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Konrad

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Nichts hatte darauf hingedeutet, dass Konrad fortgehen würde. Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, war er weg. Auch andere waren schon verschwunden, ebenso aus heiterem Himmel, ganze Familien – einfach nicht mehr da. Aber Konrad? Aus welchem Grund hätte seine Familie ihre Stadt, ihre Heimat verlassen sollen. Er war doch ihr bester Freund und sie war seine beste Freundin. Noch am Tag zuvor hatten sie erst die Schildkröten am kleinen Weiher beobachtet und anschließend Fangen und Verstecken gespielt. Damit widersetzte sie sich wiederholt der Anordnung ihres Vaters, der ihr mit der Begründung, dass Konrad nicht gut für sie sei, den Umgang mit ihm verboten hatte. Aber des Vaters Anordnung erschien ihr derart unsinnig und an den Haaren herbeigezogen, dass es ihr unmöglich war, sich daran zu halten.

Die Bäume trugen ihr erstes zartes Grün und die Vögel zwitscherten um die Wette. Und zum ersten Mal, nach dem langen Winter, trug Konrad wieder den dünnen Pullover, seine kurzen Hosen und die offenen Schuhe. Offen-sichtlich war er gewachsen, da Arme und Beine etwas ungelenk aus den Öffnungen herauslugten. Und weil sie beim Spielen so übermütig war, nannte Konrad sie den ganzen Tag über nur noch ›Wilde‹, statt Hilde.

Am Anfang ihrer Karriere hatte sie erwogen, Konrad zu Ehren, ›Wilde‹ als ihren Künstlernamen anzunehmen, verwarf den Gedanken aber wieder. Das erschien ihr dann doch etwas zu bedeutungsgeladen. Schließlich behielt sie ihren Namen, so wie er war, und hielt das für exzentrisch genug.

Der Vater hatte ihr erklärt, dass es für Konrad besser so sei, da es hier, bei ihnen, in der kleinen Stadt, keinen Platz mehr gäbe für ihn und seine Familie und dass er von dort, wo er jetzt sei, auch nicht mehr zurückkehren werde. Sie konnte das nicht verstehen. Es gab in ihrer Stadt nicht nur genügend Platz für alle Menschen, die hier lebten, sondern sogar für noch viele mehr.

Am Abend nach Konrads Verschwinden fand sie erst spät in den Schlaf und wachte in der Nacht oft auf. Immer wieder fragte sie sich, ob es Konrad gut ginge und wie lange es wohl dauerte, bis sie sich wiedersähen. Irgendwann hinderten sie tiefe Männerstimmen daran, wieder einzuschlafen. Sie drangen aus dem Wohnzimmer heraus, über den Flur hinweg in ihr Zimmer hinein. Hilde stand auf, schlich in den Flur und blinzelte durch den Türspalt. Neben ihrem Vater, der sich umgezogen hatte und zivile Kleidung trug, waren da noch drei weitere, in schwarze Uniformen gekleidete Männer. Sie saßen in den Polstern, die Beine ausgestreckt, und rauchten und tranken und manchmal lachten sie verhalten. Ihre Gespräche klangen wichtig und handelten vom Führer, dem Verschwinden der Menschen und dass ihr Vater dabei eine bedeutende Rolle spiele, wofür er noch ausreichend belohnt werden würde. Sie schlich wieder zurück in ihr Zimmer, legte sich auf das Bett und starrte gegen die Zimmerdecke. Was hatte ihr Vater mit dem Verschwinden der Menschen zu tun, fragte sie sich und grübelte darüber die ganze Nacht.

Am Morgen stellte sie ihren Vater zur Rede. Sie wollte, dass er Konrad zurückholte. Aber das Gespräch lief aus dem Ruder. Sein Handrücken traf sie mitten ins Gesicht. Zu spät hatte er versucht, die Wucht seiner Bewegung zu mäßigen. Sie hatte nicht damit gerechnet, denn ihr Vater behandelte sie immer liebevoll und wurde nie grob - weder in Worten, noch in Taten. Ihr Kopf flog nach hinten und für einen Augenblick verlor sie das Bewusstsein. Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, durchschüttelte sie ein hektischer Husten, in dessen kurzen Pausen sie hastig nach Luft rang. Blut lief ihr aus der Nase und tropfte auf das türkisfarbene Glockenkleidchen, wo es im Schoß einen kleinen Flecken formte, in dem sie später, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, die Silhouette eines flatternden Schmetterlings erkannte.

Sie spürte keinen Schmerz, nur Trauer, Wut und Mitleid. Trauer um Konrad, Wut wegen ihrer Hilflosigkeit und Mitleid für ihren Vater, denn sie wusste, dass er sie in diesem Moment für immer verloren hatte.

Das geringste Nachlassen der Aufmerksamkeit

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