Читать книгу Todesmarsch durch Russland - Klaus Willmann - Страница 9

Оглавление

So wurden wir Soldaten

Der Beamte im Wehrmeldeamt hatte schon angegraute Schläfen. Er musterte mich freundlich, amüsiert, vielleicht auch ein wenig spöttisch, als ich ihn fragte:

»Was soll denn das? Die haben mich doch erst gestern entlassen …«

Lachend hob er die Hände und unterbrach mich.

»Sie sind nicht der Erste, der mir das heute erzählt. Wahrscheinlich kommen später auch noch andere. Einer der zwei anderen aus Garmisch meldet sich am 14. Oktober bei den Jägern in Garmisch und der andere in Mittenwald.« Er warf einen kurzen Blick auf den auf seiner Schreibtischplatte liegenden RAD-Entlassungsschein und stellte gemütlich fest: »Herr Lothar Hermann ist angeblich für die Gebirgsinfanterie nicht so geeignet wie seine Kameraden. Sie melden sich am 14. hier bei der Gebirgsartillerie! Geben Sie mir bitte Ihren Einberufungsbefehl zur Wehrmacht, damit ich ihn ändern kann. Nicht jeder hat das Glück, so heimatnah einrücken zu dürfen, und die paar freien Tage werden Ihnen guttun.«

Am Morgen des 14. Oktober 1940 stand ich etwas aufgeregt vor dem Posten der Kaserne in der Maximilianstraße. Das aus Holz gezimmerte Wachhäuschen am Eingangstor war mit schwarz-weiß-roten Streifen bemalt.

»Wo soll ich mich denn melden?«, fragte ich den Wachposten. Der stand mit leicht gespreizten Beinen und geschultertem Karabiner vor mir und deutete lediglich schweigend mit dem behelmten Kopf in Richtung der Wachstube.

Das solide gemauerte Haus am Tor und die anderen hell gestrichenen Gebäude der Kaserne im Tal vor den dahinter aufragenden Bergen wirkten auf mich zwar nicht gerade einladend, aber ich müsste lügen, wenn ich heute behaupten würde, dass ich sie als abweisend empfunden hätte.

Schon vor dem ersten Mittagessen im Speiseraum unserer Batterie war ich komplett eingekleidet und hatte mein Köfferchen mit meinen Zivilklamotten und meiner Heimatanschrift Danielstraße 20 in Garmisch abgegeben. Der Unteroffizier meiner Korporalschaft war nur einige Jahre älter als ich und zeigte mir in der mir zugewiesenen Bude, wie ich meinen Spind nach HDV einzuräumen hatte. Dabei erfuhr ich zudem, dass unsere Batterie in vier Züge aufgeteilt war.

»Die beiden ersten Züge bedienen die Geschütze, wir sind der dritte, der Nachrichtenzug. Im vierten dienen die offiziell als Tragtierführer bezeichneten Kameraden. Wir nennen sie ganz allgemein die Mulitreiber. Die brauchen zur Pflege unserer manchmal als störrisch verrufenen Mulis im Stall Drillichanzüge. Wir haben das nicht nötig. Unser Batteriechef ist Hauptmann Raimund Lang, und zusammen mit den zwei anderen Batterien bilden wir eine Gebirgsartillerieabteilung. Genug für’s Erste, jetzt zurück zu uns. Hier in meiner Bude hat’s bisher noch keinerlei Stunk gegeben.« Nach dieser Feststellung lächelte Unteroffizier Zimmermann selbstgefällig und fragte mich: »Nun, wie gefällt Ihnen unsere Bude? Das Einzelbett gleich dort neben dem Fenster gehört selbstverständlich mir.«

Nochmals durchstreiften meine Blicke den kleinen Raum. Ich betrachtete die jeweils doppelstöckigen Bettgestelle rechts und links an den Wänden neben der Tür und die neun Spinde, bevor ich antwortete: »Mir gefällt es hier ganz gut. Aber als gelernter Dekorationsmaler würde ich die kahlen Wände gern etwas verschönern.«

Unteroffizier Zimmermann lachte und meinte:

»Ach, sieh einmal einer an. Sie werden doch nicht etwa künstlerisch veranlagt sein?« Er blickte auf seine Armbanduhr und fuhr fort: »Kommen Sie mit mir. Wir gehen zum Essen. Dort unten lernen Sie die anderen kennen. Die sitzen mit Ihnen an einem Tisch. Ihr Platz war bisher verwaist. Ich sitze natürlich bei den anderen Unteroffizieren und Wachtmeistern.«

Die »anderen« nahmen mich wenige Minuten später kameradschaftlich in ihren Kreis auf. Bei ihnen fühlte ich mich vom ersten Augenblick an wohl. Während wir einen sehr schmackhaften Fleisch-Gemüse-Eintopf verzehrten, erfuhr ich, dass wir zunächst alle lernen mussten, wie wir uns künftig in gerader Haltung zu bewegen hatten. Auch wurde uns beigebracht, dass wir Vorgesetzte mit angewinkelten Armen und an die Schläfen angelegten Händen zu grüßen hatten. Natürlich mussten wir auch den Drill wieder über uns ergehen lassen, der uns schon vom RAD bekannt war.

»Unser Ausbilder, Unteroffizier Koch, ist ein sturer, aber irgendwie gerechter Kerl«, stellte Heiner Munz fest und deutete dabei unauffällig mit seinem Kopf zur Tür. »Er steht gerade dort drüben an der Tür. Du lernst ihn noch früh genug kennen. Erst wenn uns das und anderes in Fleisch und Blut übergegangen ist, bekommen wir in vier Wochen zum ersten Mal Ausgang. Ich glaube aber, dass du das schon gewusst hast.«

Zwei Monate waren für unsere Grundausbildung vorgesehen. In den ersten vier Wochen übten wir bis zum Erbrechen das schon erwähnte aufrechte Gehen, Grüßen, Marschieren, Singen, Griffe klopfen, Robben mit vorgehaltenen Karabinern und natürlich die Pflege all der uns anvertrauten Gegenstände, Gerätschaften und Waffen. Nach etwa vier Wochen hielten uns unsere Herrn Vorgesetzten offensichtlich für vorzeigbar. Zwei Tage vor unserem ersten Ausgang wurden wir vereidigt. Dabei waren auch einige mir unbekannte Zivilisten zugegen.

Wir standen exakt ausgerichtet in Dreierreihen. Selbstverständlich waren unsere genagelten Bergstiefel blank gewienert und mit den darüber gewickelten, kurzen, grauen Gamaschen als Abschluss versehen. Wir waren mit Keilhosen und Mänteln bekleidet, unsere Stahlhelme funkelten im fahlen Licht der Herbstsonne, und nach einem kurzen Trommelwirbel sprachen wir ernst den uns vorgesprochenen Treueschwur nach.

Es klang irgendwie schauerlich über den Kasernenhof, als wir »Auf Führer Adolf Hitler, Volk und Vaterland« vereidigt wurden. Es mag bei manchen meiner Kameraden anders gewesen sein, aber bei mir hinterließ dieser Vorgang keinen tieferen Eindruck.

Beim ersten Ausgang empfand ich die Überprüfung durch den Unteroffizier am Kasernentor fast erniedrigend. »Fingernägel vorzeigen! Das nennen Sie eine saubere Unterhose? Zurück in Ihre Bude! Kommen Sie nachher noch einmal! Zeigen Sie mir Ihren Taschenkamm!«

Als wir diese Prozedur hinter uns hatten und das Gelände der Kaserne verlassen durften, schimpfte einer auf der Straße ergrimmt:

»Die Kerle dort hinter uns haben uns gefilzt und behandelt wie den letzten Dreck! Wenn ich nach dem Krieg einem von denen begegnen sollte, dann kann er was erleben!«

Natürlich hatte unser Zug schon vor der Vereidigung begonnen, Funksignale zu senden und zu empfangen oder Telefonkabel zu verlegen. Dabei rannten wir mit den auf Tragen befestigten Kabelrollen in steilerem Gelände umher und spulten so die Leitungen ab. Der »Esel«, ein Berghang nicht weit von der Kaserne entfernt, schien unseren Ausbildern für diese Übung besonders geeignet zu sein. Viele von uns hassten dieses Gelände. Trotzdem entwickelte sich zwischen den Gruppen so etwas wie Rivalität.

»Ihr Langweiler!«

»Wir waren heute viel schneller als ihr Brennnesseldatscher.«

Solche oder ähnliche Bemerkungen schwirrten fast nach jeder dieser Übungen durch unsere Reihen, bevor wir wieder singend in die Kaserne zurückmarschierten.

Auch wir »Nachrichtler« mussten mit Geschützen vertraut gemacht werden. Als ich erstmals an einer Kanone stand, erklärte Oberwachtmeister Wörle:

»Dieses Ding ist für Übungszwecke bestens geeignet. Es ist eine Skoda 05 Gebirgskanone, die uns die Tschechen überlassen mussten. Sie sehen hier mehrere davon. Das österreichische Alpenkorps hat sie schon im Ersten Weltkrieg benutzt, und sie funktionieren heute noch. Bedienen Sie die alte Tante so, wie sie es verdient! Auch wenn ihr Kaliber lediglich 7,5 Zentimeter beträgt, das Ding speit Tod und Teufel! Die Bedienung dieser Geräte ist bei allen anderen Typen ähnlich, ohne gravierende Unterschiede. So, jetzt will ich zunächst einmal ein glänzendes, gepflegtes Rohr sehen! Achten Sie aber beim Durchziehen darauf, dass die Seelenachse nicht verletzt wird!«

Karl Mergel, der neben mir stand, flüsterte mir grinsend ins Ohr:

»Jetzt will er uns auch noch verarschen. Diese gedachte Linie zwischen der Verschlusskammer der Granate durchs Rohr zum Ziel gibt’s doch gar nicht. Für wie blöd hält uns denn der Kerl?«

Wir übten mehrere Tage lang unter strengster Aufsicht. Unsere Ausbilder waren schwer zufriedenzustellen. Das Loisachtal war inzwischen in eine weiße Schneedecke gehüllt, und es wurde gemunkelt, dass wir bald verlegt werden sollten. Eines Abends hörte ich einen der Unteroffiziere versonnen vor sich hinmurmeln:

»Hoffentlich verfrachten die uns nicht nach Jugoslawien. Die Balkanheinis dort unten sollen aufmüpfig geworden sein.«

Übungen mit Handfeuerwaffen hielt man in unserem Fall für zweitrangig. Nur zwei Mal waren wir am Schießstand, wobei mir bessere Schützen mein Erfolgserlebnis beim RAD streitig machten. Mit Maschinengewehren schossen wir nur einmal. Auch wenn man uns mit unseren Nachrichtengeräten und schussbereiten Karabinern immer wieder über Berghänge hetzte – Übungen, wie sie bei den Jägern üblich waren, mussten wir nur einmal mitmachen. Dabei jagte uns allerdings Oberwachtmeister Wurzer in voller Marschausrüstung durch die eiskalte Loisach:

»Auf, marsch, marsch! Dort drüben am anderen Ufer ist der Feind!«

Noch am selben Abend waren Kleider- und Waffenappell angesagt, der viele Kameraden die Nachtruhe kosten sollte.

In den letzten Dezembertagen rückte unsere Abteilung aus. Es war durchgesickert, dass am Truppenübungsplatz Heuberg in Württemberg eine neue Division aufgestellt werden sollte, die anschließend in Jugoslawien eingesetzt würde. Ich war nicht mit von der Partie, und irgendwie stimmte es mich traurig, als ich von meinem Bett in der Krankenstation aus die anderen draußen vorbeimarschieren sah. Einige von ihnen waren gute Kameraden, mit denen ich gern weiterhin zusammengeblieben wäre. Aber wegen eines plötzlich aufgetretenen Anfalls meines Bronchialasthmas musste mich der Stabsarzt einstweilen zurückstellen.

Nach etwa einer Woche meldete ich mich beim Spieß in dessen Schreibstube zum Dienst zurück. Nicht unfreundlich fragte er mich: »Was möchten Sie denn lieber? Die neuen Rekruten drillen oder hier in der Schreibstube arbeiten? Können Sie Steno und Schreibmaschinenschreiben?«

»Nur stenografieren, Herr Hauptwachtmeister!«

»Immerhin etwas! Aber das Tippen könnten Sie sich selbst beibringen, wenn Sie hier arbeiten wollen!«

»Jawoll, Herr Hauptwachtmeister!«

Noch am selben Abend begann ich am Tisch in meiner neuen Bude damit, anhand eines Lehrbuchs und einer mir ebenfalls überlassenen Nachbildung einer Schreibmaschinentastatur zu üben. Anfangs hatte man mich in der Schreibstube lediglich als Laufbursche, Postverteiler oder Ähnliches eingesetzt. Aber ich lernte schnell, fühlte mich wieder gesund, und als ich mit einigen anderen Anfang April in eine Kaserne der Artillerie am nördlichen Stadtrand von Landshut an der Isar verlegt wurde, war ich zweiter Schreiber, während die anderen an schweren französischen Beutegeschützen ausgebildet wurden.

»Was wollen wir denn in den Bergen mit diesen vier Ungetümen und den beiden Zugmaschinen?«, fragte kopfschüttelnd Horst Ulmer, unser erster Schreiber. Er hatte sich vor einiger Zeit für die Unteroffizierslaufbahn beworben, aber weil er eine Hasenscharte hatte, wollte Hauptmann Rummel, unser neuer Batteriechef, dies nicht zulassen.

Jetzt fragte ich ihn:

»Hast du denn das Gespräch zwischen unserem Hauptmann und Leutnant Weber nicht mitgehört? Leider konnte ich nicht viel mitkriegen, aber ›Heeresküstenartillerieabteilung‹ habe ich verstanden.«

»Menschenskind, Lothar! Was sind denn das für Gegensätze. Erst Garmisch, dann Niederbayern, danach vielleicht die Atlantikküste? Das glaubst du doch selbst nicht.«

Mein Dasein als Schreiber erschien mir nach wie vor interessanter und angenehmer, als der tägliche Drill an diesen Geschützen, aber auf die Frage nach unserem bevorstehenden Einsatz wusste ich keine Antwort. Auch mich stimmte es nachdenklich, dass wir unsere Bergschuhe abgeben und gegen Knobelbecher tauschen mussten.

An einem der letzten Tage des Mai erfuhr ich in der Schreibstube als einer der Ersten: »Unsere Abteilung wird ab morgen verladen! Angeblich geht’s irgendwohin nach Osten!«

Während Horst Ulmer in der Stube bedächtig seine Fußlappen wickelte, knurrte er grimmig:

»Lothar, was soll das jetzt wieder bedeuten? Sollen wir uns etwa endgültig von unseren Bergen verabschieden? Soviel ich weiß, hat das mit uns verbündete Rumänien eine Schwarzmeerküste. Sollen wir denen etwa aushelfen müssen? Kaum zu glauben. Gegen wen denn?«

»Hans, ich hab auch keine Ahnung, wohin wir kutschiert werden. Nur eines weiß ich gewiss: Wir werden es sehr bald erfahren, und das im wahrsten Sinne des Wortes.«

Horst, der wegen seiner Hasenscharte manchmal schwer zu verstehen war, knurrte irgendetwas Unverständliches vor sich hin.

Das Verladen am Güterbahnhof in Landshut beanspruchte seine Zeit. Es war nicht so einfach, die vier schweren französischen Beutegeschütze, die unter anderem zu unserer Batterie gehörten, mit Muskelkraft auf die Güterwagen zu schieben. Heute noch vernehme ich die gebrüllten Befehle, als wäre es erst gestern gewesen:

»Zugleich! Zugleich!«

Wir griffen in die Speichen einer Kanone und schoben sie mühsam und ruckweise auf die Ladefläche des offenen Güterwagens. Wer und wie viel Mann hinter mir schufteten, habe ich vergessen. Es dauerte jedenfalls Stunden, bis unsere vier Geschütze auf den offenen Ladeflächen so sicher festgezurrt waren, dass sie sich auch bei einem unvorhersehbaren plötzlichen Aufprall nicht selbstständig machen konnten. Auf den Waggons davor standen unsere beiden Zugmaschinen. Am Tag danach verstauten wir in den überdachten Güterwagen zahlreiche Gerätschaften, unser Marschgepäck, Karabiner, Stahlhelme und dergleichen und richteten uns dazwischen so gemütlich wie möglich ein. Wir waren nur vier Mann in unserem Waggon, während in den anderen zehn bis fünfzehn Mann Platz finden mussten.

Unser Zug erschien mir endlos lang zu sein, als er an einem milden Maiabend am Isarufer entlang zunächst nach München rollte. Wir standen etwa eine Stunde am Ostbahnhof und durften zur Verrichtung unserer Notdurft abwechselnd und nur kurze Zeit unseren Wagen verlassen. Weiter ging es nach Salzburg und Wien, und weil unser Zug aus wahrscheinlich betriebsbedingten Gründen manchmal längere Zeit irgendwo warten musste, kamen wir nicht allzu schnell voran.

Wir rollten durch Ungarn. In der Donauebene, in einem kleinen Dorfbahnhof, hielten wir wieder einmal an, und hier umringten unsere Waggons plötzlich fröhlich tanzende Zigeuner, die mit unmissverständlichen Gesten bettelten.

»Vorsicht! Lasst sie nicht zu nahe kommen! Die klauen!«

Einige von uns warfen ihnen Zigaretten zu, deuteten ihnen aber auch an, einige Meter von den Wagen entfernt zu bleiben. Unser Unteroffizier fühlte sich dennoch dazu veranlasst, seine Pistole 08 zu ziehen, denn ein frecher, schwarz gelockter junger Mann wollte zu uns in den Wagen klettern. Wir lachten schallend, als er wieselflink zu den anderen zurücklief, dabei seinen Hut verlor, diesen rasch wieder aufhob und sich, den Hut vor seine Brust haltend, mit einer unnachahmlich demütigen Geste vor uns verbeugte.

Später, als wir auf freiem Feld anhielten, standen plötzlich zwei kleine Mädchen vor unserer Wagentür. Wir vier hatten bisher Karten gespielt, einen zünftigen »Schafkopf« gedroschen. Die beiden sahen allerliebst aus. Sie waren mit weißen Kopftüchern, blauen Blusen und bunt bestickten Schürzen über knöchellangen Röcken bekleidet. Die jungen Damen erweckten sogleich unsere Aufmerksamkeit.

Unser Unteroffizier rief lachend zu ihnen hinaus:

»Na ihr zwei Schönheiten, möchtet ihr etwa auch Zigaretten?«

Die beiden verstanden ihn jedoch nicht. Die etwas größere von ihnen knickste und hielt uns einen Strauß bunter Wiesenblumen entgegen, den wir gern annahmen und mit einer Tafel Schokolade belohnten. Als wir langsam weiterrollten, standen die beiden immer noch neben den Gleisen und winkten uns nach.

An einer kleinen Bahnstation in der weiten Ebene war bei einem längeren Aufenthalt große Wäsche an einem Pumpbrunnen angesagt. Wir konnten warmes Essen fassen, das unser Koch auf seinem von einer Plane überdachten Küchenwagen zubereitet hatte, und nahmen Kommissbrot, Hartwürste, einige Konservendosen und Zigaretten in Empfang. Wir waren durchweg froh gelaunt, obwohl das Rätselraten darüber nicht enden wollte, wohin unsere Reise führen sollte.

Kurz vor Budapest war die Donau über die Ufer getreten. Vom erhöhten Bahndamm aus konnten wir den etwa einen Kilometer weit entfernten Strom sehen, und ich dachte einige Sekunden lang daran, dass sich in dem Wasser der überschwemmten Wiese auch einige Tropfen der Loisach befinden könnten.

Von Budapest sahen wir lediglich das langsam an uns vorübergleitende, prachtvolle Parlamentsgebäude. Danach hielten wir kurze Zeit, ohne die Wagen verlassen zu dürfen. Wir hielten immer wieder, wobei wir abwechselnd unsere Notdurft verrichten konnten. Der Zug rollte mit uns durch die Pässe der Karpaten, während wir Karten spielten oder die draußen an uns vorbeiziehende Landschaft und bald schon die Dörfer Siebenbürgens bewunderten.

Irgendwann schlief ich fest ein. Horst aber rüttelte mich wieder wach:

»Aufstehen, du Schlafmütze, wir halten gerade in einem Vorortbahnhof von Bukarest. Dort ist zwar keine Stadtbesichtigung angesagt, aber so, wie ich dich kenne, wärst du mir böse, wenn ich dich schlafend durch die Hauptstadt unserer Waffenbrüder fahren ließe. Frag mich ohnehin immer, gegen wen die mit uns verbündet sein wollen.«

»Das würde ich auch gern wissen!«, rief Wachtmeister Kurz. »Der Führer hat mit den Russen einen Nichtangriffspakt geschlossen. Hier herrscht doch tiefster Frieden. Sollen wir etwa Löcher ins Schwarze Meer ballern?«

Gegen Abend des dritten Tages erreichten wir Galaz (Galati) am nördlichen Ufer der Donau, und wir vermuteten, dass wir hier ausgeladen werden sollten.

»Falsch gedacht!«, rief Hans Maul, als unser Zug nur kurz anhielt, um danach nordwärts wieder aus dem Bahnhof zu rollen.

Inzwischen war es Nacht geworden, und wir alle schauten uns verdutzt an, als wir neben einigen Bretterbuden anhielten. Auf dem uns gegenüber liegenden Bretterbau war ein Name zu lesen: Fulgaresti.

»Wachen für die Nacht einteilen!«

Diese laute Stimme gehörte zweifelsohne unserem Hauptmann. »Die Schreibstube kommt in das Haus neben dem Bahnhofsgebäude!«

Täuschte ich mich, oder klang in der Betonung des Wortes »Haus« leichter Spott mit?

»Spieß und Schreiber bleiben hier! Der Rest der Batterie marschiert zwei Kilometer weiter. Dort werden wir auf einer Wiese vor einem Waldhügel Zelte aufbauen. Etwas Bewegung wird uns allen guttun!«

In unserer »Schreibstube« hing eine nackte Glühbirne an einem wenig Vertrauen erweckenden Leitungsdraht an der Decke. Als der mürrisch um sich blickende Hauptwachtmeister den Drehschalter neben dem Eingang betätigte, huschte eine Ratte unter dem Lattenrost und der Bretterwand ins Freie.

»Hervorragend! Allein müssen wir hier jedenfalls nicht schlafen. Hängt alles Essbare an diesen Balken dort hinten. Warum, das brauche ich wohl nicht zu erklären. Unser Gastland hat aber an alles gedacht.« Er deutete auf drei alte Kisten, die als Schreibtische dienen sollten, Stühle und Feldbetten im Hintergrund und fügte in gelassenem Tonfall hinzu: »Morgen bekommen wir Telefon. Vielleicht finden wir schon bald etwas Besseres.«

Wir hatten schon während der Fahrt gegessen, waren rechtschaffen müde und froh, nicht als Wache eingeteilt zu sein. Jedenfalls schlief ich sofort ein und musste am Morgen herzlich lachen, als mir Hans zurief:

»Die nächste Ratte, die ich in der kommenden Nacht in diesem Schuppen herumtrampeln höre, stirbt den Heldentod!«

Anderntags begann die Entladung ohne jede Eile. Die Mannschaft und auch unsere Offiziere bezogen Quartier in der Schule und etlichen Häusern von Roscani, einer nahegelegenen kleinen Ortschaft. Das Dorf lag sauber eingebettet in einer leicht gewellten, fruchtbaren Kulturlandschaft. Wir, die Schreibstube, fanden Platz in einem aus Lehmziegeln errichteten und mit Stroh gedeckten Haus am Dorfrand. Wir wunderten uns, weshalb einige rumänische Offiziere so um unser Wohlergehen besorgt waren. Wieder einmal rätselten wir:

»Sollen wir etwa hier den Bauern helfen?«

»Es ist doch friedlich.«

»Wahrscheinlich verlegen die uns bald irgendwohin an die Schwarzmeerküste.«

Solche und ähnliche Vermutungen waren überall zu hören, wo mehrere Landser zusammentrafen.

Wir befanden uns schon fünf Tage in Roscani, als angeordnet wurde, aus Gründen der Hygiene unsere individuelle Haarpracht in Glatzen zu verwandeln. Manche von uns trennten sich nur ungern von ihren Locken oder dem korrekt gezogenen Scheitel. Wir »Schreibstubendragoner« nahmen es aber von der lustigen Seite. Was solls? Wir freuten uns darüber, dass am selben Tag ein Obergefreiter unserer Batterie zum Unteroffizier ernannt und ich mit einigen anderen zum Gefreiten oder Obergefreiten befördert wurde. Das musste doch ausgiebig gefeiert werden.

Nur Horst Ulmer war sauer:

»Jetzt haben die mich wieder vergessen.«

Schon nach wenigen Stunden lag er als Bier-, Wein-, oder Schnapsleiche im Obstgarten hinter unserem Haus. Dabei bemerkte er nicht, wie sehr sich die etwa 18 oder 19 Jahre alte Tochter unserer Gastgeberin um ihn bemühte. Der jungen, etwas drallen Rumänin schien es nur schwer verständlich zu sein, dass keiner von uns versuchte, mit ihr anzubandeln.

In der zweiten Juniwoche erfuhr ich als einer der Ersten in der Schreibstube, dass unsere Artillerieabteilung dem rumänischen Heer unterstellt war.

»Was soll das denn wieder bedeuten? Ist jetzt etwa der rumänische König unser Dienstherr?«

Irgendwie waren wir verunsichert.

»Das sind doch unsere Waffenbrüder. Aber gegen wen?«

»Wollen die etwa die Russen angreifen?«

»Das kann Hitler nicht zulassen. Wir haben doch einen Nichtangriffspakt mit denen!«

»Die Russen liefern doch Getreide ins Reich.«

»Die sind doch viel zu schwach, um gegen Russland zu ziehen.«

»Aber doch vielleicht mit uns zusammen?«

Heftig debattierend stand eine Anzahl von uns Artilleristen auf dem Dorfplatz von Roscani zusammen. Unterschwellig erwartete fast jeder, dass es mit der bisherigen Ruhe bald vorbei sein könnte. Keiner widersprach deshalb dem 19-jährigen Kanonier Heiner Kunz, als dieser euphorisch in unsere Runde hinein rief:

»Wir werden siegen, bevor der Iwan uns angreifen kann! Frankreich haben wir für seine Kriegserklärung schon bestraft. Nicht wir werden den Rumänen helfen, sondern diese uns! Ganz sicher ist aber eins: Wir liegen mit unseren Geschützen nicht zufällig hier in Stellung! Es kann jede Stunde losgehen.«

Todesmarsch durch Russland

Подняться наверх