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IV. Der Professor in Karthago
ОглавлениеAuch in Karthago sammelte Augustinus bald einen Kreis begabter Schüler um sich. Wahrscheinlich dauerte es einige Zeit, bis ihm die Stadt eine feste Anstellung gab, ihm einen eigenen Hörsaal anwies und er sich „ordentlicher Professor für Rhetorik“ nennen konnte.1 Um sich bekannt zu machen, den Schülerkreis zu vergrößern und sein Einkommen durch ihr Schulgeld zu verbessern, nahm er an Redner- und Dichterwettbewerben teil und verfasste Stücke für die Bühnen der theaterbesessenen Karthager.2 Peithó, die Göttin der Redekunst, hatte ihn unzweifelhaft geküsst. Aber ob das auch Thalía getan hatte, die Muse der dramatischen Dichtung? Der Möchtegerndramatiker war sich nicht sicher. Einem geldgierigen Wahrsager, der sich erbötig machte, aus den Innereien von Opfertieren seinen Sieg vorherzusagen, gab er allerdings einen Korb. Als überzeugter Manichäer lehnte er blutige Opfer ab. Leichtgläubiger war er, als er eines Tages zu Hause den Löffel nicht mehr finden konnte, den er verlegt hatte, und deswegen einen Hellseher aufsuchte.3 Eifrig fragte er auch bei Astrologen nach und ließ sich sein Horoskop stellen.4 Das war vor allem zu der Zeit, als die Stadt Karthago einen Bühnenwettbewerb ausgeschrieben hatte, zu dem er ein Drama einreichte. Er gewann tatsächlich den ersten Preis, und Vindicianus, der Statthalter der Africa proconsularis, krönte ihn mit einem Kranz.5
Vindicianus hielt danach Verbindung mit ihm, was Augustinus sehr recht war. Nur dessen Hang zur Astrologie war dem schon betagten Statthalter ein Dorn im Auge. In seiner Jugend hatte er selbst versucht, mit Wahrsagerei sein Geld zu verdienen. Dann war er Arzt geworden, hatte Hippokrates aus dem Griechischen übersetzt und bedeutende medizinische Werke verfasst. Von den Schwindeleien der Astrologen wollte er als Naturwissenschaftler nichts mehr wissen. Daher drängte es den Proconsul, auch den Jüngeren davon abzubringen, und eines Tages verwickelte er ihn in ein Gespräch über die Möglichkeit, die Zukunft zu erforschen. Sein Gegenüber war um Argumente nicht verlegen und blieb bei seinem Aberglauben, gegen den er später einmal mit verbissenem Eifer vorgehen sollte. An Vindicianus’ besorgte Mahnung erinnerte er sich da noch gut: „Du hast doch die Redekunst, mit der du bei den Leuten deinen Lebensunterhalt verdienst, beschäftigst dich also mit diesem Trug aus freien Stücken und nicht aus Geldnot.“ Inzwischen also war das Auditorium des Rhetorikprofessors Augustinus so gut besucht, hatte er so reiche Schüler, dass er sich mit der Astrologie nicht mehr hätte abgeben müssen, wie das manche Sterngucker taten, um sich ein Zubrot zu verdienen.6 Schützenhilfe erhielt der betagte Proconsul Vindicianus von Augustinus’ jungem Freund Nebridius, der ebenfalls versuchte, ihm „die trügerischen Weissagungen und gottlosen Spinnereien der Astrologen“ auszureden. Immerhin fegte Nebridius nicht gleich alle Einwände des hartnäckig Widersprechenden vom Tisch, während der Ältere heftig gegen ihn losfuhr.7
Augustinus unterrichtet in Karthago Rhetorik.
Nebridius, „ein äußerst guter und überlegter junger Mann“, stammte aus einer reichen Familie, die im Umland von Karthago große Güter besaß. Wie seine Eltern war er kein Christ. Die Herkunft aus der paganen Oberschicht und seine „erstaunliche Geisteskraft“ waren der Grund, warum er sich vom Manichäismus fernhielt. Augustinus wandte zunächst vergeblich seine Redekunst auf, um ihn als Glaubensbruder zu gewinnen. Dem engen Verhältnis der fast Gleichaltrigen tat das keinen Abbruch. Nebridius war der Ersatz für den in Thagaste verstorbenen Freund.8
Der Dritte im Bunde wurde Alypius. Nachdem er beim Grammatiklehrer Augustinus in Thagaste zur Schule gegangen war, schickte ihn sein Vater zum Rhetorikunterricht nach Karthago. Er verbot ihm aber, weiter bei seinem bisherigen Freund und Lehrer zu studieren, mit dem er sich überworfen hatte. Über den Anlass schwieg Augustinus. Anfangs hielt sich Alypius an das väterliche Machtwort. Der Gehorsam fiel ihm auch deswegen leicht, weil ihn, wie zuvor den jungen Augustinus, „der Sittenstrudel der Karthager“ in Bann geschlagen hatte. Wagenrennen im Zirkus wurden zur Droge für ihn. Augustinus erfuhr von seiner Leidenschaft und machte sich Sorge, dass sie den Freund, der zu so großen Hoffnungen berechtigte, ins Verderben ziehen werde. Eingreifen wollte er nicht, da er vermutete, auch Alypius habe mit ihm gebrochen. Doch den ließ die Erinnerung, was ihm der Ältere gewesen war, nicht los, und er begann, gelegentlich seine Vorlesungen zu besuchen. Eines Tages kam er wieder in seinen Hörsaal. Augustinus, der den Eintretenden nicht bemerkt hatte, erläuterte gerade einen Text durch den Vergleich mit Zirkusspielen. Er konnte sich nicht verkneifen, eine bissige Bemerkung über Leute fallen zu lassen, die diesen Unsinn genossen. Betroffen glaubte Alypius, der Professor habe mit seinem Tadel auf niemand anderen als auf ihn gezielt. Er ging in sich, und keiner sah ihn mehr im Zirkus. Danach wurde er ordentlicher Student bei Augustinus, nachdem auch der Vater ein Versöhnungsangebot angenommen und seine Zustimmung gegeben hatte.9
Alypius und Nebridius standen in Karthago Augustinus’ Herzen am nächsten. Aber um die schmerzende Erinnerung an den toten Freund in Thagaste zu verdrängen, baute er unter den jüngeren Manichäern der Stadt einen Kreis von neuen Freunden auf. Der manichäische Glaube – „die ungeheuerliche Fabel und lange Lüge“, wie er später tadelte – war eher ein loser Kitt für sie, die wohl alle „Hörer“ waren. Ein anderes Band war für Augustinus wichtiger: „Zusammen reden und lachen, wohlwollend aufeinander eingehen, bald gemeinsam leichte Literatur lesen, bald Unsinn treiben, bald Anerkennung finden, auch einmal ohne Gehässigkeit verschiedener Meinung sein – so wie man das mit sich selbst ist – und gerade durch die höchst seltenen Differenzen die sehr viel zahlreicheren Übereinstimmungen würzen, sich gegenseitig belehren und voneinander lernen, nach den Abwesenden schmerzliches Verlangen tragen und sie, wenn sie wieder kommen, freudig empfangen und mit diesen und ähnlichen Zeichen, die aus dem Herzen von Liebenden und Wiederliebenden kommen und am Mienenspiel, der Sprache, den Augen und tausend überaus liebenswürdigen Gesten, gleichsam den Zündstoffen, ablesbar sind, die Gemüter zusammenschweißen und aus einer Mehrzahl eine Einheit machen.“10
Der Bandwurmsatz verriet seine innere Bewegung bei dem Thema. Noch etwas länger wurde der Satz, in dem er später den Versuch schilderte, in Mailand eine Lebensgemeinschaft von Freunden zu gründen.11 Wie die Freundschaftsbezeugungen aus vollem Herzen strömten, so in der Erinnerung die Satzglieder, ihr Spiegel, während er sonst in den „Bekenntnissen“ zu kürzeren Perioden neigte.12 Was mit der jugendlichen Clique in Thagaste begonnen hatte, setzte sich ein Leben lang fort.13 Die Professur, der wissenschaftliche Ehrgeiz und erst recht die Konkubine schienen hinter dem Zusammensein mit den Freunden zurückzutreten. In ihrer Gesellschaft erholte sich Augustinus, der nie erwähnte, ob er in den heißen Sommermonaten, in denen er nicht unterrichten musste, die Stadt verließ und Ferien auf dem Land machte.
Manches Detail im enthusiastischen Porträt der Gruppe hat vermuten lassen, Augustinus habe zu einzelnen Mitgliedern eine mehr als warmherzige Beziehung unterhalten, er sei also bisexuell veranlagt gewesen. Zur Vorsicht rät jedoch die ähnliche Tonlage beim Versuch, in Mailand einen Freundeskreis aufzubauen, wo nichts darauf deutet, dass Augustinus irgendwelche homosexuellen Absichten gehabt hat. Unter den karthagischen Freunden mag der eine oder andere verheiratet gewesen sein, mancher auch wie Augustinus mit einer Konkubine zusammengelebt haben; die Mehrzahl wird ihr Junggesellentum in der üblichen Weise genossen haben. Dem jungen Alypius, den Augustinus zum Manichäismus bekehrte, scheinen „Brüder“ Avancen gemacht zu haben. Erst nachträglich habe er gemerkt, dass hinter ihrer angeblichen Enthaltsamkeit die Verführung lauerte, die sich unbedarfter Seelen bemächtigte.14 Um den Schein der auch bei den „Hörern“ erwünschten Askese nicht zu gefährden, belehrten erfahrene Glaubensbrüder die Jüngeren über die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage der Frau.15
Keinerlei Hinweise bietet Augustinus’ Schilderung auf die wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Freunde. Doch eine gewisse soziale Homogenität trug zu ihrem Zusammenhalt bei. Sie werden also wie Augustinus selbst aus der mittleren oder geringer begüterten Schicht der städtischen Kurialen gekommen sein und bisher schon eine rhetorische Ausbildung genossen haben. Oder sie waren dabei, sie unter ihm zu absolvieren. Eher wenige dürften wie Nebridius oder wie sein Gönner Romanianus, der später in Mailand als Mitglied vorgesehen war, sehr reich gewesen sein.
In den vertrauten Gesprächen, die Augustinus mit den Busenfreunden Alypius und Nebridius führte, kam die Rede immer wieder auf den Manichäismus. Gegen dessen Dualismus argumentierte Nebridius, entweder sei das eine Prinzip, der gute Gott, allmächtig, dann brauche er nicht gegen das andere Prinzip, das Böse, zu kämpfen, da ihm das nicht schaden könne. Sei das jedoch der Fall, gebe es keinen allmächtigen, unverletzlichen Gott. Augustinus vermochte das Dilemma nicht zu widerlegen. Aber es machte ihn im Augenblick noch nicht irre.16 Auch Alypius wurde davon nicht abgehalten, sich zur Religion des älteren Freundes zu bekehren. Den jungen Studenten zog vor allem die hohe Sexualmoral an, die er an einzelnen Mitgliedern beobachtete und die sich so vorteilhaft von den lockeren Sitten der karthagischen Gesellschaft abhob.17 Zu einzelnen vornehmen Häusern hatte er dank der Vermittlung seines Vaters Zutritt. Die Verbindung rettete ihn, als er eines Tages durch eine Verkettung unglücklicher Umstände in den falschen Verdacht geriet, er habe einen Diebstahl begangen.18
Gern setzte sich Augustinus mit seinen beiden Freunden zusammen, um jenseits der Religion philosophische Probleme zu erörtern. Eines Tages im Jahr 380 oder 381 warf er die Frage auf: „Lieben wir etwas, wenn es nicht schön ist?“ Wie Sokrates in Athen, der in den frühplatonischen Dialogen Begriffe zu klären versuchte, stieß er nach: „Was ist überhaupt das Schöne, und was ist Schönheit? Was ist es, was uns an Dingen, die wir lieben, anzieht und uns mit ihnen verbindet?“ Ist das Schöne das, was jeweils den Dingen angemessen ist?
Das Verhältnis von Schönem und Angemessenen, von pulchrum und aptum, war eines der klassischen philosophischen Themen, und nach einer verbreiteten Auffassung bedingten sie einander.19 Augustinus war anderer Meinung: Schön ist immer etwas Ganzes, zum Beispiel ein Körper. Angemessen dagegen sind Einzelgegenstände in ihrer Beziehung zu einem Ganzen, und zwar in ihrer jeweiligen passenden Funktion, also etwa Körperteile oder Schuhe. Zum zweiten Vergleich mag ihn ein Vers von Horaz angeregt haben: „Wem einmal der Schuh größer ausfällt als der Fuß, wird ihn zu Fall bringen, wenn kleiner, wird er ihn wundscheuern.“ An vielen Gegenständen prüfte das Trio die These, dann definierte Augustinus: „Das Schöne ist das, was durch sich selbst gefällt, das Angemessene aber das, was für eine Sache zureichend ist.“ Neu war die Definition nicht. Bemerkungen zur Unterscheidung von Schönem und Angemessenen hatte Augustinus bei Cicero gefunden, vor allem in dessen umfangreichem Werk „Von den größten Gütern und Übeln“, das er gemeinsam mit den Freunden durchgearbeitet hatte. Schwerlich bemühte er sich, auf Ciceros griechische Hauptquelle, den Stoiker Panaitios, zurückzugehen, dessen Name der Römer einige Male erwähnte.20
Die philosophische Erörterung hatte Augustinus gepackt. „Sie sprudelte in meinem Inneren aus meinem tiefsten Herzen.“ Der Siebenundzwanzigjährige beschloss, sein erstes Buch zu schreiben mit dem naheliegenden Titel: „Über das Schöne und Angemessene“ (De pulchro et apto). Es ging ihm rasch von der Hand, und er merkte, dass er nicht nur gut reden, sondern ebenso gut schreiben konnte. Wie jeder beginnende Autor präsentierte er stolz seinen Erstling. Da das Angemessene in der Rhetorik eine wichtige Kategorie für die Analyse der verschiedenen Redegattungen und Stilarten war, vermutete er, auch der berühmte Redner Hierius in Rom müsse sich für seine Untersuchung interessieren. Er sandte ihm, den er bisher nur aus der Ferne verehrt hatte, eine Abschrift. Niemand verwehrte ihm die Hoffnung, die Gabe würde sich für ihn später einmal auszahlen.21 Abschriften waren teuer, und er selbst hatte später keine mehr, als ihm das Original abhanden gekommen war. Allmählich sank auch der Stolz auf sein erstes Buch. Er nahm es nicht einmal mehr in sein „Revidiertes Werkverzeichnis“, die Retractationes, auf, und ob es aus zwei oder drei Teilen bestand, hatte er ebenfalls vergessen.22 Unermüdlich hatte er im vergangenen halben Jahrhundert geschrieben und veröffentlicht, sodass die Lücke in seinem ansonsten hervorragenden Gedächtnis verzeihlich war.
Nur an seiner Grundthese, der Trennung von Schönem und jeweils Angemessenem, hielt Augustinus fest. Er wiederholte sie in einem Brief an den Senator Marcellinus, der 411 das Konzil von Karthago geleitet und sich wenig später mit einer theologischen Frage an ihn gewandt hatte: Warum lehnte ein und derselbe unveränderliche und ewige Gott im Neuen Testament die Opfer ab, an denen er sich im Alten Testament erfreut hatte? Gott habe sich nicht geändert, lautete Augustinus’ Antwort, sondern habe nur das gewollt, was der jeweiligen Zeit angemessen war. Der Philosoph und Theologe verwies dafür auf die Distanz zwischen dem Schönen, „das an und für sich betrachtet und gelobt wird“, und dem Angemessenen, „das nicht aus sich selbst beurteilt wird, sondern nach dem, dem es verbunden ist“. Diese Distanz „sei ein allgemein gültiges Gesetz“. Zur Illustration hatte er zuvor auf den befreundeten Arzt und ehemaligen Proconsul Vindicianus verwiesen, der seine Medizin ebenfalls dem jeweiligen Zustand des Patienten angepasst habe. Die Erinnerung an die Diskussionen in Karthago kam durch und veranlasste ihn zu dem weit hergeholten Vergleich. Passender war die Erinnerung an Platon, für den Gott der Schöpfer der unveränderlichen Schönheit war. Zu deren ewigem Anblick gelangten diejenigen, die ihn in rechter Weise verehrten. Im platonischen „Symposion“ hatte Sokrates, der Priesterin Diotima folgend, den Aufstieg zum absolut Schönen als Ziel des vollkommenen Lebens verherrlicht.23
Augustinus blieb sich bewusst, wieviel sein Buch den Gesprächen mit seinen vertrauten Freunden verdankte. Aber er hielt auch stets Ausschau nach neuen Bekannten. Immer besser beherrschte er die Kunst, Menschen rasch für sich einzunehmen, sodass sie sich nicht versagten, wenn seine Stimmung sank und er nach seelischem Beistand verlangte: „Vor allem freilich richteten mich die tröstenden Worte anderer Freunde auf und gaben mir neue Kraft.“24 Sechs Jahre lebte er nun schon in Karthago, und je länger, desto mehr haderte er mit seinem Schicksal. Er fühlte sich in der Stadt nicht genügend beachtet, seine Einkünfte schienen ihm zu mager zu sein, und gern hätte er geheiratet, wenn nur die rechte – also reiche – Frau gekommen wäre: „Ich gierte nach Ehren, Reichtümern und einer Ehe“, beschrieb er rückblickend seinen damaligen Gemütszustand.25 Dazu kam, dass ihn sein Lieblingsstudent Alypius verließ, um dem Wunsch der Eltern zu folgen und in Rom das Studium der Rechte aufzunehmen.26
In diesem Zustand gingen ihm seine ungezogenen karthagischen Studenten besonders auf die Nerven. Noch Jahre später empörten ihn ihre Frechheiten: Pünktlichkeit war für sie ein Fremdwort; während der Vorlesung brachen sie in den Hörsaal ein, nur um dort Unsinn zu treiben und wieder zu verschwinden, wie es ihnen passte. Weil sich Augustinus als Student solch ein Benehmen nie erlaubt hatte, stieg ihm erst recht die Galle. Wie lang wollte er sich so quälen lassen? Warum nicht nach Rom auswandern, wo die Studenten, wie er erfahren hatte, noch Zucht und Ordnung kannten? Freunde rieten ihm ebenfalls zu und verwiesen auf die höheren Gehälter, die man Professoren in der alten Reichshauptstadt zahlte.27
Zweifel, die ihn zu der Zeit am Manichäismus kamen, trugen zu seiner inneren Unzufriedenheit bei. Seine Lehraufgaben ließen ihm genügend Muße, um ausgiebig zu lesen. Ihm lag daran, seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse über das Wenige hinaus zu vertiefen, was bei der Literaturanalyse im Grammatik- und Rhetorikunterricht nebenbei zur Sprache gekommen war. Himmelskunde, bei der zwischen Astronomie und Astrologie nicht unterschieden wurde, zog ihn besonders an, daneben Geometrie, Arithmetik und Musik. Es waren die Gebiete, die zusammen mit den sprachlichen Fächern die „freien Künste“, die artes liberales, bildeten, oder, wie er sie nannte, die disciplinae liberales. Er sei begierig gewesen, die Wahrheit der Dinge kennen zu lernen – so beschrieb er seinen damaligen Wissensdurst.28
Hatte Cicero im „Hortensius“ nicht gesagt, glücklich sei, wer nach der Wahrheit suche, auch wenn er sie nicht finde? Immer wieder zitierte Augustinus den Satz.29 Er war auch Leitlinie für seine ausgiebigen philosophischen Studien, die er vor und neben der Niederschrift seines Erstlingswerks „Über das Schöne und Angemessene“ trieb. Ciceros „Akademische Bücher“, die in den Umkreis des „Hortensius“ gehörten, arbeitete er so gründlich durch, dass er sie noch zwölf Jahre später aus dem Gedächtnis zitieren konnte, als er selbst seine drei Bücher „Gegen die Akademiker“ verfasste. Die undogmatische Skepsis der Neuen Akademie, die Cicero dort vertrat, zog auch seinen begeisterten Leser an. Von ihr war der Schritt nicht weit zu der Frage, wie es mit der Wahrheit stünde, die die Manichäer sich und ihren „Hörern“ unermüdlich einhämmerten.30
So manchen Glaubensgenossen, an den sich Augustinus mit seinen aufkommenden Zweifeln wandte, stürzte er in Verlegenheit. Wieder und wieder hörte er die Ausrede, er möge sich doch an Bischof Faustus wenden, der demnächst von Rom kommend Karthago besuche. Der werde alle seine Schwierigkeiten ausräumen. Von Faustus’ Klugheit und dem Charme seiner Persönlichkeit waren alle Gemeindemitglieder so begeistert, dass Augustinus selbst sich schließlich beruhigte: „Morgen werde ich es entdecken. Pass auf, klar und deutlich wird es werden. Pass auf, Faustus wird kommen und alles erklären!“31
Ungeduldig wartete der Professor auf die Ankunft des Bischofs, und er wurde zunächst nicht enttäuscht. Faustus hielt vor der Gemeinde nicht nur eine vorzügliche Predigt, er schlug auch alle durch sein anziehendes Wesen in Bann. Der Rhetoriklehrer Augustinus musste ihm dafür die besten Noten geben. Leider verhinderte die Menge der Gläubigen, dass er ihm die Sachfragen stellen konnte, die ihn umtrieben. Daher bat er um eine persönliche Begegnung, die ihm gewährt wurde. Begleitet von einigen Freunden suchte er den Bischof auf, und jetzt folgte die große Enttäuschung: Der Mann, der nicht nur Bischof war, sondern unter den „Auserwählten“ den höchsten Rang einnahm, den des „Lehrers“ oder „Gelehrten“, zeigte sich lediglich in der Grammatik beschlagen. Seine Literaturkenntnisse beschränkten sich auf einige Ciceroreden, ein wenig Seneca, dazu ein paar Dichter und manichäische Traktate, aber auch nur diejenigen, die lateinisch geschrieben waren. Einfach falsch war das Lob seiner Anhänger, er sei „in allen hohen Wissenschaften äußerst bewandert und ganz besonders in den Freien Künsten gebildet“. Sie hatten sich die ganze Zeit „durch seine verlockende süße Rede“ hinters Licht führen lassen.32 Offensichtlich hatte der Manichäer – Sohn armer Eltern aus dem numidischen Städtchen Milev, dem heutigen Mila – sich nie Ciceros Forderung zu Herzen genommen, Beredsamkeit und Weisheit müssten zusammengehen: „Denn Beredsamkeit ist nichts anderes als Weisheit, die aus einem reichen Vorrat spricht.“ Cicero hatte den Grundsatz im Anschluss an die Griechen ausgiebig in seinen Schriften zur Rhetorik begründet. Nur eine Auswahl seiner Reden zu lesen war eben zu wenig.33
Im Gespräch mit Augustinus versuchte Faustus zunächst, seine Wissenslücken zu überspielen, musste sie dann aber nach dessen bohrenden Fragen selbst zugeben. Die Liebenswürdigkeit, mit der er das tat, versöhnte den Enttäuschten fast wieder mit ihm. Doch der Abstand zum Manichäismus, der sich schon vorher angedeutet hatte, war größer geworden. Er ging nicht so tief, dass sich Augustinus der Bitte des Bischofs versagt hätte, mit ihm wissenschaftliche Lektüre insbesondere zur Kosmologie zu treiben, von der die Manichäer so viel faselten. Der Ältere wollte etwas von dem nachholen, was er versäumt hatte, und nannte einige Werke, deren Titel ihm bekannt waren. Wenn er allerdings gehofft hatte, durch seinen Umgang den Schwankenden wieder fester an seine Religion zu binden, so misslang ihm die Absicht.34
Augustinus ließ es sich auch nicht nehmen, die öffentlichen Streitgespräche zu verfolgen, die ein eifernder Christ namens Elpidius mit den Manichäern führte. Der Kritiker zerpflückte ihre Behauptung, die Schriften des Neuen Testaments seien von Unbekannten verfälscht worden, die Christentum und jüdische Gesetzesreligion vereinigen wollten. Da die Angegriffenen nicht in der Lage waren, eine unverfälschte christliche Urschrift beizubringen, musste Augustinus dem Angreifer im Stillen Recht geben.35 Andererseits dachte er noch nicht an eine grundsätzliche Abrechnung mit dem Manichäismus und an sein großes Werk, dem er den Titel „Gegen Faustus“ geben sollte. Seine Gedanken richteten sich auf ein näherliegendes Ziel: Rom. Ein wenig trug Monnica dazu bei, dass er sich nicht mehr „in der großen Teufelsschlinge namens Faustus“ verfing.36 Die Mutter war zu ihrem bald dreißigjährigen Sohn nach Karthago gezogen, und stets wenn im Haus der Name Mani fiel, schossen ihr die Tränen in die Augen.37
„Ströme aus Mütteraugen, mit denen sie den Boden tränkte“, und Gebete, mit denen sie zu Gott flehte, waren auch Monnicas Waffen, die ihren Sohn entweder von seinen Reiseplänen abbringen oder ihn bewegen sollten, sie mit nach Italien zu nehmen. Doch Gott war nicht bereit, einen der beiden Wünsche zu erfüllen, und Augustinus war es auch nicht. Neun Jahre lang hatten 250 Kilometer zwischen ihm und seiner Mutter gelegen, und er war in der Zeit ganz gut ohne sie ausgekommen. Sein Alltag ließ ihm wenig Zeit, sich in Sehnsucht nach ihr zu verzehren. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als die Aufdringliche mit einer Notlüge abzuschütteln: Er wolle einen Freund verabschieden, der auf günstige Winde warte, um in der kommenden Nacht in See zu stechen, teilte er ihr eines Abends mit. Sie möge doch währenddessen in der in der Nähe gelegenen Märtyrerkirche des Stadtheiligen Cyprianus auf seine Rückkehr warten. Der Freund war kein anderer als er selbst, der heimlich alles für seine Abreise vorbereitet hatte. Monnica wartete vergebens auf seine Rückkehr.38 Den Verrat an der Mutterliebe zählte Augustinus später zu den schwersten Sünden, die er begangen hatte. War seine Bekehrung nicht auch ein Teil der Wiedergutmachung an der Mutter und ihrem unerschütterlichen katholischen Glauben? Ein anderer Teil waren sicher die literarischen Denkmäler, die er ihr in seinen Werken setzte. So mancher Mann merkte erst in den Vierzigern, wie teuer ihm seine Mutter war, die er in früheren Jahren von sich gestoßen hatte.
Im Augenblick jedoch entschuldigte sich der Flüchtling eher damit, dass er mit seiner heimlichen Trennung einem berühmten Vorbild folgte, das zudem noch am selben Ort gespielt hatte: Auch Aeneas, der Held seiner Schultage, dessen Bild er sich so manches mal vor Augen stellte, hatte im vierten Buch von Vergils Aeneis die verliebte karthagische Königin schnöde sitzen lassen und war nachts abgesegelt. Er musste ein göttliches Schicksal erfüllen und Stammvater Roms werden, der Stadt, zu der nun auch sein Bewunderer aufbrach: Männer, die Höheres im Sinn haben, können eben nicht immer Rücksicht auf Frauengefühle nehmen. Daher wurde der „fromme“Aeneas für Dido zum „grausamen“, der pius zum ferus. Als Augustinus’ Schiff den Hafen verließ, war für ihn das Epos, das er sooft memoriert hatte, zur Lebenswirklichkeit geworden. Sein Verhalten war eine Verbeugung vor dem größten römischen Dichter. Wie dessen Aeneas die Haltetaue seines Schiffes mit dem Schwert durchhieb, so durchschnitt er das Band zu seiner Mutter.39
Augustinus verlässt Karthago über das Meer.
Dem Verfasser der „Bekenntnisse“ erlaubte das späte Reuegeständnis vor Gott und der fünf Jahre zuvor verstorbenen Mutter nicht mehr, die heidnische Parallele, die seine gebildeten Leser ziehen würden, in Worte zu fassen. Sein Schweigen durchbrach er nur einmal in einer vagen Andeutung, die er gegenüber seinem Freund Nebridius machte: Wenn er seine Phantasie schweifen lasse, schrieb er ihm, halte er sich unter anderem die Gestalt des Aeneas vor Augen, und er frage sich, wie der sich auf eine bestimmte Weise verhalten habe.40 Ein Unterschied zu Vergils Darstellung beruhigte ihn, als die Küste Africas in der Dunkelheit verschwand: Nie würde die gute Katholikin Monnica so weit gehen wie die karthagische Königin Dido und sich ein Schwert in die Brust stoßen. Daher war leider nicht auszuschließen, dass sie ihn eines Tages in Italien heimsuchen würde. Vorläufig jedoch kehrte die bitter Enttäuschte nach Thagaste zu ihrem gewohnten Leben zurück. Sie wäre nicht die Mutter gewesen, die ihren Sohn liebte, „ja noch viel mehr als viele Mütter liebte“, wenn sie sich von ihm losgesagt hätte. Im Gegenteil: Nachdem sie genug über seine Grausamkeit geschimpft hatte, begann sie wieder für ihn zu beten.41
Noch einen anderen lieben Menschen stieß Augustinus vor den Kopf: seinen Gönner Romanianus, der ihn bisher so großzügig in Thagaste und in Karthago gefördert hatte. Ihm verschwieg er seinen Umzug nach Rom ebenfalls. Dass der ihm, als er davon erfuhr, nicht die Freundschaft kündigte, rechnete Augustinus dem Älteren hoch an.42 Böse Zungen verbreiteten später das Gerücht, Augustinus sei geflohen, weil er als Manichäer vom Proconsul Messianus verurteilt worden sei.43
Die römischen Provinzen Numidia und Africa proconsularis