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II. Der Student in Karthago
ОглавлениеIm Herbst 370 war es endlich soweit: Patricius vermochte seinem Sohn eine Summe in die Hand zu drücken, mit der er fürs erste in Karthago leben und studieren konnte. Augustinus verabschiedete sich von Eltern und Geschwistern. Er ahnte nicht, dass es beim Vater ein Abschied für immer sein werde. Patricius starb noch im selben Jahr, und fortan war der Student darauf angewiesen, dass ihm die Mutter Geld nachschickte.1 Er wusste, wieviel sie sich dafür vom Mund absparen musste, und wenn seine Anhänglichkeit an sie so viel stärker war als das nüchterne Verhältnis zum Vater, lag hier einer der Gründe dafür. Eine Form des Dankes stattete er ihr durch die Denkmäler ab, die er ihr nicht nur in seinen „Bekenntnissen“, sondern auch in mehreren anderen Werken setzte.
Zum Glück half Romanianus mit, ein weitläufiger Verwandter der Familie. Er war einer von Thagastes Reichen, wenn nicht der Reichste. Sein Wohlstand war an mehreren luxuriösen Häusern abzulesen. Den üblichen Erwartungen, die eine städtische Bevölkerung an ihre begüterten Mitbürger stellte, entzog sich Romanianus nicht: Er veranstaltete Schauspiele mit Bärenkämpfen, die man in Thagaste noch nie gesehen hatte und für die ihn die Zuschauer mit Sprechchören in den Himmel hoben. Freigebig unterstützte er die Armen und erfüllte Patronatspflichten in der Heimat und darüber hinaus. Mit Ehrenstatuen in Thagaste und in den Nachbarstädten dankte man ihm seinen Einsatz.2
Romanianus besaß auch in Karthago ein Haus, das er Augustinus zur Verfügung stellte.3 Von der mehrtägigen Reise schwieg der angehende Student. Tat er es, weil er das selbstverständliche Fortbewegungsmittel sparsamer Leute benutzte, die eigenen Füße?4 Das dritte Buch der „Bekenntnisse“ eröffnete er mit der lapidaren Feststellung: „Ich kam nach Karthago“. Doch sollte er unterwegs nicht so manches Mal an das erste Buch der geliebten Aeneis gedacht und voller Vorfreude die Verse zitiert haben, mit denen der Flüchtling Aeneas das fremde im Aufbau befindliche Karthago bestaunte? Tore, Mauern und die Burg auf der Höhe fesselten den Blick des Fremden; auf den gepflasterten Straßen herrschte geschäftiges Treiben; Häfen und ein prächtiges Theater wurden angelegt; schließlich in einem Hain der Tempel der Stadtgöttin Juno, der alles in den Schatten stellte. Auch Augustinus’ wenig älterer Zeitgenosse, der anonyme Verfasser einer „Darstellung der gesamten Welt und ihrer Völker“, erinnerte an Aeneas und Vergil, als er im Kapitel über Africa Karthago beschrieb. Zusätzlich begeisterte er sich am geradlinigen Verlauf der Straßen und Stadtviertel, der sich von der üblichen verwinkelten Anlage orientalischer Städte abhob. Für den aus Africa stammenden Historiker Aurelius Victor, eine Generation vor Augustinus geboren, war Karthago schlicht „die Zierde der Erde“.5
Von der Stadt überwältigt wurde auch Augustinus. Nur ging der Ankömmling, der noch nie das Meer gesehen hatte, zunächst in den Hafen hinab, einen der größten im Römischen Reich, der, wie der Verfasser der genannten „Darstellung“ in blumiger Rede schwärmte, „den furchtlosen Schiffen einen heiteren Neptun zu bieten scheint, so voll der Sicherheit ist er“. Zu Haus hatte die „Landratte“ Augustinus, der mediterraneus, gelegentlich vor einem Krug Wasser gesessen und von der See geträumt.6 Jetzt beobachtete der Sechzehnjährige erregt, wohin sich die Matrosen aus aller Herren Länder beim Landgang zuerst wandten. Die zweite Hälfte des Satzes nach „ich kam nach Karthago“ ist kaum eindeutiger zu bestimmen: „und von allen Seiten umbrandetet mich ein Hexenkessel voller Liebeslaster.“7 Auch die Verwirrung und anfängliche Unsicherheit des Jungen aus dem biederen Thagaste, der zögerte, sich sofort in diesen Hexenkessel zu stürzen, kann man gut nachempfinden: „Noch liebte ich nicht, und doch liebte ich zu lieben, und in meiner inneren Sehnsucht hasste ich mich, der ich nicht genug Sehnsucht hatte.“ Wortspielerisch umkreiste er seinen Zustand, den er nicht lange danach beendete: „Lieben und geliebt zu werden war mir süßer, wenn ich auch den Körper eines liebenden Wesens genoss.“ Das geschah schwerlich bereits im Hafen.
Rasch gewann Augustinus einen Kreis von Freunden und Bekannten, wo sich allerdings ebenso rasch Konkurrenz und Eifersüchteleien einstellten: „Denn ich wurde geliebt, fiel unmerklich in die Fessel des Genusses und ließ mich freudig von drückenden Banden binden, sodass ich von eisernen glühenden Ruten der Eifersucht, der Verdächtigungen, der Ängste, des Zorns und des Streits gezüchtigt wurde.“ Einen Ausweg, „aus der Hölle der Lust“ fand er erst, nachdem er eine Frau getroffen hatte, mit der er fortan „sein Lager zu teilen pflegte“. Seine „umherschweifende, der Klugheit entbehrende Brunst hatte sie gefunden“. Er ging ein Konkubinat ein, eine formlose, aber anerkannte dauerhafte Verbindung von Mann und Frau, der zur vollgültigen Ehe nur die juristische Bestätigung fehlte. Selbst die Kirche drückte beim Konkubinat ein Auge zu, wenn es nicht neben einer bestehenden Ehe gepflegt wurde.8
Augustinus’ Lebensgefährtin wurde bald schwanger, und 372 gebar sie ihm einen Sohn. Glücklich war der junge Vater nicht. Ihm wäre lieber gewesen, wenn das Kind später in einer rechtmäßigen Ehe zur Welt gekommen wäre. Aber „wenn sich schon einmal unerwünschter Nachwuchs eingestellt hat, muss man ihn auch lieben“, bemerkte er Jahre danach und ließ offen, ob er seinen Sohn von Anfang an geliebt hatte oder nur nachträglich sein Versäumnis bedauerte. Zum Versäumnis würde sein Geständnis passen, er habe „an dem Knaben nichts gehabt außer der Sünde“.9 Daher war es wohl nicht er, sondern die Mutter, die vorschlug, ihm den unter Christen verbreiteten Namen Adeodatus („Von Gott geschenkt“) zu geben. Die Konkubine war offensichtlich Christin. Überhaupt war Augustinus, wenn es um seine häuslichen Verhältnissen ging, recht schweigsam. In den „Bekenntnissen“ erwähnte er seine Konkubine ein erstes Mal eher nebenbei an späterer Stelle, und ein zweites Mal dann wieder, als er ein junges Mädchen aus guter Familie heiraten wollte und sie ihm den Laufpass gab.10 Ihren Namen zu nennen hielt er hier wie dort nicht für nötig. Immerhin betonte er, dass er ihr fünfzehn Jahre lang die Treue gehalten und sich nur schweren Herzens von ihr getrennt habe. Wie so mancher hätte er seine Konkubine nach einiger Zeit zur Gemahlin machen können. Auch Adeodatus hätte davon profitiert: Er wäre aus einem „natürlichen Sohn“ ein „rechtmäßiger Sohn“ geworden. Schon vor Jahrzehnten hatte Kaiser Konstantin, wahrscheinlich unter christlichem Einfluss und in Erinnerung an seine eigene Herkunft, ein Gesetz erlassen, das Kinder aus einem Konkubinat durch die nachfolgende Ehe ihrer Eltern legitimierte.11 Doch schreckte Augustinus offensichtlich wegen des großen Standesunterschiedes zu seiner Konkubine davor zurück, das Gesetz zu nutzen. Auch den Namen des gemeinsamen Sohnes teilte er dem Leser der „Bekenntnisse“ erst mit, als jener sich zusammen mit seinem Vater auf die Taufe vorbereitete.12
Gesprächiger wurde Augustinus bei seiner anderen Leidenschaft, die er aus Thagaste mitgebracht hatte, dem Theater. Um sie zu befriedigen, hätte er keine bessere Stadt als Karthago finden können. Auch in der oben genannten „Darstellung der gesamten Welt und der Völker“ hieß es von den Karthagern, dass sie auf Schauspiele besonders versessen waren.13 Die beliebteste Sparte waren Pantomimen, in denen die alten Mythen, die klassischen Tragödien sowie moderne Stoffe als Tanztheater aufgeführt wurden. Ein Herold kündigte das jeweilige Thema an, und Musik und Chorgesang begleiteten dessen Darstellung. Hoch und Niedrig begeisterten sich für die Stücke, und die Behörden wussten, dass man den Bürgern dieses und andere Vergnügen nicht nehmen durfte, ohne heftigsten Widerstand herauszufordern. Bald nach Augustinus’ Ankunft, im Jahr 371, erließ Kaiser Valentinian I. daher ein Gesetz, das dem in der Hauptstadt Karthago residierenden Statthalter der Provinz Africa proconsularis auftrug, dafür zu sorgen, dass die Töchter von Schauspielern, sofern sie geeignet waren, den Beruf ihrer Eltern ergriffen. Der spätantike berufliche Erbzwang galt auch für sie. Fünf Jahre später befahl der Kaiser einem Nachfolger – der in der Provinz Africa stets den höchsten Statthaltertitel Proconsul führte – auch durch Sportwettkämpfe für die Zufriedenheit des Volkes zu sorgen. Ausdrücklich erteilte er die nicht ungefährliche Erlaubnis, dass sich reiche Angehörige der Oberschicht durch die Finanzierung von Sport- und Theaterveranstaltungen bei ihrem Mitbürgern beliebt machen durften. In Karthago gab es später wie in den Großstädten Rom und Mailand einen eigenen tribunus voluptatum, einen Beamten, der für die Organisation und Durchführung der Genüsse von Bühne und Arena verantwortlich war.14 Wenn der Bischof Augustinus keine Gelegenheit verstreichen ließ, um Schauspiele, Schauspieler und Publikum zu verteufeln, schöpfte er aus seiner reichen persönlichen Erfahrung.15
Zu den wiederkehrenden Höhepunkten im Theater zählten realistische sexuelle Szenen. Sie machen den Eingangssatz verständlich, mit dem Augustinus nach seinen ersten erotischen Erfahrungen in Karthago zu seiner Theaterleidenschaft überging: „Die Schauspiele im Theater, die voll von Bildern meiner Nöte und von Zündstoff für mein Feuer waren, rissen mich fort.“ Augustinus war nicht der einzige, dem es so ging. Schon 250 Jahre zuvor hatte der Satiriker Juvenal in drastischen Versen karikiert, wie die römischen Damen im Zuschauerraum in Wallung gerieten, wenn ein Pantomime mit lasziver Gestik eine Juppitermythe tanzte.16
Das Ansehen der gewöhnlichen Schauspieler war nicht sehr hoch. Doch die Besten hatten ihre begeisterten Anhänger, und ihre Konkurrenz auf der Bühne setzte sich im fanatischen Publikum fort. Auch Augustinus fand bald seine Lieblinge, die ihn mehr als einmal zu Tränen rührten, und er genoss das Gemeinschaftsgefühl, das ihn mit gleichgesinnten Theaterbesuchern verband.17 Aber schließlich war er nicht zum Vergnügen nach Karthago gekommen. Die „ehrbaren Studien“ (studia honesta) riefen, und er stürzte sich mit solchem Eifer auf sie, dass er in seiner Schule bald zur Spitze gehörte. Durfte man ihm verübeln, wenn er sich nicht wenig darauf einbildete und die Mitstudenten seine Überlegenheit spüren ließ? Es gab eben auch in Thagaste kluge Leute! Außenseiter wollte er allerdings nicht sein. Daher beteiligte er sich – bisweilen mit schlechtem Gewissen – bei den Streichen seiner Kommilitonen, mit denen sie harmlose Gemüter erschreckten und vor allem die Frischlinge unter den Studenten drangsalierten. Der Primus aus Thagaste gewann sogar einige von ihnen zu seinen Freunden. „Revoluzzer“ (eversores) nannten die Karthager diese Krawallmacher und sprachen von „Revolution“ (eversio), weil sie in ihrem Übermut oft so weit gingen, dass sie mit dem Gesetz in Konflikt gerieten.18
Vom Revoluzzer Augustinus hätte man nicht vermutet, dass er in Karthago an kirchlichen Feiertagen sogar den Gottesdienst besuchte. Von christlichen Bräuchen zu Hause hatte er bisher nie gesprochen. „Noch nicht gläubig“ nannte er sich einmal und meinte damit nicht allein, dem konkreten christlichen Begriff fidelis entsprechend, er sei noch nicht getauft gewesen.19 Dazu kam vielmehr, dass sein Glaube an den Einen christlichen Gott „bald stärker, bald schwächer“ war. In Karthago zog ihn daher auch nicht so sehr frommes Bedürfnis in die Kirche. Er wollte vielmehr „unter lüsternen Gedanken darauf ausgehen, sich Früchte des Todes zu verschaffen“ sprich: sich in der Kirche nach Mädchen umsehen und Kontakte knüpfen. Er war nicht der einzige. In einer Predigt bekannte der Bischof Augustinus reumütig, als Student in Karthago habe er an nächtlichen Gottesdiensten teilgenommen, bei denen „Frauen den Anzüglichkeiten der Männer ausgesetzt waren und wo bisweilen ein günstiger Augenblick sogar die Keuschheit auf die Probe stellte“.20
Mit Namen nannte Augustinus keinen seiner karthagischen Lehrer. Seiner Bemerkung: „ich studierte die Bücher der Beredsamkeit, in der ich mich auszeichnen wollte“, darf man entnehmen, dass er seinem Selbststudium die größere Bedeutung zumaß. Selbst an schwierige Texte wie Aristoteles’ „Kategorien“ getraute er sich, von denen man in seiner Schule nicht viel hielt. Nach späteren Zitaten zu schließen gehörten zu den Lehrbüchern Ciceros Klassiker „Der Redner“, „Über den Redner“ und „Über die Themenfindung“. Dazu kamen als Muster dessen Reden, vor allem die „Gegen Verres“ und „Gegen Catilina“. Besonders fleißige Studenten wie Augustinus’ Jugendfreund Simplicius lernten nicht nur Vergilverse, sondern auch Ciceroreden auswending. Quintilians umfassendes Handbuch „Anleitung zur Redekunst“ wird Augustinus ebenfalls durchgearbeitet haben, obwohl er es später nicht erwähnte.21
Seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert gab es einen Streit zwischen Philosophie und Rhetorik, welches die nützlichere Wissenschaft und die bessere Pädagogin sei. Ein Kompromiss lautete, der Redner müsse auch Philosoph sein, und Philosophie ohne den Schmuck der Rede sei ungenießbar und bewirke nichts. In Rom war Cicero für die Synthese eingetreten, wie Quintilian bestätigte.22 Der höhere Unterricht in Karthago folgte Cicero. Deswegen rühmte sich Apuleius von Madauros in seiner Lobrede auf die Stadt, dass er nicht bei der Rhetorik stehen geblieben, sondern nach Athen gegangen sei und dort nach dem Studium der Dichtkunst, Geometrie, Musik und Dialektik „schließlich noch aus dem unausschöpflichen Gefäß mit dem Göttertrank der Philosophie getrunken habe“.23
Auch in Augustinus’ Schule kam im Verlauf des üblichen rhetorischen Studiengangs Philosophie als weiteres Fach hinzu. Nach seiner früheren Abneigung gegen das Griechische war er froh, dass sie ihm weniger durch Platon und Aristoteles als durch Cicero vermittelt wurde. Allein schon „dessen Sprachkunst, die fast alle bewundern“, erleichterte dem Sprachfreund den Zugang zu philosophischen Gedankengängen, den ihm mühseliges Übersetzen aus der ungeliebten Fremdsprache vergällt hätte. Selbst für die flüchtige Bekanntschaft mit den Schriften des Neuplatonikers Plotin bediente er sich der Übersetzung seines africanischen Landsmannes Marius Victorinus.24
Im dritten Studienjahr stand Ciceros Schrift „Hortensius“ auf dem Stundenplan, und als sich Augustinus in die Diskussion der vier ehemaligen Konsuln Hortensius, Lucullus, Catulus und Cicero vertiefte, fing er plötzlich Feuer: „Wie brannte ich“! Es erging ihm wie in der Grammatikschule, als er sich für Vergils Aeneis erwärmte. Nur sah er, der Neunzehnjährige, sich selbst jetzt viel unmittelbarer betroffen. Handelte Cicero doch vom Glück des Menschen und wie es zu erreichen sei. Nicht die Rhetorik und die Möglichkeit, die sie eröffnete, sondern die Philosophie, die „Liebe zur Weisheit“, war der Schlüssel zum Glück: „Auf einmal wurde mir alle eitle Hoffnung schal, und mit einer unglaublichen Inbrunst des Herzens ersehnte ich die unsterbliche Wahrheit.“ Aber Cicero dämpfte auch seine Erwartung: „Glücklich ist schon, wer die Wahrheit sucht, selbst wenn er sie nicht finden kann.“ Augustinus war entschlossen, sich auf die Suche zu machen. „Denn jenes Buch änderte mein Sinnen.“25
Gegen Ende des „Hortensius“ kam Cicero auf den Tod derer zu sprechen, „die in der Philosophie leben“. Der Tod sei entweder ein angenehmes Verlöschen oder für diejenigen, die nach der Weisheit geforscht und sich von Lastern und Irrtümern freigehalten haben, ein Aufstieg ihrer unsterblichen göttlichen Seele in den Himmel. Beschwörend schloss er: „Damit daher das Gespräch ein Ende hat, gleich ob wir ruhig verlöschen wollen, nachdem wir in diesen geistigen Beschäftigungen gelebt haben, oder ob wir aus diesem Haus ohne Verzug in ein anderes, weit besseres auswandern wollen: auf die Studien müssen wir all unsere Mühe und Sorge verwenden.“26 Diesen eindrucksvollen Schlussteil zitierte Augustinus mehr als 40 Jahre später in seinem großen Werk „Über die Dreifaltigkeit“. In dessen vierzehntem Buch bildete er ebenfalls den Schluss.27
Für den Aufstieg der unsterblichen Seele hatte sich Cicero auf „die alten Philosophen und zwar die größten und bei weitem berühmtesten“ berufen. War deren Auffassung so weit weg vom christlichen Glauben an das Schicksal der Guten nach dem Tod? Die Parallele weckte Augustinus’ Aufmerksamkeit, und er begann, die Heilige Schrift zu lesen.28 Doch bald legte er sie angewidert aus der Hand. Es waren nicht einzelne Aussagen, die ihn abstießen, etwa die unterschiedlichen Angaben der Evangelien zu Jesu Stammbaum oder der Vorbehalt gegen die pagane Weisheit, den Paulus zu Beginn des Ersten Korintherbriefes äußerte. Der Bibel insgesamt fehlte in seinen Augen die Würde, die Ciceros Werk auszeichnete. „Würde“ als rhetorischer Terminus meinte das ausgewogene Verhältnis von hohen Gedanken und hoher Sprache. Quintilian widmete ihm einen längeren Abschnitt. Die Bibel aber war in dieser doppelten Hinsicht etwas für Kleine Leute. Eines Studenten der Rhetorik im dritten Jahr war sie „unwürdig“.29
Es war die enttäuschende Lektüre der Heiligen Schrift, die Augustinus wenig später in die Arme der Manichäer trieb. Kritik an der Bibel war eines ihrer Lockmittel, mit dem sie unsicher gewordene Christen zunächst umgarnten. Dann schoben sie die Behauptung nach, Katholiken müssten ihren Verstand einem blinden Glauben opfern. Schließlich die Versicherung, Manichäer beschwatzten niemanden, sondern erläuterten immer die Wahrheit ihrer Konfession. Sie befreiten die Menschen von jeglichem Irrtum und führten sie zu Gott.30 Wie verführerisch diese Taktik war, musste Augustinus später selbst zugeben. Entschuldigend rechtfertigte er sich, warum er sich mit seinen neunzehn Jahren in den manichäischen „Teufelsschlingen“ verfing und ihren Werbern auf den Leim ging wie ein Vogel auf die Leimrute, die ein Vogelfänger neben einer Pfütze auslegt: „Wer würde nicht von solchen Versprechen geködert werden, zumal ein jugendlicher Geist, den es nach Wahrheit verlangte und der auch noch nach den Disputationen mit einigen gelehrten Männern in seiner Schule stolz und redegewandt war?“31
Ein Katholik, der sich auf die Manichäer einließ, musste auch nicht gleich ein schlechtes Gewissen bekommen und alle Brücken zu seiner und seiner Eltern Religion abbrechen. Hörte er sie doch in der ihm vertrauten Weise von der Trinität sprechen, von Gottvater, Jesus Christus und dem Tröster, dem Heiligen Geist. Wie ihr Gründer Mani, der sich nach dem Vorbild des Apostels Paulus stolz „der Apostel Jesu Christi“ nannte, sparten seine Jünger nicht mit Zitaten aus dem Neuen Testament, vornehmlich aus den Paulusbriefen. Offene Ohren fanden sie ferner bei kritischen Geistern, so oft sie das Alte Testament mit seinen „Altweibergeschichten“ verwarfen, wozu auf beiden Seiten ein Stück Antijudaismus hinzukommen mochte. Hatten sie daher nicht vielleicht Recht, wenn sie den Katholiken, von denen sie als Häretiker beschimpft wurden, entgegenhielten, Häretiker seien ja wohl sie? Die Manichäer seien vielmehr die besseren Christen.32
Schon im kleinen Thagaste, wo es eine manichäische Gemeinde gab, konnte nicht ausbleiben, dass Augustinus gelegentlich ihren Mitgliedern begegnete. Sie fielen allein schon durch ihren strengen Lebenswandel auf, zu dem ein oder zwei Fasttage in der Woche und ein Fastenmonat im Jahr gehörten. Vielleicht hielt der halbwüchsige Christ, der ein loses Mundwerk hatte, seine Zunge nicht im Zaum und spottete vor seinen Kameraden über die sonderbaren Heiligen. In Karthago, ihrem ältesten Sitz in den africanischen Provinzen, dürfte ihre Gemeinschaft im Lauf der vergangenen Jahrzehnte eine beträchtliche Größe erreicht haben, zumal ihre Anhänger von Anfang an eifrig missionierten.33 Mit ihnen Verbindung aufzunehmen, um Näheres über ihre Religion zu erfahren, war also nicht schwer.
Für den Neunzehnjährigen, dem seine Professoren gerade hervorragende Noten gegeben hatten und der danach mit stolzgeschwellter Brust durch die Stadt lief, mochte bei seinen ersten Begegnungen mit Manichäern zusätzlich der Reiz des Verbotenen hinzukommen: Unter Diokletian waren Anhänger Manis hingerichtet und ihre Schriften verbrannt worden. Ausrotten ließ sich die neue Religion aus dem Osten nicht. Aber Konstantin und die folgenden Kaiser hatten ein wachsames Auge auf sie.34 Gesetzliche Maßnahmen ergriff erst wieder Valentinian. Gerade ein Jahr alt war sein Versammlungsverbot: „Wo auch immer sich eine Zusammenkunft oder eine Gruppe von Manichäern findet, sollen ihre Lehrer, die sie zusammenrufen, mit schwerer Strafe belegt werden, weil sie ehrlos sind und sich in schimpflicher Weise von der menschlichen Gesellschaft absondern, und ihre Häuser und Gebäude, in denen die gottlose Lehre unterrichtet wird, sollen unerbittlich zugunsten der Staatskasse eingezogen werden.“ Das Gesetz vom 2. März 372 war an den Stadtpräfekten von Rom gerichtet.35 Doch ein für die alte Reichshauptstadt geltendes Verbot war Präzedenzfall für das gesamte Reichsgebiet, und „wo auch immer“ ein Magistrat beschloss, gegen die Manichäer vorzugehen, konnte er sich auf den kaiserlichen Willen berufen. Der Statthalter der Africa proconsularis tat es, wie Augustinus gelegentlich bemerkte.36 Valentinians Vorwurf „Absonderung von der menschlichen Gesellschaft“ entsprach der Anklage „Hass auf das Menschengeschlecht“, die unter Kaiser Nero gegen die Christen erhoben wurde und sie als Feinde Roms kriminalisierte. Schon Diokletian hatte die Manichäer mit scharfen Worten als Reichsfeinde gebrandmarkt.37
Kaiser Valentinian war Katholik, bemühte sich aber gegenüber anderen Religionen um Toleranz. Er hoffte, dass sich die kirchlich organisierten manichäischen Gemeinden auflösten, wenn er ihrem Klerus Strafen androhte, die das vorliegende Gesetzesexzerpt nicht näher bezeichnete. Es war ein Trugschluss, wie nicht nur die schärferen Bestimmungen seiner Nachfolger zeigten, sondern auch die erbitterten Kämpfe, die später der ‚abtrünnige‘ Augustinus jahrelang gegen seine ehemaligen Glaubensgenossen führte.38
Zunächst aber war der neunzehnjährige Wahrheitssucher Feuer und Flamme für die Religion, deren Stifter verkündet hatte: Ich bin aus Gott, dem Vater der Wahrheit, geboren, mir ist die ewige Wahrheit geoffenbart worden, und ich führe diejenigen mit mir empor, die sich gemäß dieser Wahrheit auf den Weg nach oben machen. Cicero hatte im „Hortensius“ empfohlen, man müsse die alten Philosophen lesen, um zur Wahrheit zu gelangen und der Seele nach dem Tod den Weg in den Himmel zu bereiten. Dagegen waren die Manichäer keine einsamen Geisteswissenschaftler, die im stillen Kämmerlein vergilbte Handschriften studierten und nach ihrem Seelenheil suchten. Sie waren eine lebendige Gemeinschaft von Gleichgesinnten, und sie folgten einem jungen göttlichen Führer, der in der mittleren Kaiserzeit auf die Erde herabgekommen und vor ziemlich genau 100 Jahren für seine Wahrheit gestorben war. Diese Wahrheit hatte er zuvor seinen Jüngern mitgeteilt und ihnen versprochen, sie als seine „Mitreisenden“ nach oben zu geleiten. Sein Märtyrertod war dafür das Unterpfand.39
Sich neben Cicero diesem Führer anzuvertrauen war für Augustinus der folgerichtige Schritt. Wenn er noch Vorbehalte hatte: Erfahrene Manichäer wischten sie mit einem Wortschwall hinweg, aus dem ihm immer wieder „Wahrheit, Wahrheit“ entgegentönte. Er wurde „Hörer“, der unterste Grad im hierarchischen Aufbau einer manichäischen Gemeinde. Die Eingangsstufe hatte den Vorteil, dass sie mit seinem Konkubinat vereinbar war, ihn nicht von einer künftigen Berufslaufbahn ausschloss und ihm vor allem nicht untersagte, seiner Theaterleidenschaft zu frönen.40
Bald beteiligte sich der Neuling eifrig an einer der wichtigsten Aufgaben der Hörer. Sie mussten diejenigen versorgen, die die zweite Stufe erreicht hatten, die „Auserwählten“ oder „Heiligen“. Denn wer so weit aufgestiegen war, durfte kein Fleisch mehr essen und hatte sich auch anderer Fleischeslust zu enthalten. Auf Wein musste er ebenso verzichten wie auf das Baden. Ihm war sogar verboten, Früchte und Gemüse zu ernten. Erzeugnisse der Erde auf diese Weise zu „quälen“ war eine Sünde, die nur bei den Hörern, nicht bei den Auserwählten verzeihlich war. Deren Erbrochenes galt sogar als heilige Speise.41
Wenn Augustinus im Gottesdienst in den Hymnengesang seiner neuen Glaubensbrüder einstimmte, war er glücklich, und alle Zweifel verschwanden. War deren Vorstellung von einem Gott, der reiner Geist ist, nicht einleuchtender als die anthropomorphe Gottesvorstellung des Alten Testaments? Und gab der manichäische Dualismus, der kosmische Gegensatz zwischen einem Reich des Lichts und einem Reich der Finsternis, nicht eine überzeugende Antwort auf die den Wahrheitssucher umtreibende Frage: Woher kommt das Böse in der Welt?42 Der enthusiastische Novize wurde an seiner neuen Konfession auch nicht irre, wenn er von Heiligen erfuhr, die sich an Gebratenem und Gesottenem gütlich taten, oder wenn er einen ertappte, der mit einer Frau verkehrte.43 Zogen doch die Manichäer aus ihrem Dualismus eine auch für ihn selbst höchst erfreuliche Folgerung: „Nicht wir sind es, die sündigen, sondern irgend eine andere Natur in uns.“44
An seinem Glück und seiner Erkenntnis wollte Augustinus auch seine Freunde teilhaben lassen, deren Anführer er inzwischen wie in Thagaste geworden war. Mit Begeisterung begann er, unter ihnen für seine neue Religion zu werben und sie gekonnt gegen alle Einwände zu verteidigen. Einige wurden wenig später Hörer und halfen ihm, Melonen und Gurken für die Auserwählten zu besorgen. Sie mussten geschickt vorgehen, damit sie die Empfänger nicht gefährdeten. Denn die Behörden waren auf der Hut, um Kaiser Valentinians Verbot durchzusetzen. Gewiss hatte Augustinus seinen Spaß, wenn er den Aufpassern ein Schnippchen schlug. Auch schmeichelte es seinem Selbstbewusstsein, mit strengen, aber einfachen Katholiken über den Manichäismus zu diskutieren und sie in die Ecke zu drängen. Es waren billige Erfolge. Mehr gefordert wurde er von seinem Freund Honoratus, der kein Christ war, aber wie er die Wahrheit suchte. Schließlich vermochte er den Zögernden zu überzeugen, dass Mani die Wahrheit bot. Augustinus leistete gute Arbeit. Denn als er 391 oder 392 an Honoratus seine Schrift „Über den Nutzen des Glaubens“ richtete, um den Schaden, den er angerichtet hatte, wieder gut zu machen, ließ sich der Freund nicht mehr so rasch umstimmen.45
Das spätantike Karthago