiert. Er ist nicht nur Geist, nicht nur Produktion unserer Sinne. Hier ist etwas, das ist. Kann man auch in den virtuellen Welten auf diese Art und Weise einen Baum anfassen? Hermann weiß es nicht und er will es auch nicht ausprobieren.

In manchen Stunden schon. Hin und wieder packt ihn das Verlangen. „Es ist wohl, wie sie alle sagen. Jene Welten sind wohl wirklich schöner“, denkt er dann und ist versucht es zu versuchen. Doch dann erfassen ihn wieder seine kalte Bitternis und sein Trotz. Solange hat er sich nicht gebeugt. Auch dieses Mal wird er noch stehen bleiben, er, der letzte Unbeugsame. Plötzlich packt ihn das Verlangen laut zu rufen.

„Ich bin noch hier. Ihr kriegt mich nicht“, schallt seine Stimme laut durch Park und Stadt. Doch es ist niemand da um sie zu hören. Hermann wartet noch ein paar Sekunden lang auf eine Antwort. Dann humpelt er traurig weiter. Nur die Vögel sprechen noch mit ihm. Sie singen das Requiem der Menschheit.

Hermann denkt:

„Es ist vorbei mit unseren großen Träumen. Vorbei mit der Raumfahrt und dem Wunsch, dass alles besser wird. Alle sind sie fort. Die Wissenschaftler, die Künstler, die Politiker, die Komiker, die Clowns und die Seiltänzer. Fort vielleicht nicht ganz. Sie sind noch da in den Träumen der Korridormenschen. In ihren Träumen, die auch Welten sind. Dort sind die einzigen Geschichten, die es noch gibt.“

Hermann bleibt stehen, da sein Bein höllisch schmerzt. Er atmet schwer. Es ist niemand da um ihm zu helfen.

Er wird wohl bald sterben. Seine Leiche wird liegen bleiben und langsam verrotten. Vielleicht werden ihn die Krähen fressen. Vielleicht die Ratten.


IV

Was, wenn es wirklich so ist? Diese Frage stellt sich Peter hin und wieder. Er hat die drei Geschichten vom Ende der Realität gelesen und sich dabei gefragt, ob es denn einen Weg gibt, um zu beweisen, dass unser Umfeld wirklich ist. Nach langer Überlegung stellt er fest: Diesen Weg gibt es nicht.

Peter kann nicht wissen, ob die Gegenstände um ihn real existieren, oder ob sie nur Projektion, Kreation, Strukturen seiner selbst sind. Vielleicht sitzt Peter ja in der wirklichen Welt tatsächlich mit Schläuchen in seinem Körper in einer kleinen Kammer unter vielen und träumt von der Welt, die er wahrnimmt. Man braucht für dieses Gedankenspiel im Grunde nicht einmal die Idee eines futuristischen Videospiels. Es geht viel einfacher. Im Traum wissen wir nicht, dass wir träumen. Dies wird uns erst beim Akt des Erwachens klar. Nach dem Aufwachen erscheint uns der Traum oft absurd und unsinnig, doch im Traum selbst ist alles anders. Der Träumende wundert sich nicht über seine Traumwelt. Sie erscheint ihm klar. Manchmal weiß man am Morgen gar nichts mehr von seinen Träumen, manchmal erinnert man sich noch an einzelne Aspekte, an kleine Bruchstücke eines großen Gebildes, welche selten genug erstaunlich komplex wirken. Wie kann man sicher sein, dass es nicht nur ein winziger Bestandteil der Gesamtheit einer Traumwelt ist, an die man sich erinnern kann? Vielleicht gibt es noch viel mehr. Peter träumt vielleicht jetzt eben, dass er diese Gedanken denkt. Sein Erzähler träumt vielleicht jetzt eben, dass er diese Worte schreibt. Sie, werter Leser, träumen vielleicht jetzt eben, dass Sie diese Worte lesen. Doch wer von uns dreien ist nun real? Bin ich es, sind Sie es, oder ist es gar Peter? Sind es zwei von uns dreien? Oder gar alle drei?

Ob er nun träumt oder Teil eines Spieles der Zukunft ist, Peter kann nicht wissen, ob es außer ihm noch andere denkende, ihrer selbst bewusste Wesen gibt. Genauso wenig können das Sie oder ich. Peter ist zum Schluss gekommen, dass sein Freund Paul vielleicht nur so programmiert sein könnte, dass er immer so tut, als wäre er wie Peter, als wäre er real. Doch ist er es? Akzeptieren wir, dass die Tatsache unseres Denkens voraussetzt, dass wir sind, dass wir existieren, so wissen wir noch lange nicht, dass auch die anderen derartig beschaffen sind. Vielleicht ist alles nur ein Spiel.

Peter mag Spiele, vor allem Gedankenspiele. Er ist gut im Spiel der Gedanken und er spielt: Zukunft, Kammern, Korridore, virtuelle Welten. Es gibt 13 Milliarden Welten, für jeden Menschen eine Welt. Nur eine einzige ist leer. Diese ist die Wirklichkeit. Niemand lebt mehr in der Realität. Unter all den Welten hat man sie vergessen. Man hat sie verlegt und findet nicht mehr hin.

Was, wenn das Leben des Träumenden länger währt als das Leben im Traum? Stirbt man mit seinen Träumen? Peter sieht keinen Grund dazu. Ein Traum endet und ein neuer Traum beginnt. Man wird wiedergeboren in einem neuen Leben, vergisst das alte und lebt weiter. Dabei muss man nicht als Kind beginnen. Der Anfang kann hinzugedichtet werden. Erst der Rest ist selbst gefühlt. Man bemerkt den Unterschied nicht. Wenn man sich an einen früheren Traum, an ein früheres Leben erinnern kann, dann ist das vielleicht nur ein Software-Fehler, denkt Peter und lächelt Paul an, dem er diese Gedanken eben erzählt. Paul blinzelt.

Einen weiteren Gedanken hat Peter noch parat: Wer sagt denn, dass die geträumte Zeit und die Zeit des Träumenden – das heißt, die im Spiel erzeugte Zeit, und die Zeit des Spielenden – in irgend einer Weise gleich schnell ablaufen müssen? Noch ein wenig mehr Technologie und die VRIII aus den Geschichten vermag es bald, dass man an einem Abend, in einer Stunde oder Minute, nicht einen, sondern tausend Träume träumen kann. Man kann in endlicher Zeit schier unendlich mal leben.

Paul hat genug von diesem Blödsinn und will Peter zum Schweigen bringen. Dieser fängt nach einer Runde Pool-Billard aber schon wieder damit an.

Es gebe zwei Möglichkeiten, meint er. Entweder existiert die Welt wirklich, oder sie ist erträumt. Beide Antworten sind schön. Sie werfen auch beide dieselbe Frage auf. Wieso sollte die Welt gerade so beschaffen sein, wie sie ist? Wieso sollte man gerade einen solchen Traum träumen, wieso einen solchen Traum träumen wollen?

Wenn man, wie in den Geschichten, wirklich wählen könnte, welche Leben man lebt und welche Träume man träumt, wer würde schon eine solche Welt und ein solches Leben wählen, wie jenes von Peter und Paul und den anderen Menschen in einer Welt wie der ihren?

Paul will es nicht wissen. Peter sagt es ihm trotzdem.

Angenommen, man fände in den Pausen zwischen seinen vielen Träumen, vielen Spielen, vielen Leben nur für kurze Zeit seine Erinnerung wieder und könnte über alles kurz reflektieren, so würde man nach vielen, vielen Träumen der Schönheit, der Abenteuer und der Erfüllung all seiner Wünsche allmählich überdrüssig werden. Man würde sich ein Leben wählen wollen, welches möglichst nahe an einer vielleicht einst existierenden Wirklichkeit läge. Darin würde man auch weniger daran zweifeln, dass alles wirklich ist und nicht erträumt. Man würde Peters Welt wählen.

Paul ist sich nicht so sicher, dass man das würde. Er würde lieber noch eine Runde Billard spielen. Peter fährt aber fort.

Vielleicht hat er selbst diese Wahl getroffen. Vielleicht wünschte er sich in dieser Welt zu leben. Vielleicht wünschte er sich einen Freund wie Paul zu haben, dem er all dies erzählen kann. Auch wenn dieser nicht real ist, er kann trotzdem sehr gut zuhören.

Der einzige Mensch, welcher Paul manchmal nicht real erscheint ist Peter. Peter ist zu undurchsichtig um noch als menschlich zu gelten. Er lebt ständig im Nebel. Paul hingegen ist ein Kind der Wirklichkeit. Wozu sind denn alle diese undurchsichtigen Gedankenspiele gut? Sie ändern nichts. Sie verbergen keine Antworten. Ist es nicht viel leichter, auch viel schöner, vor allem viel einfacher einfach anzunehmen, dass es eine Welt gibt? Sie muss ja nicht genauso beschaffen sein, wie wir sie wahrnehmen. Wir Menschen können sie auch verschieden wahrnehmen. Doch dass sie da ist, das will Paul gerne glauben. Außerdem sieht er eine nur schwer zu tolerierende Anmaßung darin, einfach anzunehmen, alles sei geistige Konstruktion. Wie kann der Mensch wirklich meinen, die Welt wäre nach seinen Vorstellungen gebaut? Maßt er sich wirklich an, unter all den vielen Kreaturen, die einzig wahre zu sein? Was ist mit den Tieren, mit potentiell existierendem Leben an anderen Orten als der Erde? Hat all das keine reale Existenz? Zählt nur der Mensch? Diese Vorstellung ist krankhaft, wenigstens aus der Sicht Pauls. Er glaubt auch nicht daran, dass eine geträumte oder von moderner Technologie vorgegaukelte Welt jemals der Wirklichkeit gleichkommen kann. Die Wirklichkeit ist unerreicht. Paul würde sie nie mit einem Traum verwechseln.

Er fragt Peter, ob dieser noch eine Runde Billard spielen will. Die Antwort ist ja. Sie spielen.

Als Paul aus Versehen die schwarze Kugel einlocht, blinzelt Peter und verschwindet. Alles verschwindet und Paul liegt hellwach in einem weichen Bett in einem weißen Zimmer. Er richtet sich auf und sieht vor sich das hübsche Gesicht einer älteren Krankenschwester. Seine Gedanken machen Pause und hoffen darauf, dass die Sinne wieder etwas wahrnehmen würden, das Sinn macht. Vergebens.

„Wie geht es Ihnen, Herr Hauser?“

Und plötzlich fällt ihm alles wieder ein. Er heißt Paul Hauser und arbeitet am Design neuer virtueller Welten. Im Alter von vierzig Jahren ist er plötzlich am Zet-Virus erkrankt, welcher von den Sternen kommt und damals noch unheilbar war. Paul hat nicht lange gezögert und sich wie viele gleich einfrieren lassen um dem Tod zu entgehen. Er hat sich schnell eine Welt geschrieben, in der er während seines Schlafes leben wollte und ist bald dorthin verschwunden. Und nun ist er zurückgekehrt.

„Haben Sie gut geschlafen, Herr Hauser?“

„Ich weiß nicht. Wie lange habe ich geschlafen?“

„Dreißig Jahre.“

„Und ich bin geheilt?“

„Ja, man hat vor Kurzem eine Methode entdeckt um den Zet zu heilen.“

Paul schweigt. Sein Traum lässt ihn nicht los. Peter lässt ihn nicht los. Irgendwie scheint ihm, dass der Paul im Traum nicht ganz der echte Paul gewesen ist. Peter ist auch ein Teil von ihm. Er überlegt. Hat er den Traum wirklich so geschrieben? Nein, natürlich nicht. Man schreibt nur die Ausgangssituation. Das Szenario entwickelt sich dann selbst weiter, beinahe wie das Leben. Es mutiert, evolviert, wuchert, geht irgendwo hin. Klar erinnern kann sich Paul ohnehin nur mehr an das Ende seines Traumes, an das Billardspiel. Die vielen Ereignisse davor, so wahr, so greifbar und wirklich, wie sie ihm im Augenblick des Erwachens noch erschienen sind, verschwinden nun schnell aus seinem Geist. Es ist ein Leben, das er eben im Begriff ist zu vergessen.

„Wenn Sie sich stark genug fühlen, können sie gleich aufstehen. Wir haben Ihre Muskeln wieder aufgebaut. Ihre Kleidung und Ihre Wertsachen finden Sie im Schrank dort drüben. Beim Portier können Sie sich abmelden“, sagt die Krankenschwester und verlässt ihn.

Wenig später läuft Paul durch die Straßen. In dreißig Jahren hat sich viel verändert. Neue Gebäude, neue Menschen. Irgendetwas scheint mit Peters Prognose, dass alle vor der Realität fliehen und in Träume flüchten würden, nicht zu stimmen. Ist denn nicht das Spiel längst so real geworden wie die Realität?

Paul ist immer noch sehr verwirrt. Ständig fallen ihm Dinge ein, die er nicht zuordnen kann. Gehören sie in diese oder in Peters Welt? Er würde gerne mit jemandem sprechen, der eine ähnliche Erfahrung gemacht hat. Am liebsten würde er mit Peter sprechen. Aber Peter hat es nie gegeben.

Seine Beine führen Paul zum Stadtpark, wo, wie an den meisten schönen Samstagen, viel los ist. Er erinnert sich an viele Stunden, die er hier vor seiner Erkrankung mit seiner Lebensgefährtin Anita verbracht hat. Ob Anita noch lebt? Der Park sieht gut aus. Ist das die Antwort? Werden die Menschen trotz der zunehmenden Zahl von Traumwelten dennoch klug genug sein um zu erkennen, dass die Wirklichkeit wichtiger ist, als alles andere? Paul hofft, dass es so ist. Doch der Peter in ihm weiß es besser.

Utopien

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