Читать книгу Ein Pfundskerl namens George - Колин Кэмпбелл - Страница 10

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ZWEI

Ich landete um kurz vor Mitternacht zu Hause in Toronto, in der, wie sich später herausstellte, kältesten Nacht des Jahres. Schnee lag tief zu beiden Seiten der Landebahn, aber der dunkle Himmel war klar und sternenübersät. Während das Flugzeug zum Gate rollte, zückte ich mein Handy und schickte Jane eine SMS: »Bin sicher gelandet. Es ist spät. Mach dir nicht die Mühe, mich abzuholen. Ich nehme mir ein Taxi.« Ich war erschöpft, aber ich wollte nicht, dass sie so spät noch das Haus verlassen musste, vor allem angesichts der Tatsache, dass es sich wie die kälteste Nacht des Jahres anfühlte. Ich musste unwillkürlich lächeln, als eine Minute später ihre Antwort kam: »Keine Sorge. Bin schon unterwegs.« Es ist erstaunlich, wie gut eine solche Kleinigkeit tun kann.

Ich stellte meine Tasche am Straßenrand ab und drehte mich mit dem Rücken in den Wind. Ich versuchte, mich zu wärmen, indem ich an den Urlaub dachte, von dem Jane und ich geredet hatten. Ich stellte mir vor, wie wir in Barbados, unserem Lieblingsurlaubsziel, am Strand lagen, zu dem Geräusch der Brandung, die an der Küste nagte, unsere Liegestühle dicht aneinandergeschoben, während wir unter der Sonne lasen, stets auf Körperkontakt bedacht – Finger, die sich knapp berührten, Beine, die träge verheddert waren. Ich hielt eine Minute an dem Bild fest, und dann schlug ich die Augen wieder auf, während schneebedeckte Wagen vorbeifuhren und salzgetränkten Matsch auf den Gehsteig hochspritzten. Beim Einatmen schienen die Härchen in meinen Nasenlöchern zu gefrieren.

Janes Ford Escape kam um die Ecke in Sicht. Eine letzte Etappe noch – eine kurze, warme Autofahrt mit der Person, die ich auf der Welt am meisten liebte –, und ich konnte meine Tasche fallen lassen, meine Jacke hinwerfen und mich mit ihr ins Bett kuscheln. Als sie vor mir hielt, grinste ich wie ein Idiot.

Ich öffnete die hintere Tür und warf meine Tasche auf die Rückbank. Dann sprang ich auf den Beifahrersitz, noch immer leicht zitternd. »Oh, Mann, bin ich froh, dich zu sehen.« Ich beugte mich zu einem Kuss zu ihr herüber.

»Willkommen zu Hause«, sagte sie, bevor sie mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund gab. Dann drehte sie sich wieder zum Lenkrad um und fuhr los. »Wie geht es dir? Wie war dein Flug?« Sie trug ihren dicken Parka und eine Strickmütze, unter der ein paar goldblonde Strähnen hervorlugten. Sie sah süß und entzückend aus. Ich freute mich so, sie zu sehen.

»Und, wie waren deine Meetings?«

»Sie sind toll gelaufen. Wir fangen wirklich an, alles für die Show zusammenzukriegen – es ist echt spannend.«

»Das ist ja großartig!«, sagte sie, während sie den Blick für ­einen Moment von der Straße abwandte und mir ein Lächeln zuwarf.

Ich erzählte ihr noch ein paar mehr Details und fragte sie dann, wie ihre Tage verlaufen waren.

»Oh, es war alles gut«, tat sie die Frage mit einem Schulterzucken ab. »Hast du eigentlich Hunger? Wir haben nicht viel zu essen im Haus, aber ich kann unterwegs irgendwo anhalten.«

»Schon gut. Ich will nur noch nach Hause.«

An diesem Punkt in meinem Leben hatte »nach Hause« eine zusätzliche Bedeutung. Nie zuvor hatte irgendein anderes Haus, in dem ich gelebt hatte, sich so sehr wie ein Zuhause angefühlt. Und das lag hauptsächlich daran, dass ich den Ort mit Jane verband; all unsere Erinnerungen als verheiratetes Paar waren dort gespeichert. Seine Lage – gegenüber einem Park, mit Blick auf einen Kinderspielplatz in einer stillen Einbahnstraße am östlichen Ende der City – war das, worin wir uns als Erstes verliebt hatten. Das Haus selbst war solide gebaut. Wir bekamen es zu einem anständigen Preis, da die letzten größeren Reparaturen in den Sechzigerjahren erfolgt ­waren. In nur dreieinhalb Monaten hatten wir das Haus von Grund auf entkernt und erneuert, hier und da unter Mithilfe von Freunden und Verwandten. Wir installierten neue Elektro- und ­Wasserleitungen – und erfreuten uns dank neuer Rohre an herrlich kräftigem ­Wasserdruck –, ersetzten alle Trockenbauwände, verwandelten drei winzige Schlafzimmer in zwei größere mit Gewölbedecken, renovierten die Küche, reparierten das Dach und die Eingangsveranda und rissen die alte Aluminiumverschalung an der Seite herunter, um das Backsteingemäuer freizulegen. Wir heuerten sogar »Backstein-Hippies« an, um den schönen alten Backstein zu säubern und auszubessern. Obwohl wir bereits seit über einem Jahr zusammenlebten, als wir es kauften, bedeutete es etwas Besonderes, das Haus zusammen saniert zu haben, anstatt andere Leute die Arbeit machen zu lassen.

Jane hatte ein Händchen für Pflanzen, das sie sich bei den Staudenbeeten zunutze machte, die wir im Vorgarten anlegten. Mein eigener Daumen war alles andere als grün, aber ich liebte es dennoch, an ihrer Seite zu arbeiten. Am Ende eines langen Sommertages, den wir mit Unkrautjäten und Bewässern verbracht hatten, saßen wir oft bei ein paar Gläsern Wein auf der Veranda und bewunderten unser Werk, während die Sonne über dem Park unterging.

An dem Abend, an dem Jane mich vom Flughafen nach Hause fuhr, wunderte ich mich, dass sie vor dem Haus vorfuhr. Eine Auffahrt führte zu der Garage im hinteren Teil unseres Grundstücks, aber sie bog nicht darauf ein. »Hey«, sagte ich, »du hast die Auffahrt verpasst.«

Sie antwortete nicht gleich, lenkte den Wagen nur langsam weiter und brachte ihn dann an der Bordsteinkante zum Stehen. Sie legte die Parkstellung ein, schaltete den Motor aber nicht aus. Beide Hände aufs Lenkrad gelegt, machte sie eine kurze Pause, und dann, den Blick fest nach vorn gerichtet, verkündete sie: »Ich gehe nicht mit hinein.«

Ein irgendwie grober Witz, den sie mir da auftischte, nach den Reisestrapazen, die ich eben erst durchgemacht hatte. »Ja, na klar«, sagte ich kichernd. »Aber im Ernst, warum stehen wir vor dem Haus?«

Die Pause dauerte beim zweiten Mal länger, aber die Antwort blieb dieselbe: »Ich gehe nicht mit hinein, Colin.«

Diesmal registrierte ich ihren Ton. Er war kalt, abgehackt, monoton, roboterartig und absolut nicht wiederzuerkennen. Das Lächeln schwand aus meinem Gesicht. »Was meinst du damit?«

»Ich meine, dass ich nicht mit hineingehe«, sagte sie noch einmal. Sie starrte weiter stur geradeaus, mit fester, unergründlicher Miene. In den 15 Jahren, die ich sie nun kannte, war es, soweit ich mich erinnern konnte, das erste Mal, dass sie mir nicht in die Augen sah, während wir redeten. »Colin, ich bin sehr unglücklich, und ich bin schon lange unglücklich. Ich brauche etwas Zeit zum Nachdenken, und das muss ich an einem anderen Ort als hier tun. Ich werde bei einer Freundin wohnen.«

Auf einmal bekam ich keine Luft mehr. Ich fühlte mich, als wäre ich unter Wasser. Panik schlug mir genau in die Magengrube. Ich erinnerte mich an meine Studienzeit, als ich im Sommer als Rettungsschwimmer in einer Strandanlage in Nova Scotia namens Rissers Beach arbeitete. Um den Job zu bekommen, absolvierte ich Reanimations- und Erste-Hilfe-Kurse und bestand eine Reihe anspruchsvoller Fitness- und Schwimmtests. Während des Trainings wurde uns immer und immer wieder eingeschärft, dass Panik in Notfallsituationen das Schlimmste sei. Wenn man in Panik ausbricht, verschwendet man Energie – man kann sich nicht darauf konzentrieren, den Kopf über Wasser zu halten und aus der Gefahrenzone zu schwimmen. Wenn man um Hilfe schreit und Wasser schluckt, bricht man erst recht in Panik aus, und schließlich geht man unter. Es wurde uns eingetrichtert, wie wichtig es sei, einen kühlen Kopf zu bewahren, und diese Fähigkeit zu besitzen, zählte mehr als noch so viel Kraft oder Ausdauer. Als ich in diesem Wagen saß, während die Lüftungsanlage brummte und mein Puls so schnell und laut raste, dass es sich anfühlte, als ob mein Herz sich seitlich aus meiner Brust zu zwängen versuchte, konnte ich nicht klar denken. Zum ersten Mal in meinem Leben verspürte ich pure, ungefilterte Panik – als ob ich ertrinken würde.

»Was? Was sagst du da? Und wo wirst du wohnen?«, fragte ich. »Bei wem wirst du wohnen? Warum tust du das? Worüber musst du nachdenken?« Die Fragen sprudelten ebenso schnell hervor, wie sie mir kamen. Sie sagte nichts.

»Jane, das ist doch verrückt«, sagte ich. »Hör zu, wir sind vernünftige, logisch denkende Menschen. Ich liebe dich. Wir finden eine Lösung.«

»Ich habe es dir bereits gesagt.« Ihr Gesicht war eine Maske und ihre Stimme voller Schärfe. »Wir sind zu unterschiedlich. Wie ich bereits sagte, ich bin schon seit einer ganzen Weile nicht mehr glücklich, und ich habe mich entschieden zu gehen. Es hat nichts mit dir zu tun, und es hat nichts mit uns zu tun. Es ist meine Entscheidung, und ich habe sie bereits getroffen.«

Mir war schlecht und kalt, und ich war in Schweiß ausgebrochen. »Komm einfach ins Haus«, flehte ich. »Lass uns einfach ins Haus gehen. Wir können darüber reden.«

»Ich … ich … gehe, Colin.« Sie sprach jedes Wort deutlich aus, als würde sie mit jemandem reden, der unsere Sprache nicht verstand. »Es gibt nichts, was du sagen könntest. Du musst mich gehen lassen. Bitte steig aus.«

In diesem Augenblick wusste ich, dass meine einzige Hoffnung darin bestand, sie dazu zu bringen, aus dem Wagen auszusteigen und mit ins Haus zu kommen, damit ich verstehen konnte, was passierte, damit ich einfach mit ihr reden konnte, bis die alte Jane wieder da war und dieser ganze Albtraum verschwand. Aber mein Mund wollte sich nicht bewegen. Ich saß schweigend da, fix und fertig, während mir die Tränen über die Wangen liefen. Sie wandte den Kopf nicht um, sah mich nicht an, und doch schien sie etwas milder zu werden. »Es ist nur für ein paar Tage«, sagte sie. »Ich muss einfach ein paar Tage nachdenken. Ich rufe dich an.«

In meinem panischen Zustand klammerte ich mich an diese Hoffnung. Wenn es nur für ein paar Tage ist, dachte ich, na schön. Ich werde ins Haus gehen und wieder zu mir kommen, und sie kann gehen und sich über sich selbst klar werden, und dann wird sie wieder zur Vernunft kommen. Sie wird nach Hause kommen. Ich schnappte meine Tasche von der Rückbank und stieg aus. Sie fuhr los, sobald ich die Tür geschlossen hatte.


Die Haustür war kaum sechs Meter von dort entfernt, wo Jane mich hatte stehen lassen. Ich ging wie betäubt, während ich gleichzeitig einen Schrei nur mit Mühe unterdrückte. Der Schnee, der unter meinen Stiefeln knirschte, war das einzige Geräusch. Obwohl es minus 18 Grad waren, fühlte sich mein Gesicht an, als würde es brennen. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich brauchte, um die Eingangsveranda zu erreichen. Als ich es bis zur Tür geschafft hatte, griff ich nach meinen Schlüsseln, aber sie fielen mir aus der Hand. Als ich mich bückte, um sie aufzuheben, fiel mir auf, wie stark meine Hand zitterte. Ich holte einmal tief Luft und versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, aber ob vor Kälte oder Schock, ich konnte meine Hand nicht ruhig genug halten, um die Tür zu öffnen. Ich versuchte es noch einmal, dann ein drittes, viertes und fünftes Mal. Nach mehreren Minuten klickte das Schloss endlich, und die Tür zu unserem Zuhause schwang auf – Janes und meinem Zuhause.

Ich stellte meine Tasche in der Diele ab. Ich kann mich nicht erinnern, die Tür geschlossen zu haben. Ich schaltete das Licht ein, und als ich den Garderobenschrank öffnete, sah ich, dass Janes sämtliche Jacken, Schals, Pullover, Mützen und Schuhe fehlten. Ich rannte die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, noch immer in Jacke und Stiefeln. Ich ließ mich vor unserer Kommode auf die Knie fallen und begann, Schubladen aufzuziehen. Janes sämtliche Kleider waren verschwunden. Auch der halbe Schlafzimmerschrank war leer. Ich stand auf und ging ins Badezimmer. Mein Atem ging mühsam und flach. Shampoos, Spülungen, Feuchtigkeitscremes, Salben, Lotions – nicht nur ein Vorrat für ein paar Tage –, alles verschwunden. Als ich die Treppe wieder hinunterwankte, kam ich an halb leeren Bücherregalen und hellen Flecken an den Wänden vorbei, wo Bilder gehangen hatten. Sie hatte jede Spur von sich aus unserem Zuhause getilgt. Das Einzige, was an ihrer Stelle geblieben war, war Leere.

In der Küche riss ich jede einzelne Schranktür auf. Die meisten unserer Teller, Becher und Gläser – Dinge, die wir zusammen gekauft hatten – waren noch da, aber unsere guten Teller, die, die wir benutzten, wenn Gäste kamen, und die, die Jane besessen hatte, bevor wir uns kennenlernten, waren verschwunden. Schwache Kreise im Staub auf der Anrichte zeigten, wo sie gestanden hatten.

Voller Angst vor dem, was noch verschwunden sein könnte, öffnete ich die Tür zu unserem noch nicht fertig ausgebauten Keller und stieg die Holztreppe in die Dunkelheit hinunter. Hier unten war es kälter. Meine Brust fühlte sich noch zugeschnürter an, als würde ich ersticken. Die einzige Lichtquelle war eine nackte Glühbirne mit einer Zugkette. Ich hob eine Hand und zog daran. Eine Werkbank verlief an einer Wand, meine ganzen Werkzeuge ordentlich aufgereiht. Der Bereich am anderen Ende, wo Jane ihre Gartengeräte aufbewahrte, war leer. Auch ihr Fahrrad war verschwunden. Die Flut von Tränen erstickte mich fast. Es war der 25. Februar, einer der kältesten Tage des Jahres. Der Frühling würde noch mehrere Monate auf sich warten lassen … und sie hatte ihr Fahrrad mitgenommen? Und das war der Moment, in dem es mir aufging: Sie kommt nicht zurück.

Meine Beine gaben unter mir nach, und ich sackte auf dem Boden zusammen. Ich weinte heftiger, als ich zu können glaubte, und länger, als ich zu können glaubte. Ich schnappte nach Luft, aber ich versuchte nicht, aufzustehen. Irgendwann hörte ich auf zu weinen, und lag reglos im Schein der nackten Glühbirne. Ich lauschte auf den Heizkessel, der sich immer wieder ein- und ausschaltete. Ich blieb stundenlang dort liegen. Es war die längste und schlimmste Nacht meines Lebens.

Ein Pfundskerl namens George

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