Читать книгу Das schwarze Geheimnis der weißen Dame - Kolja Menning - Страница 9
ОглавлениеMontag, 16. Mai 2011. Tag X-12.
Rahul Milad Khalili.
Der Flug nach Kabul startete vom Neu-Delhi International Airport mit knapp einer Stunde Verspätung. Als keine Anschnallpflicht mehr bestand, verließ der Passagier, der bis dahin reglos und mit geschlossenen Augen auf dem Platz 34E gesessen hatte, seinen Sitzplatz und begab sich mit einer leichten baumwollenen Tasche, die sein einziges Handgepäck darstellte, auf das WC. Er entledigte sich des nach westlichem Stil geschnittenen hellblauen Baumwollhemdes, seines weißen T-Shirts und seiner grauen Baumwollhose. Einen Moment lang stand Rahul Milad Khalili nur mit einer Unterhose bekleidet vor dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken und starrte sein Spiegelbild an. Der dichte dunkle Bart verbarg einen Großteil seines Gesichts, sodass die tiefen Falten seiner Haut nur um die Augen sichtbar waren. Dann nahm er eine sauber zusammengerollte weite weiße Baumwollhose aus seiner Tasche und zog sie an. Das Gleiche tat er mit einem langen weißen Baumwollhemd, das ihm bis über die Knie herunterhing. Von den drei Knöpfen am Hals schloss er zwei. Er hatte noch nicht entschieden, ob er den Turban tragen würde, daher ließ er sein fünf Meter langes Turbantuch vorerst in der Tasche, in der er auch seine westliche Kleidung verstaute. Nach einem letzten Blick in den Spiegel verließ er das Flugzeug-WC und kehrte zu seinem Sitzplatz zurück. Den Rest des zweistündigen Fluges verbrachte er unbeweglich und mit geschlossenen Augen. Niemand hätte sagen können, ob er schlief oder nicht.
Nach der Landung in Kabul entschied sich Rahul Milad Khalili gegen den Turban. Bei der Passkontrolle erlebte er einen kurzen bangen Moment. Der Beamte zögerte und sein Blick wanderte mehrfach zwischen dem Gesicht vor ihm und dem Pass in seinen Händen hin und her. Rahul Milad Khalili wusste, wieso. Doch dann händigte der Beamte ihm seinen Pass wieder aus und winkte ihn durch. Rahul Milad Khalili atmete durch. Er befand sich auf afghanischem Boden. Der Anfang war geschafft. Der Anfang vom Ende.
Vor dem Flughafen schenkte er den ihre Dienste anbietenden Taxifahrern keinerlei Beachtung, sondern orientierte sich direkt zu einem ebenfalls bärtigen traditionell gekleideten Mann. Als der Mann ihn erblickte, begannen seine Augen zu leuchten, und er machte ein paar Schritte auf Rahul Milad Khalili zu. Als sie sich erreichten, hielten sie einen winzigen Augenblick inne, während dem sie sich betrachteten.
»Willkommen, mein Bruder!«, sagte der Mann dann, und sie umarmten sich zur Begrüßung. »Komm!«
Rahul Milad Khalili folgte ihm schweigend zu einem alten Auto und stieg auf der Beifahrerseite ein.
Sie sprachen kein Wort während der Fahrt, die erneut knapp zwei Stunden dauerte. Rahul Milad Khalili betrachtete unentwegt die karge Landschaft, durch die sie fuhren. Schließlich bogen sie von der Hauptstraße in einen schmalen steinigen Weg ab, dem sie zwei oder drei Kilometer folgten, bis sie zu einem großen zweistöckigen Haus aus Lehmziegeln kamen, das von einer niedrigen Mauer umgeben war. In dem so abgegrenzten Hof um das Haus herum standen ein paar Nadelbäume, und hinter der Mauer sah man einige Ziegen an ein paar Büschen knabbern.
»Schön ist es hier«, sprach Rahul Milad Khalili die ersten Worte seit seiner Ankunft, nachdem er aus dem Auto gestiegen war. Er atmete die frische Luft ein und folgte seinem Begleiter ins Haus.
»Wir haben dir oben ein Zimmer bereitet«, erklärte der Mann und deutete auf eine steinerne Treppe, die von der geräumigen Eingangshalle in den ersten Stock führte. »Komm!«
Etwas später saßen sie mit zwei weiteren Männern in traditioneller Kleidung auf einer steinernen Bank hinter dem Haus. Der eine der beiden Männer war deutlich älter; sein Haar und sein Bart waren fast weiß.
»Allah wird dir beistehen«, sagte der Mann, der Rahul Milad Khalili vom Flughafen abgeholt hatte. »Wir werden für dich beten, dass er dir die nötige Kraft schenken möge.«
Rahul Milad Khalili hielt den Blick starr auf die im Wind schaukelnden Wipfel der Bäume gerichtet. Das Einzige, das ihm Sorgen bereitete, war tatsächlich, dass ihm die Kraft ausgehen könnte, bevor er seine Aufgabe zu Ende gebracht hatte.
»Mein Tod ist nah«, sagte er schließlich.
»Es gibt Schlimmeres«, sagte der alte Mann, und seine Stimme war sanft, liebevoll.
Rahul Milad Khalili nickte.
»Wenn ich meine Aufgabe erfülle, werde ich den Tod genießen.«
Marie Bouvier.
Marie hatte das Wochenende genutzt, um Finanzberichte über Mod’éco und die Pressemitteilungen zum Börsengang zu lesen. Der Börsengang durfte offenbar als Erfolg gesehen werden. Die Aktie war knapp eineinhalbmal überzeichnet gewesen, der Emissionskurs hatte bei neunzehn Euro und siebzig Cent gelegen und die Aktie hatte gleich am ersten Tag deutlich im Plus geschlossen. Alles bestens. Bis zu der Gewinnwarnung drei Monate später. Dabei waren die Eheleute Delacourt die größten Verlierer, denn gemeinsam hielten sie fast ein Viertel des Kapitals. Bei dem Rest des Managementteams waren es nur ein paar Prozent. Die übrigen Anteile befanden sich im Streubesitz.
Mit diesem Wissen fand sie sich gemeinsam mit ihrem Kollegen Christophe de Mirabeau am Montagmorgen vor dem Bürogebäude des Modeunternehmens Mod’éco ein.
Delacourt erschien kurz nach ihnen.
»Sie sind schon da«, stellte er fest, »gut!«
»Dies ist Christophe de Mirabeau«, stellte Marie ihren Kollegen vor, und Delacourt reichte ihm die Hand.
»Angenehm!«, sagte er und musterte de Mirabeau aufmerksam. »Wollen wir?«
Sie betraten das Gebäude, und Delacourt führte Marie und de Mirabeau zum Empfang.
»Ich möchte zu meiner Frau«, sagte Delacourt zu dem jungen Rezeptionisten.
Während sie warteten, wandte Delacourt sich Marie und de Mirabeau zu.
»Das Management und auch meine Frau wissen noch nicht, dass ich die Angelegenheit untersuchen lassen möchte«, erklärte er.
»Herr Delacourt, entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche«, meldete sich der junge Mann vom Empfang zu Wort, »Ihre Frau ist am Telefon. Darf ich sie Ihnen reichen?«
Delacourt nahm wortlos den dargebotenen Hörer.
»Hallo Anne?«, meldete er sich, »ja, Philippe hier ... Hör zu, hast du einen Moment Zeit? ... Ja, das wäre gut, ich habe jemanden mitgebracht ... Das weiß ich nicht genau, mindestens eine halbe Stunde, denke ich ... Gut, bis sofort. Wir gehen in den Raum ›Kanada‹.«
Er reichte den Hörer zurück.
»Sie kommt«, informierte er die Polizeibeamten.
Anne Delacourt erschien, als sie gerade Platz genommen hatten. Die Gründerin von Mod’éco war mindestens ebenso elegant und attraktiv wie ihr Mann.
»Frau Bouvier und Herr de Mirabeau sind von der Polizei«, stellte Philippe Delacourt vor. »Es gibt den Verdacht eines illegalen Insiderhandels bei uns, den sie untersuchen sollen.«
Bei diesen Worten erbleichte die Gründerin von Mod’éco sichtlich.
»Ich habe Frau Bouvier zugesagt, ihr alle mögliche Unterstützung zukommen zu lassen«, schloss Philippe Delacourt.
»Natürlich«, pflichtete seine Frau ihm bei. »Ich habe nur Angst, dass etwas an die Presse gelangt.«
»Gelangt es nicht«, versicherte ihr ihr Mann. »Diese Herrschaften behandeln die Sache als einen – sagen wir – außerpolizeilichen Fall. Ich habe sie privat beauftragt. Das müssen wir aber ja nicht jedem so klar sagen.«
Anne Delacourt nickte.
Clever, dachte Marie. Wenn sie sich als Beamten der Pariser Justiz- und Kriminalpolizei vorstellten, hatten sie eine natürliche Autorität, die jedem gewöhnlichen Privatdetektiv fehlte.
»Ich würde vorschlagen, wir nehmen unseren CFO mit dazu. Er kennt sich am besten mit diesen Sachen aus. Ich prüfe mal, ob er Zeit hat.«
»Er kommt«, verkündete Anne Delacourt nach einem kurzen Gespräch über ihr Mobiltelefon.
Bald darauf betrat ein junger Mann den Konferenzraum und stellte sich als Gael Johnson vor. Sein Blick blieb an Marie hängen.
»Gael, dies sind Marie Bouvier und Christophe de Mirabeau von der Pariser Justiz- und Kriminalpolizei«, stellte Philippe Delacourt vor.
Marie beobachtete die Reaktion des jungen Finanzchefs, doch der warf ihnen nur einen weiteren interessierten Blick zu.
»Woher haben Sie Ihren Namen?«, fragte Marie, während der junge Mann Platz nahm.
»Den Vornamen von meiner Mutter, die sich schon als Kind unsterblich in die Bretagne verliebt hat«, erwiderte Johnson höflich, »den Nachnamen, auf den Sie vermutlich anspielen, von den kanadischen Vorfahren meines Vaters.«
»Gael ist hier sozusagen in seiner zweiten Heimat«, bemerkte Philippe Delacourt und deutete auf das Schild mit dem Namen des Besprechungsraums.
Alle lachten kurz auf.
»Gut. Wollen wir beginnen?«, fügte Delacourt wieder ernst hinzu.
Als alle nickten, warf er Marie einen aufmunternden Blick zu. Marie verstand das Signal.
»Es geht um Folgendes«, begann sie sachlich. »Der AMF ist vor einiger Zeit eine Transaktion aufgefallen, bei der eine Anlegerin offenbar auf den Absturz der Aktie Ihres Unternehmens gesetzt hat und damit innerhalb weniger Tage ein kleines Vermögen gemacht hat – gut eine Viertelmillion Euro, um genau zu sein. Wie Sie sich denken können, besteht der Verdacht, dass die Anlegerin über Informationen verfügte, die dem Markt nicht zur Verfügung standen, was dies zu einem illegalen Insidergeschäft machen würde.«
»Wie dieser Financier der Terroristen, Le Chiffre, in dem James-Bond-Film Casino Royale«, sagte Johnson nickend, »nur in kleinerem Stil. Ich erinnere mich. Die AMF hatte unser Insiderregister angefragt. Darauf sind alle Mitarbeiter von Mod’éco namentlich genannt, die über Insiderinformationen verfügen. Warten Sie einen Moment, ich bin sofort wieder zurück.«
Mit diesen Worten stand Johnson auf und verließ den Besprechungsraum. Reflexartig blickte Marie auf ihre Armbanduhr. 13.12 Uhr. Als Johnson wiederkehrte, sprang ihre Uhr gerade auf 13.15 Uhr.
»Ich habe nur kurz mein Handy geholt«, erklärte der junge Mann und fuhr mit dem Finger über das Touchdisplay. »Hier hab’ ich es ... Ja, wir haben den Herrschaften von der AMF unser Insiderregister am 22. April geschickt. Vor gut drei Wochen. Da wir weiter nichts gehört haben, bin ich davon ausgegangen, dass keiner unserer Mitarbeiter involviert war.«
»Verstehe«, sagte Marie. »Die Frage ist nun: Kann es dafür aus Ihrer Sicht einen anderen Grund geben, als dass der Anlegerin – sie heißt Patricia Courtois – Insiderinformationen vorlagen?«
Marie und beobachtete ihre Gegenüber, als sie den Namen erwähnte, bemerkte jedoch keine auffällige Reaktion.
»Kann es schon, aber ich halte das für unwahrscheinlich«, erwiderte Johnson, ohne zu zögern. »Nicht nur, weil offenbar niemand außer ihr im großen Stil gegen uns gewettet hat, sondern auch, weil ich denke, dass mit den öffentlich zugänglichen Informationen eine solche Kursentwicklung nicht zu erwarten war.«
»Aber mit den intern verfügbaren Informationen war sie zu erwarten?«, schaltete sich de Mirabeau ein.
»Ja, aber auch nur für einen recht begrenzten Personenkreis. Genauer gesagt stand seit einiger Zeit fest, dass es die Gewinnwarnung geben würde. Die Kursentwicklung an sich entsteht durch das Verhalten am Aktienmarkt. Aber es ist üblich, dass der Markt auf Gewinnwarnungen negativ reagiert, zumal wir ein junges Unternehmen sind und der Börsengang nicht weit zurückliegt. Wir haben noch keine große Vertrauensbasis bei den Anlegern. Daher vermutlich die recht heftige Reaktion des Marktes, die sich in der Kursentwicklung unserer Aktie widerspiegelt.«
»Also muss Frau Courtois mehr gewusst haben als der Markt«, schloss Philippe Delacourt, und Johnson nickte.
»Die einzige andere plausible Möglichkeit wäre, dass Frau Courtois einfach gepokert hat. Wie ein Glücksspiel, bei dem die Eintrittswahrscheinlichkeit äußerst gering ist – aber das Upside umso größer.«
»Und was macht Sie so sicher, dass Frau Courtois nicht in diese Kategorie fällt?«
»Die Wahrscheinlichkeit«, erwiderte Johnson sachlich. »Das passt alles zu gut zusammen, um einfach ein glücklicher Zufall zu sein.«
»Die Frage ist also, von wem Frau Courtois diese Informationen hatte«, stellte Marie fest.
»Nun«, entgegnete Johnson, »das ist die Frage für Sie, denke ich. Oder für die AMF oder die Staatsanwaltschaft.«
»Und für Sie nicht?«
»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, tue ich das natürlich, und wenn Sie es herausfinden, interessiert es mich«, erwiderte der CFO. »Aber es ist nicht mein Hauptanliegen.«
»Das müssen Sie uns erklären!«
»Bitte, Frau Bouvier! Sie kennen sich damit doch bestimmt aus! Insiderhandel – das ... passiert eben. Im kleinen Stil vermutlich jeden Tag. Initiiert bei harmlosem Smalltalk. Ein Freund fragt Sie, wie das Geschäft läuft. ›Dieses Quartal besonders gut‹, antworten Sie, ohne nachzudenken. Was Sie nicht ahnen – und der Freund, der ganz ohne Hintergedanken gefragt hatte, auch nicht – ist, dass der Vater dieses Freundes eine Woche später zu seinem Sohn kommt und im Plausch erzählt, er wolle mal wieder sein Aktienportfolio umstrukturieren. Ihr Freund, der seinen Vater beeindrucken möchte, erinnert sich an das, was Sie ihm gesagt haben. Na, und so kommt es dazu, dass der Vater ein paar tausend Euro in die Aktien Ihres Unternehmens investiert. Da Sie die Situation richtig eingeschätzt haben und auch der Markt entsprechend reagiert, kommt es bald zu einer erfreulichen Kursentwicklung. ›Insiderhandel gibt es nicht‹ – das wäre wie sagen, dass bei der Tour de France nicht gedopt wird. Was unseren Fall betrifft: Sehen Sie, Frau Courtois mag sich an dem Tag eine ganze Menge Geld erschwindelt haben. Aber tatsächlich ist niemand zu Schaden gekommen.«
»Einen Augenblick«, unterbrach de Mirabeau. »Wieso ist niemand zu Schaden gekommen? Wenn Frau Courtois eine Viertelmillion gewonnen hat, muss doch jemand anders sie verloren haben.«
»Jein«, antwortete der junge CFO und lächelte. »Frau Courtois hat sich für ihr Geschäft vermutlich einer Verkaufsoption bedient. Dabei waren ihre Transaktionspartner offensichtlich gewillt, für die Mod’éco-Aktien zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bestimmten Preis zu zahlen. Insofern haben die Käufer genau das bekommen, was sie wollten: Mod’éco-Aktien zu einem bestimmten Preis an einem bestimmten Zeitpunkt. Dass der Kurs der Aktie kurz vor dem vereinbarten Zeitpunkt fiel, tja, das ist bedauerlich. Aber für die Käufer spielt es letztlich keine Rolle, ob sie so ein Optionsgeschäft mit Frau Courtois oder einem ehrlichen Verkäufer machen.«
»Verstehe ich nicht«, gab de Mirabeau zu.
»Ich mache ein Beispiel«, sagte Johnson geduldig. »Stellen Sie sich vor, Sie sind Frau Courtois, ich Ihr Transaktionspartner. Sagen wir, die Mod’éco-Aktie notiert momentan bei hundert Euro. Jetzt kommen Sie zu mir, und möchten von mir für fünf Euro die Option kaufen, mir in einer Woche eine Mod’éco-Aktie für neunzig Euro zu verkaufen. Also eine Verkaufsoption, auch Put-Option genannt. Wir beide wissen nicht, wie sich die Aktie entwickeln wird, doch ich gehe davon aus, dass die Aktie stabil bleibt und mit Sicherheit nicht unter neunzig Euro fällt. Das ist ein gutes Geschäft für mich. Ich verdiene mindestens die fünf Euro, die Sie mir für die Option bezahlen. Falls der Preis der Aktie stabil bleibt und Sie aus irgendwelchen irrationalen Gründen die Option einlösen und zum vereinbarten Preis von neunzig Euro verkaufen wollen, ist das toll für mich, denn ich könnte die Aktie gleich darauf am Markt wieder für hundert Euro verkaufen und hätte so insgesamt fünfzehn Euro Gewinn erzielt. Als rationaler Mensch würden Sie bei dieser Entwicklung natürlich die Option einfach verfallen lassen. Sie verlieren die fünf Euro, mehr jedoch nicht. Wenn nun aber der Preis der Aktie vor dem vereinbarten Zeitpunkt um dreißig Prozent, also in meinem Beispiel auf siebzig Euro, fällt, dann können Sie nun die Aktie für siebzig Euro kaufen und anschließend an mich für neunzig Euro verkaufen. Sie haben damit dann fünfzehn Euro Gewinn gemacht, nämlich neunzig Euro, die Sie von mir beim Verkauf bekommen, minus siebzig Euro, die Sie bezahlt haben, minus fünf Euro, den Preis der Option. Natürlich habe ich die Zahlen der Einfachheit halber gerade frei erfunden. Da ich – basierend auf meinen persönlichen Erwartungen an die Kursentwicklung – von Anfang an gewillt war, für neunzig Euro zu kaufen, spielt es keine Rolle, von wem. Theoretisch hätten Sie auch ein ehrlicher Transaktionspartner sein können.«
»Verstehe«, sagte de Mirabeau.
»Fahren Sie doch bitte fort, Herr Johnson«, forderte Marie den CFO auf.
»Gern. Ob mit unseren Aktien Unfug getrieben wird, können wir von Mod’éco, gar nicht nachverfolgen, weil wir zu den entsprechenden Informationen keinen Zugang haben. Dafür ist die AMF da. Wenn wir Insidergeschäfte wie das von Frau Courtois unterbinden wollen, gibt es aus meiner Sicht zwei Möglichkeiten: erstens, die Regeln auf den Finanzmärkten ändern. Das ist nicht unsere Aufgabe. Zweitens, unsere Mitarbeiter schulen, damit sie wissen, dass bestimmte Formen von Insiderhandel strafbar sind. Das ist unsere Aufgabe, und die haben wir ernst genommen. Vollständig können wir den Fluss von Insiderinformationen allerdings nicht kontrollieren. Menschen sind Menschen. Wir können die Regeln klarmachen, auf Strafen hinweisen – aber am Ende des Tages macht jeder, was er will. Der Eine gibt damit vor Freunden an. Der andere wird von Freunden gefragt und wird schwach. Der Nächste unterschätzt den potenziellen Wert dieser Informationen und plauscht ein bisschen zu viel. Und schließlich gibt es Menschen, die den Wert der Information erkennen und sie gezielt weitergeben.
Was für mich viel wichtiger ist: An dem Tag haben all unsere loyalen Aktionäre viel Geld verloren – zumindest vorübergehend. Der Betrag, den Frau Courtois sich erschwindelt hat, mag auf den ersten Blick recht beeindruckend wirken. Wenn man jedoch das große Ganze betrachtet, ist es nichts, womit wir uns lange aufhalten würden. Dass wir überhaupt eine Gewinnwarnung herausgeben mussten, das ist das eigentliche Problem! Aber da das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, müssen wir nach vorne blicken. Wir müssen besser werden, aus unseren Fehlern lernen! Vermeiden, dass es wieder passiert, damit wir langfristig Wert für unsere Aktionäre schaffen.«
Kein schlechter Vortrag, dachte Marie. Dieser Gael Johnson war charismatisch.
»Wie kam es denn zu der Gewinnwarnung?«, fragte sie.
Der CFO hob die Schultern.
»Wir waren zu hungrig. Wir haben uns überschätzt. Wir haben dem Markt Ergebnisse versprochen, die wir nicht erreichen konnten.«
»Schon klar«, sagte Marie. Mit einer so oberflächlichen Antwort würde sie Johnson nicht davonkommen lassen, »aber ich meine, wie kann man sich so täuschen?«
»Sehen Sie«, erklärte Johnson und beugte sich etwas vor, »wir sind ein junges, extrem dynamisches Unternehmen. Wir sind in den letzten paar Jahren sehr schnell gewachsen. So was kriegt man nur hin, wenn man unternehmerisch denkt und handelt. Und dazu gehört, sehr schnell wichtige Entscheidungen zu treffen. Sehr ambitioniert zu sein. Risiken einzugehen. Und Fehler zu machen. Nur wer wagt, gewinnt!«
»Ein bisschen wie bei Ihrem Glücksspiel«, meinte Marie. Sie hatte genug gesehen und gehört, um zu wissen, warum Gael Johnson der Finanzchef eines grundsätzlich erfolgreichen jungen Unternehmens war. Der Mann verfügte über genau die Fähigkeiten, die er gerade aufgezählt hatte. Doch sie waren nicht zum Schmusen gekommen. Es war durchaus möglich, dass Johnson selbst mit der Sache zu tun hatte. Also entschied sie sich, nachdem nun alles Grundlegende erzählt war, für Konfrontation, um zu sehen, ob sie ihn aus der Reserve locken konnte.
Einen Moment lang starrte Gael Johnson Marie mit seinem intensiven Blick an, als überlege er, wie er mit diesem Kommentar umgehen wollte.
»Sie haben sicher recht«, sagte er dann, und Marie bildete sich ein, dass um seine Mundwinkel ein Lächeln spielte, das nur für sie bestimmt war. »Es gibt da gewisse Parallelen. Aber vielleicht auch den ein oder anderen Unterschied.«
»Schon klar«, sagte sie, bevor Johnson fortfahren konnte. »Aber geht es nicht am Ende des Tages um Ergebnisse? Und da stehen Sie im Moment ziemlich schlecht da. Wie war das? Sieben Millionen Euro Verlust im letzten Quartal, obwohl sie angekündigt hatten, profitabel sein zu wollen? Und Patricia Courtois hat den Jackpot.«
»Indem sie falschgespielt hat«, entgegnete Johnson.
»Im Gegensatz zu Ihnen«, sagte Marie bemüht, einen Hauch von Zweifel in ihre Stimme zu legen. Gespannt beobachtete sie die Züge des jungen CFOs. Dieser zögerte zum ersten Mal. Zu gern hätte Marie gewusst, was in seinem Kopf vorging.
Ich habe ihn verunsichert, dachte Marie, wenn ich ihm jetzt keine Zeit lasse nachzudenken, sagt er vielleicht mehr, als er eigentlich tun würde.
»Wie gut kennen Sie Patricia denn?«, fragte sie unschuldig, bewusst nur den Vornamen benutzend.
Wieder starrte Johnson sie an. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und grinste.
»Sie glauben, dass ich in die Sache involviert bin«, stellte er sachlich fest. Seine Stimme war ruhig, und nichts deutete darauf hin, dass er verunsichert war.
Mist!, schimpfte Marie innerlich. Er ist mir nicht in die Falle gegangen.
»Sind Sie’s?«, fragte sie.
»Sicher«, antwortete Johnson, ohne zu zögern, und überraschte Marie damit seinerseits. Auch Anne Delacourt zuckte merklich bei Johnsons Worten.
»Sie geben also zu, Frau Courtois Insiderinformationen zugespielt zu haben?«, schaltete de Mirabeau sich erneut ein.
»Was?«, fragte Johnson in verächtlichem Ton. »Ich kenne Frau Courtois gar nicht!«
»Können Sie das beweisen?«
»Das ist eine merkwürdige Frage«, antwortete der CFO. »Scarlett Johansson kenne ich auch nicht – zumindest nicht persönlich – und das, obwohl ihr Name meinem sehr ähnlich ist. So bedauerlich das auch sein mag, ich wüsste nicht, wie ich Ihnen das beweisen sollte.«
»Schon gut«, intervenierte Philippe Delacourt beschwichtigend. »Erklär doch bitte, wie deine letzte Antwort zu verstehen ist. Und ich meine nicht die bezüglich Scarlett Johansson.«
»Frau Bouvier hat mich gefragt, ob ich in die Sache involviert bin«, erklärte der junge CFO sachlich. »Und das kann ich wohl kaum leugnen. Ich bin für die Finanzen dieses Unternehmens zuständig. Meine Abteilung bereitet sämtliche Finanzinformationen auf, die dann von dem PR-Team nach außen kommuniziert werden. Natürlich bin ich involviert!«
Er ist uns wieder einen Schritt voraus, stellte Marie fest, konnte sich jedoch nicht so recht darüber ärgern. Wider Willen empfand sie Bewunderung für den jungen Mann. Er war höchstens Ende zwanzig, steuerte die Finanzabteilung eines jungen, extrem schnell wachsenden Unternehmens und wusste offenbar auch mit Situationen wie dieser umzugehen. Wer war schon souverän, wenn er von der Kriminalpolizei befragt wurde?
»Ich habe in einer Stunde einen Termin mit einer unserer Banken in La Défense, den ich nur ungern verpassen würde«, sagte Johnson, auf seine Armbanduhr blickend. »Können wir das Gespräch ein andermal fortsetzen?«
Vielleicht ist es sogar besser, wenn Johnson bei weiteren Gesprächen nicht anwesend ist, dachte Marie. Er schien deutlich souveräner als zum Beispiel seine Chefin. Wenn sie und de Mirabeau etwas herausfinden wollten, dann vermutlich eher von anderen.
»Ich denke, für heute können wir Sie entbehren«, antwortete sie. »Sicher werden wir aber später noch zahlreiche Fragen haben.«
»Kein Problem. Melden Sie sich einfach bei mir.«
»Gut«, beschied Marie und wandte sich an Anne Delacourt. »Wir benötigen sämtliches elektronisches Gerät der Mitarbeiter, die als Insider infrage kommen. Laptops, Handys und so weiter. Es ist unwahrscheinlich, dass wir darauf etwas finden, aber wir müssen das prüfen.«
»Natürlich«, sagte Anne Delacourt pflichtbewusst.
Sie ist nicht so gelassen wie Johnson, stellte Marie fest.
Johnson hatte ein Post-it von einem auf dem Konferenztisch liegenden Block gelöst und etwas darauf geschrieben. Er fischte sein Mobiltelefon, ein iPhone 4, wie Marie erkannte, aus der Hosentasche, klebte das Post-it darauf und reichte es Marie. Marie nahm es entgegen und warf einen Blick auf die vier Zahlen auf dem Post-it. 2-7-0-5.
»Ich habe es ausgeschaltet, damit Sie nicht all die lästigen Anrufe erhalten, die mir gelten. Das hier ist mein Geburtstag«, erklärte Gael Johnson feierlich. »Und gleichzeitig der Code, um das Gerät zu entsperren.«
In ein paar Tagen, dachte Marie.
»Bevor ich gleich gehe, werde ich Ihnen noch meinen Laptop geben«, fuhr der junge CFO fort. »Und eine Liste mit vier weiteren Kollegen aus meinem Team, die über das nötige Wissen verfügen, um theoretisch die Informationsgeber von Frau Courtois zu sein, auch wenn ich mir sehr sicher bin, dass sie sich nichts haben zuschulden kommen lassen.«
»Danke«, sagte Marie überrascht über dieses unerwartete Maß an Kooperation. An die Gründerin Mod’écos gewandt, fügte sie hinzu:
»Wir benötigen mindestens auch die Geräte des gesamten restlichen Managementteams.«
»Natürlich«, erwiderte Anne Delacourt. »Ich werde das sofort veranlassen. Nur Anne Cabart, unsere Marketingchefin, ist noch bis morgen im Urlaub in Thailand. Ihren Laptop und ihr Handy hat sie bei sich.«
»Danke. Hier ist meine Karte«, sagte Marie und reichte Anne Delacourt eine ihrer Visitenkarten. »Rufen Sie mich bitte an, falls Sie Informationen für uns haben.«
»Insiderinformationen?«, fragte Gael Johnson mit einem belustigten Lächeln.
Anne Delacourt räusperte sich vernehmlich, sagte jedoch nichts. Sie nahm die Karte entgegen, wandte sich ab und entfernte sich ein paar Schritte, um ein paar Worte mit ihrem Mann zu wechseln.
Als Marie auch dem jungen CFO ihre Karte gab, trafen sich ihre Blicke, während ihre Hand seine für einen Sekundenbruchteil berührte.
»Sie können mich jederzeit kontaktieren ...«, sagte sie steif.
»Ich werde darüber nachdenken«, entgegnete der junge Mann und lächelte verheißungsvoll.
»... falls Sie ein Geständnis ablegen wollen«, fügte Marie hinzu.
»Vielleicht später«, erwiderte Johnson.
Marie machte Anstalten, sich abzuwenden, als der CFO sagte:
»Warten Sie!«
Marie wandte sich wieder ihm zu. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Gründerin von Mod’éco sich von Philippe Delacourt verabschiedete.
Geschäftspartner, ja, ein sich liebendes Ehepaar, nein, stellte sie fest. Wie Delacourt gesagt hatte. Doch irgendwie hatte Marie in diesem kurzen Augenblick den Eindruck, dass auch diese geschäftliche Beziehung nicht auf Augenhöhe stattfand. Philippe Delacourts Körpersprache war souverän und dominant – ganz das Gegenteil von der seiner Frau. Maries Hauptaugenmerk war jedoch auf Johnson gerichtet, der einen Kugelschreiber aus der Tasche seiner Jeans gefischt hatte und damit etwas auf der Rückseite der Karte, die er soeben von Marie bekommen hatte, notierte.
»Hier!«, sagte er, Marie die Karte zurückreichend, und lächelte. »Falls Sie mich gern erreichen wollen jetzt, wo Sie mein Handy haben.«
Zögernd nahm Marie die Karte und achtete darauf, dass sich ihre Hände dieses Mal nicht berührten.
Gael – 01.33.42.15.69 – any time.
»Mein Festnetz zu Hause«, erklärte Johnson. »Wenn ich nicht zu Hause bin, ist es auf mein Telefon hier im Büro weitergeleitet. So, ich muss los! Bis bald!«
Marie blickte ihm ein paar Sekunden nach. Schließlich gab sie sich einen Ruck. Sie hatten hier noch zu tun.
Nachdem Philippe Delacourt sich auch von Marie und Christophe de Mirabeau verabschiedet hatte, trafen Marie und ihr Kollege bis auf die verreiste Marketing-Chefin Anne Cabart einzeln die restlichen Mitglieder des Mod’éco-Managementteams.
Dabei erlebte Marie eine Enttäuschung. Die Aussagen des Personalchefs, des Produktionschefs, der Design- und der Technologiechefin von Mod’éco stimmten in allen Punkten überein. Keiner kannte eine Patricia Courtois. Alle erwähnten eine Krisensitzung am Sonntag, dem 10. April 2011. Das Managementteam hatte gerade die vorläufigen Zahlen des ersten Quartals gesehen, und Gael Johnson hatte den anderen erklärt, was sie zu erwarten hatten: Sie würden den Markt enttäuschen, die Aktie entsprechend aller Voraussicht nach an Wert verlieren. Unabhängig davon mussten sie etwas tun. Also steckten sie die Köpfe zusammen wie zur Anfangszeit ihrer Zusammenarbeit. Sie waren sehr produktiv an jenem Sonntag und zufrieden mit den Plänen, die dabei herauskamen. Sie bestellten Pizza und italienischen Rotwein und genossen ihre Gesellschaft. Sie waren ein eingespieltes Team. Auch ihre Aussagen stimmten dermaßen überein, dass man den Eindruck bekommen konnte, sie wären alle eine einzige Person. Keiner von ihnen war bereit, einen Verdacht zu formulieren. Alle betonten bezüglich der schlechten Quartalsergebnisse, dass sie schon seit Jahren aus Fehlern am meisten lernten, und dass es nach vorne zu blicken galt. Und alle händigten fast auffällig bereitwillig ihre Laptops und Smartphones aus.
Am frühen Nachmittag fuhr Marie ins Kommissariat und machte ein paar Grundlagenrecherchen. Sie rief mehrere Finanzanalysten an und befragte sie nach ihrer professionellen Meinung zu dem jungen Unternehmen. Die Experten bestätigten einstimmig den Eindruck, den Marie selbst gewonnen hatte: Die unerwartet schlechten Ergebnisse zum ersten Quartal waren ein Schock für den Markt gewesen, was aber hauptsächlich daran lag, dass sie eben unerwartet gewesen waren. Grundsätzlich sei die Lage Mod’écos weiterhin aussichtsreich. Einer der Analysten ließ sich sogar zu der Aussage hinreißen, dass dieser schmerzhafte Dämpfer durchaus positiv sein könnte, weil die Erwartungen des Marktes so auf ein realistisches Niveau gesenkt würden. Wichtig sei, jetzt nicht nervös zu werden, was für das Unternehmen bedeutete, das Kapital aus dem Börsengang intelligent zu investieren. Für Anleger bedeutete es, Geduld an den Tag zu legen.
Um 17 Uhr verließ Marie das Kommissariat, um Patricia Courtois einen Besuch abzustatten. Das Ehepaar Courtois lebte in einer der teuersten Wohngegenden im 16. Arrondissement von Paris. Nur Frau Courtois war zu Hause und erwartete Marie an der Wohnungstür im obersten Stockwerk.
Courtois war eine elegant gekleidete Frau Mitte vierzig. Als sie Marie erblickte, betrachtete sie sie von oben herab und war Marie auf Anhieb unsympathisch. Marie stellte sich vor und wies sich aus. Als sie dann auf Courtois’ spekulatives Geschäft mit der Mod’éco-Aktie zu sprechen kam, reagierte Courtois überraschend: Sie leugnete keinesfalls, einen Tipp bekommen zu haben, im Gegenteil. Allerdings behauptete sie, dass dies anonym geschehen war, sie also nicht wüsste, ob dieser Tipp aus dem Inneren Mod’écos gekommen war. Entsprechend hätte es sich für Courtois nicht um ein Insidergeschäft gehandelt – und schon gar kein illegales. Mehr wollte Courtois ohne ihren Anwalt jedoch nicht sagen. Für weitere Aussagen stand Courtois vorerst sowieso nicht zur Verfügung, da sie am kommenden Morgen nach La Réunion fliegen würde, um dort mit ihrem Mann drei Wochen Urlaub zu machen.
Um sich auf andere Gedanken zu bringen, rief Marie auf dem Nachhauseweg Michel Moncourts Nummer an. Sie hoffte, dass Moncourt wusste, mit welcher Einstellung Jean-Baptiste de Montfort den Fall Goldberg anging. Moncourt ging jedoch nicht ans Telefon, und Marie entschied sich, keine Nachricht zu hinterlassen.
Als sie in ihrer Wohnung angekommen war, ließ sie sich als Erstes in dem verwinkelten Badezimmer ein heißes Bad einlaufen. Während die Badewanne sich füllte, entledigte sie sich ihrer Schuhe und Jacke und setzte sich an den einzigen Tisch in ihrem einen Zimmer, der gleichzeitig Ess- und Schreibtisch war. Ihre Kopie der Goldberg-Akte lag genauso dort, wie sie sie am Morgen liegen gelassen hatte. Daneben stand ein alter Laptop. Sie startete den Computer und schlug die Akte auf.
An einundzwanzig Fällen hatte Marie in ihren rund zwei Jahren bei der Kriminalpolizei bisher gearbeitet. Für jeden hatte sie einen Ordner auf ihrem Computer angelegt. Sie mochte offiziell im Urlaub sein, doch am vergangenen Wochenende hatte sie zwei Ordner hinzugefügt: 22_Mod’éco. 23_Goldberg.
Kurz öffnete sie den Ordner 22_Mod’éco und darin die Datei, in der sie gesammelte Erkenntnisse festhielt. Schnell las sie, was sie am Wochenende als Einleitung geschrieben hatte.
Mod’éco hat es geschafft, in wenigen Jahren ein beispielloses Wachstum zu erreichen, indem es auf zwei Trends setzte:
1. E-Commerce
2. Die schnell wachsende Marktnische für nachhaltig produzierte Mode.
Weitere Erfolgsfaktoren:
- Aggressive Investitionen
- Cleveres Marketing
- Ein gutes Managementteam
- Eine Portion Glück
Börsengang im Q1 2011.
Sie öffnete eine weitere Datei und machte sich daran, alle Verdächtigen aufzulisten. Sie hatte sich über die letzten zwei Jahre angewöhnt, solche Listen zu führen und regelmäßig auf einer Skala von eins bis zehn (10 = am verdächtigsten) zu bewerten, für wie verdächtig sie die erfassten Personen hielt. Die Methode beruhte weniger auf Indizien als auf ihrem Bauchgefühl. Bisher hatte sie selten falsch gelegen.
Nach den ersten Eindrücken gab sie Anne Delacourt und Gael Johnson eine Sechs und der Marketingchefin Anne Cabart, die sie noch nicht hatte treffen können, eine neutrale Fünf. Alle anderen erhielten eine Vier.
Am Mittwoch würde Marketingchefin Anne Cabart aus dem Urlaub kommen. Marie nahm sich vor, diese nicht im Büro zu befragen, sondern früh morgens zu Hause zu überraschen, bevor sie Gelegenheit haben würde, sich mit ihren Kollegen auszutauschen.
Für Mittwoch hatte Marie sich auch mit Anne Delacourt zum Mittagessen verabredet, um diese noch einmal außerhalb des Bürogebäudes allein zu befragen. Das ließ ihr einen Tag, um sich gut vorzubereiten. Sie würde Christophe de Mirabeau bitten, noch ein paar vertiefende Recherchen zum Mod’éco-Managementteam zu machen. Je mehr sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass Vieles nicht so recht zu passen schien. Das allzu souveräne Verhalten des jungen CFO am Freitag. Das angebliche Desinteresse Anne Delacourts und Gael Johnsons an dem, was an den Finanzmärkten mit der Aktie ihres Unternehmens getrieben wurde. Die fast identischen Aussagen des restlichen Managementteams. Besonders offensichtliche Fragen warf das Verhalten von Patricia Courtois auf. Wieso investierte sie eine halbe Million Euro, wenn sie einen anonymen Tipp bekam, der den Erwartungen des Marktes gänzlich widersprach? Und von wem und wieso hatte Courtois den anonymen Tipp bekommen? Sagte Courtois überhaupt die Wahrheit? Das ergab keinen Sinn.
Als sie den Mod’éco-Ordner gerade schließen wollte, klingelte ihr Mobiltelefon.
Bestimmt Michel, der mich zurückruft, dachte Marie und nahm den Anruf an, ohne auf das Display zu achten.
»Michel?«, fragte sie.
Erst antwortete niemand. Marie stand gerade im Begriff, wieder aufzulegen, als eine verzerrte Stimme sagte:
»Michel? ... Nein, ich befürchte, da muss ich dich enttäuschen, Schlampe!«
Die Stimme hustete, was durch den Verzerrer unheimlich klang, bevor sie fortfuhr: »Wer ist dieser Michel, hm? Ist das einer deiner aufgeblasenen Polizeikollegen, von denen du dich ficken lässt?«
»Wer sind Sie?«, fragte Marie, bemüht um einen ruhigen Tonfall. Spätestens seit der Pubertät hatte sie viel Erfahrung mit sexueller Belästigung gesammelt, doch es ließ sie nie kalt.
»Wer ich bin?«, erwiderte die Stimme. »Wenn’s dich antörnt, Schlampe, kannst du mich gern Michel nennen.«
»Ich befürchte, Sie haben die falsche Nummer, mein Herr«, sagte Marie, obwohl sie sich aufgrund der Verzerrung gar nicht sicher, dass es sich überhaupt um einen Mann handelte.
»Du hältst dich wohl für sehr clever, Schlampe!«, brauste die Stimme auf. »Du spielst mit dem Feuer, sage ich dir! Wenn du weiter machst, verbrennst du dir die Finger, das garantiere ich!«
Dann war die Leitung tot. Marie spürte, wie sie zitterte.
Es ist nur ein harmloser Spinner, versuchte sie, sich zu beruhigen.
Sie schloss den Mod’éco-Ordner und öffnete 23_Goldberg. Darin befanden sich eine Reihe weiterer Ordner. Sie öffnete den Ordner 01_Jean-Baptiste_de_Montfort und darin ein Foto. Es zeigte einen Jahrgang der Polizeischule für den gehobenen Dienst in Cannes-Ecluses. Einer der Absolventen war Jean-Baptiste de Montfort.
Wie tickte ein Mann, der, wie Marie recherchiert hatte, die Polizeischule mit einem sehr guten Abschluss absolviert und dann seine aussichtsreich gestartete Karriere in den Sand gesetzt hatte? Wieso war er geblieben? Jean-Baptiste war der Zweitbeste seines Jahrgangs gewesen. Nur ein gewisser Gilles Ho, der auf dem Foto direkt neben Jean-Baptiste stand, war besser gewesen.
Gut sahst du aus, JB, dachte Marie. Das Haar voll, der Bauch flach. Außerdem war Jean-Baptiste der Einzige, der auf dem Foto sympathisch lächelte.
Marie klappte den Laptop zu und nahm ihre Kopie der Goldberg-Akte zur Hand. Wie würde Jean-Baptiste den Fall angehen? Würde er sich Mühe geben? Marie hoffte es. Sie blätterte bis zum Ende, wo Hauptkommissar Fabrice Mellier unterschrieben hatte. Einen Moment lang starrte Marie gedankenverloren auf das Blatt. Dann schlug sie die Akte zu und begab sich ins Badezimmer. Sie entkleidete sich vor dem alten schäbigen Spiegel, widmete dem makellosen Körper, auf den Michel Moncourt und zahlreiche andere Kollegen so scharf waren, nur eines flüchtigen Blicks und stieg in das heiße Wasser.
Jean-Baptiste de Montfort.
Nach seinem kühnen Entschluss vom Freitagabend, den flüchtigen dreifachen Mörder Hermann Goldberg zu jagen und sein gesamtes Leben wieder auf Vordermann zu bringen, bekam Jean-Baptiste schon an diesem Morgen den ersten Dämpfer. Er hatte an seinem Vorsatz festgehalten. Er war am Samstag- und am Sonntagmorgen im nahe gelegenen Parc Montsouris joggen gewesen und hatte sich trotz eines höllischen Muskelkaters auch an diesem Montagmorgen aufgemacht, war jedoch nicht weit gekommen. Schon bevor er den Parc Montsouris erreicht hatte, hatte er aufgrund eines stechenden Schmerzes in der linken Wade aufgeben müssen.
»Muskelzerrung«, diagnostizierte Doktor Lionel Frey. »Nichts Gravierendes. Ein paar Tage keinen Sport und dann langsam wieder anfangen. In deinem Alter sollte man da vorsichtig sein.«
»Danke, sehr umsichtig, mich an mein Alter zu erinnern«, antworte Jean-Baptiste. »Und was kann ich tun, damit es recht schnell wieder gut wird? Ich hab’ mir am Wochenende neue Laufschuhe geleistet, so lila Asics. Ich kann die jetzt unmöglich drei Wochen lang in den Schrank stellen und nicht mehr anrühren.«
»Nun, PECH, würde ich sagen«, antwortete der Arzt, der über die Jahre zu einem von Jean-Baptistes besten Freunden geworden war, trocken.
»Danke, Herr Doktor«, sagte Jean-Baptiste ironisch, »ich weiß Ihr Mitgefühl wirklich zu schätzen. Aber hätten Sie vielleicht einen Ratschlag, wie ich möglichst schnell wieder fit werde?«
»Ja, ja, das meine ich ja. PECH. Das steht für Pause, Eis, Compression, Hochlegen. P-E-C-H. Eine einfache Regel, die du jetzt befolgen solltest. Und wenn es dich tröstet, kannst du beim Hochlegen gern die neuen Laufschuhe anziehen. Nur nicht zu eng schnüren.«
»Ah, so«, erwiderte Jean-Baptiste, »verstehe. P-E-C-H. Klar. Wusste nur nicht, dass ›Kompression‹ mit C geschrieben wird, daher meine Begriffsstutzigkeit. Danke für die Lektion. Ich werd’ also PECH befolgen.«
»Sie sind ein ausgesprochener Klugscheißer, Jean-Baptiste de Montfort«, kommentierte der Arzt, Jean-Baptiste jetzt auch siezend. »So schlecht scheint es Ihnen nicht zu gehen. Und jetzt raus hier, andere Patienten mit echten Problemen warten auf mich!«
»Gewiss doch, ich will Sie schließlich nicht davon abhalten, Leben zu retten«, sagte Jean-Baptiste und lächelte.
Der Arzt lächelte zurück und bot ihm die Hand.
»Na, dann bis bald«, sagte er.
»Das will ich nicht hoffen«, entgegnete Jean-Baptiste und ergriff die Hand des Arztes. »Ich hoffe eigentlich, dass wir uns so schnell nicht wiedersehen.«
Lionel Frey verdrehte die Augen, und Jean-Baptiste humpelte dem Ausgang entgegen. Bevor er die Praxis verließ, drehte er sich noch einmal um.
»Wie ist das eigentlich, wenn du mal krank bist?«, fragte er den ihm nachblickenden Lionel Frey.
»Ist das wieder eine deiner hinterlistigen Fragen?«, fragte der Arzt misstrauisch zurück.
»Nein, nein«, sagte Jean-Baptiste beschwichtigend. »Ich habe mich nur gefragt, ob ihr Ärzte auch mal zu anderen Ärzten geht oder ob ihr euch immer selbst behandelt.«
»Natürlich gehen wir auch zu anderen Ärzten«, erwiderte Frey. »Zum Beispiel zum Zahnarzt. Oder eben zu Experten, mit deren Fachgebiet wir uns nicht auskennen.«
Jean-Baptiste nickte.
»Wieso?«, wollte Frey wissen.
»Nur so. Die Frage kam mir am Wochenende in den Sinn. Danke!«
Er hob die Hand zu einem letzten Gruß, dann verließ er die Praxis.
Ein abergläubischer Mensch hätte die Aufforderung, eine PECH-Regel zu befolgen möglicherweise als Warnung aufgefasst. Doch Jean-Baptiste war nicht abergläubisch. Außerdem fühlte er sich nach dem Wochenende trotz der Verletzung geradezu revitalisiert. Julie hatte sich beeindruckt gezeigt, dass Jean-Baptiste laufen gegangen war. Sie hatten zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit Sex gehabt. Er war mit seiner Tochter erst einkaufen gewesen, wobei für Claire ein neues Sommerkleid und für Jean-Baptiste die neuen Laufschuhe herausgesprungen waren, und anschließend hatten sie gemeinsam im Kino »Der Plan«, einen Film mit Matt Damon und Emily Blunt, angesehen.
Und so stürzte Jean-Baptiste sich, strotzend vor Adrenalin und Zuversicht, in die Recherchen zum Fall Goldberg.
Freys Worte noch im Ohr war im Kommissariat Jean-Baptistes erste Tat, das Internet nach einem Doktor Chambille zu befragen. Er wurde fast sofort fündig. Doktor Claude Chambille. Allgemeinmedizin und Tropenkrankheiten. Jean-Baptiste griff zum Telefonhörer und wählte die angegebene Nummer.
Nachdem er der Telefonistin gegenüber den Ausdruck »Kriminalpolizei« dreimal erwähnt hatte, wurde Jean-Baptiste durchgestellt.
»Spreche ich mit Claude Chambille?«, fragte er dann. »Ich bin Jean-Baptiste de Montfort von der Pariser Kriminalpolizei.«
»Ich bin Claude Chambille. Was kann ich für Sie tun?«
Doktor Chambilles Tonfall war neutral, unverbindlich.
»Herr Chambille, kennen Sie einen gewissen Hermann Goldberg?«
Die Antwort kam einen winzigen Augenblick verzögert:
»Warum?«
»Ich ermittle wegen eines dreifachen Mordes gegen Goldberg, und da ich davon ausgehe, dass Sie ihn kennen, muss ich Sie befragen.«
»Reden Sie von der Angelegenheit von vor anderthalb Jahrzehnten?«
»Von genau den Morden rede ich.«
»Es hat nie eine Verurteilung gegeben, oder täusche ich mich?«
Natürlich nicht, du Schlaukopf, er ist ja getürmt, dachte Jean-Baptiste. »Richtig, Goldberg konnte damals entkommen.«
»Und gibt es neue Hinweise auf Hermanns Verbleib?«
»Nein«, erklärte Jean-Baptiste, »Wir haben den Fall wieder aufgenommen. Es ist eine Routine –«
»Herr Kommissar, ich will Ihnen nicht zu nahe treten«, unterbrach ihn Chambille in einem Tonfall, der deutlich machte, dass es ihm ziemlich gleichgültig war, ob er Jean-Baptiste zu nahe trat oder nicht, »und es mag ja sein, dass Sie im öffentlichen Dienst über die Ressourcen verfügen, Arbeit mehrfach zu machen. Aber ich kann es mir nicht erlauben, meine Zeit mit so etwas zu verschwenden. Wenn die Polizeiarbeit damals anständig gemacht wurde, wovon man ja wohl ausgehen sollte, dann dürfte es, wenn es keine neuen Hinweise gibt, wie Sie mir versichern, unwahrscheinlich sein, mit den Ermittlungen jetzt weiterzukommen. Wissen Sie, in gerade diesem Augenblick wartet ein malariakrankes dreijähriges Kind in meinem Behandlungszimmer. Die jungen Eltern waren so töricht, mit dem Kleinen ohne Schutz durch den Dschungel von Borneo zu kraxeln. Können Sie erraten, wie ich da meine Prioritäten hinsichtlich der Nutzung meiner Zeit setzen werde? Gut! Dann entschuldigen Sie mich jetzt! Wenn Sie meinen Rat wollen: Vergeuden Sie nicht Ihre Zeit mit diesem Unsinn! Tun Sie etwas Sinnvolles! Auf Wiederhören.«
Jean-Baptiste war so überrumpelt, dass er nicht einmal den Gruß des Arztes erwiderte, geschweige denn seiner Empörung über das Verhalten des Arztes Ausdruck verlieh.
Was für ein arrogantes Arschloch, dachte Jean-Baptiste und schüttelte den Kopf.
Natürlich dachte Jean-Baptiste gar nicht daran, Chambilles Rat zu befolgen. Im Gegenteil war er ein weiterer Ansporn, alles daranzusetzen, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen.
Die nächsten zwei Tage schuf er ein Fundament für seine Ermittlungen. Er telefonierte viel, befragte Leute, die damals mit den Goldbergs zu tun gehabt hatten. Am Mittwoch schließlich warteten ein paar wichtige Ereignisse auf ihn.