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0 Vorgeschichte - Der Weg in die Vernichtung

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Bis zum 19. April 1945 war die militärische Ordnung innerhalb unserer Einheit als normal anzusehen. Im Raum von Senftenberg sollte die Neuaufstellung unserer Division erfolgen. Am Nachmittag des

19. April 1945 vernichteten sowjetische T 34/76 oder T 34/85 Panzer bei Boblitz, südlich von Lübbenau in der Niederlausitz, unseren Truppentransportzug.

Nach der Zerstörung haben sich die marschfähigen Soldaten in Richtung Westen und der größere Teil in Richtung Norden vom Ort des Geschehens abgesetzt.

Zurück gelassen haben wir die gefallenen und verwundeten Kameraden. Sie waren in den Resten des zerstörten Zuges und auf dem Acker geblieben. Die Zerschlagung unseres Bataillons war eine der letzten Kriegshandlungen.

Von diesem Zeitpunkt an, noch weit vor Mitternacht, befand sich meine Gruppe auf dem Wege in Richtung Luckau, in Richtung Westen. Unsere Gruppe bestand aus einem Feldwebel, einem Obergefreiten und zwei Panzergrenadieren. Gemeinsam saßen wir im Transportzug. Nach dessen Zerstörung haben wir uns rein zufällig gefunden. Unser Marschbefehl lautete, ohne Verzug auf dem schnellsten Wege nach Parchim in Mecklenburg zu marschieren.

Am 1. Mai 1945 erreichten wir Havelberg, wo wir in einer Kampfgruppe landeten. Am Nachmittag des 2. Mai 1945 erreichte ich westlich von Havelberg, in einer gewaltigen Ansammlung von den gestrandeten Soldaten, den breiten Elbstrom. In der letzten Nacht war ich durch die reine, militärische Willkür von meinen drei Kameraden getrennt worden.

Nur nicht jetzt noch in die sowjetische Kriegsgefangenschaft kommen. Dieses war das unausgesprochene Verlangen aller hier gestrandeten Soldaten.

Denn sich irgendwo in Sibirien wiederfinden, wenn man hier, an dieser Stelle, noch den sowjetischen Truppen ausgeliefert würde. Jeder uniformierte Soldat befand sich doch hier im Zustand einer psychischen Lähmung.

Den Amerikanern, die uns wohl heute, am 2. Mai 1945 gefangen nehmen werden, ist nicht zu trauen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte von den Männern an dieser Stelle auf der Ostseite der Elbe noch keiner Kontakt mit einem Amerikaner gehabt. Da war zwar auf dem Wege von Havelberg zur Elbe hin ein Amerikaner, an den erinnere ich mich, der Waffen entgegennahm und diese stapelte.

Nach den physischen und psychischen Anstrengungen der letzten Wochen standen wir als eine riesige, graue Menschenmasse an einer Stelle am Elbstrom, die über unser Schicksal entscheiden musste. Den Gedanken an einen Marsch in die sowjetische Kriegsgefangenschaft noch vor Augen und dann das Wissen um die Rote Armee bereits spürbar im Nacken. Uns hat nur die Elbe auf- und festgehalten. Am Rande des Wassers zur Handlung angetrieben, wollte sich jeder der Männer nur noch retten. Retten ja. Aber wie?

Viele der fremden Kameraden versuchten, ohne Rücksicht auf das eigene Leben, daran haben sie vor Anspannung nicht denken können, schwimmend durch und über die Elbe in Sicherheit zu kommen. Leere Blechkanister, Schläuche aus LKW-Reifen, Hölzer und vieles mehr an unbrauchbaren Dingen sind für die Flucht eingesetzt worden. Von den Anstrengungen und der Angst verbraucht, verloren viele Männer in der Elbe ihr Leben.

Noch heute habe ich, wenn ich an die damaligen Stunden an der Elbe zurückdenke, immer wieder eine gewaltige, für mich gesichtslose, graue Masse Soldaten vor Augen. Ich habe damals wirklich kein einziges Gesicht gesehen. Alles um mich herum war nur grau. Gesteuert vom Bewusstseinsverlust und Taumel, vom Unterbewusstsein manipuliert, bezwang ich mich und den Elbstrom.

Körperlich nahezu am Ende erreichte ich auf dem linken Elbufer eine in den Strom reichende Buhne. Von dem, was gerade mit mir geschehen war, habe ich einfach nichts begriffen. Mit einem Schlag war ich in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft angekommen. Frühere Gedanken, wie ich einmal den Eintritt in die Kriegsgefangenschaft erleben werde, waren auf einmal vergessen.

In Kolonnen marschierten wir, nun nicht mehr im Gleichschritt, auf den Straßen am Westufer der Elbe in Richtung Süden. Meine mitgefangenen Kameraden in unmittelbarer Umgebung von mir waren, soweit ich mich erinnere, in trockenen Uniformen unterwegs. In meiner nassen Kleidung laufe ich zwischen ihnen in die erste Nacht.

Von der ersten Auffangstelle am Bahnhof in Arendsee, auf 2 ½ long ton Fahrzeugen stehend, transportierten uns die Amerikaner am sonnigen Vormittag des 3. Mai 1945 zur zweiten Sammelstelle nach Herford. Am Abend des 6. Mai irgendwo bei Herford in offene Güterwagen verladen, rollte der Transport über Nacht in Richtung Westen. Wir durchfuhren das zerstörte Ruhrgebiet und rollten über den Rhein bei Wesel.

In Wickrath war am Nachmittag des 7. Mai 1945 unsere Reise zu Ende. Bei glühender Hitze, die Hände auf dem Kopf abgelegt, marschierten lange Kolonnen der Kriegsgefangenen zum Ziel. Auf dem langen Marsch brachen auf der Straße mehrere Kameraden von den Anstrengungen und der Hitze zusammen.

Am Ortsrand von Wickrathberg breitete sich vor mir überraschend ein nicht überschaubares, großes Gelände aus. Da standen auf dem flachen Acker die ersten Baumstämme. An ihnen befand sich bereits teilweise der silbern blinkende, straff gespannte Stacheldraht. Im Hintergrund standen übermannshohe Stacheldrahtzäune. Einzelheiten des unter freiem Himmel errichteten Lagers blieben mir zunächst verborgen.

Eingewiesene, deutsche Kriegsgefangene setzten jeden einzelnen von uns, bis auf die Haut, in gewaltige Staubwolken aus DDT-Pulver. Dieses geruch- und geschmacklose weiße Pulver fühlte sich nicht wie Mehl an. Ohne zu wissen hatte man das widerliche aber trockene Pulver im Mund. Man musste es einfach runterschlucken.

Nach einem Zeitsprung standen wir, abgezählt in vier Tausendschaften, in einem der mit Stacheldraht eingefassten Camps. Die DDT-Pulverwolke hatte sich wie ein Schleier auf jeden von uns gelegt. Staubigen Mehlsäcken gleich atmeten wir das Pulver und das Gas, das sich aus dem Pulver entwickelte, ein. Das Gas, das sich über Nacht vom DDT-Pulver und der Feuchtigkeit des warmen Körpers entwickelte, tötete die Plagegeister. Bereits in der ersten Nacht sind nahezu alle Kleiderläuse aus meiner Militärkleidung verjagt worden.

Im Kriegsgefangenenlager Wickrathberg waren die Männer dem Wetter vollkommen schutzlos ausgesetzt. Jeder für sich allein oder in Kameradschaften lagerten wir auf und in der Erde. Innerhalb weniger Tage verbanden sich die mitgebrachten Mäntel, Decken und Dreieck-Zeltplanen mit der Erde. Dabei veränderten sich die ehemaligen Farben der Uniformen und nahmen die Farbe der Erde an. Die allgegenwärtige Zwangslage warf jeden von uns, ohne Verzug, auf die kalte und nackte Erde.

Uns PoW1 waren nur der Himmel und der straff gezogene Stacheldraht geblieben.

Der nächste Tag, der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, hatte für mich keinerlei Bedeutung. Zwischen all den fremden Soldaten, die ich vorher nie gesehen habe, war auch ich nun auf diesem Platz ab sofort auf mich allein gestellt.

Die körperlichen Anstrengungen der letzten Tage machten sich jetzt auch bei mir bemerkbar. Ich hatte die Schnauze gestrichen voll. „Was habe ich nur verbrochen, dass es mir so gut geht?“ Dieses war ein allgemeiner Ausspruch unter den Soldaten, wenn eine militärische Schikane zu überwinden war.

All die Feldgrauen, die noch in den letzten Wochen von ihren Vorgesetzten – im Osten und im Westen – zwischen beiden Fronten unter Waffen stehend zum Sterben angetrieben worden waren, plagten jetzt Hunger und Durst. Nicht allein physisch, sondern auch psychisch war ich am Ende. Alles, aber auch wirklich alles war mir jetzt scheißegal geworden. Es war nur der spürbar bohrende Hunger geblieben.

Nach kurzer Zeit, es waren sicher nur Stunden, verweigerte mir der Stacheldraht den normalen Blick. Ohne mein Dazutun hat er sich seit meiner Ankunft in meine Seele gefressen. Überall war für mich nur der Stacheldraht. Seine bei der Herstellung silberne Farbgebung hatte er bereits über Nacht in ein Eisengrau verwandelt. Mit dem Farbwechsel hat sich der Stacheldraht für das normale Auge getarnt.

Im Lager Wickrathberg hat die grausame Fratze des brutalen Krieges endlich Zeit, sich tief und für alle Zeiten in die Seelen der Kriegsgefangenen einzubrennen. Diese Tatsache wird den meisten Kriegsgefangenen in den ersten Tagen, wo auch immer sie in Kriegsgefangenenlagern vegetierten, kaum bewusst geworden sein. Alle meine Wahrnehmungen, Empfindungen aus den unterschiedlichen Erlebnissen des Krieges, dazu gehört die folgende Feststellung:

Die Staatsführung des Dritten Reiches hat die Jugend auf die schändlichste Art und Weise getäuscht und betrogen. Wir sind aus der erlebten Erziehung und der Achtung vor den Erwachsenen, einschließlich der eigenen Eltern bewusst und unbewusst in unser Verderben genötigt und letztlich gezwungen worden. Wir waren, wie auch die älteren Jahrgänge, für den Staat nur als Kanonenfutter von Interesse.

Die Verursacher, die den Wahnsinn des Krieges angestiftet haben, machten sich am Ende, nach dem gemeinsamen Untergang, unbemerkt aus dem Staub. Oder sie haben sich teilweise selbst umgebracht oder haben sich in den Untergrund abgesetzt. Ihre bereits in der Anonymität lebenden ehemaligen Mitkämpfer waren ihre neuen Beschützer.

Meine Erfahrungen während meiner Kriegsdienstzeit und der Kriegsgefangenschaft hinter dem Stacheldrahtzaun haben mir damals das Versprechen abgenommen: Sollte ich je wieder nach Hause kommen, dann wollte ich als Zeitzeuge über meine Kriegserlebnisse berichten. Später erweiterte und vervollständigte sich mein Gedanke: Meine Erlebnisse sollten nicht nur für mich, sondern stellvertretend auch für meine jungen Kameraden geschrieben werden, die nicht das Glück hatten, die Heimat wiederzusehen.

Nach meiner Heimkehr aus dem Krieg habe ich bereits nach den ersten Monaten damit begonnen, meine Erlebnisse handschriftlich festzuhalten, um diese später, vielleicht auch erst nach meiner Lebensarbeitszeit, zu verarbeiten. Die damaligen Kriegseinsatzorte konnte ich 1990 und 1995 besuchen. Gespräche mit den Menschen an den Plätzen, einmal in Günterberg im Land Brandenburg, Biesenbrow im Land Brandenburg, waren nicht sehr ergiebig. Während der Besuche kamen mir, wie auch in Bischdorf, Niederlausitz viele Bilder aus dem Erlebten schlagartig ins Bewusstsein zurück. Die in den besuchten Orten lebenden Männer waren in der Zeit 1944 und 1945 selbst irgendwo im Kriegseinsatz oder in der Kriegsgefangenschaft.

Der Gesang der Lerche bleibt

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